mein ideal. ich schreibe für die kommenden klugscheisser; um das milieu dieser ära komplett zu machen.
Die 60er Jahre des letzten Jahrhunderts waren eine fruchtbare Zeit für das, was man damals „experimentelle Literatur“ nannte. Dieses formal und stofflich recht uneinheitliche Genre hatte seine deutschsprachige Gründungsschrift wahrscheinlich in Peter Weiss’ „Der Schatten des Körpers des Kutschers“ (1960) und sah – pars pro toto – Merkwürdigkeiten wie Thomas Bernhards Romane („Frost“ (1962)), Peter Bichsels „Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen“ (1964), Max Frischs „Mein Name sei Gantenbein“ (1964), Wolfgang Hildesheimers „Tynset“ (1964), Günter Eichs „Maulwürfe“ (1968), Helmut Heißenbüttels „Projekt Nr. 1. D’Alemberts Ende“ (1970), Paul Wührs „Gegenmünchen“ (1970) und nicht zuletzt natürlich Arno Schmidts Mythos „Zettel’s Traum“ (1970). Alle diese und zahlreiche andere Texte dieser Zeit galten und gelten zum Teil heute noch als schwer oder gar unlesbar oder -verständlich und hätten bei dem heutigen Buchmarkt nur geringe Chancen, es an den Controllern und Finanzfachkräften in Lektorat und Vertrieb vorbei bis in die Druckerei zu schaffen.
Einer dieser Texte war Oswald Wieners Buch „die verbesserung von mitteleuropa, roman“ (1969), das im Erscheinungsjahr erstaunliche drei Auflagen (achttausend Exemplare) erlebte, 1972 als Taschenbuch aufgelegt wurde (Abb. rechts) und 1985 nochmals erschien. Ob es sich 1985 auch verkauft hat, wage ich nicht zu mutmaßen. Weswegen das alles aber hier zur Sprache kommt, ist die überaus erstaunliche Tatsache, dass in den letzten Wochen im österreichischen Verlag Jung und Jung eine weitere Neuausgabe dieses Textes erschienen ist, von dem ich vermutet hätte, dass er inzwischen – sieht man von einigen wenigen eingepuppten Germanisten ab – komplett vergessen ist.
Oswald Wiener (geb. 1935) war einer der theoretischeren Köpfe der sogenannten Wiener Gruppe um H. C. Artmann. Er hatte sich schon früh mit Kybernetik beschäftigt, ist außergewöhnlich breit belesen und hatte schon damals mehr Seiten Prosa weggeworfen, als mancher in seinem Leben überhaupt geschrieben hat. „die verbesserung von mitteleuropa, roman“ – es wäre aufgrund der dem Titel ironisch angeklebten Gattungsbezeichnung mit Sicherheit eines der am häufigsten falsch zitierten und bibliographisch erfassten deutschsprachigen Bücher, wenn es denn zitiert würde – ist ein Konglomerat kürzerer und längerer Texte, die sich im Wesentlichen mit allem beschäftigen, was dem Autor während der 60er Jahre durch den Kopf gegangen sein dürfte. Es finden sich philosophische und linguistische Reflexionen über Sprache, poetologische und literarische Aphorismen, Tagebucheinträge, ein langer Essay „zum konzept des bio-adapters“, „zwei studien über das sitzen“, die en passant allen Peter-Handke-Enthusiasten zur Lektüre empfohlen seien, (zumindest mir) völlig unverständliche Ein-, Zwei- und Mehrzeiler, Schimpfereien und Ressentiments, alles hinter- und untereinander gesetzt wohl in der Hoffnung, jene Authentizität der Literatur wiederzugewinnen, die durch die ewige Reproduktion derselben Formen verloren gegangen zu sein schien.
Der Leser muss für dieses Buch viel Geduld aufbringen und sich einlassen auf die sehr spezifische und unvermittelte Welt des Autors. Alternativ dazu kann er das Buch auch einfach nur durchblätternd anstaunen und lernen, was auf dem deutschsprachigen Buchmarkt einmal möglich war. Jene Freiheit, die uns in den vergangenen 30 Jahren abhanden gekommen ist, scheint hier für einen Augenblick auf. Aber natürlich ist es zum Ausgleich heutzutage viel sicherer als damals. Wovor also fürchten wir uns?
Oswald Wiener: die verbesserung von mitteleuropa, roman. Salzburg: Jung und Jung, 2013. Pappband, 220 Seiten (davon 205 römisch nummeriert). 25,– €.
Besides, besides, why bother to write that kind of stuff down? Has it not been done—and done? Do they need me too to scratch my name on the Wailing Wall? For me the books count—my own included—where the writer incriminates himself. Otherwise, why bother?
Neil MacGregor ist der Direktor des Britischen Museums und hat im Jahr 2011 mit seiner Kulturgeschichte „Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten“ einen internationalen Bestseller geschrieben, die die Entwicklung der Zivilisation anhand ausgesuchter Artefakte aus dem Bestand des Museums nacherzählte. In ähnlicher Weise aufgebaut folgt nun ein Buch zur Zeit und der Welt Shakespeares, also der Jahrzehnte um die Jahrhundertwende vom 16. zum 17. Jahrhundert.
Der Band ist reich illustriert und zeichnet in 20 Kapiteln anhand von Alltagsgegenständen und Druckwerken der Zeit ein durchaus weit gespanntes Panorama der englischen Kultur, Gesellschaft und Politik der Elisabethanischen und ersten Jahre der Jakobinischen Ära. Das ein oder andere Thema spielt bei Shakespeare nur indirekt eine Rolle, wobei MacGregor es versteht, auch die Blindstellen in Shakespeares Widerspiegelung seiner Lebenswelt in den Stücken interessant zu machen.
Das Buch versucht nicht, eine Shakespeare-Biographie zu liefern oder Shakespeares Stücke in irgendeinem erschöpfenden Sinne zu interpretieren (Interpretationen zitiert MacGregor klugerweise von Experten), es will nur die reichhaltige Verwebung der Stücke Shakespeares und der ihre Zuschauer (und ihren Autor) umgebenden Kultur an prominenten Einzelbeispielen aufscheinen lassen. Dies gelingt ihm ausgezeichnet. Das Buch ist als Einführung in die Welt Shakespeares und den Reichtum und die Offenheit seines Theaters bestens geeignet. Es macht Lust, sich mit der spannungsreichen und widersprüchlichen Kultur und Geschichte dieser Zeit, zu der Shakespeares Stücke nur ein Segment einer ganzen Reihe liefern, intensiver auseinanderzusetzen.
Erwähnt werden sollte auch, dass der Band nicht nur in sehr guter Qualität auf schwerem Papier gedruckt wurde, sondern bei einem Preis von knapp 30,– Euro auch mit einer Fadenheftung glänzt. Hätte man auch noch einige Druckfehler ausgemerzt (einer macht – in einer Bildunterschrift – aus dem gerade wieder einmal populären Gun-Powder-Plotter Guy Fawkes einen Guy Hawkes), wäre der Band ein Musterstück geworden.
Neil MacGregor: Shakespeares ruhelose Zeit. Aus dem Englischen von Klaus Binder. München: C.H. Beck, 2013. Bedruckter Pappband, Fadenheftung, Lesebändchen, 347 Seiten. 29,95 €.
Philip Roth hat zwischen 1972 und 2001 drei Erzählungen veröffentlicht, in denen der Literaturprofessor David A. Kepesh als Ich-Erzähler fungiert. Der Auftakt-Text »The Breast« (1972) ist eine vergleichsweise kurze Erzählung, während es sich bei den beiden anderen Texten, »The Professor of Desire« (1977) und »The Dying Animal« (2001), um Romane handelt, auch wenn der spätere eher ein Kurzroman ist.
Reflect upon eternity, consider, if you are up to it, oblivion, and everything becomes a wonder. Still, I would submit to you, in all humility, that some things are more wondrous than others, and that I am one such thing.
»The Breast« erzählt eine kurze, abgegrenzte Episode aus dem Leben David Kepeshs: In den frühen Morgenstunden des 18. Februars 1971 verwandelt sich der 38-jährige Literaturprofessor in eine 155 Pfund schwere, weibliche Brust. Kepesh wird bei der Verwandlung ohnmächtig und kommt erst im Krankenhaus wieder zu sich. Er ist blind, kann aber hören und sprechen und so mit seiner Umwelt kommunizieren. Seine regelmäßigen Besucher sind seine 25-jährige Freundin Claire, sein Psychiater Dr. Klinger und sein Vater.
Zwar wird für die Verwandlung selbst irgendeine (schlecht erfundene) medizinische Begründung geliefert, aber Kepesh kommt zu dem nicht unwahrscheinlichen Schluss, dass er wahnsinnig geworden sein muss, da die Verwandlung eines Mannes in eine Brust schlicht unmöglich sei. Kepesh wehrt sich eine ganze Zeitlang erfolgreich gegen die Versuche Dr. Klingers, ihn von der Realität der Verwandlung zu überzeugen, aber – wie Sigmund Freud so treffend bemerkte – erkennt natürlich niemand einen Wahn, solange er ihn noch teilt. Ob Kepeshs Wahn allerdings darin besteht, sich einzubilden, eine Brust zu sein, oder darin, sich einzubilden wahnsinnig zu sein, bleibt bis zum Ende der Erzählung aufgrund ihrer konsequenten Ich-Perspektive unentschieden. Auch findet am Ende der Erzählung keine Rückverwandlung oder irgend eine andere Art von Vermittlung zwischen der Fiktion und der sogenannten Wirklichkeit der Leser statt.
Bei »The Breast« handelt es sich offensichtlich um Literatur aus Literatur. Roth schätzt die Belesenheit seiner US-amerikanischen Leser nicht sehr hoch ein und liefert daher die wichtigsten Quellen seiner Erzählung explizit mit: Kepesh hält einen regelmäßigen Kurs über europäische Literatur, in dem unter anderem auch Franz Kafkas »Die Verwandlung« und Nikolaj Gogols »Die Nase« (1836) behandelt werden. Während ich die Fabel von »Die Verwandlung« als bekannt voraussetzen darf, will ich die der »Nase« wenigstens in ihren Grundzügen nacherzählen: Ein Petersburger Barbier findet eines Morgens beim Frühstück in dem von seiner Frau frisch gebackenen Brot die Nase eines seiner Kunden, des Kollegienassessors Kowalow. Er beseitigt sie, in dem er sie in ein Taschentuch gewickelt in die Newa wirft. Kowalow bemerkt ebenfalls das Fehlen seiner Nase, an deren Stelle sich eine glatte Fläche in seinem Gesicht findet. Kurze Zeit später erkennt Kowalow seine Nase in der Gestalt und Uniform eines Staatsrates wieder. Nach einigen absurden Verwicklungen wird Kowalow seine Nase von der Polizei wieder zugestellt, da sie sich als Hochstapler erwiesen hat und verhaftet wurde. Auch wenn die Nase zuerst nicht wieder mit dem Gesicht ihres Besitzers zusammenwachsen will, so geht doch alles gut aus, als Kowalow eines Morgens unvermittelt wieder mit der Nase an der richtigen Stelle seines Gesichtes erwacht. Gogol beschließt die Novelle mit folgenden Reflexionen:
Aber das Seltsamste, Unbegreiflichste an der Sache ist, wie es nur Schriftsteller geben kann, die sich solche Gegenstände wählen. Ich muß gestehen, das ist mir das Allerunbegreiflichste … in der Tat, das geht vollständig über mein Begriffsvermögen! Denn erstens hat das Vaterland nicht den mindesten Nutzen davon, und dann zweitens – aber auch zweitens springt kein Vorteil dabei heraus. Kurz, ich weiß nicht, was das soll …
Aber dennoch, trotz alledem, obwohl man schließlich dies und jenes und noch ein drittes zugeben kann und vielleicht sogar … wo gibt es denn übrigens keine unsinnigen Dinge? – Wie man die Geschichte auch drehen und wenden mag, irgend etwas ist doch daran. Man rede, was man will, solche Dinge gibt es in der Welt – zwar nur selten, aber sie kommen vor. [Übers. v. Wilhelm Lange.]
Als dritte Quelle weist Roth auf Swift hin, insbesondere auf die zweite von Gullivers Reisen, aus der er offenbar mehr oder weniger direkt die Idee der riesigen weiblichen Brust bezieht:
Den meisten Widerwillen erregten mir aber die Ehrendamen (wenn meine Wärterin mich zu ihnen brachte), wenn sie alle Rücksichten mir gegenüber beiseite setzten, als sei ich ein geschlechtsloses Geschöpf; denn sie pflegten sich nackt auszuziehen und ihre Hemden anzuziehen, während ich auf ihrem Putztisch gerade vor ihren entblößten Gliedern stand […]. Die schönste dieser Ehrendamen, ein hübsches und munteres Mädchen von sechzehn Jahren, setzte mich mitunter mit gespreizten Beinen auf eine ihrer Brüste und spielte mir mehrere Streiche, deren Übergehung der Leser hier entschuldigen wird, da ich nicht langweilig werden will. [Übers. v. Franz Kottenkamp.]
Für den heutigen Leser hilft es, sich zu vergegenwärtigen, dass diese Erzählung eine unmittelbare Reaktion auf das ist, was gerne als die sexuelle Revolution bezeichnet wird. Diesen Zusammenhang wird Roth in der letzten Kepesh-Erzählung weit deutlicher thematisieren. Dass eine satirische Behandlung der Mammae-Fixierung eines bedeutenden Teils der US-amerikanischen Männer (und wahrscheinlich auch des Autors) ein offensichtliches Thema der Zeit gewesen sein muss, kann man an der schönen Koinzidenz ablesen, dass im selben Jahr wie die Erzählung auch Woody Allens Film »Everything You Always Wanted to Know About Sex« in die Kinos kam, in dem in einer Episode als Ergebnis des Experimentes eines verrückten Wissenschaftlers eine gigantische Brust aus einem Labor ausbricht und die Umgebung terrorisiert.
And I can’t stand him any more. But then i can’t stand anyone. Everything everyone says is somehow wrong and drives me crazy.
Fünf Jahre nach dieser literarischen Handübung mit satirischen Untertönen liefert der Roman »The Professor of Desire« die Vorgeschichte des Ich-Erzählers David Kepesh. Beginnend mit seiner Kindheit als Sohn eines jüdischen Hotelbesitzers in den Catskills erzählt David Kepesh seine Lebensgeschichte bis zum Ende der 60er Jahre. Er entkommt aus den proviziellen Verhältnissen seines Elternhauses an die Universität, wo er sich trotz ersten Ablenkungen durch seine sexuelle Begierde als außergewöhnlicher Student erweist und daher für ein Jahr als Fulbright-Stipendiat nach London gehen darf.
In London erst beginnt sein Sexualleben aufzublühen: Nach ersten Abenteuern mit Prostituierten lernt er zwei zusammenlebende Schwedinnen, Elisabeth und Brigitta, kennen und beginnt zuerst mit der einen, dann mit beiden zugleich ein sexuelles Verhältnis. Diese Dreieck scheitert, als Elisabeth versucht sich umzubringen; der Versuch scheitert, und sie kehrt nach Schweden zurück. Kepesh ist zwar von Gewissensbissen geplagt, wohnt aber weiterhin mit Brigitta zusammen und nimmt auch bald darauf die sexuelle Beziehung zu ihr wieder auf. Diese Erziehung des Gefühls gipfelt in einer gemeinsamen Tour durch Frankreich und Europa, die eine offensichtliche Parodie auf die Kavaliersreisen des 18. und 19. Jahrhunderts darstellt. Für Kepesh ist es klar, dass seine bevorstehende Rückkehr in die USA das Ende seiner Beziehung zu Brigitta bedeuten wird; als auch ihr klar wird, dass Kepesh sie nicht mitzunehmen gedenkt, beendet sie das Verhältnis mit ihm sang- und klanglos.
Die Erzählung überspringt ökonomisch einige Jahre und setzt mit dem Beginn von Kepeshs Beziehung zu Helen Baird wieder ein. Helen ist das, was man ein It-Girl nennt. Sie ist aus den spießigen US-amerikanischen Verhältnissen nach Südostasien geflohen, wo sie eine Zeitlang als Gespielin der Reichen und Schönen zugebracht hat. Als einer der Tycoone ihr anbietet, zu ihren Gunsten seine Gattin beseitigen zu lassen, überkommen sie moralische Zweifel, und sie flieht vor ihrem Halbwelt-Leben zurück in die USA, wo sie von Kepesh auf einer Party aufgelesen wird. Er heiratet Helen, die allerdings angesichts der bürgerlichen Verhältnisse, in die sie durch diese Ehe geraten ist, in Depressionen verfällt und sich mit dem Konsum von Alkohol und Drogen betäubt. Verzweifelt flieht sie erneut nach Hongkong und landet dort im Gefängnis, aus dem Kepesh sie mit der Hilfe eines ihrer alten Freunde befreien und in die USA zurückbringen kann. Mit dieser Episode endet die Ehe.
Nach der Scheidung verfällt Kepesh selbst in eine Phase der Depression; er wechselt von der West- an die Ostküste der USA, beginnt den uns schon bekannten Psychiater Dr. Klinger zu sehen und lernt schließlich nach einer ganzen Weile Claire Ovington, eine Grundschullehrerin, kennen, die ihn körperlich an Helen erinnert (beide Frauen haben natürlich große Brüste), der aber Helens Neurosen und Depressionen ganz und gar fremd sind. Mit Claire beginnt die glückliche Phase in Kepeshs Leben. Er entspannt sich und hier und da scheint es fast, als gelinge es ihm für ein Weilchen einfach nur er selbst zu sein, anstatt ständig inneren und äußeren Ansprüchen, Selbst- und Fremdbildern nachzulaufen. Kepesh reist mit Claire nach Europa, und in Venedig glückt es ihm sogar beinahe, mit der Erinnerung an Brigitta Frieden zu schließen. Das Paar kehrt schließlich nach einem Abstecher über Prag (womit das für »The Breast« zentrale Thema Kafka eingeholt wird, dessen Vorbildcharakter in »The Professor of Desire« übrigens von Tschechow übernommen wird) in die Staaten zurück, wo sie sich für den Sommer ein Haus mieten und das Zusammenleben ausprobieren. Der Roman klingt aus mit einer längeren Episode, in der Davids Vater ihn und Claire besucht, was Gelegenheit dazu gibt, den Tod als Thema in den Roman einzuführen. Ich musste unwillkürlich an den Satz Thomas Buddenbrooks denken: wenn das Haus fertig ist , so kommt der Tod.
Als leise, aber unverkennbar ironische Variation des Musters des klassischen Entwicklungsromans liefert »The Professor of Desire« ein solides Fundament für die Kafka/Gogol-Parodie von »The Breast«; allerdings hätte die kurze, phantastische Erzählung von der Verwandlung eines ordentlichen Professors in das obskure Objekt seiner Begierde kaum im Anschlussan diese Vorgeschichte geschrieben werden können oder zumindest nicht in der unvermittelten Weise, wie dies geschehen ist. Es ist daher kein kleiner Glücksfall, dass David Kepesh im Augenblick seiner Verwandlung das Licht der Literatur erblickt hat.
Akt von Modigliani aus dem Museum of Modern Art, New York
People think that in falling in love they make themselve whole? The Platonic union of souls? I think otherwise. I think you’re whole before you begin. And the love fractures you. You’re whole, and then you’re cracked open.
Erst 2001 erscheint der dritte und letzte Text um David Kepesh. In »The Dying Animal« (der Titel ist ein Yeats-Zitat) ist der Ich-Erzähler inzwischen 70 Jahre alt. Er erinnert sich erzählend an eine acht Jahre zurückliegende Affäre mit einer seiner Studentinnen, Consuela Castillo, der 24-jährigen Tochter eines wohlhabenden kubanischen Exil-Ehepaars, die körperlich dem Grundmuster von Helen und Claire folgt: eine kräftige Frau mit ausladenden Brüsten. Die Affäre dauert anderthalb Jahre und endet, als Kepesh nicht auf der Feier von Consuelas Studienabschluss erscheint, weil er auf dem Weg zum Haus der Castillos von Furcht vor der Begegnung mit der Familie Castillo und dem Bewusstsein der Lächerlichkeit seiner Rolle überwältigt wird. Consuela verzeiht ihm seine Ausrede, dass sein Wagen liegen geblieben sei, nicht.
Die Trennung stürzt Kepesh wieder einmal in eine existenzielle Krise, die er erst nach drei Jahren einigermaßen überwunden hat. Doch am Silversterabend des Jahres 1999 meldet sich Consuela, von der er seit der Trennung nur einige Postkarten erhalten hat (darunter auch eine mit dem Akt Modiglianis, der oben zu sehen ist und von Kepesh ausdrücklich als das Alter Ego Consuelas bezeichnet wird), telefonisch bei ihm und besucht ihn kurz darauf. Sie kommt, um ihm zu sagen, dass man bei ihr Brustkrebs festgestellt und dass sie eine Chemotherapie hinter sich habe und eine Operation in Kürze bevorstehe, bei der man ihr einen Teil der rechten Brust entfernen wird. Sie bittet Kepesh, Fotos von ihr zu machen, die ihren Körper so festhalten, wie Kepesh ihn gekannt und geliebt hat. Anschließend verschwindet sie wieder für einige Wochen, nur um ihm dann mitzuteilen, dass der Operationstermin nun feststehe und man ihr die ganze rechte Brust wird entfernen müssen.
Erzählt wird dies alles als langer Monolog Kepeshs vor einem anonym bleibenden Zuhörer an dem Tag, als Consuela sich wieder bei Kepesh meldet. Consuela ist in Todesangst, und der Text endet damit, dass Kepesh aufbrechen will, um ihr beizustehen. Nur an dieser einen Stelle kommt der Zuhörer von Kepeshs Monolog zu Wort:
Stay if you wish. If you want to stay, if you want to leave . . . Look, there’s no time, I must run!
»Don’t.«
What?
»Don’t go.«
But I must. Someone has to be with her.
»She’ll find someone.«
She’s in terror. I’m going.
»Think about it. Think. Because if you go, you’re finished.«
Mit diesem Satz beendet Roth die Geschichte David Kepeshs. Er ist auch der Grund für die eher ungewöhnliche Erzählperspektive des Textes, da das abschließende Urteil, Kepesh sei erledigt, wenn er seinem Gefühl für Consuela noch einmal nachgebe, nur dann seine ganze Wirkung entfalten kann, wenn es sich dabei nicht um eine weitere der endlosen Selbstbespiegelungen Kepeshs, sondern um das objektive Urteil eines Dritten handelt. Dass dieser Dritte sowohl der Autor als auch der Leser sein kann und sein soll, steht für mich außer Frage.
Der Kurzroman »The Dying Animal« rundet die Kepesh-Trilogie auf elegante Weise ab, indem er das Thema des Todes als Widerlager des sexuellen Begehrens Kepeshs, das am Ende von »The Professor of Desire« kurz erschienen war, aufgreift und durchführt. In diesem Sinne bilden die drei Texte eine relativ geschlossene Einheit. Dies könnte aber darüber hinwegtäuschen, dass Roth sich mit der Biographie Kepeshs erhebliche Freiheiten herausnimmt: In »The Breast« ist Kepesh im Februar 1971, zum Zeitpunkt seiner Verwandlung, 38 Jahre alt, was seine Geburt in das Jahr 1932 oder 1933 (das Geburtsjahr des Autors) legt. Claire ist zu diesem Zeitpunkt 25 Jahre alt. Fünf Jahre später werden diese Daten leicht variiert: »The Professor of Desire« endet im Jahr 1969 oder 1970; die Terminierung ist dadurch möglich, dass der letzte Teil der Erzählung mindestens ein Jahr nach dem Ende des Prager Frühlings spielt. Kepesh ist in diesem Jahr 34 Jahre alt, während Claire wieder als 25-Jährige auftritt. Der Altersunterschied zwischen beiden ist also um vier Jahre geschrumpft, und Kepeshs Geburtsjahr liegt im Jahr 1935 oder 1936.
Noch heftiger werden die Verwerfungen in »The Dying Animal«: Hier ist Kepesh zu Anfang des Jahres 2000 70 Jahre alt, was sein Geburtsjahr in das Jahr 1929 vorverlegt. Er weiß in diesem Buch nichts mehr von Claire oder Helen, von Brigitta oder Elisabeth, stattdessen hat er einen 42-jährigen Sohn, Kenny, der aus einer Ehe hervorgegangen ist, die wahrscheinlich von 1956 bis 1965 gedauert hat. Kepesh behauptet außerdem, er habe bereits mit 16 eine Geschlechtskrankheit gehabt, die er zusammen mit ihrer Spenderin in »The Professor of Desire« verschwiegen hatte. Andererseits haben auch die Eltern dieses Kepeshs ein Hotel in den Catskills geführt, so dass wenig Zweifel bestehen, dass die beiden anderen Kepeshs mit diesem identisch sein sollen. Auch ist es unwahrscheinlich, dass Kepesh seinen anonymem Zuhörer mit einer erfundene Biographie täuschen will, da er zum Beispiel an einer Stelle einen Brief seines Sohnes vorliest, also einen physischen Beweis für die Fundiertheit seiner Erzählung liefert, ohne dass dies in irgend einer Weise notwendig wäre. Überhaupt ist kein Grund zu erkennen, warum dieser Kepesh in Sachen seiner Biographie seinen Zuhörer und den Leser anlügen sollte. Es bleibt als Schlussfolgerung nur, dass Roth, um Kepeshs Verwicklung in die Dynamik des studentischen Lebens Mitte der 60er Jahre und die sogenannte sexuelle Revolution wahrscheinlich und sinnvoll zu machen, ihm eine völlig andere Biographie zuschreiben musste. Warum auch nicht, nachdem er ihn schon einmal ganz und gar in eine weibliche Brust transformiert hatte?
Die Kepesh-Trilogie ist ein schönes Muster für die schriftstellerische Durcharbeitung und Fortschreibung einer literarischen Figur und eines Konglomerats von Themen und Motiven, wobei sich die Gewichtung der Motive und ihre perspektivische Darstellung mit dem Alter und der Erfahrung des Autors verändern. Dabei besteht kein Anspruch, mehr zu tun, als den Mitlebenden ein Leben zu erzählen, in dem sie sich mehr oder weniger klar spiegeln können, wobei es ihnen nicht anders ergeht als dem Protagonisten dieses Lebens selbst.
Philiph Roth: The Breast. In: Novels 1967–1972. New York: Library of America, 2005. S. 601–641. Leinen, Lesebändchen, Fadenheftung. Ca. 26,– €.
Philiph Roth: The Professor of Desire. In: Novels 1973–1977. New York: Library of America, 2006. S. 679–869. Leinen, Lesebändchen, Fadenheftung. Ca. 27,– €.
Philiph Roth: The Dying Animal. In: Novels 2001–2007. New York: Library of America, 2013. S. 1–91. Leinen, Lesebändchen, Fadenheftung. Ca. 26,– €.
Ein gewisser Mann […] verlor einmal einen diamantenen Manschettenknopf im großen blauen Meer, und zwanzig Jahre später aß er an genau dem gleichen Tag, anscheinend einem Freitag, einen großen Fisch – aber es war kein Diamant darin. Das ist es, was mir am Zufall so gefällt.
1. Seume – Johann Gottfried Seume (1763–1810) ist einer von jenen Zeitgenossen Goethes mit einer Biographie von unten, wie Walter Jens das einmal genannt hat. Er wird daher heute normalerweise zusammen mit Karl Philipp Moritz und Ulrich Bräker in einer der kleineren Schubladen der Literaturgeschichte des ausgehenden 18., beginnenden 19. Jahrhunderts abgelegt. Seume war Sohn eines Landwirts und ehemaligen Böttchers, erwies sich als begabter Knabe, studierte zuerst Theologie an der Universität von Leipzig, machte sich noch als Student auf den Weg nach Paris, wurde aber von Zwangswerbern des Landgrafen von Hessen-Kassel aufgegriffen und zusammen mit zahlreichen Landeskindern als Soldat nach Amerika verkauft. Doch hatte er Glück im Unglück: Als er endlich in der Neuen Welt ankam, wurden seine Dienste als Soldat nicht mehr benötigt. Also schiffte man ihn wieder nach Deutschland ein, wo er umgehend aus hessischen Diensten desertierte, aber in der preußischen Armee landete, der er sich ebenfalls mehrfach durch Desertion zu entziehen suchte, was ihm eine Kerkerhaft eintrug. Erst 1789 gelingt es ihm, nach Leipzig zurückzukehren, diesmal um dort Jura, Philosophie und Geschichte zu studieren. Nach dem Studium gerät er über den Umweg einer Hofmeisterstelle wieder ins Militär, diesmal in die russische Armee, bis er 1796 endgültig ins Zivilleben zurückkehrt.
Seume arbeitet nun einige Jahre als Korrektor für den ehemals Leipziger, nun Grimmaschen Verleger Göschen, bevor er im Oktober 1801 zu einem längeren Spaziergang aufbricht, der ihn in gut zehn Monaten von Grimma aus nach Syrakus und wieder zurück bringen wird. Bereits im Jahr 1803 erscheint dann der umfangreiche Bericht zur Reise als Buch, wobei einiges von dem Material, noch während Seume unterwegs ist, in Wieland »Teutschem Merkur« zu lesen gewesen war. Das Buch ist ein so großer Erfolg, dass bereits nach einem knappen halben Jahr eine zweite Auflage nötig ist. Und dem ersten Reisebuch folgt ein zweites: Von April bis September 1805 unternimmt Seume eine Reise durch Polen, Russland, Finnland, Schweden und Dänemark, aus der dann nach nun bewährtem eigenen Vorbild im Jahr darauf das Buch »Mein Sommer 1805« hervorgeht. Der »Sommer« wird allerdings kein ähnlicher Verkaufserfolg wie der »Spaziergang«, er sorgt dafür in anderem Sinne für Furore, indem er kurz nach seinem Erscheinen in Russland, Österreich und Süddeutschland aufgrund der unverhohlen republikanischen Gesinnung seines Autors verboten wird. Das letzte große Prosabuch Seumes, die Autobiographie seines wechselvollen Lebens, bleibt Fragment, da Seume im Juni 1810 nur 47-jährig stirbt.
Dass Seumes vergleichsweise dünnes Werk es geschafft hat, den Zeitläuften bis heute zu trotzen, liegt wohl in der Hauptsache an einer seltenen Kombination von Eigenschaften: Seumes Neigung zu unverstellter Ehrlichkeit, seinem direkten und zugleich immer persönlichen Stil, der Komplexität seiner politischen Auffassung (um nicht Auffassungen zu schreiben) und nicht zuletzt seinem kantigen, wenig kompromissbereiten Charakter. Aus dieser Vielfalt konnten sich zahlreiche Interessengruppen des 19. Jahrhunderts immer das heraussuchen, was ihnen am besten in ihren Kram passte: Die einen lasen ihn als Vorläufer des Vormärz und deutschen Republikaner, den anderen war er ein deutscher Nationalist von echtem Schrot und Korn, den Dritten wieder war er ein individualistischer Querdenker, der eine spannungsreiche Alternative sowohl zur Weimarer Klassik als auch zur Jenaer Romantik lieferte. So beginnt Seumes Kanonisierung als Deutscher Klassiker bereits im 19. Jahrhundert, als seine Schriften in mehreren Gesamt- und Werkausgaben gleichrangig mit denen Goethes, Schillers, Shakespeares und anderer deutscher Nationalschriftsteller ediert werden.
2. Sein Verlag – Damit sind hier weder Göschen noch Hartknoch gemeint, sondern der 1981 gegründete Deutsche Klassiker Verlag (DKV), dessen edelste und zugleich einzige Aufgabe darin bestand, die Bibliothek deutscher Klassiker (BdK) herauszubringen. Gegründet wurde er von Siegfried Unseld als Schwesterverlag zu Suhrkamp und Insel, und die BdK sollte wohl so etwas wie ein verlegerisches Denkmal für diesen etwas eitlen deutschen Verleger werden: Eine nach einheitlichen Kriterien und in einheitlicher Aufmachung erstellte, kanonische Sammlung dessen, was in der deutschen Literaturtradition gut und wichtig war und ist.
Da es bei großen Dingen bekanntlich genügt, sie gewollt zu haben, fiel auch die Größe dieses intellektuellen Gebirges weit bescheidener aus, als man es sich aus der Idee allein imaginieren würde: Zwar wurde eine halbwegs ansehnliche Auswahl mittelalterlicher Texte zusammengestellt, aber die deutschsprachige Literatur vom Beginn der Neuzeit bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts ist wie üblich äußerst dünn repräsentiert. Erst mit Lessings Werken beginnt eine einigermaßen kanonisch-umfassende Präsentation wichtiger Autoren und Werke. Man bemerkt auch bei der Auswahl für das 18. und 19. Jahrhundert leicht, dass die BdK nicht viel anderes ist als eine Neuauflage eines sehr traditionellen und weitgehend unoriginellen Literaturkanons, wie man ihn ähnlich auch im 19. Jahrhundert schon kennt. Hier und da kann die Auswahl trotzdem überraschen:
Herder etwa wird mit einer umfangreichen Ausgabe aufgenommen, obwohl er zwar zu den einflussreichsten, aber sicherlich nicht mehr zu den populären Weimarer Klassikern gehört.
Novalis, der es als Vertreter der Romantik sicherlich verdient hätte, wenigstens in einer bedeutenden Auswahl präsentiert zu werden, fehlt.
Dagegen würdigt man Bettine von Arnim gleich mit vier Bänden und den doch etwas randständigen, eher für Germanisten und Historiker interessanten Karl August Varnhagen von Ense (dessen »Denkwürdigkeiten« zu edieren zweifellos eine Großtat war) gleich mit fünf Bänden. (Witzigerweise kommt die Vanhagen-von-Ense-Ausgabe im sogenannten Gesamtverzeichnis des Deutschen Klassiker Verlages 2008/2009 überhaupt nicht vor. Vielleicht weiß beim Verlag inzwischen niemand mehr, dass man das einstmals gedruckt hat.)
Heine fehlt, obwohl er sicherlich weit bedeutender und einflussreicher ist als etwa Gottfried Keller (ohne damit etwas gegen Keller als Schriftsteller sagen zu wollen).
Grillparzer ist vorgesehen, nicht aber Grabbe oder Hebbel.
Damit sind wir bei den Schwächen der Realisierung des ambitionierten Projekts angekommen. Zahlreiche der angefangenen Ausgaben wurden nicht abgeschlossen: Wieland bleibt ein Fragment (drei Bände erscheinen), ebenso Tieck (fünf Bände) und Grillparzer (zwei Bände); bei der Kant-Ausgabe blamiert man sich komplett, da man nicht nur falsch einschätzt, dass kein Mensch Kant in einer Ausgabe des DKV lesen, geschweige denn zitieren wird, so dass man dieses Seitenstück nach dem einzigen erschienenen Band einfach für abgeschlossen erklärt. Und natürlich sind auch die tatsächlich abgeschlossenen Ausgaben durchaus nicht auf einem einheitlichen Niveau: Während etwa die Herausgeber der Kleist-Ausgabe bei ihrem Kommentar offenbar davon ausgehen, dass Kleist in der Hauptsache von Sechstklässlern gelesen wird, scheint der Herausgeber der Hölderlin-Ausgabe zu der Ansicht gekommen zu sein, es handele sich bei dem von ihm kommentierten Autor um einen Verfasser literarischer Rätsel – jedenfalls gleicht sein Kommentar einem Lösungsteil und sollte in zukünftigen Ausgaben daher besser auf dem Kopf stehend gedruckt werden.
Natürlich ist nicht alles schlecht: Zur Herder-Ausgabe gibt es keine rezente Alternative; die Lessing-Ausgabe überzeugt auch und besonders durch die Briefsammlung und auch die E.T.A.-Hoffmann-Ausgabe weiß zu gefallen. Hinzukommt, dass die Ausstattung der Leinen- bzw. Lederbände mit Fadenheftung, je zwei Lesebändchen und gutem Dünndruckpapier überzeugt. Im Bücherschrank machen sich die Bände gut, und auch in der Hand liegen sie so, wie das sein soll. Typographisch ist eine solche Massenausgabe (Masse nur, was die Menge der Texte angeht, nicht im Sinne der potenziellen Käuferschicht) natürlich immer ein Kompromiss, aber auch das ist mehr als annehmbar gelöst worden.
Aus all diesen Gründen habe ich zur BdK immer eine gewisse Hass-Liebe gehegt: Man hätte so vieles an ihr besser machen können, aber andererseits muss man angesichts des Umfangs und dessen, was gewollt wurde, zugestehen, dass es auch viel schlimmer hätte kommen können.
3. Einer seiner Leser – Das alles steht hier aus einem ganz konkreten Anlass: Vor zwei Jahren hatte ich mich endlich entschlossen, mir für eine unbestimmte Zukunft endlich doch die Herder-Ausgabe des DKV zuzulegen: Mein Buchhändler – Gott schütze das Gewerbe! – war so nett, mir die Bände zu liefern und mir zu erlauben, sie in monatlichen Raten abzustottern. Als wir damit fertig waren, hatte ich mich inzwischen entschlossen, noch ein paar andere Ausgaben zu kaufen, besonders weil mir klar war, dass sich das Lager des DKV in absehbarer Zeit sehr lichten und ich mich vielleicht doch am Ende ärgern würde, wenn ich die wenigen, für mich noch interessanten Ausgaben nicht gekauft hätte.
Also gab ich noch einmal eine Bestellung für eine umfangreichere und zwei der kleineren Ausgaben auf. Darunter auch die Seume-Auswahl, die drei Bände umfasst: Band 1 bringt die drei großen und mehr oder weniger bekannten autobiographischen Texte, Band 2 eine Auswahl der Kleineren Schriften und Gedichte und Band 3 schließlich eine Sammlung von Briefen Seumes, die die eigentliche Perle der Ausgabe ist. Wahrscheinlich um im Lager endlich Platz zu schaffen, gab es seit einiger Zeit alle drei Bände zum Gesamtpreis von 128 €, was etwa 65 % des ursprünglichen Preises entspricht. Nun ließ sich an der Ausgabe durchaus einiges aussetzen: Das wissenschaftliche Renommee des Herausgebers wird wohl am besten dadurch charakterisiert, dass die Titanic ihn einst Jörg »Professor« Drews genannt hat, die Auswahl der Kleineren Schriften fällt eher dürftig aus und die drei Texte des ersten Bandes standen natürlich längst in akzeptablen Ausgaben im Bücherschrank. Andererseits kostete der Band 3 mit den Briefen allein schon 80 €, so dass man die Bände 1 und 2 zum reduzierten Preis beinahe geschenkt bekam. Daher wurde die Ausgabe mitbestellt.
Als mein Buchhändler dann im vergangenen Januar mit dem Verlagsvertreter zusammensaß, schüttelte der bedenklich den Kopf: Die Seume-Ausgabe sei leider derzeit nicht lieferbar, da Band 1 fehle. Aber angesichts der doch nicht unerheblichen Gesamtbestellung griff er zum Telefon, fragte beim Verlag nach und erhielt die Auskunft: Band 1 werde in jedem Fall entweder im März oder im Mai nachgedruckt und die Ausgabe zu dem günstigen Preis wieder angeboten. Unter dieser Voraussetzung bestellte mein Buchhändler für mich. Als mir das erzählt wurde, gab ich zu Bedenken, dass derzeit noch ein einzelnes, neues Exemplar bei Amazon lieferbar sei und ich mich ärgern würde, wenn sich die Zusicherung von Suhrkamp als falsch erwiese. Doch mein Buchhändler war optimistisch, und so blieb es dabei.
Als im Juni dann von der Seume-Ausgabe immer noch nichts zu sehen war, fragte mein Buchhändler beim Verlag nach, bei genau jenem Mitarbeiter, der im Januar den Nachdruck von Band 1 fest zugesagt hatte. Er erhielt daraufhin per E-Mail die Auskunft, dass der Band 1 nicht mehr nachgedruckt werde, dass überhaupt mit dem Erscheinen der Register-Bände der Goethe-Ausgabe (ein tragikomisches Stück deutscher Editionskunst für sich) die Produktion des DKV zum Ende gekommen sei. Die jetzt fragmentarischen Ausgaben würden nicht mehr vervollständigt; auch weitere Taschenbuch-Ausgaben würden nicht mehr hergestellt. Man könne ersatzweise Band 2 und 3 der Seume-Ausgabe zum reduzierten Preis und Band 1 in der Leder-Ausgabe zum Preis bei Abnahme der Gesamtedition liefern, was zusammen allerdings noch deutlich über dem ursprünglichen Gesamtpreis der Leinenausgabe gelegen hätte, den ich ja schon nicht hatte zahlen wollen. Und das einzige, im Januar noch lieferbare Exemplar bei Amazon war natürlich auch längst verkauft.
Ich habe dann den Fehler begangen, den Mitarbeiter bei Suhrkamp selbst anzurufen, anstatt meinen Buchhändler alles Weitere regeln zu lassen. Der Mann war von meinem Anruf alles andere als begeistert, meinte dass er den Band 1 nicht habe und daher auch nicht liefern könne und auch bei der entsprechenden Lederausgabe könne er mir preislich nicht weiter entgegenkommen. Ich war – bei allem Verständnis für die schwierige Lage des Verlags – alles andere als begeistert davon, dass er sich bei einem durchaus guten Kunden nicht einmal dafür entschuldigte, dass er im Januar den Nachdruck noch fest zugesagt hatte und das nun alles nicht mehr stimmen sollte. Er beendete das Gespräch dann mit der Vertröstung, dass er einmal schauen wolle, was er für mich noch tun könne und dass er sich noch einmal melden würde.
So weit, so schlecht. Dass ich mich abgewimmelt fühlte und nicht mehr daran glaubte, noch etwas von Suhrkamp zu hören, versteht sich von selbst. Doch als mein Buchhändler vierzehn Tage später nachfragte, ob sich in der Sache denn noch etwas getan habe, bekam er die überraschende Auskunft, Suhrkamp werde die Ausgabe wie bestellt liefern. Der Mitarbeiter von Suhrkamp hatte sich die Mühe gemacht, ein einzelnes Exemplar der Leinenausgabe des ersten Bandes in einer Lieferung von Remittendenexemplaren ausfindig zu machen, die an einen Berliner Buchhändler verkauft worden war. Er hat den Buchhändler angerufen, der den Band herausgesucht und zurückgelegt hat, ist persönlich dort vorbeigegangen und hat das Buch für mich dort abgeholt. Seit Dienstag bin ich nun im Besitz eines vollständigen, neuwertigen Exemplars der Seume-Ausgabe zum versprochenen Preis.
Eigentlich wollte ich mich hier nur kurz bedanken! Das war außergewöhnlich nett von ihm und ich werde, immer wenn ich eines der Bücher zur Hand nehme, an ihn und daran denken, wie die Bände in mein Regal gelangt sind!
Johann Gottfried Seume: Werke in zwei Bänden. Hg. v. Jörg Drews. Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker Verlag, 1993. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 1101 u. 927 Seiten. Nur noch Band 2 lieferbar: 76,– € bei Einzelbezug.
Derselbe: Briefe. Hg. v. Jörg Drews und Dirk Sangmeister. Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker Verlag, 2002. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 1135 Seiten. 80,– € bei Einzelbezug.
Ich bin mir nicht sicher, wie bekannt in Deutschland Monsieur Hulot heute noch ist. In der Generation meiner Eltern gehörten Jacques Tatis Filme »Die Ferien des Monsieur Hulot« und »Mein Onkel« (der nach dem Gewinn des Sonderpreises der Jury in Cannes 1958 und des Oscars für den besten fremdsprachigen Film im Jahr 1959 immerhin als der am höchsten premierte Film aller Zeiten beworben wurde) zum allgemeinen kulturellen Unterfutter, so dass die meisten aus meiner Genration diese Filme noch kennen und schätzen gelernt haben. Wenn ich allerdings jungen Leuten von M. Hulot erzähle, ernte ich oft nicht mehr als verwunderte Blicke, dass es zu den Zeiten, als ich jung gewesen bin, überhaupt schon bunte Filme gegeben haben soll. Ich nehme an, das liegt daran, dass Tatis Filme vom Fernsehen nicht mehr wiederholt werden oder wenn, dann auf Arte oder wo.
In Frankreich scheint die Lage noch etwas günstiger zu sein, denn David Merveille legte 2010 mit Erfolg ein Bilderbuch vor, dessen ganzer Zauber sich nur dem eröffnet, der Tatis Filme und ihren Humor kennt, der in beinahe allen Fällen übrigens ganz ohne Sprache auskommt und deshalb für ein reines Bilderbuch ideal geeignet ist. Der NordSüd Verlag hat nun eine Ausgabe für den deutschsprachigen Markt herausgebracht, die allen, die M. Hulot bereits kennen, ans Herz gelegt sei (jeder braucht mindestens zwei Exemplare: eins für sich selbst und eines zum Verschenken), und allen anderen ein Anlass sein soll, die ganz und gar wundervolle Welt Jacques Tatis zu entdecken!
Wie in jedem alternden Verfassungssystem bildet der Verfassungstext die Verfassungsrealität nicht mehr adäquat ab.
Eine sehr kurze Geschichte der deutschen staatsrechtlichen Verfasstheiten – von Verfassungen lässt sich für den größten Teil der deutschen Geschichte ja nicht sprechen. Dabei liefert Willoweit über weite Strecken der Darstellung jeweils kurze Abrisse der historischen Abläufe und thematisiert nur en passant, welche quasi verfassungsrechtlichen Grundsätze die Politik und die Entscheidungen der Handelnden lenken und beschränken. Erst ab dem 19. Jahrhundert, wenn tatsächliche Verfassungstexte vorliegen, wird die Perspektive juristischer.
Ich habe von einer »deutschen Verfassungsgeschichte«, wie das Buch im Untertitel heißt, eines Juristen eine deutlich abstraktere Analyse des Themas erwartet. Auf nur wenig mehr als 120 Seiten lässt sich auch ein einzelner Aspekt der deutschen Geschichte vom Mittelalter bis zur Jetztzeit nur erfassen, wenn man mit einem starken Modell oder einer deutlichen Hypothese arbeitet. Das zwangsläufig immer anekdotisch bleibende Nacherzählen einzelner Ereignisse hat mir jedenfalls nicht genügt.
Die wenigen Seiten zum 20. Jahrhundert und insbesondere zur Verfassung der Bundesrepublik und der DDR sind dagegen so informativ, dass man sich wünschte, Willoweit hätte sich auf den Zeitraum ab Gründung der Weimarer Republik oder ab der Reichgründung 1871 konzentriert.
Dietmar Willoweit: Reich und Staat. Eine deutsche Verfassungsgeschichte. Lizenzausgabe. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, 2013. Broschur, 128 Seiten. 4,50 €.
Bitte beachten Sie, dass die Lizenzausgaben der Bundeszentrale für politische Bildung immer nur für kurze Zeit lieferbar sind.
Dieser eher leichte Unterhaltungsroman mit beinahe tragischem Ausgang entstand unmittelbar im Anschluss an »Die Mutprobe« in der ersten Jahreshälfte 1931. Er hat eine etwas komplexe Entstehungsgeschichte, da er 1936 als erster Roman Nabokovs ins Englische übersetzt wurde. Nabokov war mit der für den britischen Markt erstellten Übersetzung sehr unzufrieden, so dass er sich, als er 1937 eine Anfrage eines US-amerikanischen Verlegers bekam, entschloss, den Text für die nordamerikanische Ausgabe selbst neu zu übersetzen. Er hatte kurz zuvor seinen Roman »Verzweiflung«, der nach »Gelächter im Dunkel« entstanden war, ins Englische übersetzt, wusste also, worauf er sich einließ. Die neue Übersetzung geriet aber – wie das später auch bei der Übersetzung anderer seiner frühen Romane der Fall sein würde – zugleich zu einer gründlichen Überarbeitung. In diesem Fall war die Neugestaltung so weitgehend, dass sich der Herausgeber der deutschen Nabokov-Ausgabe dafür entschieden hat, die deutsche Übersetzung der ursprünglichen Fassung des Romans – »Camera obscura« betitelt – als Variante im Anhang des Buches komplett mitzuliefern. Da ich die spätere Fassung nicht sehr überzeugend fand, habe ich auf die Lektüre der früheren vorerst verzichtet.
Erzählt wird die Geschichte des 30-jährigen Kunsthändlers Albert Albius, der aus seiner ihn langweilenden bürgerlichen Ehe ausbricht, als er sich in das junge Mädchen Margot, eine Schönheit, die als Platzanweiserin in einem Kino arbeitet, verliebt, die in ihm die Chance zu einer Karriere wittert: Entweder Albert ermöglicht ihr, ihren Traum zu verwirklichen, Filmstar zu werden, oder aber er wird sie heiraten. Margot selbst hat eine frühe Leidenschaft für den Karikaturisten Axel Rex hinter sich, der, wie es der Zufall und der Autor wollen, zum entfernten Bekanntenkreis Alberts gehört und so später an passender Stelle aus der Kulisse heraus auftreten kann.
Albert verfällt Margot weitgehend, finanziert ihren ersten Film, der sich allerdings nur verbrennen lässt, um das Schlimmste zu verhindern, und lebt dann eine ganze Weile neben dem Liebespärchen Margot & Axel her, ohne etwas von ihrer intime Verbindung zu bemerken. Diese emotionale und soziale Blindheit genügt dem Autor aber noch nicht: Als Albert dem Paar endlich auf die Schliche gekommen zu sein scheint, verwickelt ihn Nabokov in einen Autounfall, der ihn auch noch leiblich erblinden lässt, was für einen Kunsthändler und gehörnten Liebhaber vergleichbar ungünstig ist. Margot & Axel treiben ihr Spiel noch eine Weile mit dem Blinden, den sie systematisch finanziell ausnehmen, bis ein weiterer Zufall auch dies auffliegen lässt. Als Abschluss konstruiert Nabokov noch ein tragikomisches Ende, in dem Albert versucht, Margot aus Rache zu erschießen, aber natürlich selbst Opfer der gewissenlosen Megäre wird.
Der Roman ist motivisch nett gestrickt, aber alle Figuren sind denkbar flach und schematisch und selbst dort, wo es Gelegenheit gäbe, ihnen ein wenig Tiefe und Spannung zu verleihen – etwa als Alberts Tochter stirbt –, geht sie vorüber, ohne dass sich etwas Wesentliches ereignet. Die Handlung ist sehr vorhersehbar; alles ist darauf angelegt, die Vorlage für ein Drehbuch zu liefern, in das das Buch viel später denn auch umgegossen worden ist. Bis auf wenige Motive – Menschen ohne Empathie, die zerstörerische Macht der Sexualität, Blindheit für das Offensichtliche – ein weitgehend harm- und folgenloser Roman.
Vladimir Nabokov: Gelächter im Dunkel. Aus dem Englischen von Renate Gerhart und Hans-Heinrich Wellmann; bearb. von Dieter E. Zimmer. In: Gesammelte Werke III. Frühe Romane 3. Hg. v. Dieter E. Zimmer. Reinbek: Rowohlt, 1997. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 271 (von 813) Seiten. 39,95 €.
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