1 Leben für die Deutsche Literatur; und immer finden sich Mistviecher, die mir Schwierigkeiten machen! Ich protestiere hiermit feierlich dagegen, jemals als ›Deutscher Schriftsteller‹ von dieser Nation von Stumpfböcken vereinnahmt zu werden! Deutschland hat mich immer nur von Ort zu Ort gehetzt, und miserabel für meine cyclopische Schufterei entlohnt!: ›Écrasez l’infâme‹!
Arno Schmidt
an Ernst Krawehl
Uwe Johnson: Jahrestage 2
Wahrheit. Wahrheit. Schietkråm.
Zur Struktur des Romans und den allgemeineren Umständen der Fabel ist bei der Besprechung des ersten Bandes schon das Wichtigste gesagt worden. Der zweite Band schließt nahtlos an: In New York bereitet sich Gesine Cresspahl auch weiterhin darauf vor, Ihre Bank in unbestimmter Zeit bei der Prager Regierung zu vertreten. Sie wird deshalb befördert, bekommt ein Büro in einer höheren Etage und auch der Kontakt zum Vizedirektor der Bank de Rosny intensiviert sich. Parallel dazu erfahren wir aus Gesines Lektüre der New York Times von der politischen Entwicklung in der ČSSR und des Vietnam-Krieges. Das einschneidende Ereignis der zweiten Hälfte des Bandes bildet die Ermordung Martin Luther Kings am 4. April 1968, dem am 11. April die Schüsse auf Rudi Dutschke in Berlin folgen.
Auf der historischen Ebene umfasst die Erzählung die Zeit von 1936 bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges und dem Einzug der Russen in das zuerst britisch besetzte Jerichow. Das bewegendste Ereignis in der ersten Hälfte ist sicherlich der Selbstmord Lisbeth Cresspahls, die sich in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 das Leben nimmt. Lisbeth Cresspahl leidet unter einem immer anwachsenden Schuldgefühl: Sie sieht die Entwicklung, die Deutschland nimmt, sie glaubt den Voraussagen ihres Mannes, dass es bald Krieg geben wird, und macht sich Vorwürfe, weil Mann und Kind auf ihren Wunsch hin in Deutschland leben. Und sie hat den Anspruch an sich, dass sie etwas gegen das Böse in dieser Welt tun müsste, Christin, als die sie sich begreift. Ihr Schuldbewusstsein geht soweit, dass ihre Tochter beinahe durch ihre Untätigkeit ums Leben kommt, als sie auf eine volle Regentonne steigt und hineinfällt:
Sie hätte das Kind sicher gewußt, fern von Schuld und Schuldigwerden. Und sie hätte von allen Opfern das größte gebracht. [19. Januar 1968]
Zur Katastrophe kommt es, als Lisbeth am 9. November 1938 im nahe gelegenen Gneez das Niederbrennen der Synagoge erlebt und dann im heimischen Jerichow dazukommt, wie der nationalsozialistische Bürgermeister bei der Plünderung eines jüdischen Geschäftes die kleine Tochter der Eigentümer, Marie Tannebaum, niederschießt. Lisbeth ohrfeigt den Bürgermeister mehrfach und geht dann heim, wo sie allein ist, da Heinrich mit seiner Tochter zu Besuch bei Schwester und Schwager in Wendisch Burg ist. In der Nacht legt Lisbeth Feuer in der Werkstatt Heinrichs und verbrennt dabei selbst. Cresspahls stumme Trauer und Pastor Wilhelm Brüshavers Erwachen zum Widerstand an diesem Todesfall gehören mit zum Besten der deutschen Literatur.
Wie bereits gesagt, wird die Geschichte Cresspahls in diesem Band bis zum Kriegsende fortgeführt: Cresspahl beginnt – mehr gezwungen als freiwillig – für den britischen Geheimdienst zu arbeitet, hält sich aber sonst so weit es geht aus der Welt heraus, ja macht den Eindruck eines über dem Tod seiner Frau merkwürdig gewordenen Kauzes. Er kümmert sich um das Erwachsenwerden Gesines, schmiedet mit ihr ein Schutz- und Trutzbündnis gegen die Welt und übersteht damit den Krieg. Die zuerst in Jerichow einrückenden Briten machen ihn zum Bürgermeister, räumen dann aber aufgrund des Gebietstausches für die drei Westzonen Berlins Mecklenburg komplett und die Russen übernehmen die Stadt.
Herausgehoben werden sollte vielleicht noch die Passage über Hans Magnus Enzensberger und sein von ihm öffentlich inszeniertes Verlassen der USA, das in einiger Breite und mit schöner Ironie präsentiert wird:
– Mrs. Cresspahl, warum macht dieser Deutsche Klippschule mit uns?
– Er freut sich, daß er so schnell gelernt hat; er will uns lediglich von seinen Fortschritten unterrichten, Mr. Shuldiner.
– Sollten wir nun auch nach Cuba gehen? Hat er in Deutschland nichts zu tun?
– Man soll anderer Leute Post nicht lesen, und böten sie einem die an.
– Aber Ihnen, da Sie eine Deutsche sind, hat er gewiß ein Beispiel setzen wollen.
– Naomi, deswegen mag ich in Westdeutschland nicht leben.
– Weil solche Leute dort Wind machen?
– Ja. Solche guten Leute. [29. Februar 1968]
Uwe Johnson: Jahrestage 2. Aus dem Leben der Gesine Cresspahl. Dezember 1967 – April 1968. Frankfurt: Suhrkamp, 1971. Leinen, Fadenheftung, 544 Seiten. Kindle-Edition. Berlin: Suhrkamp, 2013. 807 KB. 11,99 €.
Bruno Cabanes / Anne Duménil (Hg.): Der Erste Weltkrieg
Dieser auf Französisch bereits 2007 erschienene großformatige Bildband (28,5 cm × 23 cm) liegt nach seiner deutschen Publikation im vergangenen Jahr nun auch für kurze Zeit in einer unschlagbar preiswerten Ausgabe der Bundeszentrale für politische Bildung vor. Der reich illustrierte Band versammelt knapp 70 relativ kurze, von verschiedenen Historikern verfasste Kapitel, die jeweils einem einzelnen Ereignis des Krieges oder einem kulturhistorischen Aspekt der am Krieg beteiligten Nationen gewidmet sind. Beginnend mit der Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges in den Balkankriegen und bis hinein in die Nachkriegswelt, deren massive Umwälzungen bereits die Grundlagen bilden für den Aufstieg des Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg, entsteht ein gut gewichtetes musivisches Bild der europäischen Welt der ersten beiden Dekaden des 20. Jahrhunderts.
Wahrscheinlich genügt die Lektüre dieses Bildbandes allein nicht, um sich ein einigermaßen abgerundetes Bild von den Kriegsjahren zu machen, sondern sie sollte von einer geschlossenen Darstellung der politischen und militärischen Geschichte des Krieges begleitet werden, etwa Wolfgang J. Mommsens „Der Erste Weltkrieg“. Gerade für eine solch kurze Überblicksdarstellung liefert der Bildband die ideale Ergänzung, da hier viele Details zur Sprache kommen, die dort notwendig fehlen müssen: Der Osteraufstand in Dublin, die Geschichte der beiden englischen Schriftsteller Wilfred Owen und Siegfried Sasoon (wozu hier en passant auch auf die Regeneration-Trilogie Pat Barkers hingewiesen sei), die Geschichte Mata Haris, die Entstehung Dadas und vieles andere mehr. Für jeden an der Geschichte des 20. Jahrhunderts Interessierten ein Muss.
Bruno Cabanes / Anne Duménil (Hg.): Der Erste Weltkrieg. Eine europäische Katastrophe. Aus dem Franz. von Birgit Lamerz-Beckschäfer. Lizenzausgabe. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, 2013. Broschur, Fadenheftung, 480 Seiten Kunstdruckpapier, üppig illustriert. 7,– €.
Bitte beachten Sie, dass die Lizenzausgaben der Bundeszentrale für politische Bildung immer nur für kurze Zeit lieferbar sind.
Friedhelm Rathjen: Arno Schmidt 1914–1979
Nachdem nun wohl die seit vielen Jahren angekündigte Biographie Arno Schmidts aus der Feder von Bernd Rauschenbach auf unbestimmte Zeit vertagt worden ist, liefert Friedhelm Rathjen, der Herausgeber des Zentralorgans der Arno-Schmidt-Forschung, des Bargfelder Botens, in einer Dreifach-Nummer eine 90 Seiten starke „Chronik von Leben und Werk“ des berühmten Bargfelder Autors. Es handelt sich, soweit ich sehe, um die bislang umfassendste Sammlung von Daten zu Leben und Werk Schmidts, wobei Rathjen bis auf die unumgängliche Fundierung interpretierende Zugriffe weitgehend vermeidet. Da die kurze Rowohlt-Bildmonographie von Wolfgang Martynkewicz (1992) inzwischen nicht mehr im Druck ist, wird Rathjens Chronik wohl für längere Zeit die einzige Grundlage für eine biographische Annäherungen an Schmidt sein.
En passant beerdigt Rathjen durch Nichterwähnung den von Schmidt selbst in die Nachkriegswelt gesetzten Mythos seines Studiums (wahlweise der Mathematik und/oder der Astronomie), den Schmidt einerseits dazu benutzte, seine autodidaktisch erworbene Kompetenz in ein bürgerlicheres Licht zu setzen, andererseits benötigte, um eine biographische Lücke zu füllen, die entstanden war, als er sich in englischer Kriegsgefangenschaft vier Jahre älter machte, wahrscheinlich um dem Einsatz als Zwangsarbeiter zu entgehen. Zudem verwendete Schmidt diesen Mythos dazu, sich zu einem Opfer des Nationalsozialismus zu stilisieren:
Da seine Schwester einen jüdischen Kaufmann geheiratet hatte, brach er 33 – ganz bewußt, um vor pseudoheroischen Komplikationen in selbstgewählte Unscheinbarkeit auszuweichen – sein Studium ab. [BA, Suppl. 1, S. 329]
Diese Fiktion hält er auch 1957, als eine Korrektur des Geburtsjahres in seinen Papieren längst erfolgt ist, weiterhin aufrecht:
Versuch des Mathematikstudiums vereitelt durch Zusammenstoß mit Hitlerei. [BA, Suppl. 1, S. 336]
Offenbar hat sich Schmidt keine ausreichenden Gedanken darüber gemacht, was die Aneignung einer solchen Opferrolle bedeutet. Dieser dunkle Teil der autobiographischen Selbststilisierung Schmidts bleibt bei Rathjen leider unerwähnt. Zudem ordnet Rathjen die Postkarte Schmidts vom 25.11.1933 an seinen Freund Heinz Jerofsky, auf der er behauptet, er habe sich zur SS melden wollen und an einem entsprechenden Schulungsabend teilgenommen, ausdrücklich als Scherz ein. Dies ist wohl nicht die einzige Einschätzung, die sich anbietet. Womit nicht gemeint ist, Schmidt sei zu irgendeinem Zeitpunkt ein Anhänger des Nationalsozialismus gewesen, doch hätte ihn 1933 sein naives, weitgehend apolitisches oder auch antipolitisches Weltbild, wie es uns aus den Frühschriften entgegentritt, wohl kaum vor einem solch fatalen Schritt nach dem Motto „wenn schon Militär, dann wenigstens Elite“ bewahrt. Es steht zu befürchten, dass diese und ähnliche Fragen noch lange, wenn nicht für immer ein Desiderat bleiben werden.
Ansonsten trägt Rathjens Chronik nicht nur lückenlos die bereits bekannten Daten zusammenzutragen, sondern hier und da blitzen einzelne Neuigkeiten und zumindest von mir so noch nicht realisierte Zusammenhänge auf. Für alle enthusiastischen Schmidt-Leser ein Muss, für alle Interessierten die derzeit umfangreichste Grundlage für einen biographischen Überblick. Bleibt zu hoffen, dass sich in absehbarer Zeit doch einmal eine oder einer der undankbaren Aufgabe unterzieht, eine umfangreiche, geschlossene Biographie Arno Schmidts vorzulegen.
Friedhelm Rathjen: Arno Schmidt 1914–1979. Chronik von Leben und Werk. Bargfelder Bote Lfg. 375–377. München: edition text und kritik, 2014. Broschur, 97 Seiten. Bei Einzelbezug: 15,– €.
Aus meinem Poesiealbum (XX) – Richard Wagner
(Er zieht sie mit wüthender Gluth an sich; sie sinkt mit einem Schrei an seine Brust. – Der Vorhang fällt schnell.)
Richard Wagner
Die Walküre, Ende des 1. Aufzuges
Er [Wagner] hat mir seine Trilogie geschickt. Der Kerl ist ein Dichter und kein Musiker. Es kommen allerdings tolle Dinge da vor. Einmal heißt es, der Vorhang fällt rasch. Wenn er aber nicht rasch fällt, dann kriegen wir böse Dinge da zu sehen.
Arthur Schopenhauer
Jahresrückblick 2013
Auch für das vergangene Jahr ein Rückblick auf meine drei besten und drei schlechtesten Lektüren des Jahres. Dieses Mal mit einer strengen Teilung von Klassikern und Neuerscheinungen.
Die drei besten Lektüren des Jahres 2013:
- Paul Feyerabend: Briefe an einen Freund – ein sehr menschliches Buch, aus dem vielleicht kommende Jahrhunderte ersehen könnten, dass nicht alle Menschen der sogenannten westlichen Kultursphäre des 20. Jahrhunderts dem Wahnwitz verfallen waren.
- Theodor Fontane: Effi Briest – ein durch und durch wundervoller Roman, der auch in sieben Lektüren nicht auszulesen ist.
- Uwe Johnson: Jahrestage – einer der großen und bedeutenden deutschen Romane des 20. Jahrhunderts.
Die drei schlechtesten Lektüren des Jahres 2013:
- David Markson: Wittgensteins Mätresse – wahrscheinlich nicht wirklich schlecht, aber eine Enttäuschung gemessen an der Stellung, die dem Buch in der Geschichte der literarischen Postmoderne zugeschrieben wird.
- Friedrich von Borries: RLF – triviales, unverbindliches und schlecht erfundenes Gefasel um einen Volldeppen aus der Werbebranche.
- Paul Boghossian: Angst vor der Wahrheit – ein weiteres Beispiel dafür, wie abgrundtief dumm hoch intelligente und gebildete Menschen sein können.
Aus meinem Poesiealbum (XIX) – Journalisten
Als ich noch Bücher las, habe ich irgendwo das Diktum gefunden, daß der Mensch nie verzweifeln könne, denn es bleibe ihm auch beim schlimmsten Zahnweh immer die tröstliche Möglichkeit des Selbstmordes.
Ich habe ein Analogon dazu; ich sage mir: Du kannst zwar versumpfen, aber es bleibt Dir immer noch die Möglichkeit, Journalist zu werden.
Otto Julius Bierbaum
Stilpe
Uwe Johnson: Jahrestage (1)
Wenn ich gewußt hätte wie gut die Toten reden haben. Die Toten sollen das Maul halten.
Zum ersten Mal wahrgenommen habe ich Uwe Johnsons „Jahrestage“ in meinem ersten Semester an der Universität Tübingen. Da kam der Autor zu seiner allerletzten öffentlichen Lesung, denn zur Buchmesse war endlich der vierte und abschließende Band des Romans erschienen, und Johnson las in einem der großen Hörsäle im Tübinger Brechtbau vor einem übervollen Haus aus den Abschnitten, in denen Gesine Cresspahl von ihrem Deutschunterricht und Theodor Fontanes „Schach von Wuthenow“ erzählt. Anschließend wollte oder konnte kein einziger der Zuhörer auch nur eine einzige Frage stellen – mir ist bis heute nicht so ganz genau klar, warum nicht –, so dass sich Johnson selbst was fragte und es beantwortete. Ich vermute fast, es ist ihm im Leben oft so ergangen.
Danach habe ich mir die vier Bände, die es damals noch nur im Leineneinband gab, peu à peu zugelegt und mich hineingelesen in die Welt und die Tage der Gesine Cresspahl und ihrer Tochter Marie, die – darauf bestand ihr Autor bei allen Gelegenheiten – keine Figuren sind, sondern Personen waren und mit denen man demgemäß Umgang zu pflegen hatte. Jetzt, 30 Jahre später, sind die vier Bände nicht nur erneut im Taschenbuch aufgelegt worden, sondern auch als eBook; allerdings auch hier immer noch in vier Teilen anstatt als der eine große Roman, als den Johnson den Text gelesen haben wollte. Wahrscheinlich will man bei Suhrkamp Rücksicht auf die Leser nehmen, sich nicht um den Gewinnst bringen von vier Verkäufen statt einem, und wer bei Suhrkamp mag sich überhaupt noch auskennen mit dem, was ein alter Sturkopf ehemals so alles gewollt haben mag. Ich jedenfalls habe die Dateien zum Geburtstag geschenkt bekommen, und die zweiten Lektüre denke ich mehr oder weniger in einem Zug zu vollenden, falls sich bei über 1.800 Seiten von einem solchen Zug überhaupt sprechen lässt.
Zur Entstehung ist anzumerken, dass es wohl ursprünglich eine Trilogie werden sollte, dreimal vier Monate, dass dann aber das dazwischen gekommen ist, was in den Kurzbiographien des Autors „eine Krise“ heißt und eine Zeit der Depression, der Paranoia und des Alkoholismus war. Und so erschien 1973 ein kurzer dritter Band und erst zehn Jahre später dann der abschließende vierte. Manche Kritiker wollten in dem stilistische Brüche entdeckt haben, als hätten sie zur Kritik des letzten die vorherigen tatsächlich noch einmal gelesen oder könnten sich an sie noch erinnern oder was. Es wird sich zeigen, was davon zu halten ist.
Das Roman hat mindestens vier Erzählebenen: Seine Jetztzeit bilden die 367 Tage vom 20. August 1967 bis zum 20. August 1968. Die hauptsächliche Erzählerin ist Gesine Cresspahl, am 3. März 1933 im fiktiven Jerichow in Mecklenburg geboren als Tochter des Tischlers Heinrich Cresspahl und seiner Frau Lisbeth, einer geborenen Papenbrock. Gesine lebt mit ihrer anfangs neunjährigen Tochter Marie seit sechs Jahren in New York. Sie arbeitet als Auslandskorrespondentin bei einer Bank und steht wohl vor einem Karrieresprung, der im Zusammenhang mit den politischen Reformen der Tschechoslowakei zu stehen scheint. Maries Vater ist jener Jakob, über den der Autor zuvor schon einige Mutmassungen niedergeschrieben hatte; überhaupt ist hervorzuheben, dass die Gesamtheit der sogenannten fiktionalen Texte Uwe Johnsons einen einzigen großen Zusammenhang bildet, den im Gedächtnis zu behalten nicht immer einfach ist. Jedenfalls bilden Gesines Leben und das ihrer Tochter die umfassende Erzählung des Romans.
Die zweite Ebene liefert die Erzählung Gesines von der Geschichte ihrer Eltern, die sie ihrer Tochter Marie erzählt, teils direkt, teils auf Tonband, „für wenn sie tot ist“. Gesines Vater Heinrich, Jahrgang 1888, hatte sich im August 1931, bereits wieder auf dem Weg nach England, wo er als Tischlermeister einen Betrieb leitete, in ein junges Mädchen verguckt: Lisbeth Papenbrock, 18 Jahre jünger als er, der er nach Jerichow folgt und mit der er rasch einig wird, dass sie sich heiraten. Sie gehen dann gemeinsam fort aus Deutschland, in dem der Aufstieg der Nazis schon zu begonnen hat, denen der halbe Sozialdemokrat Cresspahl den Willen nicht nur zur Abschaffung der Republik, sondern auch den zum Krieg schon anmerkt. Doch Lisbeth hat Heimweh, nicht nur nach ihrer Familie, sondern auch nach ihrer Mecklenburgischen Landeskirche, und so nutzt sie die bevorstehende Geburt ihres ersten (und letztlich einzigen) Kindes zur Flucht zurück nach Deutschland. Und Cresspahl folgt ihr, widerwillig, aber er folgt ihr und bleibt dort, wo er nur um ihretwillen lebt. Doch auch damit wird Lisbeth nicht glücklich.
Die dritte Ebene bildet die tägliche Zeitungslektüre Gesines: Jeden Tag erwirbt sie die New York Times, aus der heraus die jeweils aktuelle politische und gesellschaftliche Wirklichkeit in den Roman gelangen: der Rassenkonflikt, politische Umtriebe und Skandale, der Krieg in Viet Nam und die Proteste gegen ihn, die Mafia und die alltägliche Kriminalität schlechthin etc. pp. Diese Ebene bietet zum einen Anlass zur Auseinandersetzung zwischen Gesine und Marie, wobei Marie – die erstaunlich klug und redegewandt für ihr Alter ist – im Vergleich zu ihrer Mutter nicht nur einen amerikanischeren Standpunkt einnimmt, sondern aufgrund ihres Alters natürlich auch eine opportunistischere Grundhaltung zeigt.
Die vierte Ebene besteht aus zumeist kurzen Gedankendialogen Gesines mit Lebenden und Toten, in denen sich Gesine oft selbst in ein kritisches Licht setzt. Hier werden die Kompromisse deutlich, die sie eingeht, oft um ihrer Tochter willen, aber sie kritisiert auch ihre eigene Bequemlichkeit, ihre Furcht, als Ausländerin in den USA negativ aufzufallen, ihre Bindungsängste und vieles mehr.
Sowohl das New York des Jahres 1967 als auch das Mecklenburg der 30er Jahre zeichnen sich durch einen großen Reichtum an handelnden Personen aus, wobei es Johnson oft gelingt, eine Person auf wenigen Seiten markant zu charakterisieren. Wer sich einen kurzen Eindruck von Johnsons Erzählkunst verschaffen will, lese zum Beispiel die Charakterisierung des Jerichower Rechtsanwaltes Dr. Avenarius Kollmorgen auf den Seiten 305 ff. (17. November 1967).
Johnson reduziert das Erzählte zumeist auf das Notwendigste, liefert auch häufig zum Verständnis wesentliche Details erst später in anderen Zusammenhängen nach, so dass vom Leser ein gehöriges Maß an Aufmerksamkeit gefordert wird, um den komplexen Beziehungen der Figuren untereinander zu folgen. Dies wird ein wenig dadurch gemildert, dass ab und zu kurze Zusammenfassungen eingeschoben werden, die die Orientierung erleichtern. Auch sprachlich setzt der Text dem Leser einigen Widerstand entgegen: Neben vereinzelten Dialogen im Mecklenburger Platt, fallen heute besonders jene Stellen auf, an denen Johnson englische Wendungen ins Deutsche übersetzt, die heute als Amerikanismen geläufig sind; interessanterweise merkt man gerade an diesen Stellen dem Text am deutlichsten sein Alter an. Und auch sonst ist Johnsons Deutsch eher kantig als eingängig, was wohl als Abbildung eines Deutsch gelesen werden muss, das nicht nur mecklenburgische Wurzeln hat, sondern auch durch den jahrelangen Gebrauch des Englischen verändert wurde.
Der Roman liefert ein außergewöhnlich reiches und differenziertes Bild sowohl des Lebens im Deutschland der ersten Hälfte der 30er Jahre als auch im New York der 60er Jahre. Johnsons prinzipielles Misstrauen gegen Ideologien und eindimensionale Erklärungen sowie seine klare Haltung gegen Rassismus, Diktaturen und Unfreiheit bilden das Fundament der Erzählung, ohne dass der Autor seine Figuren, pardon, Personen mit dieser Grundhaltung überfrachtet. Johnson erzählt, soweit das überhaupt möglich ist, das Leben selbst. Es ist daher nicht verwunderlich, dass im vierten Band Theodor Fontane als Schirmherr dieses Romans herbeizitiert wird.
Was die derzeit verkaufte Kindle-Edition des Romans angeht, so sollte vielleicht nicht unerwähnt bleiben, dass Suhrkamp das Erstellen der betreffenden Dateien noch ein wenig üben muss: Bei Verwendung der sogenannten Verleger-Schriftart zeigt mein Kindle Paperwhite nur graphischen Müll an; bei Wahl einer anderen Schriftart wird auf dem Paperwhite nur Flattersatz angezeigt, während bei Anzeige über die App auf dem iPad die kursive Textauszeichnung komplett verloren geht. Zudem werden die meisten Gedankenstriche nur als Bindestriche dargestellt. Da Suhrkamp derzeit für eBooks nur 1 Cent weniger verlangt als für das entsprechende Taschenbuch, darf man als Käufer wohl ein wenig mehr Sorgfalt bei Herstellung und der Prüfung der Dateien erwarten.
Uwe Johnson: Jahrestage. Aus dem Leben der Gesine Cresspahl. August 1967 – Dezember 1967. Frankfurt: Suhrkamp, 1970. Leinen, Fadenheftung, 478 Seiten. Kindle-Edition. Berlin: Suhrkamp, 2013. 732 KB. 11,99 €.
Aus gegebenem Anlass (X) – Weihnacht
Als ich nun zur Weihnacht 1821 die vorbereitenden Einkäufe besorgen wollte, war ich nicht wenig erstaunt, auf beinahe gänzliches Unverständniß dieser lieblichen Feier zu stoßen. Es kostete mir Mühe, ein Tannenbäumchen aufzutreiben. Als ich mein Verlangen auseinandersetzte, hörte ich an allen Verkaufsorten die verwunderte Frage: »Christbescherung? was ist das? Ah, Sie meinen den Niklo?«
Ich befand mich allerdings in einem katholischen Lande, wo man eigentlich von diesem Feste keine Notiz nimmt. Es war ja in Frankreich nicht anders. Dennoch wunderte ich mich, daß das lebensfrohe, fast kindliche Wien nicht längst eine freundliche Sitte nachgeahmt hatte, welche durch die Gemalin des Erzherzogs Carl, eine protestantische Fürstin, doch schon bekannt sein mußte. Und doch hatte dieses unvergleichliche Kinderfest factisch noch keine rechte Verbreitung gefunden.
Heinrich Anschütz
Erinnerungen aus dessen Leben und Wirken
Thomas Nagel: Geist und Kosmos
Im Lichte dessen, wie wenig wir wirklich von der Welt verstehen, würde ich vor allem die Grenzziehung für das ausweiten wollen, was nicht als undenkbar angesehen wird.
Den etwas vollmundigen Untertitel dieses umfangreichen Essays, „Warum die materialistische neodarwinistische Konzeption der Natur so gut wie sicher falsch ist“ (der in diesem Fall einmal keine reißerische Zugabe des deutschen Verlages ist), kann der Autor, fast möchte man sagen „natürlich“, nicht einlösen, was die Qualität des Buches aber nur unwesentlich mindert. Der Anspruch des Buches erweist sich denn auch als deutlich bescheidener, als es der Untertitel vorgibt, und entspricht eher dem oben zitierten Motto.
Nagels Argumentation nimmt ihren Ausgang bei der Feststellung, dass die gegenwärtige naturwissenschaftliche Darstellung der Entwicklung des Lebens einige wesentliche Fragen nicht oder zumindest nicht ausreichend beantworten kann: Weder könne die Chemie für die Entstehung des Phänomens Leben überhaupt eine Erklärung, noch die Evolutionstheorie eine genügende Herleitung mentaler Phänomene wie Bewusstsein oder gar Vernunft liefern. Dabei betont Nagel, dass er nicht im geringsten bezweifele, dass die Evolutionstheorie bzw. die naturwissenschaftliche Beschreibung der Welt in allen wesentlichen Belangen korrekt sei. Er ist nur der Auffassung, dass diese Theorien mentale Phänomene nur unzureichend erfassen, und ihm scheint dieser Fehler systematischer Natur zu sein. Nagel sieht sich auch nicht dazu in der Lage, eine konkrete Alternativtheorie zu liefern, sondern er plädiert auf einer hoch abstrakten Ebene dafür, dass sich die naturwissenschaftliche Gemeinschaft wenigstens versuchsweise anderen Paradigmen der (aristotelischen!) Ursachenlehre öffnen solle, um mentale Phänomene angemessener beschreiben zu können. Hierzu bieten sich offensichtlich zwei Wege an: Die Entstehung von Leben im Allgemeinen und von bewusstem bzw. vernünftigem Leben im Speziellen könnten einerseits intentional gesteuert sein (ein Schöpfergott als causa formalis (Nagel verwendet die spätaristotelischen Termini nicht, sondern nur die entsprechenden Konzepte)) oder sie könnten durch eine spezifische teleologische Verfasstheit der Grundelemente der Materie (Nagel meint im Grunde nichts anderes als den guten alten Substanz-Begriff, vermeidet aber auch ihn) verursacht sein (causa finalis).
Da Nagel Atheist ist, lehnt er die Hypothese von der intentionalen Verursachung durch einen Schöpfergott ab, selbst wenn sie sich nur so darstellen sollte, dass Gott seine Schöpfung zwar anfänglich entsprechend eingerichtet und anschließend aber den ihr inhärenten Kräften ohne weiteres Eingreifen überlassen habe. Bleibt also die These von der grundsätzlich teleologischen Verfasstheit der Natur, die bereits in ihren Grundelementen den Keim zu vernünftigem Leben in sich tragen soll. Reduziert man das umfangreiche philosophische Gerede Nagels auf seinen Kern, so ist alles, was er zu erreichen versucht, die Überwindung der von ihm (und anderen) empfundenen extremen Unwahrscheinlichkeit der Entstehung des Lebens sowie der Entstehung von Bewusstsein und Vernunft. Sowohl das Leben überhaupt, als auch besonders die Existenz des Menschen sollen keine zufälligen Ereignisse in einem blinden, rein materialistischen Prozess eines kalten, gleichgültigen Universums sein, sondern ausgezeichnete Vorkommnisse, um derentwillen der ganze Aufwand des Seins betrieben wird. Dass dies nur eine weitere Variation des anthropozentrischen Fehlschlusses ist, die witzigerweise zugleich versucht, erneut Metaphysik in einem vorkantianischen Sinne zu etablieren, bedarf kaum einer weiteren Erläuterung. Natürlich versucht Nagel keinen Augenblick lang, seinen Vorschlag zur Wiedereinführung der causa finalis in den naturwissenschaftlichen Diskurs wissenschaftstheoretisch oder gar methodologisch einzubinden; es ließe sich auch nicht imaginieren, wie dies auch nur ansatzweise geschehen soll. Die Reduktion der aristotelischen Vier-Ursachen-Lehre auf die causa efficiens als einziger Ursache-Wirkungs-Relation empirischer Erkenntnis ist so fundamental, dass sie nahezu identisch ist mit der Abgrenzung von naturwissenschaftlichen und metaphysischen Weltbeschreibungen.
Neben diesen sehr prinzipiellen Einwänden könnte man zudem noch kritisieren, dass Nagels Darstellung des naturwissenschaftlichen Verständnisses der Entwicklung von Bewusstsein und Vernunft nicht dem Stand der Forschung entspricht. Sicherlich ist es auch heute noch so, dass wir nur über ein fragmentarisches Verständnis dieser Entwicklung verfügen, doch sind diese Phänomene einer evolutionstheoretischen Darstellung bei weitem nicht so unzugänglich, wie Nagels Text das suggeriert. Die bereits in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts geleisteten Arbeiten etwa von Gerhard Vollmer („Evolutionäre Erkenntnistheorie“ (1975)) und insbesondere Konrad Lorenz („Die Rückseite des Spiegels“ (1973), das eine im Detail sicherlich überholte, in den Grundlinien aber immer noch zu beachtende Naturgeschichte des Erkenntnisvermögens liefert) scheinen auch heute noch nicht vollständig im Bewusstsein der philosophischen Gemeinschaft angekommen zu sein.
Bleibt zu betonen, dass Nagels Buch trotz all dieser Einwände eine gut lesbare, anregende Lektüre ist, auch wenn sie entgegen der Absicht des Autors eher die Unmöglichkeit des vorgeschlagenen Projektes deutlich macht. Nagel ist auch dort, wo er falsch liegt (und er muss zwangsläufig falsch liegen, denn er ist Philosoph), immer klar, verständlich und argumentativ zurückhaltend, Eigenschaften, die auch anderen sogenannten Philosophen gut zu Gesicht stünden.
Thomas Nagel: Geist und Kosmos. Warum die materialistische neodarwinistische Konzeption der Natur so gut wie sicher falsch ist. Aus dem Amerikanischen von Karin Wördemann. Berlin: Suhrkamp, 2013. Pappband, 187 Seiten. 24,95 €.