So jetzt schreit schon wieder meine schizophrene Nachbarin, eine sehr nette und gebildete alte Dame, damit ich zu ihr komme, um sie zu unterhalten. Letzte Woche schrie und rezitierte sie während der Nacht so laut zum Fenster hinaus, daß ich mich anzog, zu ihr rüberging und ein paar Flaschen Sekt mit ihr trank, worauf sie guter Dinge war. Stell Dir vor, ich war seit 12 Jahren der erste Mensch, der ihre Wohnung betrat, denn alle hatten sie Angst, ihre Schwelle zu überschreiten, weil die alte Dame ja wahnsinnig ist, und weil sie glaubten, von ihr erstochen zu werden. Ich habe mit der Polizei, dem Psychiater und dem Pfarrer gesprochen, alles eiskalte Charaktermasken und daraufhin beschlossen, diesen Umgang künftig zu meiden und stattdessen öfter meine Abende sekttrinkenderweise mit geisteskranken Damen zu verbringen.
Hans Peter Duerr
an Paul Feyerabend
Theodor Fontane: Effi Briest
Man hat wieder mal gelernt: aufpassen.
Meine Lektüregeschichte zu »Effi Briest« ist lang und etwas kompliziert: Es ist der erste Roman Fontanes, den ich überhaupt gelesen habe – es muss 1981 gewesen sein – und ich war bei meiner erste Lektüre alles andere als angetan. Ich war damals – beeinflusst durch die intensive Lektüre Arno Schmidts und das langsame Erobern des »Ulysses« – ein sehr formaler Leser und hatte zugleich vom 19. Jahrhundert kaum mehr als eine Ahnung. Von daher erschien mir Fontane in der Hauptsache als ein laxer, unordentlicher Erzähler, der wenig um das Gerüst bzw. die Konstruktion seiner Erzählung gab. Während des Studium begriff ich dann langsam, um was es Fontane beim Erzählen dieses Romans gegangen war und lernte von den scheinbaren formalen Schwächen abzusehen.
Noch später dann verwendete ich »Effi Briest« als Gegenfolie zu Arno Schmidts sogenannter Etym-Theorie, indem ich spaßeshalber bei dem auf den ersten Blick unverdächtigen Fontane den bewussten Einsatz von Etym-Techniken nachwies, also Schmidts Rede von der »4. Instanz« konterkarierte. Und mit der Zeit stellte sich Effi Briest dann endlich auch in die Reihe der berühmten literarischen Frauengestalten des 19. Jahrhunderts ein.
Wenn man nach einer solchen Lektüregeschichte von fünf oder sechs Lektüren aus didaktischem Anlass erneut zu einem Buch zurückkehrt, besteht immer die Gefahr, dass man enttäuscht wird, dass die Faszination des Buches ausgeschöpft scheint. Doch auch diesmal hat sich Fontane als Erzähler bewährt.
Wie bekannt sein sollte, erzählt »Effi Briest« von Schicksal der zu Anfang 17-jährigen Titelheldin, die an einen mehr als doppelt so alten Mann, einen ehemaligen Bewerber um die Gunst ihrer Mutter verheiratet wird. Effi und Geert von Instetten passen nicht sehr gut zusammen oder, um nicht ungerecht zu sein, sie finden erst nach längerer Zeit die Ebene, auf der sie miteinander statt nebeneinander her leben können. In der Zwischenzeit aber hatte Effi aus Langeweile und Neugier eine kurze Affäre mit einem anderen Mann, die nicht nur gut sechs Jahre später ihre Ehe, sondern ihr gesamtes Leben ruinieren soll. Nach der Scheidung findet sich Effi gesellschaftlich isoliert, sogar zu ihrer eigenen Tochter findet sie keinen Kontakt mehr. Und, obwohl schuldig, endet ihr Leben tragisch: Zu unangemessen an ihren Fehltritt erscheint die Härte, mit der sie von ihrer Welt abgeschlossen wird. Selbst jenen, die ihr am nächsten standen, ihren Eltern und ihrem ehemaligen Ehemann, kommen Bedenken, aber auch ihnen fehlt eine wirkliche Alternative zu dem, was sie eben tun. Es tut ihnen leid, aber was soll man angesichts der Forderungen der Gesellschaft nach Moral und Gerechtigkeit anderes machen, als der Ungerechtigkeit nachgeben?
Daher müsste natürlich einmal gründlich über die Menschlichkeit der Fontaneschen Erzählungen geredet werden: Trotz der unbestreitbaren Ungerechtigkeit, die sich in Effis Schicksal manifestiert, ist keine der Hauptfiguren (vom Apotheker Gieshübler vielleicht einmal abgesehen) ganz schuldig oder ganz und gar unschuldig. Natürlich hätten sich sowohl Instetten als auch Effis Eltern anders verhalten können und sollen, als sie es getan haben, aber Fontane bleibt misstrauisch gegenüber solchen moralischen Anforderungen an das Individuum. Auch nützt es wenig, Effi oder Crampas anzuklagen; die eine, weil sie keine wirkliche Chance hat, sich der Verführung zu erwehren (I can resist everything except temptation.), den anderen, weil er eben auch nur seiner Natur folgt und sich jederzeit über die möglichen Folgen im Klaren ist, die er resignierend in Kauf nimmt. Und so geschieht hier das Böse ohne die Bösen (den Bösen waren wir schon in Goethes Faust losgeworden). Niemand, den man nicht verstehen könnte, der nicht seine Gründe hätte, sich erst einmal um sich und erst später um die Folgen für die anderen zu kümmern. Es gehört zu den besten bei Fontane zu findenden Einsichten, wie ganz obenhin, gedankenlos und zugleich unausweichlich die Grausamkeit der menschlichen Gesellschaft entsteht.
Darüber hinaus ist mir bei der jetzigen Lektüre deutlicher als zuvor die motivische Dichte des Romans aufgefallen: Überall finden sich Ehebrühe oder außereheliche sexuelle Beziehungen, ständig wird der Leser daran erinnert, welche eine dünne Lackschicht die offizielle Moral bildet über einer gesellschaftlichen Wirklichkeit, die von Sexualität in den unterschiedlichsten Formen umgetrieben wird.
Und wirklich, Briest hielt mit besonderer Zähigkeit eine ganze Zeit lang an dieser Anschauung fest. Erst nach der zweiten Probe, wo das »Käthchen«, schon halb im Kostüm, ein sehr eng anliegendes Sammetmieder trug, ließ er sich – der es auch sonst nicht an Huldigungen gegen Hulda fehlen ließ – zu der Bemerkung hinreißen, »das Käthchen liege sehr gut da,« welche Wendung einer Waffenstreckung ziemlich gleich kam oder doch zu solcher hinüber leitete.
Es ist erstaunlich, wie subtil und dennoch nicht weniger deutlich Fontane die zentrale Bedeutung sexueller Verhältnisse zu thematisieren vermag, ohne dabei für die Leserinnen der Familienblätter, für die er in erster Linie schrieb, anstößig zu werden. Zugleich macht er klar, dass ihm die unverstelltere Behandlung des Themas in der zeitgenössischen Literatur durchaus bekannt ist:
… die Zwicker sei reizend, etwas frei, wahrscheinlich sogar mit einer Vergangenheit, aber höchst amüsant, und man könne viel, sehr viel von ihr lernen; nie habe sie sich, trotz ihrer fünfundzwanzig, so als Kind gefühlt, wie nach der Bekanntschaft mit dieser Dame. Dabei sei sie so belesen, auch in fremder Literatur, und als sie, Effi, beispielsweise neulich von Nana gesprochen und dabei gefragt habe, »ob es denn wirklich so schrecklich sei,« habe die Zwicker geantwortet: »Ach, meine liebe Baronin, was heißt schrecklich? Da gibt es noch ganz anderes.« »Sie schien mich auch«, so schloß Effi ihren Brief, »mit diesem ›anderen‹ bekannt machen zu wollen. Ich habe es aber abgelehnt, weil ich weiß, daß Du die Unsitte unserer Zeit aus diesem und ähnlichem herleitest, und wohl mit Recht. Leicht ist es mir aber nicht geworden. Dazu kommt noch, daß Ems in einem Kessel liegt. Wir leiden hier außerordentlich unter der Hitze.«
Ein durch und durch wundervoller Roman, der auch in sieben Lektüren nicht auszulesen ist. Ich bin schon jetzt gespannt, wann ich wieder bei ihm vorbeikommen werde.
Theodor Fontane: Effi Briest. Große Brandenburger Ausgabe. Das erzählerische Werk, Bd. 15. Berlin: Aufbau Verlag, 1998. Leinenband, Fadenheftung, Lesebändchen, 534 Seiten. 25,– €.
Robert Louis Stevenson: Der Master von Ballantrae
Der Mann war in Schlaf gefallen, und träumte einen Traum, und jedes unsanfte Wecken musste sich unweigerlich als tödlich erweisen.
Beim Einstellen meiner letzten Stevenson-Lektüre ins Bücherregal fiel mir dieser immer noch ungelesene Roman in die Hände, der im Jahr 2010 in einer Neuübersetzung bei mare erschienen ist. Er dürfte heute in Deutschland zu den unbekannteren Werken Stevensons zu zählen, obwohl es seit Ende des 19. Jahrhunderts zahlreiche Übersetzungen des Textes geben hat.
Erzählt wird die Geschichte zweier Brüder aus altem schottischem Hochadel: James, der als der ältere und erbberechtigte den Titel des Masters von Ballantrae trägt und Henry. Die Handlung umfasst knapp 20 Jahre und beginnt im Jahre 1745, als Charles Edward Stuart versucht, sich gewaltsam des englischen Throns zu bemächtigen. Die Familie des Lords von Durrisdeer und Ballantrae entschließt sich, auf etwas merkwürdige Weise die Neutralität zu wahren, indem einer der beiden Brüder zur Unterstützung des Eroberers auszieht, während der andere brav und königstreu daheim bleibt. Nun fiele die Rolle des Rebellen eigentlich dem jüngeren Bruder Henry zu, um die natürliche Erbfolge nicht zu gefährden, doch besteht der Master so lange auf einer Vertauschung der Rollen, bis man ihm nachgibt und das Los entscheiden lässt.
Über den in den Krieg ziehenden Master treffen bald schlechte Nachrichten in der Heimat ein: Zuerst gibt es üble Nachreden, dass er sich als Schotte zu sehr um die Gunst der die Armee Prince Charlies anführenden Iren bemüht, und schließlich heißt es von ihm, er sei in der Schlacht von Culloden gefallen. Aufgrund dessen rückt Henry in der Erbfolge auf, übernimmt die Verwaltung des Gutes und des Vermögens und heiratet die eigentlich für seinen Bruder gedachte reiche Erbin. Natürlich kommt es, wie es kommen muss: Statt ordentlich im Reich der Toten zu verbleiben, meldet sich der nach Frankreich geflohenen Master alsbald wieder, um erhebliche Geldforderungen zu stellen. Der jüngere Bruder kommt diesen Forderungen nach, ohne seinen Vater oder seine Frau davon in Kenntnis zu setzen, obwohl dies eine erhebliche Belastung für das Vermögen der Familie darstellt. Als ihm die immer erneuten Forderungen dann doch zu viel werden und er seinem Bruder einen abschlägigen Bescheid erteilt, taucht dieser natürlich postwendend persönlich auf, um Vater und Schwägerin zu umgarnen und sich selbst in den Besitz des Vermögens zu versetzen. Die Konfrontation der beiden Brüder endet in einem Duell, in dem der Master von Ballantrae scheinbar tödlich verletzt wird.
Aber auch dieser Tod erweist sich als nicht dauerhaft: Nach einer in Indien und Nordamerika verbrachten Zeit kehrt der verlorene Sohn ein weiteres Mal in die Heimat zurück, was seinen jüngeren Bruder diesmal zur Flucht veranlasst: Er reist mit Frau und Sohn (der alte Lord ist inzwischen verstorben) nach New York ab, wohin ihm sein Bruder nach nur wenigen Monaten folgt. Im wilden Norden des Kontinents kommt es schließlich zum Showdown der Geschichte, der hier natürlich nicht verraten werden soll.
Das Besondere des Romans ist allerdings nicht auf der Ebene der Fabel zu finden, sondern besteht in der für einen solchen Abenteuerplot eher ungewöhnlichen Erzählposition: Als Erzähler fungiert nämlich ein Bediensteter Lord Henrys, der Gutsverwalter Ephraim Mackellar, der nicht nur als moralischer und sittlicher Anker der Erzählung fungiert, sondern auch selbst eine nicht unbeträchtliche Entwicklung durchläuft. Diese Erzählerfigur erlaubt es Stevenson, beide Brüder auf ihre jeweils eigene Weise verrückt werden zu lassen: James, indem er zum absoluten Egoisten wird, dem alles zum eigennützigen Kalkül gerät, und Henry, indem er über der jahrzehntelangen Feindschaft zu seinem Bruder langsam aber sicher paranoid wird. Mackellar selbst, der sich immer erneut bemüht, seine Treue und Verbundenheit mit seinem Herrn herauszustellen, wird mit der Zeit nicht nur von James in den Bann geschlagen, er wird an einer Stelle sogar bis zu dem Punkt gebracht, einen Mordversuch an James zu unternehmen, der mit Mackellars sonstigen Selbstverständnis kaum in Einklang zu bringen ist.
Angesichts dieser subtilen Erzählposition ist die von Stevenson später ergänzte, recht konventionelle Herausgeberfiktion, die dem Autor das Manuskript Mackellars hundert Jahre nach der Niederschrift in die Hand spielt, kaum der Rede wert. Der Roman ist ein erzählerisch brillantes Kabinettstück, das einmal mehr unter Beweis stellt, dass Stevenson deutlich mehr war als ein Unterhaltungsschriftsteller.
Robert Louis Stevenson: Der Master von Ballantrae. Eine Wintergeschichte. Aus dem Englischen übersetzt von Melanie Walz. Hamburg: mare, 32011. Bedruckter Leinenband in bedrucktem Schuber, Lesebändchen, 352 Seiten. 29,90 €. (Die sehr gute Übersetzung liegt inzwischen auch bei dtv im Taschenbuch vor.)
Paul Feyerabend: Briefe an einen Freund
Sinn hat dieses verrückte Leben keinen und scheinbar einen konstruieren kann man nur dann, wenn man eine Unmenge neuen Unsinns dem alten Unsinn hinzufügt. Alles was man tun kann, ist Märchen erzählen und sich und andere so vorübergehend zu unterhalten.
Der Band präsentiert wohl etwa die Hälfte oder auch etwas mehr des Briefwechsels zwischen Paul Feyerabend und Hans Peter Duerr, der den Band herausgegeben hat. Das heißt, es handelt sich in der Hauptsache um Briefe Feyerabends an Duerr, denn die Briefe Duerrs in umgekehrter Richtung haben sich leider nur in Einzelfällen erhalten, da Feyerabend mit ihnen gänzlich sorglos umgegangen ist.
Es ist natürlich hübsch, Briefe gerade von diesen beiden kreativen Außenseitern des akademischen Wissenschaftsbetriebs lesen zu können. Während Duerr eher durch seine Inhalten und Interpretationen verstört, nimmt Feyerabend den gesamten Betrieb nicht mehr ernst und nur noch im Sinne einer Lebensweise an ihm teil. Was die meisten Fachkollegen und Kritiker an Feyerabends Schriften am meisten irritiert haben dürfte, ist ihre prinzipiell skeptische Grundposition, die nicht versucht, dem Allmachtsanspruch des Rationalismus einen anderen entgegenzusetzen, sondern sich mit der Haltung des Kindes begnügt, das die Nacktheit aller Herrscher ausschreit.
Außer um das Elend des Wissenschaftsbetriebs im persönlichen und allgemeinen Sinne geht es in der Hauptsache ums Schreiben und Lesen, hier und da auch um Frauen, Familie und Essen. Am Rande fallen einige hübsche Kurzporträts ab – am reizvollsten ist vielleicht das Siegfried Unselds geraten.
Für mich persönlich war es hübsch zu lesen, dass Feyerabend als ehemaliger popperscher Rationalist seine Wandlung der Wittgensteinschen Gehirnwäsche verdanke.
Ein sehr menschliches Buch, aus dem vielleicht kommende Jahrhunderte ersehen könnten, dass nicht alle Menschen der sogenannten westlichen Kultursphäre des 20. Jahrhunderts dem Wahnwitz verfallen waren.
Paul Feyerabend: Briefe an einen Freund. Hg. v. Hans Peter Duerr. edition suhrkamp 1946. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1995. Broschur, 291 Seiten. 11,50 €.
Robert Louis Stevenson: Stimmen
Die gordischen Knoten des Lebens lassen sich nicht durchhauen; ein jeder will lächelnden Angesichts entschnürt sein.
Der Autor, Übersetzer und Verleger Friedhelm Rathjen hat in der von ihm selbst verlegten Edition ReJoyce vier seiner kleineren Stevenson-Übersetzungen, die einst für den Haffmans Verlag – Gott hab ihn selig – erstellt wurden, in einer limitierten Kleinauflage von 99 nummerierten und vom Übersetzer signierten Exemplaren neu gedruckt. Es handelt sich um:
Die verdrehte Janet (1881) – die Geschichte eines jungen, intellektuellen Pastors, der zu Beginn des 18. Jahrhunderts in einer schottischen Gemeinde das Amt des Seelsorgers übernimmt und als Haushälterin die übel beleumundete Janet einstellt, die sich schließlich als vom Teufel besessen erweist. Das alles wird 50 Jahre nach den Ereignissen von einem Augenzeugen im breitesten schottischen Lowland-Dialekt erzählt, den Rathjen erstmals ins Deutsche transportiert.
Der Flaschenkobold (1891) ist eine der bekannteren Südsee-Erzählungen Stevensons, vielleicht auch aufgrund der Tatsache, dass sie wenigstens eine Zeitlang im Curriculum deutscher Schulen zu finden war. Sie stellt jedenfalls meine erste Begegnung mit Stevenson dar, wobei ich beim jetzigen Wiederlesen bemerkt habe, dass ich die hawaiianische Einkleidung der Geschichte komplett vergessen hatte, mich dafür aber ein ein viel dramatischeres Ende der Geschichte erinnere, bei dem ein Schiff explodiert – wahrscheinlich eine die Lektüre überlagernde Erinnerung an eine Verfilmung des Stoffs, die ich aber auch nicht mehr identifizieren kann. Hübsch ist, dass es sich beim »Flaschenkobold« um ein Plagiat eines Plagiats handelt, nämlich um die kreative Bearbeitung eines englischen Theaterstücks vom Anfang des 19. Jahrhunderts, das wiederum ein österreichisches Theaterstück plagiiert, das eine Dramatisierung von Friedrich de la Motte Fouqués »Das Galgenmännlein« (1810) darstellt.
Erzählt wird die Geschichte des Matrosen Keawe, der in den Besitz einer Flasche kommt, die von einem Kobold bewohnt wird. Wer die Flasche besitzt, dem werden vom Flaschengeist alle seine Wünsche erfüllt, doch hat die Sache natürlich einen Haken: Wer im Besitzt der Flasche stirbt, fährt direkt zur Hölle, und loswerden kann man die Flasche nur zu einem niedrigeren Preis, als man sie selbst erworben hat. Keawe nutzt die Flasche klug und mit Maßen, verkauft sie auch bald an einen Bekannten und könnte daher glücklich und zufrieden sein Leben verbringen, doch als er die Liebe seines Lebens gefunden hat, muss er feststellen, dass er am Aussatz erkrankt ist. Er jagt also der Flasche nach, bringt sie ein weiteres Mal in seinen Besitz, nun aber schon zu einem so niedrigen Preis, dass er Gefahr läuft, dass sie bei ihm hängen bleiben wird. Doch seine kluge Frau weiß Rat und so machen sie die beiden auf den Weg ins französische Tahiti, wo es Münzen mit noch geringerem Wert als einen Cent gibt. Wie das ganze ausgeht, soll mit Rücksicht auf jene, die die Geschichte noch nicht kennen, nicht verraten werden.
Die Insel der Stimmen (1893) erzählt die Geschichte Keolas, eines etwas faulen Gesellen, der die Tochter eines Zauberers heiratet. Eines Tages wird er von seinem Schwiegervater in das Geheimnis eingeweiht, woher dieser zu seinem Reichtum kommt: Er versetzt sich durch Zauberei auf eine andere Insel, an deren Strand er Muscheln einsammelt, die sich bei seiner Rückkehr in blanke Dollars verwandeln. Leider wird Keola, nachdem er dies erfahren hat, noch fauler und ein wenig habgierig und versucht, seinen Schwiegervater zu erpressen, woraufhin ihn dieser zu einer Bootsfahrt einlädt und ins Meer wirft. Wie durch ein Wunder wird Keola aber von einem Schiff aufgefischt und landet nach einer langen Reise genau auf jene Insel, an deren Strand sein Schwiegervater sein Geld schöpft. Auch hier will ich das Ende verheimlichen.
Eine Weihnachtspredigt (1888) schließlich ist ein moralisierender Erguss über die Notwendigkeit von Demut und Zurückhaltung des Christenmenschen bei der Be- beziehungsweise Verurteilung anderer ob ihrer Sünden. Wahrscheinlich ist der Text für heutige Leser ausschließlich des stilistischen Kontrastes wegen interessant, um zu sehen, dass Stevenson auch diesen Ton beherrschte.
Ein hübsches, exklusives Bändchen, das allen Stevenson-Freunden ans Herz gelegt sei. Es bleibt zu hoffen, dass auch Rathjens »Schatzinsel«-Übersetzung in nächster Zeit wieder einen Verleger findet – bei mare würde sie doch eigentlich ganz gut ins Programm passen, oder?
Robert Louis Stevenson: Stimmen. Drei höllische Geschichten und eine himmlische Plauderei. Übersetzt von Friedhelm Rathjen. Südwesthörn: Edition ReJoyce, 2013. Auf 99 Exemplare limitierte, nummerierte und vom Übersetzer signierte Auflage. Bedruckter Pappband, 111 Seiten. 25,– €. Bestellung direkt an: rejoyce@gmx.de
David Markson: Wittgensteins Mätresse
Weswegen vielleicht jetzt alles leicht in die Länge gezogen erscheint, oder sogar astigmatisch.
Ein in vielerlei Hinsicht seltsames Buch: Es beginnt vielleicht damit, dass es, obwohl bereits 1988 in den USA erschienen und dort rasch als eines der Muster postmoderner Literatur gehandelt, erst jetzt auf Deutsch erscheint und das wohl auch nur, weil sich die Übersetzerin aus echter Begeisterung ohne Auftrag ans Übersetzen und sich persönlich für sein Erscheinen stark gemacht hat. David Marksons frühere Bücher (Krimis und Western) waren wohl auf Deutsch erschienen, aber in dem Moment, in dem Markson damit begann, Literatur ohne klares Genre zu schreiben, schien das Interesse auf deutscher Seite eingeschlafen zu sein.
Das Buch ist eine Variation der Endzeit-Robinsonade: Die Erzählerin Kate scheint der letzte Mensch auf Erden zu sein. Wie und weshalb es zum Aussterben der Menschheit, ja wahrscheinlich allen tierischen Lebens auf Erden gekommen ist, wird vernünftiger Weise verschwiegen. Kate hat von den USA aus, die Beringstraße querend, sich durch Asien nach Europa durchgeschlagen und ist auf demselben Weg auch wieder dorthin zurückgekehrt. Sie glaubt, vielleicht ein einziges Mal einen anderen Menschen, einmal eine Katze gesehen zu haben, bezweifelt aber wenigstens zeitweilig, dass ihrer Wahrnehmung auch eine Realität entsprach. Sie lebt nun an der Pazifikküste der USA in einem Strandhaus. Sie war einst Malerin (und hat deshalb in den großen Städten Europas in den berühmten Museen gelebt), verbringt aber ihre Tage nun offensichtlich hauptsächlich vor der Schreibmaschine, in die sie den vorliegenden Text tippt. Kate selbst geht davon aus, dass sie während ihrer Zeit in Europa eine Phase des Wahnsinns durchlebt hat, die sie aber jetzt hinter sich glaubt.
Es hat offenbar wenig Zweck, nach der Wahrscheinlichkeit einer solchen Konstruktion zu fragen. Ein Verschwinden allen tierischen Lebens auf Erden, zumindest an Land, würde auch den Untergang wenigstens der Blütenpflanzen unmittelbar nach sich ziehen. Da aber die Erzählerin auch weiterhin Rosen schneidet und Gemüse erntet, müssen wenigstens Insekten überlebt haben, die aber ohne ihre Fressfeinde unter den Wirbeltieren in wenigen Generationen zu einer solchen Plage geworden sein müssten, dass die Erzählerin sicherlich davon zu berichten wüsste. Die Realität der Fiktion ist also schon am Ursprungspunkt ihrer Erfindung äußerst brüchig. Dies mag auch der Grund dafür sein, dass der Verlag im Waschzettel suggeriert, dass es sich bei der beschriebenen Wirklichkeit auch um ein Wahngebilde der Erzählerin handeln könnte. Eine solche Deutung scheint mir der Text aber eher nicht zu stützen.
Der gesamte Roman lebt einzig von dem einen Grundeinfall, eine Erzählerin zu erfinden, die niemanden mehr hat, dem sie erzählt, ja, die nicht einmal mehr selbst die von ihr erzeugte Erzählung nachliest, sondern ausschließlich noch erzählt, um die Zeit zu füllen. Es handelt sich um die letzte Zuspitzung des literaturtheoretischen Konzepts vom Erzählen als Mittel zum Überleben. Da die Essenz der Erzählung aber vollständig auf den Akt des Erzählens reduziert ist, gerät alles andere weitgehend beliebig: Formal könnte der Text statt 300 auch ebenso gut 3.000 oder 30 Seiten umfassen, inhaltlich ergibt sich aus dem ehemaligen Beruf der Erzählerin gerade noch ein Schwerpunkt bei Künstler-Anekdoten, aber ansonsten kreist das Buch ausschließlich um sich selbst. Da niemandem mehr erzählt wird, ist es auch völlig gleichgültig, ob das Erzählte irgend einer Realität entspricht, und da das Gedächtnis der Erzählerin nicht das beste zu sein scheint, geht alles wild durcheinander: Personennamen und Anekdoten werden frei miteinander kombiniert, Ereignisse aus dem Leben der Erzählerin immer wieder neu variiert, Tatsachen nach Laune erfunden, korrigiert, erneut verändert und widerrufen. Der Text ist nur noch Text und verfügt über keinerlei objektivierende Referenz mehr. Er ist daher auch gänzlich inhaltslos, reine Fiktion ohne jede weitere Funktion.
Da das Fundament dieses selbstverliebten Karussells alles in allem und trotz dem exzessiven Namedropping doch recht dünn ist, hat sich zumindest bei mir nach 100 Seiten zunehmend Langeweile eingestellt: Hat man einmal das Prinzip des erzählerischen Fleischwolfs durchschaut, wird es rasch fade, da es immer und immer wieder dasselbe Fleisch ist, das durchgedreht wird. Nicht besser wird es dadurch, dass der Autor eine recht eigentümliche Art akademischen Humors pflegt:
Was ich weiß, ist, dass Martin Heidegger einmal ein Paar Schuhe besaß, die in Wirklichkeit Vincent van Gogh gehört hatten, und die er anzuziehen pflegte, wenn er im Wald spazieren ging.
Ich habe übrigens keinen Zweifel, dass auch das eine Tatsache ist.
Da lacht der Philosophieprofessor!
Das Buch wäre in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts in Europa unter das Schlagwort »experimentelle Literatur« gefallen, und es bleibt ebenso äußerlich und weitgehend beliebig wie ein Großteil der damaligen Produkte. Wie meinte Arno Schmidt so richtig:
Wer ein Buch schreiben will, muß viel zu sagen haben: meistens mehr, als er hat.
In diesem Sinne.
David Markson: Wittgensteins Mätresse. Aus dem Englischen von Sissi Tax. Berlin: Berlin Verlag, 2013. Pappband, Lesebändchen, 336 Seiten. 22,99 €.
Aus meinem Poesiealbum (XVI) – Positivismus
Die Welt ist alles, was der Fall ist. Die Masse will es so, es ist ein Kreuz.
Eckhard Henscheid
Beim Fressen beim Fernsehen fällt der
Vater dem Kartoffel aus dem Maul
Gustave Flaubert: Madame Bovary
Heute wäre es keinem von uns mehr möglich, sich auch nur im geringsten an ihn zu erinnern.
In der verdienstvollen Reihe von Kassiker-Neuübersetzungen, die in schöner Folge und hervorragender Ausstattung bei Hanser erscheinen, ist im letzten Jahr auch Flauberts »Madame Bovary« einmal mehr vorgelegt worden. Die Übersetzerin Elisabeth Edl, die zu Recht mit Ihren Übersetzungen Stendhals bekannt geworden ist, legt nach ihrer eigenen Zählung immerhin schon die 28. Übersetzung des Textes ins Deutsche vor. Dabei geht sie mit den Vorläufern hart ins Gericht:
Selbstverständlich finden sich unter diesen 27 Versionen auch solche, die den Roman flüssig und in geläufiger deutscher Sprache wiedergeben; es gibt allerdings auch erstaunlich viele Stellen, die allein sachlich noch niemals richtig übersetzt wurden. Aber auch die besten unter ihnen verfehlen die spezifische Qualität ganz und gar; gerade auch die berühmte und oft gelobte Übersetzung von René Schickele ist eher eine schöne, freie Nacherzählung als eine Übersetzung Flauberts.
Edl kritisiert die mangelnde Sorgfalt bei der Übersetzung von grammatikalischer Struktur und Wortstellung, die Flaubert in mühevollster Arbeit herauskristallisiert habe. Auch an der Wiedergabe der von Flaubert jeweils gewählten sprachlichen Stilebene würden alle bisherigen deutschen Ausgaben wesentlich scheitern. Am verzeihlichsten ist wohl, wenn Doppeldeutigkeiten und Wortspiele unübersetzt bleiben, da sich ein Übersetzer hier immer zwischen der Skylla der wörtlichen Übersetzung und der Charybdis der Ersetzung durch ein zielsprachliches Pendant durchlavieren muss, die sich in den meisten Fällen beide als nur mäßig witziger Ersatz für das Original erweisen.
Nun reicht mein fragmentarisches Französisch, das sich hauptsächlich aus meinem Latein speist, nicht hin, um die Übersetzung Edls daraufhin abzuklopfen, ob sie den theoretischen Ansprüchen der Übersetzerin tatsächlich genügt. Alles, was ich vermag, ist es, einige auffällig Stellen herauszupicken und mit dem Original und der zufälligen Auswahl von Übersetzungen zu vergleichen, die mir vorliegt.
Beginnen wir mit einer der offenbar hässlichen Stellen, an der eine anstößige Wiederholung ein und derselben Formulierung aufstößt:
Madame Bovary nahm die Schüssel. Um sie unter den Tisch zu stellen, bückte sie sich und machte eine Bewegung, bei der ihr Kleid (es war ein Sommerkleid mit vier Volants, gelb, lange Taille, weiter Rock), bei der ihr Kleid sich auf den Fliesen der Stube glockig um sie rundete; … (Edl, S. 173)
Schauen wir zuerst einmal, was die anderen Übersetzer schreiben:
- Frau Bovary nahm die Schüssel und stellte sie unter den Tisch; bei dieser Bewegung bauschte sich ihr Kleid (es war mit vier Volants besetzt, gelb, mit langer Taille und weit geschnittenem Rock), breitete sich rings um sie auf dem Fußboden aus. (René Schickele (1907), hier zitiert nach einer Ausgabe bei Manesse von 1952, S. 209 f.)
- Frau Bovary ergriff die Schüssel und setzte sie unter den Tisch. Bei diesem Bücken bauschte sich ihr Rock (ein weiter gelber Rock mit vier Falbeln) um sie herum und stand wie steif auf der Diele, … (Arthur Schurig (1911), hier zitiert nach einer Ausgabe im Insel Verlag von 1952, S. 161.)
- Madame Bovary nahm die Schüssel und wollte sie unter den Tisch stellen. Als sie sich bückte, breitete sich ihr Kleid – ein gelbes Sommerkleid mit vier Volants, langer Taille und weitem Rock – rings um sie auf den Fliesen aus. (Walter Widmer (1959), hier zitiert nach einer Ausgabe bei Artemis & Winkler von 1993, S. 170.)
- Madame Bovary nahm das Becken, um es unter den Tisch zu stellen. Als sie sich dabei hinunterbeugte, breitete sich ihr Kleid (es war ein Sommerkleid mit vier Volants, von gelber Farbe, mit langer Taille und weitgeschnittetem Rock) um sie herum auf den Fliesen des Wohnzimmers aus; … (Caroline Vollmann, Haffmans, 2001, S. 182.)
Wie man auf den ersten Blick sieht, findet sich in keiner der vorherigen Übersetzungen die Wiederholung der Phrase bei der ihr Kleid, so dass der Verdacht eines Übersetzungsfehler nahe liegt. Schauen wir also ins Original:
Madame Bovary prit la cuvette. Pour la mettre sous la table, dans le mouvement qu’elle fit en s’inclinant, sa robe (c’était une robe d’été à quatre volants, de couleur jaune, longue de taille, large de jupe), sa robe s’évasa autour d’elle sur les carreaux de la salle; …
Tatsächlich findet sich die stilistisch harte Wiederaufnahme des Satzes durch die Wiederholung des sa robe bei Flaubert, und Edls Übersetzung scheint die erste zu sein, die dieser Härte nicht ausweicht und versucht, dem Autor stilistisch aufzuhelfen, sondern sich an Struktur und Wortwahl des Originals hält.
Schauen wir eine andere Stelle an, bei der das Original der Übersetzung einigen Widerstand entgegensetzt: Der Apotheker Homais, eine der wichtigsten Nebenfiguren des Romans, wird mit einer seiner besserwisserischen Tiraden in den Roman eingeführt. Opfer seiner Belehrung ist die Wirtin des Lion d’or, die über die Notwendigkeit unterrichtet wird, sich einen neuen Billardtisch zuzulegen:
Puisque celui-là ne tient plus, madame Lefrançois, je vous le répète, vous vous faites tort! vous vous faites grand tort! Et puis les amateurs, à présent, veulent des blouses étroites et des queues lourdes. On ne joue plus la bille; tout est changé! Il faut marcher avec son siècle!
Hier ist die Bedeutung des kurzen Satzes On ne joue plus la bille durchaus nicht auf Anhieb klar. Dementsprechend unterschiedlich fallen die Übersetzungen aus:
- … man spielt jetzt eben anders! (Schickele, S. 125)
- Mit solchen Bällchen spielt man nicht mehr. (Schurig, S. 97)
- Man spielt nicht mehr so gemütlich mit Murmeln, … (Widmer, S. 101)
- … man spielt die Kugeln nicht mehr direkt; … (Vollmann, S. 109)
Während René Schickele nicht den Satz, sondern sein Unverständnis ins Deutsche übersetzt, reimen sich Schurig und Widmer (dieser auch noch unter Hinzufügung eines nicht im Original zu findenden Adjektivs) etwas zusammen, was der Satz durchaus bedeuten könnte, was er aber eben nicht eindeutig bedeutet. Caroline Vollmann versteht wenigstens die Funktion des Satzes, nämlich dass sich Homais hier mit einer fachmännisch klingenden Phrase gegenüber der Wirtin als Kenner ausweisen möchte, doch gerät ihre Lösung leider zu konkret und sinnvoll. Elisabeth Edl wählt dagegen eine Wendung, die ebenso undeutlich ist wie das Original: Man bespielt die Kugeln nicht mehr; (S. 103) – auch hier weiß der Leser nicht, was eigentlich mit dem Satz gemeint sein soll, denkt aber, besonders wenn er vom Billard so wenig versteht wie die Wirtin, es müsse sich dabei doch auch was denken lassen.
Man verzeihe mir ein letztes, kurzes Beispiel: Auf S. 212 der hier besprochenen Übersetzung ragt das Wort Lassreidel aus dem Text heraus:
Sie kamen zu einer breiteren Stelle, wo man Lassreidel gefällt hatte. Sie setzten sich auf einen umgelegten Baumstamm und Rodolphe sprach nun von seiner Liebe.
Für das Wort Lassreidel findet sich im Original der Ausdruck baliveaux. Beides sind Fachwörter aus der Forstwirtschaft und bezeichnen Bäume eines sogenannten Mittelwalds, die bei einer Fällung vorerst stehen geblieben sind, um erst ein oder mehrere Jahre später gefällt zu werden. Das Wort Lassreidel auch nur zu finden, dürfte keine kleine Mühe gewesen sein. Schauen wir noch einmal, wie es die anderen machen:
- Sie kamen auf eine Lichtung. Sie setzten sich auf einen umgestürzten Baumstamm und Rodolphe begann von seiner Liebe zu sprechen. (Schickele, S. 258)
- Sie standen in einer Lichtung, in der gefällte Baumstämme lagen. Sie setzten sich beide auf einen.
Von neuem begann Rudolf, von seiner Liebe zu reden. (Schurig, S. 197)- Sie gelangten auf eine kleine Lichtung, wo man junge Stämme gefällt hatte. Sie setzten sich auf einen der umgelegten Bäume, und Rodolphe fing an von seiner Liebe zu reden. (Widmer, S. 208)
- Sie kamen auf eine Lichtung, auf der Jungholz geschlagen worden war. Sie setzten sich auf einen gefällten Baumstamm, und Rodolphe begann, von seiner Liebe zu ihr zu sprechen. (Vollmann, S. 223)
Und zum Abgleichen das Original:
Ils arrivèrent à un endroit plus large, où l’on avait abattu des baliveaux. Ils s’assirent sur un tronc d’arbre renversé, et Rodolphe se mit à lui parler de son amour.
Gerade dieses Beispiel ist hübsch, weil keiner der oben zitierten Übersetzer der Falle entgangen ist, un endroit plus large mit Lichtung zu übersetzen. Flauberts Text aber weiß gar nichts von einer Lichtung, sondern nur von einem etwas weiteren Platz, auf dem einige wenige Bäume gefällt worden sind. Während sich Schickele und Schurig (dessen Sie setzten sich beide auf einen das Zeug hat, in der ewigen Bestenliste übersetzerischer Stilblüten einen der vorderen Plätze einzunehmen) um das Problem herumdrücken, baliveaux zu übersetzen, wählt Vollmann mit Jungholz wenigstens einen forstwirtschaftlich klingenden Begriff, nur leider handelt es sich eben gerade nicht um Jungholz, das da gefällt worden ist.
Natürlich ist eine solch zufällige Stichprobe nicht wirklich aussagekräftig, und es gibt Berufenere, ein Urteil über die Qualität dieser Neuübersetzung zu fällen, aber dort, wo ich sie geprüft habe, bewährt sich Edls Übersetzung als präzise und eng am Original geführt.
Abgesehen von der Frage nach der Qualität der Übersetzung, ist dies die erste vollständige deutsche Ausgabe des Romans in dem Sinne, dass sie dem Vorbild der letzten, von Flaubert selbst zum Druck beförderten französischen von 1873 folgt und im Anschluss an den Roman den Prozess von 1857 dokumentiert. Unmittelbar an den Text des Romans angehängt finden sich das Plädoyer des Staatsanwaltes, die Verteidigung von Flauberts Anwalt und der Freispruch des Gerichts, der Flaubert zu einem der erfolgreichsten Sensationsautoren der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts machte. Mit der kommentarlosen Wiedergabe dieser Dokumente zelebriert Flaubert natürlich seinen Sieg über die zeitgenössischen Spießer, die seinen Roman aus mehr als einem Grund gerne verboten gesehen hätten.
Zum Inhalt dieser Mutter aller modernen Romane etwas zu sagen oder gar zur Bedeutung des Buches, hieße Eulen nach Athen zu tragen. Vielleicht nur soviel, dass dies wahrscheinlich meine zehnte Lektüre dieses Buches in mehr als dreißig Jahren war und ich den Roman immer noch als ein Wunderwerk anzustaunen vermag. Es ist ein Buch von erstaunlicher künstlerischer Integrität und von einer solch gelassenen erzählerischen Kühle, wie man sie nur sehr selten in der Literatur findet. Wenn die 29. Übersetzung erscheinen wird, werde ich es sicherlich wieder lesen.
Gustave Flaubert: Madame Bovary. Sitten in der Provinz. Übersetzt von Elisabeth Edl. München: Hanser, 2012. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 759 Seiten. 34,90 €.
Wenzel Storch: Arno & Alice
Eine kleine, reich bebilderte Arno-Schmidt-Biographie. Die Bilder sind vorgeblich aus dem Malwettbewerb der Volksbank Bargfeld »Kinder malen Arno Schmidt« hervorgegangen (leider macht Storch im Vorwort zu deutlich, dass es sich dabei um eine Fiktion handelt). Der Text, der die infantilen Bunt- und Filzstiftbilder begleitet, erzählt eine hübsch schaurige Biografie Schmidts gemischt aus Fakten, Anekdoten, groben Erfindungen und Geschmacklosigkeiten. Wer Storch ernst nimmt, findet reichlich Stoff, sich aufzuregen; es ist daher nur jenen die Lektüre anzuraten, die sowohl über einen gehörigen Abstand zum obskuren Objekt der Darstellung als auch einen recht breit angelegten Humor verfügen – zwei Dinge, in denen die meisten Arno-Schmidt-Kenner bekanntlich nicht gerade exzellieren.
Interessant an dem Büchlein ist wahrscheinlich weniger sein Inhalt als vielmehr die Tatsache, dass jemand erfolgreich den Aufwand betreibt, sich in dieser Art und Weise über Arno Schmidt und sein öffentliches Bild lustig zu machen. Einerseits macht es sich mit dem Humor des kulturellen Spießbürgers über den aus der Spur geratenen, schreibenden Spießbürger Arno Schmidt lustig (was gleich zwei wesentlich Züge der Schmidt-Rezeption ironisiert), andererseits stellt es unter Beweis, dass Schmidt bei einem nicht unbeträchtlichen Teil der deutschen Kulturträger im kulturellen Bewusstsein fest verankert ist, und sei es auch nur als eine Karikatur seiner tatsächlich biografischen und schriftstellerischen Existenz.
Wenzel Storch: Arno & Alice. Ein Bilderbuch für kleine und große Arno-Schmidt-Fans. Hamburg: KVV konkret, 2012. Bedruckter Pappband, Fadenheftung, Kunstdruckpapier, ca. 88 hauptsächlich illustrierte Seiten (unpaginiert). 24,80 €.
(geschrieben für den Bargfelder Boten, Lfg. 363)
Johannes Fried: Das Mittelalter
Das «Mittelalter» ist ein typisch europäisches, genauer sogar ein westliches Phänomen. Weder die Hochzivilisationen Indiens oder des Fernen Ostens, noch das christliche Byzanz oder die Länder des Islam kennen ein vergleichbares Wahrnehmen einer abgesteckten, als minderwertig verworfenen und auf der Suche nach den Quellen der eigenen Kultur geradezu auszuschabenden «aetas media».
Einem gut 550-seitigen Text, der einen Zeitraum von 1.000 Jahren verhandelt, auch nur als Leser, geschweige denn als Rezensent gerecht zu werden, ist kaum möglich. Johannes Fried ist die Problematik seines Versuchs, das gesamteuropäisches Phänomen des Mittelalters in einem Überblick zu erfassen, durchaus bewusst; entsprechend defensiv ist auch das Vorwort gehalten. Leider ist aber wenigstens mir bei der Lektüre nicht klar geworden, wen Fried sich als Leser für dieses Buch vorgestellt hat und was genau er ihm vermitteln wollte.
Ein Buch, das kaum eine halbe Seite hat, um ein Jahr Geschichte abzuhandeln, und dabei nicht nur die äußerlichen historischen Ereignisse vermitteln, sondern auch über Gesellschaft, Kunst und Kultur sprechen will, muss zwangsläufig bei allem an der Oberfläche bleiben. Wie wenig befriedigend das ist, zeigt sich hauptsächlich an zwei Phänomenen: Beim Abhaspeln der historischen Chronologie stellt sich zum einen nur ganz selten tatsächlich ein geschlossenes Bild ein, das dem Leser das Nach- und Miteinander der Ereignisse und ihre Bedingtheit deutlich macht. Wenn man sich selbst mit einem Abschnitt der Geschichte etwas intensiver auseinandergesetzt hat, kann man Fried durchaus folgen, aber dort, wo einem selbst die Zusammenhänge eher vage vorschweben, hilft seine Darstellung oft kaum weiter. Das gilt aber durchaus nicht für alle Abschnitte: Den Einfall der Mongolen nach Europa etwa und seine Folgen weiß er kompakt und bildhaft zu schildern, was den Mangel an Geschlossenheit an anderen Stellen nur um so schärfer hervortreten lässt.
Zum anderen tritt an Stellen, an denen man selbst halb ein Kenner ist, häufig ein ratloses Schulterzucken auf. Wenn es etwa über die Vier-Ursachen-Lehre des Aristoteles heißt
Die Natur zu erforschen bedeutete, die Ursachen der Bewegung zu erfassen, deren vier zu unterscheiden waren: die causa materialis, die causa formalis, die causa efficiens und die causa finalis, Materie, Form, Beweger und Zweck oder Ziel. (S. 360)
so kann das für eine der mittelalterlichen Aristoteles-Interpretationen durchaus richtig sein (Fried verrät uns nicht, welche dafür in Frage käme), aber für Aristoteles selbst ist die auslegende Übersetzung der causa efficiens als Beweger zumindest ungeschickt, wenn nicht sogar irreführend, denn der (unbewegte) Beweger ist bei Aristoteles als causa finalis gedacht. Auch wäre es wahrscheinlich geschickter, statt von der mit neuzeitlichen, physikalischen Ideen assoziierten Materie vom Stoff zu sprechen. Und da der Leser über die Vier-Ursachen-Lehre nicht mehr als das oben Zitierte erfährt, entsteht bestenfalls ein schiefes Bild der ganzen Angelegenheit.
Auch sprachlich ist das Buch nicht immer auf der Höhe:
Der Hundertjährige Krieg warf England endgültig auf die Insel zurück; Frankreichs Wiedergeburt konnte es nicht verhindern. (S. 517)
Zumindest ich habe beim ersten Lesen das es nicht auf England, sondern auf den Vorgang des Zurückwerfens bezogen. Ähnliche Holprigkeiten finden sich öfter.
Aber es mag auch einfach nur sein, dass ich nur der falsche Leser für das Buch bin und ein anderer mit all dem bestens zurecht kommt. Mir jedenfalls scheint es nicht ganz und gar gelungen zu sein, wenn ich auch dem Autor gern zugestehe, dass er sich angesichts der kaum zu leistenden Aufgabe einer Gesamtdarstellung des Mittelalters in nur einem einzigen Band sehr beachtlich aus der Affäre gezogen hat. Man kann mit einem solchen Projekt auch ganz allerliebst kompletten Schiffbruch erleiden.
Wie so oft ein Buch, das seinesgleichen sucht und von dem man sich dennoch leicht enttäuscht verabschiedet.
Johannes Fried: Das Mittelalter. Geschichte und Kultur. Jubiläumsedition. München: C. H. Beck, 2013. Broschur (22 × 15 cm), 606 Seiten. 16,– €.