Nadine Gordimer: Keine Zeit wie diese

Eine besondere Lektüre durch meine Teilnahme an dem Leseprojekt Gordimer Lesen, die ich zusammen mit der Lektüre des Buches vorzeitig beendet habe. Zu den Gründen, die dazu geführt haben, habe ich dort ein Posting verfasst.

Der Roman spielt hauptsächlich in den Jahren nach der Aufhebung der Apartheid und dem Wahlsieg des ANC in Südafrika. Im Zentrum scheint ein junges Ehepaar zu stehen, das aufgrund der Tatsache, dass er ein weißer Jude und sie eine schwarze Methodistin ist, vor der Revolution eine geheime Ehe geführt haben. Sie haben am Kampf gegen das Apartheids-Regime teilgenommen und beginnen nun eine bürgerliche Existenz zu führen: Er wird Universitäts-Dozent, sie arbeitet für die Staatsanwaltschaft.

Doch ist das Ehepaar nicht das eigentliche Thema des Buchs: Der Fokus der Erzählung liegt auf den gesellschaftlichen und sozialen Realitäten im nun endlich freiheitlichen Südafrika, die – wen überrascht es? – von den Idealvorstellungen der ehemaligen Revolutionäre erheblich abweichen. Die zwischenmenschlichen Beziehungen werden auch weiterhin von unterschiedlichen rassistischen Vorurteilen überschattet, einige der ehemaligen Freiheitskämpfer entpuppen sich als korrupte, selbstsüchtige und machtbesessene Machos, Armut und ungleiche Bildungschancen existieren immer noch und die Flüchtlinge aus den Nachbarländern werden zum sozialen Bodensatz der neuen Gesellschaftsordnung. All dies wird mit einer unterschwelligen Mischung von Zorn und Enttäuschung geschildert, wobei die Schilderungen selbst oberflächlich und ohne analytischen Zugriff bleiben; jeder bessere Zeitungsartikel dürfte detaillierter, neutraler und solider über die Sachverhalte informieren. Auch den Antrieb des Erzählens selbst reflektiert die Autorin nicht. Sie dringt zwar bis zu der Frage vor, warum die Revolutionäre denn erwartet und geglaubt hätten, dass gerade in Südafrika das Goldenen Zeitalter ausbrechen werde, statt dass sich eine der ganz gewöhnlichen Spielarten des modernen Elends einstelle, aber sie bleibt von der Frage fixiert und dringt auch hier zu keinem analytischen oder selbstkritischen Gedanken durch. Und die politische Naivität der Autorin schlägt direkt auf die Figuren durch.

Da es Gordimer wesentlich um die Darstellung der südafrikanischen Gesellschaft und nicht um die Fabel geht, bleiben die Figuren flach, die Handlung springt erratisch, folgt erst diesem und dann jenem Einfall. Es werden Nebenfiguren eingeführt, die augenblicklich und folgenlos wieder verschwinden. Es wird keinerlei Form oder Struktur erkennbar. Der Großteil der Gedanken der Figuren, wenn sie denn überhaupt welche zugeschrieben bekommen, sind trivial, die Auswahl der verwendeten Motive ist voraussehbar und langweilig. Einzig die Sprache, die Gordimer verwendet, ist sperrig (die bedauernswerte Übersetzerin tut übrigens ihr Bestes, das im Deutschen nachzubilden) und verhindert, dass sich die Leser wie in einem Trivialroman einrichten. Aber das allein genügt selbstverständlich nicht, um ein gelungenes Buch auszumachen.

Nadine Gordimer: Keine Zeit wie diese. Aus dem Englischen von Barbara Schaden. Berlin: Berlin Verlag, 2012. Pappband, Lesebändchen, 506 Seiten. 22,99 €.

Allen Lesern ins Stammbuch (54)

Und so einer zu mir etwa sagen wollte, dass man aus dem Lesen der Historien die beste Weisheit erlangen könnte, so will ich ihm dieses nicht ganz und gar verleugnen, wenn er mir nur auch dieses zugibet, dass man daraus auch den grössten Schaden, ja oft den Untergang selbst schöpfen kann.

Agrippa von Nettesheim

Gerhard Henschel: Kindheitsroman

Im Sprachbuch war eine Seite, auf der wir alle Buchstaben ausmalen konnten, die wir durchgenommen hatten. Wie wohl das große Eszett oder Rucksack-S aussah. Das kleine war schon drangewesen. Als alles ausgemalt war, fehlte immer noch das große Eszett. Ich fragte Frau Kahlfuß danach, und sie sagte, das gebe es nicht. Es gebe nur das kleine Eszett.
Das war der größte Beschiß, den die Welt je erlebt hatte.

Erster Teil eines inzwischen auf vier Bände angewachsenen, offensichtlich stark autobiographisch gefärbten Romanzyklus. Der Ich-Erzähler Martin Schlosser wächst als drittes Kind einer sechsköpfigen Familie in und um Koblenz herum auf. Ein weiterer wichtiger Ort ist Jever, in dem die Großeltern väterlicherseits leben, und Hannover, wo er mehrfach eine seiner Tanten besucht. Erzählt werden die gut zehn Jahre von Mitte der 60er bis zur Mitte der 70er Jahre. Die Familie Schlosser ist eine ziemlich typische Nachkriegsfamilie: Der Vater arbeitet als Ingenieur für die Bundeswehr, die Mutter ist Hausfrau. Man entschließt sich, ein Haus zu bauen, in das man vor der endgültigen Fertigstellung einzieht, um es dann in Eigenregie weiterzubauen. Der Vater ist zuerst oft im Ausland und später, nachdem er befördert wurde, im niedersächsischen Meppen, wohin er versetzt wurde. An den Wochenenden verbringt er viel Zeit mit der Vollendung des Hauses, im Hobbykeller und beim Reparieren des PKWs.

Die Erzählung folgt der kindlichen Entwicklung Martins, seinen Freundschaften und ersten Lieben, seiner Schullaufbahn, seiner Neigung zu unbefugter Aneignung fremden Eigentums und schließlich seinen kindlichen Träumen von Ruhm und Reichtum als klavierspielendes Wunderkind oder als späterer Rekord-Torschützenkönig und mehrfacher Fußballweltmeister. Alles das ist locker aufgereiht und folgt nur sehr bedingt unter dem Muster eines Entwicklungsromans. Das Besondere des Buches ist, neben seinem Humor, die Authentizität des Materials, sowohl bei den sachlichen Details als auch in den sprachlichen Wendungen. Dies ist eines der seltenen Bücher, die nach 100 Jahren für den normalen Leser gänzlich unlesbar geworden sind, aber von Historikern ausgeschlachtet werden, die die westdeutsche Alltagskultur in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beschreiben wollen.

Gerhard Henschel: Kindheitsroman. dtv 13444. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 62011. Broschur, 494 Seiten. 11,90 €.

Ian McEwan: Der Trost von Fremden

An den Haaren herbeigezogene Schauergeschichte von einem englischen Pärchen, das in Venedig (dessen Name an keiner Stelle fällt) einem psychopathischen Ehepaar in die Hände fällt. Wie für das Genre wohl üblich, passiert lange Zeit nichts, wohl um Spannung zu erzeugen (huuuuu). Antrieb für den ganzen Unfug ist natürlich Sex (oooooh), McEwan bleibt mit diesem dünnen Fähnchen aber so weit hinter etwa Arthur Schnitzlers »Traumnovelle« zurück, dass zumindest ich mit dem Kopfschütteln gar nicht mehr aufhören konnte. Wenigstens ist der Text kurz.

Von hier aus müsste man jetzt wahrscheinlich noch einmal »Am Strand« anschauen, um zu prüfen, ob die dort thematisierte Verklemmtheit tatsächlich die der Zeit und nicht die des Autors ist.

Ian McEwan: Der Trost von Fremden. Aus dem Englischen von Michael Walter. detebe 21266. Zürich: Diogenes, 1985. Broschur, 189 Seiten. 8,90 €.

Amélie Nothomb: Biographie des Hungers

Wirklich, die Welt war ziemlich komisch. Und es gab Sprachen ohne Ende. Es würde nicht einfach sein, sich auf diesem Planeten zurechtzufinden.

Amélie Nothomb schreibt ganz wundervolle, autobiographisch unterfütterte Erzählungen. Ich habe sie vor vielen Jahren mit »Liebessabotage« entdeckt, das sich inhaltlich zu »Biographie des Hungers« wie ein kleiner, nicht konzentrischer Inkreis verhält. »Biographie des Hungers« erzählt etwa fünfzehn Jahre aus dem Leben der Tochter eines belgischen Diplomaten, die es aufgrund der regelmäßig alle drei Jahre erfolgenden väterlichen Versetzungen von Japan über China, den USA und Bangladesch nach Burma und schließlich Laos verschlägt; »Liebessabotage« war die Geschichte der ersten Liebe des jungen Mädchens im Pekinger Diplomatenviertel. Auch Nothombs Bücher »Mit Staunen und Zittern« und »Der japanische Verlobte« (von dem ich das allerdings nur vermute, da ich es bislang nicht gelesen habe) gehören zu diesen autobiographischen Zirkel. Ansonsten schreibt Nothomb auch noch Krimis, von denen zumindest einer ein ziemlich grobes Plagiat eines Hörspiels von Friedrich Dürrenmatt (lustigerweise im selben Verlag!) darstellt. Belesen ist die junge Frau also auch noch!

Wie der Titel schon besagt, fokussiert Nothomb diese Erzählung auf das Phänomen des Hungers, das sich zuerst als Gier des kleinen Mädchens nach Süßigkeiten und – man staunt – Wasser darstellt, sich dann in Bangladesch ganz in den unerträglichen Hunger der einheimischen Bevölkerung veräußerlicht, um sich schließlich als Anorexie der Ich-Erzählerin zu manifestieren, die sie fast zu Tode bringt. Alles rundet sich mit einer Rückkehr der 21-Jähringen an den Ort ihrer kindlichen Selbstvergottung in Japan und der Begegnung mit ihrem ersten Kindermädchen.

Nothombs Erzählen zeichnet sich in der Hauptsache durch drei Eigenschaften aus: Einen knappen, lakonischen Stil, präzise, von allem Überflüssigen befreite Beobachtungen und einen distanzierten, oft ironischen Humor. Man darf wahrscheinlich nicht zuviel auf einmal von ihr lesen, aber wenn man von Zeit zu Zeit bei ihr vorbeischaut, ist sie immer wieder ein Genuss.

Amélie Nothomb: Biographie des Hungers. Aus dem Französischen von Brigitte Große. detebe 24042. Zürich: Diogenes, 2010. Broschur, 207 Seiten. 9,90 €.

Alan Bennett: Schweinkram

»Zwei unziemliche Geschichten«, wie es im Untertitel des Bändchen heißt:

Mrs. Donaldson erblüht erzählt vom sexuellen Erwachen einer 55-jährigen Witwe, die zur Aufbesserung ihres Einkommens zum einen im lokalen Krankenhaus als simulierende Patientin arbeitet, an der junge Ärzte ihre diagnostischen und sozialen Fähigkeiten üben, zum anderen zwei ihrer Zimmer an ein Studentenpärchen vermietet, die den Ball ins Rollen bringen: Als die jungen Leute Schwierigkeiten haben, die Miete zu begleichen, bieten sie Mrs. Donaldson an, dass sie ihnen zum Ausgleich beim Geschlechtsverkehr zuschauen dürfe. Die etwas verklemmte Mrs. Donaldson lässt sich auf das Experiment eher deshalb ein, um ihren Mietern die Peinlichkeit einer Ablehnung zu ersparen und besucht das Schlafzimmer des Pärchens wie eine Art von Theatervorstellung.

Die ungewohnte Begegnung mit einer ausgelebten Sexualität bringt jedoch auch in ihr einiges in Bewegung, so dass sie von da an als Lauscher an der Wand am Liebesleben ihrer Mitbewohner teilnimmt. Im Krankenhaus entwickelt sich zudem langsam ein Flirt mit dem das Ärzte-Training überwachenden Oberarzt, und als das erste Studentenpaar auszieht und von einem anderen abgelöst wird, nimmt alles noch eine weitere überraschende Wendung.

Die Titelfigur in Mrs. Forbes wird behütet ist die Mutter Graham Forbes’, eines schwulen und eitlen Schönlings, der eine seiner Bankkundinnen heiratet, um in den Genuss ihres ererbten Vermögens zu kommen. Aus dieser spannungsgeladenen Grundkonstellation entwickelt Bennett eine kurze, aber überraschend vielfältige Geschichte um Ehebruch, Erpressung, familiäre Geheimnisse und die sexuellen Beziehungen hinter einer gutbürgerlichen Fassade.

Wie immer gelingt es Bennett aus auf den ersten Blick nicht ungewöhnlichen und eher harmlosen Ausgangssituationen und Figuren überraschende Handlungen zu entwickeln, die ohne jede Aufgeregtheit mitten im wirklichen Leben ankommen. Ein Meister der kleinen Form.

Alan Bennett: Schweinkram. Zwei unziemliche Geschichten. Aus dem Englischen von Ingo Herzke. Salto 188. Berlin: Wagenbach, 2012. Bedrucktes Leinen, Fadenheftung, 141 Seiten. 15,90 €.

Émile Zola: Das Geld

War das nicht die Antwort auf jene Frage, ob das Geld nicht schlechthin Erziehung, Gesundheit und Intelligenz bedeute? Wenn unter aller Kultur der gleiche menschliche Schmutz verborgen war, bestand dann vielleicht die ganze Zivilisation in dem einzigen Vorzug, daß man gut riecht und gut lebt?

zola_rougonVon den drei noch zu schreibenden Bänden des Zyklus der Rougon-Macquart waren die beiden letzten inhaltlich seit langer Zeit festgelegt: Band 19 musste sich dem Zusammenbruch des Zweiten Kaiserreichs im Krieg 1870/71 widmen, Band 20 war reserviert für die Zusammenfassung und Sicherung des soziologisch-biologischen Gehalts des Zyklus. Es blieb nach »Das Tier im Menschen« also nur noch ein Buch übrig, in dem Zola eine einigermaßen freie Themenwahl hatte. Obwohl er später behauptete, das Thema des Geldes und der Börse schon früh vorgesehen zu haben, entstand die Idee wahrscheinlich erst in der Zeit der Niederschrift von »Das Paradies der Damen«, also zu Anfang der 1880er Jahre. Eigentlich wollte Zola in »Das Geld« wohl gleich zwei Themenkomplexe erledigen: die Pariser Börse und das Zeitungswesen, doch geriet der zweite schließlich nur zu einem Randthema.

»Das Geld« knüpft unmittelbar an »Die Beute« an: Der Grundstücks-Spekulant Saccard, Bruder des Ministers Eugène Rougon, ist inzwischen finanziell ruiniert und hofft auf seine nächste große Chance. Da sich Eugène weigert, ihm zu helfen, und ihn ins Ausland abschieben möchte, sucht er nach einer neuen Chance, wieder zu Geld und Macht zu kommen. Durch die zufällige Bekanntschaft mit dem Geschwisterpaar Caroline und Georges Hamelin kommt er auf den Einfall, eine Kredit-Bank zu gründen, deren Ziel Investitionen im Nahen Osten sind: Als Ingenieur hat Georges Hamelin dort viele Jahre verbracht und konkrete Projekte zur wirtschaftlichen Erschließung und Ausbeutung der dortigen Bodenschätze geschmiedet. Dies ist die Vision einer neuen Quelle des Reichtums, die Saccard als Triebfeder für seinen Plan braucht. Es gelingt ihm, einige einflussreiche und finanziell potente Gründungsmitglieder für die neu zu gründende Banque Universelle zu finden. Die neue Bank wird mit großem Erfolg an der Börse eingeführt, und Saccard betreibt ein konsequentes und riskantes Spiel, um den Kurs der Aktie rasch in die Höhe zu treiben.

Es erweist sich aber bald, dass es ihm dabei nur bedingt um das vorgebliche Ziel dieser Bankgründung geht. Eigentlicher Antrieb sind sein Neid auf und seine antisemitischen Vorurteile gegen den jüdischen Börsenmagnaten Gundermann, den er ruinieren und dessen Platz als unangefochtener König der Pariser Börse er einnehmen will. Und so verliert Saccard in immer neuen Spekulationen mehr und mehr die Kontrolle über das Geschehen: Je höher er den Kurs der Aktie künstlich herauftreibt, desto öfter ist er genötigt, ihn durch illegale Käufe von Aktien über Strohmänner zu stützen, also das Kapital der Bank in sie selbst zu investieren, anstatt neues Kapital hinzuzugewinnen. Alles endet natürlich, wie es enden muss, im Absturz des Kurses, dem Bankrott der Bank, dem Ruin zahlloser Kleininvestoren und der Inhaftierung und Verurteilung Saccards und Georges Hamelins.

Der Roman ist auffällig reich an Figuren und außergewöhnlich sorgfältig konstruiert; fast hat man den Eindruck, ein Buch von Dickens zu lesen, sowohl, was die Zahl, als auch was die Gestaltung und den funktionalen Einsatz des zahlreichen Personals angeht. Dagegen treten die sonst bei Zola vorherrschenden umfangreichen und detaillierten Beschreibungen in den Hintergrund; nur an einer einzige Stelle gibt der Autor diesem Hang für einige Seiten nach und beschreibt minutiös den Ablauf eines Börsentages. Ansonsten ist er, entweder aus Rücksicht auf das Verständnis seiner Leser oder weil er sich selbst nicht recht sicher auf dem Parkett der Hochfinanz fühlte, auffällig zurückhaltend bei der Beschreibung konkreter Einzelheiten und Prozesse der gesellschaftlichen Sphäre, die er beschreibt.

Das ist es auch, was alles in allem nicht recht überzeugt: Trotz des erheblichen thematischen Aufwands, den Zola betreibt, bleibt seine Analyse des Geschehens am Ende schwach. Dass er beinahe das gesamte letzte Kapitel personal aus der Perspektive Caroline  Hamelins, die zeitweilig eine der Geliebten Saccards ist, erzählt und damit den Größenwahn und die Machtgier Saccards als erste Ursache der Katastrophe in den Vordergrund rückt und damit die ruinierten Investoren zu Opfern stilisiert, statt sie als die geldgierigen Idioten darzustellen, als die sie sich im Laufe des Romans erwiesen haben, bringt den Roman beinahe um jedes kritische Potenzial. Da hilft es auch nicht, in der Nebenfigur Sigismond Buschs einen in der Wolle gefärbten Marxisten auftreten zu lassen, dessen politische Vision dann als Phantasie eines Schwindsüchtigen stehen bleibt.

Womit Zola hier mehr als je zuvor zu kämpfen hat, ist seine eigene, letztlich ungebrochene Fortschrittsgläubigkeit: Das Elend der Gegenwart ist durch den ganzen Zyklus hindurch immer wieder nur der notwendige Nährboden für die um so herrlichere, glänzende Zukunft, die daraus erwachsen soll. In dieser Entwicklung spielt dann auch der größenwahnsinnige Saccard, der sich selbst am Ende unverhohlen mit Napoleon vergleicht, noch seine notwendige Rolle, und hätte der sich nur ein wenig mehr im Griff gehabt, so wäre sein Plan so übel gar nicht gewesen. Bald wird der nächste kommen und den Reigen aufs Neue eröffnen; auch er wird wahrscheinlich scheitern, aber auch sein Scheitern wird die Welt wieder um ein Jota vorangebracht haben. Es ist natürlich nicht fair, Zola seinen Optimismus aus dem Abstand von mehr als 120 Jahren vorzuhalten; überzeugender wird der Roman aber durch diesen Vorbehalt auch nicht.

Übersichtsseite zur Rougon-Macquart

Émile Zola: Die Rougon-Macquart. Natur- und Sozialgeschichte einer Familie unter dem zweiten Kaiserreich. Hg. v. Rita Schober. Berlin: Rütten & Loening, 1952–1976. Digitale Bibliothek Bd. 128. Berlin: Directmedia Publ. GmbH, 2005. 1 CD-ROM. Systemvoraussetzungen: PC ab 486; 64 MB RAM; Grafikkarte ab 640×480 Pixel, 256 Farben; CD-ROM-Laufwerk; MS Windows (98, ME, NT, 2000, XP oder Vista) oder MAC ab MacOS 10.3; 256 MB RAM; CD-ROM-Laufwerk.

Gordimer lesen

Inzwischen ist es ja selbst in Deutschland kein so ungewöhnlicher Einfall mehr, die Veröffentlichung eines Buches mit einem Blog zu begleiten. Der Berlin Verlag startet für die Veröffentlichung des jüngsten Romans von Nadine Gordimer ein Blog, auf dem acht Blogger als Lesepaten ihre tägliche Lektüre mit öffentlichen Notizen begleiten sollen. Auch der Nachtwächter wurde eingeladen, und da es sich wahrscheinlich um den einzigen Anstoß handelt, einen Roman von Nadine Gordimer zu lesen, der sich für ihn je finden wird, hat er die Gelegenheit ergriffen. Also wird er ab dem 8. Oktober Gordimer lesen und darüber bloggen.

Zu den Postings des Nachtwächters

Herman Melville: Moby-Dick

Gott bewahre mich davor, jemals etwas zu vollenden. Dieses ganze Buch ist nur ein Entwurf – nein, nur der Entwurf zu einem Entwurf. Oh, Zeit, Kraft, Geld und Geduld!

Ein Buch, bei dem sich ein Rezensent bestenfalls blamieren kann! »Moby-Dick« ist zu unterschiedlichen Zeiten so unterschiedlich bewertet worden, dass zu vermuten ist, dass zukünftige Generationen sich köstlich über unsere Unfähigkeit amüsieren werden, diesen Roman einzuordnen. Und wahrscheinlich werden sie auch damit Unrecht behalten.

Dieses Buch, von dem sich Melville merkwürdigerweise einiges erhofft hatte, war ein grandioser Misserfolg und das vorläufige Ende seiner Karriere als Schriftsteller. Es wurde wenig gekauft, durchweg schlecht besprochen und schließlich zum Abenteuer- und Jugendbuch umgeschrieben. Erst nachdem die Moderne die erzählerische Tradition des 19. Jahrhunderts kräftig durchmischt hatte, konnte »Moby-Dick« entdeckt werden als das literarische Wagnis, das es gewesen war: die Geschichte von einem, der auszog in einem Meer von Wörtern ein literarisches Monstrum zu erlegen.

Erzählt, das dürfte wenigstens aus dem Fernsehen bekannt sein, wird die Geschichte des Kapitäns Ahab, der versucht, Rache an einem Wal zu nehmen, der ihm auf der letzten Walfang-Fahrt einen Unterschenkel amputiert hat. Der Erzähler Ishmael lässt keinen Zweifel daran, dass es sich bei Ahab um einen Wahnsinnigen handelt, der die Gemeinschaft an Bord des Walfängers Pequod auf einen irrationalen Rachefeldzug einschwört und sie auf diese Weise schließlich ins Verderben führt. Moby Dick (merkwürdigerweise schreibt Melville den Namen im Titel mit Bindestrich, im Text dann durchgehend ohne; auch dies ein ungehobenes Rätsel des Buches) wird nicht nur Ahab töten, er versenkt mit einem Rammstoß auch die Pequod mit Mann und Maus, und nur der Erzähler überlebt, auf einem Sarg treibend, die Katastrophe. Soweit im Groben die Abenteuergeschichte.

Für Melville und seinen Erzähler aber geht die Reise der Pequod weit über dieses Abenteuer hinaus: Nicht nur liefert Melville die erste panoramatische Darstellung der Walfangindustrie des 19. Jahrhunderts, nicht nur erhebt er den Anspruch, die cetologische Literatur seiner Zeit zu einer klärenden Gesamtschau zusammenzufassen, nicht nur will er aus seinem Walfänger die Bühne Shakespeares machen, die die Welt bedeutet, die Fahrt der Pequod in den Untergang ist ohne Zweifel auch eine spirituelle Reise zu den Abgründen des Menschen und seiner verzweifelten Stellung in der Welt. Und damit ist noch gar nicht von der Ebene der politischen Allegorie die Rede oder von der praktizierten Toleranz in Glaubens- und Rassefragen, die Mitte des 19. Jahrhunderts alles andere als selbstverständlich war.

Das Buch ist sprachlich chaotisch und formal so unförmig, wie ein an Land gespülter Wal:

Den lebenden Wal in seiner ganzen Majestät und Bedeutung kriegt man nur auf See in unergründlich tiefen Gewässern zu Gesicht; und in schwimmendem Zustand ist der Großteil von ihm der Sicht vorenthalten wie bei einem vom Stapel gelassenen Linienschiff; und es ist eine Sache, die für den sterblichen Menschen auf ewig unmöglich bleibt, ihn aus jenem Element mit ganzem Leib in die Luft emporzuhieven und solchermaßen all seine mächtigen Ausbauchungen und wallenden Erhebungen festzuhalten.

Melville war sich im Klaren darüber, dass er ein Risiko lief, dass »Moby-Dick« ein Buch sein würde, wie es die Welt zwischen zwei Buchdeckeln noch nicht erblickt hatte. Er hoffte, dass wenigstens die fortschrittlicheren seiner Zeitgenossen ihm auf diesem Weg würden ein weniges folgen können. Doch er war ihnen in seiner Jagd nach dem, was der Literatur möglich sein könnte, zu weit voraus.

So wahr mir Gott helfe, und auf meine Ehr, die Geschichte welche ich Euch erzählt, Gentleman, ist im Kern und in ihren wesentlichen Punkt wahr. Ich weiß, daß sie wahr ist; es geschah auf diesem Erdenrund; ich betrat das Schiff; ich kannte die Mannschaft […].

Es müssen noch ein paar Sätze zur Übersetzung gesagt werden: Bis vor acht Jahren lagen im Deutschen nur mehr oder weniger mangelhafte Übersetzungen des Buches vor, selbst wenn man einmal von den »für die heranreifende Jugend bearbeiteten« Ausgaben absieht. Die Übersetzer wussten es entweder besser als Melville, wie dieser Roman hätte geschrieben werden sollen, und griffen massiv in den Text ein, oder sie opferten zumindest auf dem Altar der Lesbarkeit und verflachten Melvilles vulkanische Sprache zu einer zumutbaren Einheitssauce, die sie zum halb verrotteten Wal servierten. Im Jahr 2004 erschienen dann gleich zwei Neu-Übersetzungen: die von Friedhelm Rathjen bei 2001 und die von Matthias Jendis bei Hanser (als Eröffnung einer Werkauswahl, die inzwischen ins Stocken geraten zu sein scheint). Der Text von Jendis verheimlichte nicht, dass es sich bei ihm um eine Bearbeitung der Rathjenschen Übersetzung handelte. Rathjen hatte seine Übersetzung nämlich im Auftrag des Hanser Verlages erstellt, doch der schließlich gefundene Herausgeber Daniel Göske war mit ihrer Radikalität nicht einverstanden. Nach langem Hin und Her einigten sich Übersetzer, Herausgeber und Verlag schließlich darauf, dass Friedhelm Rathjen die Rechte an seiner Fassung zurückerhalten und bei Hanser eine Bearbeitung dieser Übersetzung unter dem Namen des Bearbeiters erscheinen würde.

Im Endeffekt hat dies für den Leser den Vorteil, dass er sich seinen »Moby-Dick« heute aussuchen kann: Wer den ganzen Genuss des sprachlichen Abenteuers und der Gefahren und Stürme des Erzählens erleben will, greift zu Rathjens Text, wer seichtere und ruhigere Gewässer vorzieht, kauft die öligere Variante von Jendis. Wie sagte Friedhelm Rathjen jüngst bei anderer Gelegenheit so richtig: »Es gibt Bücher, von denen es gar nicht zu viele Übersetzungen geben kann.«

Herman Melville: Moby-Dick. Deutsch von Friedhelm Rathjen. Fischer Tb. 90195. Frankfurt/M.: Fischer, 42012. Broschur, 927 Seiten. 12,50 €.

Zum Tod von Herbert Rosendorfer

Prinz Garibald zählte. Er zählte nicht Fliegen, Fenster, Autos oder was immer; er zählte abstrakt. Er hatte sich, als er achtzehn Jahre alt war, zur Lebensaufgabe gestellt, zu zählen. Das war 1922 gewesen. Er zählte manchmal laut, manchmal zählte er nur innerlich für sich; meist zählte er ganz leise und bewegte dabei ein wenig die Lippen. Aber immer zählte er gewissenhaft. In einem kleinen Notizbuch vermerkte er, mit welcher Zahl er aufgehört hatte. Am nächsten Tag (genauer gesagt: am nächsten Werktag) fing er mit der darauffolgenden Zahl weiterzuzählen an. Er habe keine anderen Interessen und Neigungen, sagte der Prinz. Zum militärischen oder geistlichen Stand fühle er keine Berufung. Wissenschaftliche oder künstlerische Betätigung langweile ihn. Die Jagd sei ihm zu unbequem. Das Zählen fülle ihn aus.

Herbert Rosendorfer
Deutsche Suite