Elizabeth Maguire: Fenimore

Daß auch Harry nur ein ganz normaler Mensch war, der es sich erlaubte, seinem Begehren nachzugeben, erfüllte mich mit einer Art erfürchtigem Respekt.

Maguire_FenimoreKleiner, etwas kitschig geratener Roman, der eine fiktive Autobiographie der US-amerikanischen Schriftstellerin Constance Fenimore Woolson liefert, die man, obwohl zu Lebzeiten durchaus erfolgreich, heute wahrscheinlich kaum mehr kennen würde, wenn ihre Beziehung zu Henry James nicht Anlass zu ausgiebigem Klatsch bieten würde. Elizabeth Maguire liefert, wohl als Akt ausgleichender Ungerechtigkeit, eine Version aus der Sicht Woolsons.

Das Buch überzeugt nicht: Zwar fußt es auf einer offensichtlich gründlichen Kenntnis des Lebens und Werks Woolsons, doch wirkt es stilistisch bemüht und liefert eine erhebliche Menge von Plattitüden, die als Lebensweisheiten verstanden sein wollen. Literarische Peinlichkeiten wie die folgende sind nicht selten genug:

Die Füße gegen den Wind fest in die Erde gestemmt, betrachtete ich die uralten Steine von Stonehenge und bat sie, ihr Geheimnis preiszugeben. Doch es antwortete nur der Wind.

Aufgrund der Tatsache, dass ich weder das Original noch den anderen Roman der Autorin und auch nichts von Woolson kenne, kann ich nicht beurteilen, ob all dies Maguire zuzuschreiben ist oder es sich um einen Versuch stilistischer Imitation handelt. Dass auch das Deutsch der Übersetzerin nicht das beste ist, kann man oben am Motto ablesen. Wie es auch sein mag, schlecht bleibt es allemal.

Elizabeth Maguire: Fenimore. Aus dem Amerikanischen von Christel Dormagen. dtv 13957. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2011. Broschur, 256 Seiten. 9,90 €.

Émile Zola: Der Zusammenbruch

Wehe dem, der stehenbleibt im fortwährenden Streben der Nationen! Der Sieg gehört denen, die in der Vorhut marschieren, den weisesten, den gesündesten, der stärksten!

zola_rougonDer vorletzte Band der Rougon-Macquart ist, wie schon der Titel anzeigt, dem Ende des Zweiten Kaiserreichs gewidmet, mit dessen Beginn der Zyklus in »Das Glück der Familie Rougon« zugleich einsetzte. »Der Zusammenbruch« knüpft direkt an »Die Erde« an, an dessen Ende Jean Macquart seine gescheiterte bäuerliche Existenz hinter sich ließ und sich angesichts des bevorstehenden Kriegs gegen Preußen wieder zum Militär meldete. Auch das Ende von »Nana«, die unter den Rufen »Nach Berlin! Nach Berlin« das Zeitliche segnete, wird unmittelbar wieder aufgenommen. So liefert »Der Zusammenbruch« die Abrundung der gesellschaftspolitischen und historischen Ebene des Zyklus, während der letzte Band »Doktor Pascal« die soziologisch-biologische Ebene abschließen wird. Dabei ist Jean Macquart aber nur eine von zwei Hauptfiguren des Buches, die den Zusammenhang des Romans mit der Familiengeschichte der Rougon-Macquarts sichert, während als gleichwertige Gegenfigur Maurice Levasseur eingeführt wird. Zola braucht eine zweite Hauptfigur, um in den beiden die Zerissenheit des französischen Volks in der Zeit des Umbruchs von Zweiten Kaiserreichs zur Dritten Republik personifizieren zu können.

Der Roman ist klar in drei Teile gegliedert: Teil 1 schildert die Desorganisation der französischen Truppen im August 1870, die dazu führt, dass im Gegensatz zum geplanten Einmarsch der Franzosen in Deutschland es die alliierten deutschen Truppen sind, die erfolgreich nach Frankreich eindringen. Teil 2 ist vollständig der Schlacht um Sedan in den ersten Tagen des September 1870 gewidmet, und Teil 3 schildert die nachfolgende Gefangenschaft und verlängert die Erzählung bis zum Ende der Pariser Commune. Jean Macquarts dient als Korporal in der französischen Infanterie; Maurice Levasseur ist einer seiner Untergebenen, der zuerst massive Vorurteile gegen den bäuerlichen Jean hegt, ihn dann aber als kompetenten und um seine Soldaten besorgten Vorgesetzten schätzen lernt und spätestens während der gemeinsamen Gefangenschaft nach der Schlacht bei Sedan eine echte Freundschaft zu ihm entwickelt. Die beiden fliehen gemeinsam aus der Gefangenschaft, wobei Jean durch einen Schuss ins Bein verletzt wird. Während Jean in der Pflege der Schwester Maurices zurückbleibt, begibt sich Maurice nach Paris, um die Stadt gegen die Preußen zu verteidigen. Dort schlägt er sich auf die Seite der Pariser Commune, während Jean nach seiner Genesung zu den regierungstreuen Truppen stößt. Natürlich kommt es, wie es kommen muss: Bei der Erstürmung der Barrikaden verletzt sich Jean Maurice tödlich, und mit dem Ende der Commune endet auch Maurices Leben.

Das Buch versucht nach dem offensichtlichen Vorbild von Tolstois »Krieg und Frieden« eine Parallelführung privater Schicksale mit dem Verlauf des Deutsch-Französischen Kriegs. Beides gelingt nicht wirklich zufriedenstellend: Die Schilderung der militärhistorischen Abläufe bleibt für den Nichtfachmann oft verwirrend – dies mögen die Zeitgenossen Zolas noch anders wahrgenommen haben –, und die private Ebene erscheint oft zu konstruiert, um zu überzeugen. Insbesondere die symbolistische Überfrachtung der Freundschaft zwischen Jean und Maurice, der, um die Tragik der Geschehnisse noch zu erhöhen, auch noch eine verhinderte Liebesgeschichte zwischen Jean und Maurices Schwester Henriette hinzugefügt wird, wirkt aufgesetzt und einzig um der sentimentalen Wirkung Willen inszeniert. »So fühlt man Absicht und man ist verstimmt.«

Wichtig aber dürfte sein, dass Zola mit der militärischen und politischen Führung des Zweiten Kaiserreichs scharf ins Gericht geht: Während der Kaiser selbst zu einer kränklichen, machtlosen Figur verblasst, erweisen sich die Generäle entweder als selbstsüchtige und -gefällige Stümper oder auch als schlicht unfähig, mit den organisatorischen und militärischen Anforderungen der Lage zurechtzukommen. Für Zola erfüllt sich in der Niederlage gegen die Preußen eine notwendige Entwicklung, die ein korruptes und intrigantes Regime zu seinem natürlichen Ende bringt. Frankreich hatte aus der Sicht Zolas spätestens durch das Zweite Kaiserreich seine Führungsrolle in Europa, die es durch die Revolution von 1789 erworben hatte, verspielt. Der Roman endet daher ganz bewusst mit dem Appell, es gelte jetzt, »ein ganzes Frankreich neu zu erschaffen.«

Der Roman gehört sicherlich aufgrund der ideologischen Belastung seiner Konstruktion zu den schwächeren des Zyklus und zu denen, die rapide gealtert sind. Und er gehört ebenso sicher zu denen, die ein eher national gesinnter Franzose gänzlich anders lesen wird als ein eher philosophisch orientierter Deutscher.

Übersichtsseite zur Rougon-Macquart

Émile Zola: Die Rougon-Macquart. Natur- und Sozialgeschichte einer Familie unter dem zweiten Kaiserreich. Hg. v. Rita Schober. Berlin: Rütten & Loening, 1952–1976. Digitale Bibliothek Bd. 128. Berlin: Directmedia Publ. GmbH, 2005. 1 CD-ROM. Systemvoraussetzungen: PC ab 486; 64 MB RAM; Grafikkarte ab 640×480 Pixel, 256 Farben; CD-ROM-Laufwerk; MS Windows (98, ME, NT, 2000, XP oder Vista) oder MAC ab MacOS 10.3; 256 MB RAM; CD-ROM-Laufwerk.

Jonathan Safran Foer: Extremely Loud & Incredibly Close

Nine out of ten significant people have to do with money or war!

Foer_ExtremlyEin weiteres Buch in meiner kleinen Lesereihe zum Thema Nine-Eleven, und bislang das literarisch weitaus überzeugendste. Foer gehört zu den erfindungsreichsten, phantasievollsten der ernstzunehmenden US-amerikanischen Autoren. »Extremely Loud & Incredibly Close« erschien 2005, also noch vor »Terrorist« (2006) und »Falling Man« (2007), und es ist zugleich indirekter und motivisch differenzierter als diese Nachfolger, bei denen man zumindest für Don DeLillo annehmen darf, dass er Foers Buch während der Niederschrift gekannt hat.

Erzählt wird die Geschichte vom neunjährigen Oskar Schell, der seinen Vater vor etwa einem Jahr beim Anschlag auf das World Trade Center verloren hat und immer noch heftig um ihn trauert. Oskar wurde von seinem Vater offenbar nie als Kind, sondern immer als junger Erwachsener behandelt. So ist Oskar zu einem etwas altklugen und zugleich ängstlichen Jungen geworden, der einen  stark naturwissenschaftlich geprägten Blick auf die Welt hat. Wahrscheinlich ist dies auch ein Grund dafür, warum es Oskar so schwer fällt, mit dem Gefühl der Trauer umgehen zu können. Der eigentliche Erzählanlass ist, dass er den Kleiderschrank seines Vaters durchstöbert und er dabei eine blaue Vase zerbricht, in der sich ein kleiner Umschlag mit einem Schlüssel findet. Auf dem Umschlag steht der Name Black, was Oskar, dessen Vater für ihn Forschungsexpeditionen erfunden hat, um seine Menschenscheu zu überwinden, dazu veranlasst, alle Blacks New Yorks zu recherchieren und einen nach dem anderen aufzusuchen, um das Geheimnis des Schlüssels zu entdecken.

Gleichzeitig wird die Geschichte der Großeltern Oskars erzählt, die aus Dresden stammen: Thomas Schell sen. hatte sich als junger Bildhauer in Anna verliebt und ein Kind mit ihr gezeugt. Bevor die beiden heiraten können oder das Kind geboren wird, kommt Anna bei der amerikanischen Bombardierung Dresdens (eine bewusste historische Spiegelung der Anschläge vom 11. September) ums Leben. Thomas wandert in die USA aus, wo er langsam verstummt und sich nur noch schreibend verständig. Als er bereits völlig verstummt ist, trifft er zufällig Annas Schwester, die den kontaktscheuen Mann zu einer Ehe drängt. Als sie gegen die ausdrücklich Verabredung der beiden schwanger wird, flieht Thomas Schell zurück nach Deutschland. Erst als er dort aus der Zeitung vom Tod seines Sohns erfährt, kehrt er nach New York zurück. Eine wichtigere Rolle als dieser Großvater, der überhaupt erst im letzten Teil des Buches leibhaftig in Oskars Leben auftaucht, spielt die Großmutter, die offenbar all ihre Liebe für den toten Sohn auf ihren Enkel übertragen hat und seine wichtigste Bezugsperson ist.

Die Suche nach dem Schlüssel erweist sich schließlich als kompletter MacGuffin, ausschließlich erfunden um Oskar in die Welt und unter seine Mitmenschen zu bringen. Das Buch folgt locker dem Muster des Entwicklungsromans; ob der Name Oskar für den etwas altklugen Jungen eine Anspielung auf »Die Blechtrommel« darstellt, ist zumindest bei einem ersten Durchgang nicht zu entscheiden.

Das Buch ist motivisch sehr reich aufgrund der zahlreichen Begegnungen Oskars mit den verschiedenen Blacks, deren Geschichten das stets wechselnde Widerlager zu Oskars Verlust bilden. Die parallel erzählte Leidensgeschichte der Großeltern fügt eine weitere Ebene hinzu, die dazu dient, die Singularität des Geschehens und des Schicksals der Opfer des 11. Septembers zu relativieren. Foers Blick auf den Anschlag ist nicht tagespolitisch, sondern historisch, auch wenn er letztlich absichtlich kindlich-naiv bleibt. Erwähnt werden sollte wohl noch der für einen Roman ungewöhnlich breite Einsatz von Fotomaterial, das Oskars Sicht auf seine Welt direkt visualisiert.

Jonathan Safran Foer: Extremely Loud & Incredibly Close. London: Hamisch Hamilton, 2005. Softcover, Fadenheftung, 355 Seiten.

Aus meinem Poesiealbum (XIV) – Rechenkünstler

Angeregt durch dies kleine Rechenkunststück des Dr. Köllerer

ist mir folgendes wieder in den Sinn gekommen:

»Kann man ungleichnamige Größen miteinander multiplizieren?«
»Man kann es.«
»So? Also multiplizieren Sie mir siebzehn Pfund mit drei Ellen, was kommt denn da heraus?«
»Siebzehn Pfund, multipliziert mit drei Ellen, das macht netto sechs Kilogramm, dreizehn Hektoliter, achtundzwanzig Millimeter, zweieinhalb Gallonen, sechs Yards.«
»Sie wissen gar nichts.«
»Rechnen S’ nur nach!«

Johann Nestroy
Die schlimmen Buben in der Schule

Gustave Flaubert: Bücherwahn

Ja, er war trunken von dem, was er empfunden hatte; er war erschöpft von seinen Tagen; er war besoffen vom Leben.

Flaubert_Bücherwahn

Jedes Jahr bringt der Hanser Verlag zur Weihnachtszeit ein kleines Büchlein heraus, das als Präsent der Buchhändler an ihre liebsten Kunden gedacht ist oder an solche, die es werden sollen. In diesem Jahr ist es eine Neuübersetzung von Gustave Flauberts erster Veröffentlichung geworden: »Bücherwahn« wurde 1836 vom erst Fünfzehnjährigen geschrieben und erschien bereits im Jahr darauf im Kulturblättchen »Le Colibri«. Natürlich will Hanser damit nicht nur Lesern eine Freude, sondern auch auf seine Neuübersetzung der »Madame Bovary« aufmerksam machen, die hier bei Gelegenheit auch besprochen werden soll.

Erzählt wird in »Bücherwahn« die tief romantisch gefärbte Geschichte des ehemaligen Mönchs Giacomo, der als Buchhändler und Büchernarr ein ärmliches Leben in Barcelona fristet, weil er nur Buchhändler geworden ist, um eine große Bibliothek sein Eigen nennen zu können. Als ihm jedoch ein konkurrierender Kollege bei einer Auktion ein Unikat (das scheinbar einzige erhaltene Exemplar der ersten in Spanien gedruckten Bibel) vor der Nase wegschnappt, verliert Giacomo anscheinend die Kontrolle über seine Leidenschaft: Er zündet dem Kollegen den Laden an, stürzt sich selbst ins Feuer und rettet das obskure Objekt seiner Begierde. Als die Polizei in Giacomos Besitz das vermeintliche Unikat findet, wird er nicht nur der Brandstiftung angeklagt, sondern auch einer Serie ungeklärter Morde, die das Land in Aufruhr versetzen. Den höchst merkwürdigen Ausgang des Prozesses will ich um der lieben Spannung willen hier nicht verraten.

Die Erzählung weist viele Schwächen auf, wie man sie vom Text eines fünfzehnjährigen Autors erwarten darf: Angefangene Erzählstränge laufen einfach ins Nichts, zwei Bücher werden miteinander verwechselt, wobei unklar bleibt, ob die Verwirrung beim Autor oder bei der Figur liegt, die Mordserie taucht gänzlich unvorbereitet und schlecht motiviert in der Handlung auf und was der Kleinigkeiten mehr sind. Allerdings spürt man schon den späteren Meister: Die romantische Atmosphäre ist gut getroffen, die Ausführung ist dicht und ohne Geschwätzigkeit, und der Leser wird am Ende mit einem hübschen psychologischen Rätsel allein gelassen.

Wer Flaubert und/oder die Übersetzerin Elisabeth Edl schätzt, sollte sich das hübsche Bändchen noch rasch von seinem Buchhändler erbitten.

Gustave Flaubert: Bücherwahn. Deutsch von Elisabeth Edl. Mit Vignetten von Wolf Erlbruch. München: Hanser, 2012. Broschur, 32 Seiten.

Arno Schmidt: Seelandschaft mit Pocahontas

Schmidt-Seelandschaft

Als »Seelandschaft mit Pocahontas« 1955 in Alfred Anderschs Li­te­ra­tur­zeit­schrift »Texte und Zeichen« erschien, wussten wohl nur ganz wenige der ohnehin nicht so sehr zahlreichen Leser, wer Pocahontas war. Aufgrund der gleichnamigen Disney-Operette dürfte der Name heute bei den meisten Menschen süßliche Assoziationen an eine bezaubernde indianische Prinzessin auslösen. Arno Schmidts Pocahontas stammt dagegen von der eher herben und unglücklichen Seite der historischen Person ab. Für Schmidt bestand die ganz persönliche Verbindung zur Biographie der Indianerin darin, dass sie bekanntlich dem englischen Kapitätn John Smith (»Es kann schließlich nich Jeder Schmidt heißn.« BA 1/3/403) das Leben rettete. Die Geschichte der Rothäutin, die in der Fremde leben musste und starb, kam ihm daher ganz recht, als er daran ging, einen sommerlichen Kurzurlaub mit seiner Frau Alice in ein Stück Literatur umzuwandeln.

Erzählt wird von den beiden Kriegskameraden Erich und Joachim (dem Ich-Erzähler), die sich – wahrscheinlich im Sommer 1953 – auf einen Kurzurlaub am Dümmer treffen. Joachim, der sich als Schriftsteller ärmlich durchschlägt, wurde von Erich, der als selbstständiger Malermeister mit »fuffzehn Geselln« gut etabliert ist, eingeladen. Dieses ökonomische Missverhältnis ist wohl auch der Grund, dass Joachim, als die beiden Herren am Urlaubsort Dümmerlohausen ein weibliches Urlaubspärchen aufreißen, die unattraktive, hoch aufgeschossene Selma abbekommt, weil Erich mit der handfesten und feisten Annemarie anbandeln möchte. Doch erweist sich die erzwungene Wahl schließlich als Glücksfall: In den vier Tagen, die Joachim und Selma miteinander verbringen, zeigt sich eine starke Seelenverwandtschaft der beiden. Sie lieben die Natur, sind lieber für sich als in großer Gesellschaft und teilen das Gefühl, in einem Leben und einer Welt gefangen zu sein, in die sie weder der Neigung noch dem Charakter nach passen. Trotzdem bleibt es zwischen ihnen bei einer kurze Sommerliebe:

Sie sagte es wild vor sich hin, »Was denn?«, blieb stehen, mit dem Rücken zu mir, den Kopf gesenkt: »Dich will ich! Noch was länger.«, und wir gingen betrübt weiter. Schüttelte aber doch streng die Fantasien weg: »Ja, wenn wir reiche Leute wären« (sachlich) »dann würds vielleicht gehen. Wenn ich immer nur die Pocahontas sein könnte. Und wir keine Sorgen hätten; Angst wegen Kindern und so. – Aber dann würdest Du Dir auch noch ne Andere aussuchen. Als mich –« sie sah sich an den Ästen um nach dem dürrsten Wort: »– Vogelscheuche!«, und blickte haßvoll und flehend: ?.

Aus dieser Konstellation heraus entsteht eine der schönsten, zugleich zarten und rabiaten Liebesgeschichten der deutschen Literatur, und der Text hat es verdient, jetzt mit einer ganz wundervoll reich illustrierten Einzelausgabe bei der Officina Ludi gewürdigt zu werden. Die Illustrationen von Felix Scheinberger liefern eine ganz eigenständige Spiegelwelt zum Text, in der sich sowohl die breiten Landschaftsschilderungen als auch die Fülle an Wirklichkeitsdetails, die einen wesentlichen Reiz der Erzählung ausmachen, wiederfinden.

Das Erscheinen der »Seelandschaft« war übrigens einer der Wendepunkte in der Existenz des Schriftstellers Arno Schmidt: Aufgrund einer Anzeige wegen Pornographie und Gotteslästerung gegen den Autor, den Herausgeber Alfred Andersch und den Luchterhand-Verleger Eduard Reifferscheid sah sich Schmidt gezwungen, aus dem katholischen Kastel in das liberalere Darmstadt zu flüchten. Die städtische Existenz in der Künstlerkolonie ging ihm bald derartig auf die Nerven, dass es ihn stark zurück in die geliebte Lüneburger Heide zog. Er suchte daher alle Mittel und Wege auf, von dort wieder fort zu kommen, und erwarb schließlich 1958 im Dörfchen Bargfeld bei Celle ein Holzhäuschen, in dem er die produktivsten Jahre seines Schriftstellerlebens verbringen sollte.

»Seelandschaft mit Pocahontas« ist überhaupt allen Lesern zu empfehlen, die es einmal mit Schmidt versuchen wollen, sich aber wegen des Mythos seiner angeblichen Unlesbarkeit bislang nicht getraut haben; und allen Schmidt-Kennern und -Liebhabern sei empfohlen, diese überraschende und wundervolle Ausgabe ihren Sammlungen einzuverleiben.

Arno Schmidt: Seelandschaft mit Pocahontas. Illustrationen von Felix Scheinberger. Großhansdorf bei Hamburg: Officina Ludi, 2012. Bedruckter Pappband mit Leinenrücken, Fadenheftung, 170 g-Papier, 83 Seiten mit zahlreichen farbigen Illustrationen. 24,80 €. Vorzugsausgabe (100 Exemplare): 160,– €. Luxusausgabe (25 Exemplare): vergriffen.

Ulrich Peltzer: Bryant Park

was übrig bleibt, sind Geschichten, jemand, der sie erzählt,
erst das, dann dieses und jenes, wie es einem in die Gedanken kommt

Ulrich Peltzers Erzählung, gedruckt im Jahr 2002, ist wahrscheinlich die früheste belletristische Reaktion auf die Anschläge vom 11. September 2001 in der deutschsprachigen Literatur. Es handelt sich dabei nicht um eine um eine Erzählung des Ereignisses selbst, sondern um einen Einbruch der unmittelbaren Gegenwart in die Niederschrift der Erzählung: »Bryant Park« verfolgt mehrere Erzählstränge, von denen zu Anfang durchaus nicht klar ist, ob sie alle demselben Erzähler zugehören. Die Gegenwart scheint ein Aufenthalt des Erzählers in New York zu bilden, bei dem er in einer am Bryant Park gelegenen Bibliothek Quellen zur Geschichte des amerikanischen Zweigs seiner Familie studiert. Er lebt in dieser Zeit mit einer Schauspielerin zusammen, die er auf Kreta kennen und lieben gelernt hat; diese Beziehung steht aber schon unmittelbar vor ihrem Scheitern. Kernsequenz dieser Erzählebene ist eine Freilichtvorführung von John Hustons »Moby Dick« im Bryant Park. Auf einer zweiten, in weiten Teilen der Erzählung kursiv ausgezeichneten Ebene erinnert sich der Erzähler einerseits des Sterbens seines Vaters, andererseits einer Tour nach Neapel, wo er erfolglos versucht, Rauschgift einzukaufen, das er in Deutschland gewinnbringend zu verkaufen gedenkt.

Wie bereits gesagt, wird diese Doppelerzählung nach etwa vier Fünfteln durch die unmittelbare Reaktion des Autors auf den Anschlag auf das World Trade Center unterbrochen: Der Autor macht sich Sorgen um zwei Freundinnen, die in Manhattan in der Nähe der Twin Towers wohnen, versucht sie telefonisch zu erreichen, telefoniert mit gemeinsamen Bekannten dieser Freundinnen, erfährt, dass sie den Anschlag unbeschadet überstanden haben und nimmt anschließend, beinahe resigniert, weil doch nichts anderes zu tun ist, als das einmal Begonnene zum Ende zu bringen, das Erzählen wieder auf.

Auch als geübter Leser braucht man einige Zeit, um sich in die Erzählposition einzufinden und sie zu akzeptieren. Peltzers Erzählung hat nur wenig Handlung im traditionellen Sinne, sie exzelliert über weite Strecken in Beschreibungen der Stadt New York, von Stimmungen und Vorgängen, die kaum den Namen Ereignis verdienen. Der Text überzeugt durchaus mit seiner ruhigen, gänzlich unaufgeregten Manier; allerdings wird nicht jeder Leser die nötige Geduld mit dem Autor und seinem Erzähler aufbringen. Wer sich einlassen kann, findet sich aber wahrscheinlich belohnt.

Ulrich Peltzer: Bryant Park. Zürich: Ammann, 2002. Leinen, Lesebändchen, 158 Seiten. 19,90 €.

John Updike: Terrorist

Da ich aus didaktischem Anlass gerade aufs Thema gestoßen bin, werde ich einige weitere, unsystematisch ausgewählte Erzählungen anhängen, die sich – mehr oder minder direkt – mit den Anschlägen vom 11. September 2011 beschäftigen. Darunter ist Updikes »Terrorist« wahrscheinlich eine der bekanntesten. Sie erschien bereits ein Jahr vor Don DeLillos »Falling Man« und ist inhaltlich weit geradliniger und erzählerisch schlichter und richtet sich deutlich an ein breiteres Lesepublikum.

Erzählt wird die Geschichte des zu Anfang kurz vor seinem High-School-Abschluss stehenden, knapp 18-jährigen Ahmed Mulloy, Sohn einer irischstämmigen US-Amerikanerinnen und eines Ägypters, der bald nach Ahmeds Geburt aus dem Leben der Mutter verschwunden ist. Ahmed ist ein etwas schüchterner, unsicherer junger Mann von einigem Stolz, ans einer Schule zugleich ein guter Schüler und ein Außenseiter. Seine Identität definiert er hauptsächlich über seine Zugehörigkeit zu einer muslimischen Gemeinde, deren Imam Ahmeds Isolation und seine Verachtung der moralischen Laxheit seiner Schulkameraden, ja der US-amerikanischen Gesellschaft überhaupt systematisch fördert und verschärft. Der Imam ist es auch, der Ahmeds Berufswahl nach dem Schulabschluss entscheidend beeinflusst; so wird er LKW-Fahrer in einer der Moschee nahe verbundenen Möbelspedition.

Natürlich kommt es, wie es kommen muss: Ahmed soll einige Tage nach dem 11. September 2004 einen mit Sprengstoff beladenen Laster in einem der Tunnel von New Jersey nach New York zur Explosion bringen. Doch greift kurz zuvor Ahmeds ehemaliger Beratungslehrer, ein atheistischer, desillusionierter Jude, der auf dem originellen Namen Jack Levy hört und der, um ihn während des Romans zu beschäftigen und auch nach dem Schulabschluss mit Ahmed zu verbandeln, vom Autor durch ein Verhältnis mit Ahmeds Mutter geschleift wird, bedeutend in die Handlung ein. Wie es am Ende ausgeht, soll nicht verraten werden, denn immerhin bilden die letzten 70 Seiten die einzige gelungene Passage des Buches.

Ansonsten leidet das Buch sehr darunter, dass es sich bei praktisch allen Figuren des Buches um Idioten handelt. Der Leser ist daher gezwungen, sich seitenweise durch mit Plattitüden und Klischees angefüllte, stilistisch unerhebliche Dialoge zu arbeiten, in denen Updike nicht nur das letztlich recht schlichte Gemüt Ahmeds, sondern auch die Gehaltlosigkeit der US-amerikanischen Alltagskultur widerspiegelt. Zumindest das muss man dem Autor zugestehen, dass er Ahmeds Verachtung der ihn umgebenden Realität über weite Strecken teilt, wenn er auch weder seine Alternative schätzt, geschweige denn die Konsequenzen billigt, die sein junger, naiver Protagonist aus dieser kritischen Haltung zieht.

Alles im allem ist das Buch trivial und über weite Strecken langatmig. Es ist die Behandlung des Themas islamistischer Terrorismus, wie man sie von einem routinierten US-Autor erwarten würde, könnte aber auch sowohl inhaltlich als auch formal ebenso gut zum Beispiel von Stephen King stammen. Ich werde bei Gelegenheit meine alte Einschätzung John Updikes durch eine erneute Lektüre der Rabbit-Romane noch einmal justieren müssen.

John Updike: Terrorist. Deutsch von Angelika Praesent. rororo 24473. Reinbek: Rowohlt, 2008. Broschur, 397 Seiten. 9,95 €.

Don DeLillo: Falling Man

There was the fact that they would all be dead one day.

Wieder einmal eine Lektüre aus didaktischem Anlass. Vor vielen Jahren hatte ich es einmal mit DeLillos »Unterwelt« versucht, war aber nicht bis zu dem Punkt vorgedrungen, an dem mir der Text eingeleuchtet hätte. Danach hatte sich bis dato kein weiterer Anknüpfungspunkt ergeben, bis ich nun mit einiger Überraschung feststellen durfte, dass es »Falling Man« offenbar in den Lektürekanon der deutschen Oberstufe geschafft hat.

Erzählt wird die Geschichte des Ehepaars Neudecker. Keith Neudecker, 39 Jahre alt, arbeitet als Jurist im World Trade Center als es am 11. September 2001 zum bekannten islamistischen Anschlag kommt. Neudecker entkommt der Katastrophe knapp und nur leicht verletzt und lässt sich, noch ganz unter dem Schock des Anschlags stehend, zum Appartment seiner Frau bringen, von der er seit einiger Zeit getrennt lebt. Lianne Neudecker ist freie Lektorin und kümmert sich außer um den gemeinsamen, 7-jährigen Sohn Justin auch um ihre kränkelnde Mutter. Sie leitet zudem eine Gruppe für therapeutisches Schreiben von Alzheimer-Patienten. Das einzige Interesse, das Keith neben seiner Arbeit gepflegt zu haben scheint, sind regelmäßige Pokerrunden mit einigen Freunden, von denen allerdings drei im Anschlag auf das World Trade Center getötet worden sind. Mit Keith’ Erscheinen bei Lianne nach dem Anschlag ist die Phase der Trennung des Ehepaars offenbar vorüber.

DeLillo treibt die Handlung in zwei weitgehend voneinander unabhängigen Erzählsträngen vorwärts: Während Lianne in der Hauptsache der Vergangenheit und ihren und fremden Erinnerungen verhaftet scheint, entwickelt Keith eine etwas beemdliche Beziehung zu einer Frau, deren Aktenkoffer er eher zufällig aus dem WTC mitgenommen hatte. Ansonsten holt er Justin von der Schule ab und verbringt einige Zeit mit ihm; Justin entwickelt in der Zeit nach den Anschlägen einige etwas seltsame Verhaltensweisen. Letztlich bleibt Keith aber intellektuell und emotional isoliert. Lianne dagegen erlebt, wie sich ihre Mutter und deren Geliebter Martin über die Deutung und Bedeutung des Anschlages streiten. Martin soll dabei wohl eine eher europäische Perspektive repräsentieren, denn er stammt offenbar aus Deutschland und war in der 68er-Bewegung auf eher undeutliche Weise in den politischen Widerstand verstrickt. In einem dritten, deutlich kürzeren Teil zeigt DeLillo das Ehepaar dann etwa drei Jahre nach dem Anschlag: Sie sind immer noch miteinander verheiratet, wenn auch Keith die meiste Zeit unterwegs ist, da er sein Geld inzwischen als professioneller Pokerspieler verdient.

Durchbrochen und gekontert wird diese Erzählung von drei kurzen Passagen, die einen der Attentäter des Anschlags in verschiedenen Phasen schildert: Während der Hamburger Zeit in der Marienstraße, während der Flugausbildung in Florida und schließlich kurz bevor sein Flugzeug im Turm des WTC einschlägt. Ob man die in aller Kürze dargestellte Entwicklung eines eher unsicheren Menschen zum Massenmörder überzeugend findet, muss, angesichts des unzureichenden empirischen Vergleichsmaterials, jeder Leser für sich entscheiden.

Seinen Titel bezieht das Buch von einer Randfigur, einem New Yorker Performance-Künstler, der sich, gesichert mit einer Sicherheitsweste und gehalten von einem Kabel, an öffentlichen Plätzen als Falling Man aufführt. Er ahmt dabei mit seiner Körperhaltung eines der berühmtesten Fotos von den aus den Türmen des WTC springenden Menschen nach. Im dritten Teil widmet DeLillo ihm einen ausführlichen Nachruf.

Alles in allem eine eher durchschnittliche Lektüre. Wirklich überzeugend scheint nur eine einzige längere Passage im dritten Teil zu sein, die Keith’ Welt als Pokerspieler beschreibt; alles andere erzeugt den Eindruck einer weitgehenden Beliebigkeit, als könnte all dies gut so, aber eben genauso gut auch ganz anders sein. Weder was die Analyse der Anschläge, noch was die existenziellen Folgen für das Opfer Keith Neudecker angeht, hat DeLillo etwas wirklich Überraschendes oder Originelles zu erzählen.

Don DeLillo: Falling Man. New York u.a.: Scribner, 32008. Broschur, 319 Seiten. Ca. 6,– €.