Thomas Nickerson, Owen Chase, a. o.: The Loss of the Ship Essex, Sunk by a Whale

Nickerson_EssexDer Untergang der Essex wäre heute wahrscheinlich ebenso vergessen wie zahlreichen andere Schiffskatastrophen vergangener Jahrhunderte, wenn er nicht das Vorbild für den Untergang der Pequod in Herman Melvilles »Moby-Dick« geliefert hätte. Melville lernte den Bericht Owen Chase’, des 1.Offiziers der Essex, bereits kennen, als er selbst noch auf einem Walfänger unterwegs war, erhielt sein eigenes Exemplar des Buches aber erst 1851, als sein Roman bereits weitgehend fertiggestellt war.

Natürlich darf das Schicksal der Essex auch ohne Beziehung auf den »Moby-Dick« Interesse für sich beanspruchen: Immerhin betont Chase in seiner Schilderung der Ereignisse, dass es unerhört sei, dass jemals ein Walfangschiff von einem Pottwal gezielt und direkt angegriffen, geschweige denn versenkt worden sei. Was die Zeitgenossen an dem Fall faszinierte, war aber nicht nur die außergewöhnliche Ursache des Untergangs der Essex, sondern auch das Schicksal der wenigen Überlebenden, die letztlich zum Kannibalismus Zuflucht nehmen mussten. Allein schon aus diesem schaurigen Detail erklärt sich, dass der Fall der Essex breit besprochen und noch nach Jahrzehnten bekannt war.

Der Band bei Penguin versammelt alle bekannten Quellen direkt von der Katastrophe Betroffener, von denen einzig der Bericht von Owe Chase in Buchform erschien. Der Bericht von Thomas Nickelson, dem jüngsten Mitglied der Crew der Essex, ergänzt den von Chase insoweit ganz gut, als Chase die Fahrt der Essex vor der Versenkung des Schiffs nur sehr rasch abhandelt. Im Zusammenhang mit Melville sind diese und die weiteren Quellen allerdings nicht erheblich, da er sie nicht gekannt haben kann.

Zusätzlich zu den Primärquellen werden die Notizen dokumentiert, die sich Melville auf den letzten, leeren Seiten seines Exemplars von Chase’ Bericht machte. Allerdings tragen diese Notizen zum Verständnis von »Moby-Dick« nur wenig bei; einzig dass sich Melville anhand des Buches von Chase selbst über die Glaubwürdigkeit des Endes seines Romans beruhigte, könnte vielleicht von Interesse sein.

Alles in allem ein ganz nettes Bändchen, wenn es auch nur von begrenztem Nutzen für den Melville-Leser ist.

Thomas Nickerson, Owen Chase, a. o.: The Loss of the Ship Essex, Sunk by a Whale. First Person Accounts. Ed. by Nathaniel and Thomas Philbrick. New York: Penguin, 2000. Broschur, 231 Seiten. Ca. 11,– €.

Nathaniel Philbrick: Why Read Moby-Dick?

philbrick_moby-dickNathaniel Philbrick hat nicht nur einen Roman über die Tragödie des Walfangschiffs Essex verfasst, sondern auch eine verdienstvolle, vollständige Sammlung der Augenzeugenberichte über dieses Vorbild für den Untergang der Pequod in Herman Melvilles »Moby Dick« herausgegeben (darüber bald mehr an dieser Stelle). Das kleine Büchlein »Why Read Moby-Dick?« ist eine sehr persönlich gehaltene Anregung zur Lektüre dieses nicht einfachen Klassikers der amerikanischen Literatur. Es reißt zahlreiche Themen des Buches an, gibt kurze Einblicke in die Biographie Melvilles, zitiert einige Stellen aus seinen Briefen an Nathaniel Hawthorne, erzählt anekdotisch von der Niederschrift des „Moby-Dick“ und ist insgesamt getragen von einer aufrichtigen Begeisterung für das Buch.

Ich habe es als Anregung gelesen, weil bei mir in den nächsten Wochen Melville dran ist, da ich im November wieder einmal einen Vortrag über ihn und seinen großen, weißen Wal halten werde. Als (Wieder-)Einstieg ins Thema ist das Buch exzellent und kann allen Neugierigen für eine nachmittägliche, kurzweilige Lektüre empfohlen werden.

Nathaniel Philbrick: Why Read Moby-Dick? New York: Viking, 2011. Wachstuch, Leinenrücken, rauer Schnitt, 131 Seiten. Ca. 15,– €.

Lew Tolstoi: Krieg und Frieden

Das ärgerte ihn noch mehr, denn in seiner Seele wusste er, nicht aus Überlegung, sondern durch etwas Stärkeres als Überlegung, dass er zweifellos recht hatte mit seiner Meinung.

Natürlich bietet es sich an, im Jahr 2012, 200 Jahre nach Napoleons Feldzug nach Russland, »Krieg und Frieden« zu lesen. Das Buch stand weit oben auf der imaginären Liste des Wiederzulesenden; die erste Lektüre wird an die 30 Jahre zurückliegen. Damals war es die Übersetzung von Marianne Kegel bei Winkler, diesmal habe ich es natürlich mit der Neuübersetzung von Barbara Conrad bei Hanser versucht. Parallel dazu habe ich etwas mehr als die Hälfte des Textes in der ausgezeichneten Komplett-Lesung von Ulrich Noethen angehört, der eine nicht genauer bezeichnete Bearbeitung der Übersetzung von Hermann Röhl liest, die wohl zuerst 1915 erschienen ist, wenn sie auch in zahlreichen Bibliographien mit der Jahreszahl 1922 oder 1923 verzeichnet ist.

Angesichts der inzwischen zahlreichen Verfilmungen des Stoffs – zuletzt 2007 mit einer durchaus nicht unkomischen Soap-Opera-Ästhetik fürs Fernsehen – ist eine ausführlichere Inhaltsangabe wohl unnötig. Für all jene, die das Buch nie gelesen haben, sollte wohl gesagt werden, dass die Handlung um die vier Adels-Familien Bolkonski, Besuchow, Kuragin und Rostow nur eine von drei Ebenen des Romans bildet; die zweite ist eine durchaus kontroverse Geschichte der Napoleonischen und russischen Feldzüge zwischen 1805 und 1812, die dritte, besonders im dritten und vierten Buch präsente, bildet eine breit angelegte Reihe geschichtsphilosophischer Essays. Der Einfluss, den diese Mischung verschiedener Genres in einem Roman auf die Entwicklung der Gattung im 19. und 20 Jahrhundert hatte, sollte nicht unterschätzt werden.

Die Neuübersetzung dürfte, wenn ich der einzigen Stichprobe trauen darf, die ich vorgenommen habe, die genaueste sein, die es in deutscher Sprache gibt. Sie verzichtet im Gegensatz zu den Vorläufern darauf, Tolstois Text stilistisch zu glätten. Aufgefallen war mir eine Passage, die ich zuerst für einen Lapsus der Übersetzerin hielt; da heißt es zu Anfang des 3. Kapitels im 1. Teil von Buch 4:

Neun Tage nachdem Moskau aufgegeben worden war, kam ein Bote von Kutusow nach Petersburg mit der offiziellen Nachricht, dass Moskau aufgegeben würde. Dieser Bote war der Franzose Michaud, der kein Russisch konnte, doch quoique étranger, Russe de cœur et d’âme war, wie er von sich sagte.

Der Kaiser empfing den Boten sofort in seinem Kabinett im Palais auf Kamenny Ostrow. Michaud, der Moskau vor der Kampagne noch nie gesehen hatte und der kein Russisch konnte, fühlte sich dennoch gerührt, als er vor notre très gracieux souverain (wie er schrieb) mit der Nachricht vom Brand Moskaus erschien, dont les flammes éclairaient sa route.

Die Doppelung der Information, dass Michaud kein Russisch spricht, was sich im Verlauf des Gesprächs mit dem Kaiser auch als gänzlich unnötig erweist, ist stilistisch etwas unglücklich, um das wenigste zu sagen. Da keine der mir erreichbaren Übersetzungen diese Doppelung reproduziert (merkwürdiger Weise aber in einem Fall im ersten und im anderen im zweiten Absatz fort lässt), habe ich einen des Russischen mächtigen Bekannten gebeten, das Original für mich aufzuschlagen (an dieser Stelle mein Dank an Frank Fischer). Und tatsächlich findet sich die von Barbara Conrad übersetzte Doppelung so bei Tolstoi. Ob es sich dabei um einen Fehler oder um die absichtliche Zuspitzung der auch sonst in weiten Teilen des Romans zu beobachtenden Methode, Informationen wiederholt und in ähnlichem Wortlaut mitzuteilen, handelt, kann ich nicht beurteilen. Aber der Fund erhöht mein Vertrauen in die Zuverlässigkeit der neuen Übersetzung.

Aus dem obigen Zitat lässt sich auch eine weitere Entscheidung der Übersetzerin ablesen, nämlich die nicht russischen – in der Hauptsache französischen – Passagen des Buches in der jeweiligen Sprache im Haupttext zu belassen und nur in Fußnoten ins Deutsche zu übersetzen. Tolstoi markiert mit dem durchaus breiten Gebrauch des Französischen besonders in Gesprächen am Hof und unter dem Hof nahestehenden Adeligen nicht nur einen historischen Zug der russischen Kultur, sondern ist sich zugleich der Ironie bewusst, dass sich die Russen einem Angriff von Seiten genau jener Kulturnation gegenübersehen, die sie in ihrem höfischen Leben zu imitieren suchen. Auch diese Entscheidung der Neuübersetzung hebt sie aus der Reihe der bisherigen deutlich heraus. Hinzukommt, dass es sich wohl um eine der wenigen wirklich vollständigen Übersetzungen ins Deutsche handelt, da die meisten anderen deutschen Ausgaben auf die Übertragung des zweiten, rein essayistischen Teils des Epilogs verzichten.

Trotz alledem und obwohl meine zweite Lektüre sicherlich der ersten an Verständnis weit voraus ist, muss ich am Ende gestehen, dass ich mit Tolstoi nicht warm zu werden verstehe. Ich sehe durchaus die Vorzüge des Buches: Der breit angelegte Stoff, sowohl was die Fabel im engeren Sinne als auch was die historische Darstellung angeht, der lange Atem des Erzählers, die Spannbreite der dargestellten Lebens- und Notlagen zwischen Geburt und Tod, der ambitionierte Versuch zur Begründung einer originären – letztlich aber wohl inkonsistenten und von der eigenen historischen Erzählung konterkarierten – Theorie der Geschichte. Ich bewundere die Kunstfertigkeit, die disparaten gedanklichen und stofflichen Tendenzen des Buches miteinander in ein Gleichgewicht und einen Einklang zu bringen. Ich begreife inzwischen auch wenigstens in Grundzügen den Einfluss, den dieser Roman auf die Entwicklung der Gattung im 19. und 20. Jahrhundert gehabt hat.

Dennoch, und das betrifft nicht nur »Krieg und Frieden«, sondern ist mir mit »Anna Karenina« genauso gegangen, kann ich mich nicht dazu bringen, am Schicksal der Tolstoischen Figuren irgendeinen Anteil zu nehmen. Wer es auch sein mag, Natascha, Sonja, Marja, Andrej oder Pierre, sie bleiben mir gänzlich gleichgültig, und ich nehme ihre Meinungen, ihre Verirrungen, ihre Gedanken und Gefühle achselzuckend zur Kenntnis und denke: Naja, so geht es halt zu unter Menschen. Ich mag auch noch das erzählerische Konzept verstehen, dass diese Adeligen, diese Creme der Gesellschaft, zwar besser gebildet, deshalb aber nicht weniger dämlich ist als der Rest der Menschheit, der sie umgibt, doch eine Empathie mit ihnen erwächst daraus nicht. Im Gegenteil: Je menschlicher sie im Verlauf der Handlung geraten, desto mehr gehen sie mir auf die Nerven.

Als Essayist zeigt Tolstoi zahlreiche Mängel eines sogenannten Selbstdenkers, also eines Menschen, der nur eine unzureichende Ausbildung im abstrakten Denken erhalten hat: Er wiederholt sich aufs Umständlichste, analysiert Gedankengänge anhand konkreter Beispiele, die sich durchaus immer auch anders verstehen lassen, bleibt in seiner Kritik oft negativ, ohne sagen zu können, wodurch denn die von ihm kritisierten Deutungsansätze ersetzt werden sollten, und endet zu oft bei völlig vagen Konzepten wie zum Beispiel dem »Geist des Heeres«.

Vielleicht sollte ich Tolstoi die Lizenz Nietzsches einräumen, dass man von großen Dingen entweder groß reden oder schweigen soll, und entsprechend den Mund halten. Aber unter uns bleibt es dabei: Tolstoi ist zweifellos eine literarhistorische Größe, vielleicht auch ein Gigant, aber nichts von alle dem geht mich etwas an. Bei Gelegenheit werde ich sicherlich auch noch einmal »Anna Karenina« in der neuen Übersetzung bei Hanser in die Hand nehmen, doch viel Hoffnung mache ich mir nicht.

Lew Tolstoi: Krieg und Frieden. Übersetzt von Barbara Conrad. München: Hanser, 2010. 2 Bände, Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 1104 und 1184 Seiten. 58,– €.

Leo Tolstoi: Krieg und Frieden. In der Übersetzung von Hermann Röhl vollständig gelesen von Ulrich Noethen. Berlin: DAV, 2009. 54 CDs (3979 Minuten). 199,– €.

William Faulkner: Als ich im Sterben lag

Ab und zu macht man sich so seine Gedanken. Über all das Unglück und Leid in dieser Welt. Wie’s überall und jederzeit einschlagen kann, wie der Blitz.

Bereits 2008 hatte der Rowohlt Verlag eine Neuübersetzung von »Licht im August« vorgelegt, der er nun, zum 50. Todestag Faulkners, eine weitere folgen lässt. Der vergleichsweise kurze Roman »Als ich im Sterben lag« gehört ebenfalls zu denen um das fiktive Yoknapatawpha County, Faulkners Very Own County. »Als ich im Sterben lag« gehört zu Faulkners populären Romanen, was an der zwar wuchtigen und komplex erzählten, im Grunde aber einfachen und geradlinigen Handlung liegen mag.

Erzählt wird die Familiengeschichte der Bundrens um und nach dem Tod von Addie Bundren, Gattin Anse Bundrens und Mutter von vier Söhnen und einer Tochter. Addie stammt aus der Bezirkshauptstadt Jefferson und hat ihren Mann versprechen lassen, sie nach ihrem Tod dorthin zu überführen und bei ihren dortigen Verwandten beizusetzen. Die Fahrt nach Jefferson, die eine knappe Woche dauern wird, gerät zu einer Odyssee von Unglück zu Unglück, was Anse nicht daran hindert, sein Versprechen gegen alle Widerstände und koste es, was es wolle, einzuhalten. Zuerst verliert man bei der Überquerung eines Hochwasser führenden Flusses, der alle verfügbaren Brücken weggerissen hat, die beiden Maultiere, und Cash, der älteste Sohn bricht sich das Bein. Dann muss Anse, um neue Maultiere zu beschaffen, den einzigen Schatz seines dritten Sohn Jewel (der nicht sein leiblicher Sohn ist, was Anse aber nicht weiß), ein Texas-Pony, eintauschen. Inzwischen werden die Bundrens von zahlreichen Bussarden begleitet, da die Leiche Addies nun schon mehrere Tage alt ist; entsprechend unbeliebt sind sie bei ihren Mitmenschen. Da Cashs gebrochenes Bein sich gegen das Ruckeln des Wagens nicht ausreichend mit Holzschienen stabilisieren lässt, kommt man auf den grandiosen Einfall, das Bein einzuzementieren, allerdings ohne es zuvor verbunden oder sonstwie geschützt zu haben. Und um allem die Krone aufzusetzen, zündet auf dem letzten Halt vor Jefferson der Zweitälteste, Darl, ein geistig etwas zurückgebliebener junger Mann, die Scheune an, in der man den Sarg gelagert hat, um der schaurigen Reise durch Einäscherung der Leiche ein Ende zu bereiten. Bei der Rettung der Tiere und des Sargs aus den Flammen zieht sich Jewel schwere Verbrennungen zu.

In Jefferson angekommen geht es mit der Beerdigung (die selbst übrigens ungeschildert bleibt) vergleichsweise glatt: Man leiht sich bei einer Frau, die Anse zwei Tage später als neue Mrs. Bundren mit zur Farm zurücknehmen wird, zwei Spaten aus und bringt die Sache hinter sich. Doch fordert auch Jefferson noch Opfer: Der Besitzer der niedergebrannten Scheune hat Darl als Brandstifter angezeigt, der nun verhaftet und in eine Irrenanstalt eingewiesen wird, und die schwangere Tochter Dewey Dell bekommt von einem jungen Drogisten, von dem sie ein Abtreibungsmittel kaufen will, gegen eine sexuelle Dienstleistung nur ein Placebo ausgehändigt. Die zehn Dollar, die sie vom Kindsvater  für das Abtreibungsmittel bekommen hat, nimmt ihr Anse weg und investiert sie in ein Gebiss, das er sich seit Jahren sehnsüchtig wünscht. Cash wird von Doktor Peabody von dem Zementverband und seinem derweil nekrotisch gewordenen Fuß befreit, bevor die Familie sich schicksalsergeben auf den Rückweg macht.

Diese Abfolge von Katastrophen wird ausschließlich aus der Perspektive der Figuren erzählt, nicht nur der Familie (einmal kommt sogar die tote Mutter zu Wort), sondern auch ihrer Bekannten, des Doktors und derjenigen, die der Familie unterwegs Unterkunft und Nahrung gewähren. Insgesamt sind es 14 Erzähler, die aus ihrer Sicht und in ihrer jeweils eigenen Sprache die Geschichte erzählen. Während das zu Anfang dem Leser eine kurze Phase der Orientierung abverlangt, entwickelt die Erzählung bald einen derartigen Sog, dass man sich kaum noch vorstellen kann, wie die Geschichte anders hätte erzählt werden können.

Ein grandioses Buch und ein erzählerisches Kabinettstück, das eine Literatur erzeugt, wie sie entstehen würde, wenn diese Menschen denn tatsächlich schrieben. Der Neuübersetzung gelingt eine exzellente Wiedergabe des lakonischen, am Denken und Sprechen der Figuren ausgerichteten Tons der Erzählung. Es ist zu hoffen, dass Rowohlt diese Reihe von Neuübersetzungen Faulkners fortsetzen wird.

William Faulkner: Als ich im Sterben lag. Aus dem Englischen von Maria Carlsson. Reinbek: Rowohlt, 2012. Pappband, Lesebändchen, 248 Seiten. 19,95 €.

Allen Lesern ins Stammbuch (52)

Der Doktor Richard hatte ein neues wissenschaftliches Werk gepriesen; »dieses Buch müssen Sie unbedingt lesen«, schloß er, zu dem teilnahmslos dasitzenden Viktor gewendet. Schäumend sprang dieser in die Höhe: »Wie unterstehen Sie sich, mir Befehle zu erteilen?« Und den ganzen Abend ging es: »Herr Doktor, Sie müssen unbedingt diesen Bleistift in den Mund nehmen«, »Herr Doktor, Sie müssen mir unbedingt mein Schnupftuch aus dem Überzieher holen«, »Herr Doktor, Sie müssen jetzt unbedingt sofort nach Hause.«

Carl Spitteler
Imago

Vladimir Nabokov: Maschenka

Morgen kam seine ganze Jugend, kam sein Rußland wieder zu ihm zurück.

nabokov_werke_01Nachdem ich in den letzten Tagen nebenher das Hörbuch von Nabokovs »Pnin« noch einmal angehört habe, bekam ich Lust, auch wieder etwas von ihm zu lesen. Seit einiger Zeit kaufe ich peu à peu die deutsche Werkausgabe Nabokovs zusammen und habe vor, sie in den nächsten Jahren systematisch durchzulesen. Es bot sich also an, mit seinem ersten Roman »Maschenka« anzufangen.

»Maschenka« ist im Jahr 1925 auf Russisch entstanden und im Jahr darauf in einem Berliner Exilverlag für russische Literatur erschienen, der zu Ullstein gehörte. Durch diese Verbindung erschien bereits 1928 auch eine erste deutsche Übersetzung im Mutterverlag, was für den Erstling eines russischen Exilautors kein kleiner Erfolg gewesen sein dürfte. Der Roman spielt an einigen wenigen Tagen im Jahr 1924 in Berlin und erzählt die Geschichte Lew Glebowitsch Ganins (Ganin ist allerdings nur sein nom de guerre, den er sich im Widerstand gegen die Bolschewisten zugelegt hat; seinen echten Namen erfährt der Leser nicht), der zusammen mit einer kleinen Gruppe von russischen Exilanten in einer russischen Pension lebt. Ganin schlägt sich wie viele seiner Schicksalsgenossen mit Gelegenheitsarbeiten – etwa als Filmstatist – durch. Ihn treibt es fort aus Berlin, aber er kann sich nicht entschließen abzureisen, da er eine erotische Affäre mit einer jungen Frau, Ljudmila, hat und sich nicht durchringen kann, diese zu beenden.

Erzählanlass ist, dass Ganins Zimmernachbar Alexej Iwanowitsch Alfjorow ihm erzählt, dass am Ende der Woche seine Frau aus Russland nach Berlin kommen wird, die er seit vielen Jahren nicht mehr gesehen hat. Als Alfjorow Ganin ein Bild seiner Gattin zeigt, erkennt der in ihr seine erste Jugendliebe Maschenka wieder. Augenblicklich fasst er den lange aufgeschobenen Entschluss: Schon am nächsten Tag trennt er sich von Ljudmila und bereitet seine Abreise aus Berlin vor. Er will Maschenka bereits am Bahnhof abfangen und umgehend mit ihr nach Süden abreisen, bevor sie überhaupt Gelegenheit hatte, ihren Ehemann wiederzusehen.

Die wenigen Tage bis zu Maschenkas Ankunft verbringt Ganin hauptsächlich damit, sich an seine Liebe zu ihr zu erinnern. Es handelt sich zuerst um eine Sommerverliebtheit, die im folgenden Jahr noch einmal kurz auflebt, aber erst nach der erneuten Trennung der beiden unerwartet ernst wird. Ganin befindet sich bereits beim Militär, als er von Maschenka Briefe erhält, in denen sie ihm ihre immer noch bestehende Liebe und ihre Sehnsucht nach ihm gesteht. Ganin aber wird als Kriegsverwundeter eher zufällig aus Russland herausgespült, landet zuerst in Istanbul und reiht sich in den Strom der Exilrussen ein, der vor der bolschewistischen Revolution nach Westeuropa flieht. Und nun findet er aus purem Zufall seine Geliebte als Ehefrau seines Zimmernachbarn wieder.

Am Samstagmorgen wird Maschenka ankommen, und Ganin macht sich eine kleine Feier in der Pension am Vorabend zunutze, um den Alfjorow betrunken zu machen, sorgt dann dafür, dass er verschlafen wird, und verlässt mit seinen gepackten Koffern das Haus, um Maschenka am Bahnhof abzufangen. Ich werde hier nicht verraten, wie der Roman endet, denn ein wesentlicher Teil seiner Wirkung beruht auf der Spannung, wie der Autor seinen Protagonisten wohl aus dieser Zwickmühle der eigenen Phantasie wieder herauszuführen gedenkt.

Vieles an diesem Roman ist konventionell und nicht weiter erwähnenswert, und es ist gut, dass er nur ungefähr 180 Seiten lang ist. Dabei wirkt vieles nur resümiert, und es zeugt von einiger Disziplin des jungen Autors, dass er nicht in selbstverliebtes Schwärmen verfallen ist, sondern eine schlanke, adrette Erzählung abgeliefert hat. An einer einzigen Stelle aber kann man schon den späteren Meister herausspüren: Am Tag, bevor Maschenka eintreffen wird, begleitet Ganin den alten Dichter Podtjagin, der ebenfalls in der Pension lebt und seit Wochen verzweifelt versucht, eine behördliche Ausreisegenehmigung nach Frankreich zu erhalten, aufs Amt und erreicht es tatsächlich, dass der Alte den ersehnten Stempel in seinen Pass bekommt. Anschließend fahren die beiden auf dem offenen Oberdeck eines Busses zum französischen Konsulat, und Podtjagin legt, um den Fahrschein zu lösen, seinen Pass für einen Moment auf die Sitzbank. Und dann schreibt Nabokov nur noch diesen einen Satz:

Podtjagin rollte erstaunt mit den Augen, und plötzlich griff er nach seinem Hut – es wehte ein heftiger Wind.

Das ist alles, was es braucht, um eine Katastrophe eintreten zu lassen – der Hergang der Katastrophe selbst bleibt ungeschildert!

Die vorliegende deutsche Übersetzung benutzt als Vorlage die von Nabokov begleitete englische Übersetzung aus dem Jahr 1970. Sie weicht nur in wenigen Einzelheiten vom alten russischen Original ab. Was bei mir ein wenig Irritation ausgelöst hat, ist, dass der erste Band der deutschen Werkausgabe, der die ersten beiden Romane Nabokovs enthält, kein Inhaltsverzeichnis hat und die Nachworte von Autor und Herausgeber nicht am Ende des Bandes zusammengefasst sind, sondern unmittelbar auf die Texte folgen. Ansonsten ist der Band sorgfältig gemacht und bringt mit einem Leineneinband und Fadenheftung eine für diesen Preis sehr ordentliche Ausstattung mit.

Vladimir Nabokov: Maschenka. Aus dem Englischen von Klaus Birkenhauer. In: Gesammelte Werke I. Frühe Romane 1. Hg. v. Dieter E. Zimmer. Reinbek: Rowohlt, 21999. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 183 (von 591) Seiten. 27,– €.

Émile Zola: Die Erde

Überall dieselbe Geschichte, das Geld und das Weib, deswegen starb man und deswegen lebte man.

zola_rougon»Die Erde«, der 15. Band der Rougon-Macquart, ist der Bauernroman des Zyklus. Er bildet in mehrfacher Hinsicht ein Pendant zum Arbeiterroman »Germinal«: Auch hier spielt die Familie Rougon-Macquart, vertreten durch Jean Macquarts, den Bruder der Wäscherin Gervaise aus »Der Totschläger«, nur eine Nebenrolle; im Zentrum aber steht die Familie Fouan, die seit langer Zeit im kleinen Dorf Rognes in der Gegend von Chartres ansässig ist. Der alte Bauer Fouan teilt zu Beginn des Romans seinen kleinen Besitz gegen ein Altersgeld unter seinen drei Kindern auf und setzt sich zur vermeintlichen Ruhe. Allerdings weisen bereits die Streitereien anlässlich der Teilung auf den weiteren Ärger voraus, den ihm diese Idee einbringen wird: Alle drei Kinder versuchen, ihre Eltern auf ein minimales Altersgeld herunterzuhandeln, und sie zanken sich darum, wer welchen Anteil erhalten soll. Der eine Sohn, Geierkopf genannt, verweigert sogar vorerst die Annahme des ihm zugelosten Anteils, der andere Sohn, wegen seines Hangs zum Schwadronieren »Jesus Christus« genannt, ein Säufer und Wilderer, benutzt das ihm vererbte Land bloß, um Hypotheken darauf aufzunehmen, die er anschließend versäuft. Nur der Schwiegersohn Delhomme, der die Tochter Fanny geheiratet hat, zahlt tatsächlich pünktlich sein Drittel der vierteljährlich fälligen Rente.

Noch ärger wird es, als Mutter Fouan stirbt und die Kinder den Vater überreden, sein Haus zu verkaufen und bei ihnen zu wohnen: Fanny erweist sich als eine geizige und herrische Tochter, die dem Alten sein Leben vergällt, bei »Jesus Christus« geht es zwar lustiger zu, aber auch der ist nur darauf aus, dem Vater das letzte Geld wegzunehmen, und im Haus von Geierkopf ereignet sich die eigentliche Tragödie des Buches. Nachdem Geierkopf sein Erbteil doch endlich angenommen hat, da es durch den Bau einer Straße deutlich an Wert gewonnen hat, heiratet er seine Kusine Lise, die bereits ein Kind von ihm hat. Beim Ehepaar wohnt bis zu ihrer Volljährigkeit auch die jüngere Schwester Lises, Françoise, in die sich Jean Macquart verliebt hat. Geierkopf versucht Françoise mehrfach zu vergewaltigen, um sie zu einer faktische Ehe zu dritt zu zwingen, von der er sich erhofft, dass der Besitz der beiden Schwestern dann nicht bei Françoises Volljährigkeit oder Heirat geteilt werde.

Doch Françoise wehrt sich erfolgreich gegen alle Übergriffe, ja ihre Schwester und ihr Schwager werden ihr mit der Zeit zunehmend verhasster, so dass sie schließlich in eine Ehe mit Jean einwilligt, nur um sich an den beiden rächen zu können. Sie vertreibt sie nach der Teilung des väterlichen Erbes aus dem elterlichen Haus, in das sie mit Jean einzieht, und als sie schwanger wird, sehen Geierkopf und Lise die letzte Chance dahinschwinden, wieder in den vollen Besitz des Erbes zu kommen. Bei einem heftigen Streit stößt Lise die hochschwangere Françoise in deren am Boden liegende Sense; Lise stirbt wenige Tage später an den Folgen der schweren Verletzung, ohne die Schuld ihrer Schwester verraten zu haben. Vater Fouan aber, der zufällig Zeuge der Tat war, verplappert sich schon bald Jean gegenüber, und da er seinem Sohn schon lange zu Last fällt und der sich endlich auch das restliche Vermögen des Alten aneignen will, bringen Geierkopf und Lise den Mitwisser ihrer Tat in der folgenden Nacht um und verbrennen seine Leiche bis zur Unkenntlichkeit.

Die ununterbrochene Folge von Habgier, Geilheit und Streit gipfelt bei der Beerdigung des alten Fouan in einem Streit über die Grabstellen des winzigen Friedhofs, der deutlich macht, dass sich dieses Volk auch über den Tod hinaus unversöhnlich in den Haaren liegen wird. Jean, der alle zwischenmenschlichen Beziehungen verloren hat und sich nur noch als Fremder begreifen kann, lässt all das hinter sich und zieht wieder in den Krieg, aus dem er zehn Jahre zuvor nach Rognes gekommen war:

Die Menschen waren zu schuftig, die Hoffnung, Preußen abzuknallen, verschaffte ihm Erleichterung; und da er keinen Frieden gefunden hatte auf diesem Fleckchen Erde, wo sich die Familien gegenseitig das Blut aussoffen, war es ebensogut, wenn er wieder ins Gemetzel zurückkehrte.

»Die Erde« gehört sicherlich nicht zu den Glanzstücken des Zyklus, obwohl er einer der erfolgreicheren Romane Zolas war. Zwar hatten Kollegen und Kritik zu Anfang verstört auf die weitgehend unverhüllten Darstellungen von Sexualität reagiert (eine der ersten Handlungen der 14-jährigen Françoise ist es, einem Stier bei der Begattung einer Kuh zur Hand zu gehen), doch bereuten die meisten in den späteren Jahren ihre scharfe Kritik an dem Buch. Aber man muss wohl feststellen, dass Zolas Bauernwelt wesentlich nicht über die Abarbeitung bereits bekannter Klischees hinauskommt. Die wirkenden Kräfte sind am Ende nur Habgier und Wollust – zwei Todsünden, weshalb die Bauern denn auch nur ein sehr oberflächliches Christentum ihr eigen nennen dürfen –, die Zola nicht nur als wesenhaft, sondern auch als notwendig für die bäuerliche Existenz begreift. An den wenigen Stellen, an denen wenigstens ansatzweise die Position der Bauern in der industriellen Welt thematisiert wird, geschieht dies in oberflächlich bleibendem Geschwätz einzelner Figuren.

»Die Erde« wirkt wie ein Pflichtstück, ein notwendiger Stein zur Vervollständigung des Mosaiks des Zweiten Kaiserreichs, mit dem Zola aber am Ende nicht wirklich etwas anfangen konnte. Diesen inhaltlichen Schwächen steht allerdings eine ausgewogene und routiniert durchgeführte Erzählform gegenüber, die sich aber, wie bereits angedeutet, grundsätzlich so schon einmal in »Germinal« bewährt hatte; die von der Kritik immer wieder hervorgehobenen Anklänge an Shakespeares »King Lear« sind nur literarhistorischer Flitter auf einem handwerklich gediegenen, alles in allem aber blassen Stück Arbeit. Dieser Eindruck ist sicherlich auch der Tatsache geschuldet, dass die die Zeitgenossen schockierende, freizügige Darstellung von Fruchtbarkeit und Sexualität für heutige Leser viel von ihrer Wirkung eingebüßt hat.

Übersichtsseite zur Rougon-Macquart

Émile Zola: Die Rougon-Macquart. Natur- und Sozialgeschichte einer Familie unter dem zweiten Kaiserreich. Hg. v. Rita Schober. Berlin: Rütten & Loening, 1952–1976. Digitale Bibliothek Bd. 128. Berlin: Directmedia Publ. GmbH, 2005. 1 CD-ROM. Systemvoraussetzungen: PC ab 486; 64 MB RAM; Grafikkarte ab 640×480 Pixel, 256 Farben; CD-ROM-Laufwerk; MS Windows (98, ME, NT, 2000, XP oder Vista) oder MAC ab MacOS 10.3; 256 MB RAM; CD-ROM-Laufwerk.

Margot Berghaus: Luhmann leicht gemacht

Berghaus_LuhmannWährend meines Philosophie-Studiums in den 80er Jahren war Luhmanns Systemtheorie gerade der neuste Schrei. Ich war nun zu der Zeit mehr an antiker Philosophie, Kant, Hegel und Wittgenstein interessiert und auch im Nebenbei kam Luhmann nicht vor. Doch neugierig bin ich immer geblieben. Und da der Ort des Verbrechens mich nicht loszulassen scheint, kehrt immer wieder einmal das alte Interesse an reiner Theorie zurück. Zum Einstieg habe ich Margot Berghaus durchweg gelobte Einführung angelesen und kann mich der allgemeinen Meinung nur anschließen. Die Illustrationen der Autorin sind zwar etwas zu niedlich und in einem strengen Sinne sicherlich überflüssig, aber sonst ist alles an dieser Einführung gelungen. Sie ist geeignet für absolute Einsteiger, die es wahrscheinlich sogar etwas leichter haben werden, als philosophisch oder anderweitig kommunikationstheoretisch vorgebildete Leser, da Luhmann zentrale Begriffe der Kommunikation doch recht ungewöhnlich fasst. Berghaus zielt auf Studierende der Soziologie und Kommunikationswissenschaften (ihr wichtigstes praktisches Beispiel sind die Massenmedien). Ich selbst habe vergeblich nach einer Einführung aus philosophischer Sicht gesucht und kann auch nicht einschätzen, welche Rolle Luhmanns Systemtheorie innerhalb der aktuellen Philosophie überhaupt spielt.

Für mich persönlich war die Einführung nach etwa einem Drittel dann doch etwas zu grundlegend, und ich werde es in absehbarer Zeit mit Luhmanns eigener Einführungsvorlesung zur Systemtheorie probieren. Von da aus werde ich versuchen, mir die Theorie langsam von den Rändern her anzueignen.

Margot Berghaus: Luhmann leicht gemacht. Eine Einführung in die Systemtheorie. UTB 2360. Köln u.a.: Böhlau 32011. Broschur, 314 Seiten. 19,90 €.

Arkadi und Boris Strugatzki: Gesammelte Werke 3

Ich lebe in einer Welt, die sich jemand ausgedacht hat, ohne sich die Mühe zu machen, sie mir zu erklären – oder sie sich selbst zu erklären …

Strugatzki_Werke_3Der Band versammelt fünf Erzählungen, darunter zwei Romane. Zur Werkausgabe insgesamt ist bereits bei der Besprechung des ersten Bandes etwas gesagt worden, das hier nicht wiederholt werden muss.

»Die Schnecke am Hang« (entstanden 1965) erzählt zwei paralelle Handlungen, die auf einem nahezu gänzlich von Wald bedeckten Planeten spielen. Hintergrund der beiden Handlungsstränge bilden einerseits die von Menschen zum Zweck der Ausbeutung errichtete sogenannte Verwaltung, andererseits die Welt der Eingeborenen des Planeten, die sich wenigstens äußerlich von den Erdenmenschen nicht groß zu unterscheiden scheinen. Protagonist des in der Verwaltung spielenden Handlungsstrangs ist der Philologe Pfeffer, den es wohl aufgrund einer existenziellen Sehnsucht auf den Planeten verschlagen hat. Er hatte sich offenbar eine Art Erleuchtung von der Begegnung mit dem Wald erhofft, ist aber inzwischen angesichts der Absurdität der Anstrengungen der Verwaltung frustriert und möchte den Planeten wieder verlassen. An seinen vergeblichen, oft wie traumhaft wirkenden Bemühungen fortzukommen, offenbaren sich die Desorganisation und Ziellosigkeit aller Tätigkeiten der Verwaltung.

Im zweiten Handlungsstrang steht der Pilot Kandid im Zentrum. Er ist vor längerer Zeit mit seinem Helikopter über dem Wald abgestürzt und von Eingeborenen gefunden und gesund gepflegt worden. Kandids Ziel ist es, zur irdischen Verwaltung zurückzukehren, doch da die Eingeborenen, bei denen er lebt, nicht mehr als die nächste Umgebung ihres Dorfes einigermaßen kennen und den Wald fürchten, ist dies leichter gesagt als getan. Kandid macht sich trotz dieser Schwierigkeit zusammen mit einer eingeborenen Frau auf den Weg zur sogenannten Stadt, von der aus er den weiteren Weg zu finden hofft. Während er unterwegs ist, kommt er wenigstens zu einem rudimentären Verständnis der sozialen Struktur des Planeten: Offenbar existieren zumindest zwei verschiedene menschliche Spezies auf dem Planeten, eine hochentwickelte, rein weibliche, sich parthenogenetisch fortpflanzende, telepathisch begabte, die sich offenbar in einer Art Kriegszustand entweder untereinander oder mit einer weiteren Spezies befindet, und jene unter primitivsten Umständen existierende, die Kandid gerettet haben. Die erste scheint eine evolutionäre Weiterentwicklung der zweiten darzustellen. Zwar gelingt es Kandid, kurz die Aufmerksamkeit der höher entwickelten Art zu erregen, aber er findet sich doch schließlich in seinem Dorf wieder, wo er wie zu Anfang Pläne schmiedet, zur Stadt zu gelangen.

»Die Schnecke am Hang« wurde von der sowjetischen Zensur offenbar als Satire auf die sowjetischen Verhältnisse verstanden und dementsprechend wurde eine komplette Veröffentlichung des Romans vorerst nicht gestattet. So mussten die beiden Teile zuerst als eigene Erzählungen erscheinen, bevor das Werk 1968 erstmals komplett erscheinen konnte. Der Roman hat deutliche Längen, da er sich über weite Strecken absichtlich in Scheinbewegungen erschöpft, die die Protagonisten zu nichts führen. Die Hinweise darauf, was wirklich vorgeht, sind dünn gesät und drohen unter den albtraumartigen Erlebnissen der beiden Helden verloren zu gehen. So kann etwa vermutet werden, dass die mangelnde Effizienz der Verwaltung und ihr absurdes Abarbeiten an der offenbar nicht zu bewältigenden Aufgabe, den Wald auszubeuten, eine Folge von Interventionen der telepathischen Spezies der Eingeborenen ist; ebenso gut könnten es aber auch Einflüsse der Natur des Planeten selbst sein, die für die Orientierungslosigkeit der Menschen verantwortlich ist. All das und vieles mehr bleibt dem Leser so unklar wie den Menschen auf dem Planeten. Für diese erzählerische Technik scheint der Text zu lang geraten zu sein.

»Die zweite Invasion der Marsmenschen« (1967) ist eine längere Erzählung, die einerseits eine parodistische Fortsetzung von H. G. Wells’ »The War of the Worlds«, andererseits eine milde Satire auf bürgerliche Selbstzufriedenheit, Bequemlichkeit und Beschränktheit ist. Die Erzählung spielt in einer nicht näher bestimmten Gegenwart offenbar in Griechenland, was allein daran deutlich wird, dass alle Figuren Namen aus der griechischen Mythologie tragen. Das Land – und man darf vermuten der gesamte Planet – wird offenbar von den Marsmenschen erobert, wobei im ganzen Text kein einziger Marsmensch leibhaftig auftritt. Innerhalb kürzester Zeit stellen die Eroberer die Weltwirtschaft auf die Produktion von Magensaft um, dessen Qualität sie durch die Einführung einer neuen, schnell wachsenden, blauen Getreideart beeinflussen. Die Menschen werden weltweit offensichtlich zu einer Art Zuchtvieh umfunktioniert, dem regelmäßig sein Magensaft abgemolken wird.

Erzählt wird all dies aus der Perspektive eines pensionierten Lehrers in einem Dorf, in dem das Leben im Großen und Ganzen ungestört fortgeht. Zwar gibt es kurzzeitig einen Widerstand von vereinzelten Partisanengruppen, doch wird dieser bald von den Menschen selbst niedergeschlagen, da er den reibungslosen Ablauf der neuen Geschäfte mit blauem Getreide und Magensaft stört. Im Gegensatz zu Wells’ großer Schlacht um die Existenz der Menschheit, fügen sich die Menschen hier klaglos in die neuen Verhältnisse. Ihnen ist es ganz gleich, von wem sie beherrscht werden, und solange sie ihr Auskommen haben, sind ihnen auch Marsmenschen recht.

Auch der Roman »Die Last des Bösen« (1988) ist aus zwei Erzählsträngen zusammengefügt. Autor des Tagebuchs, das die Rahmenerzählung bildet, ist der Pädagogik-Student Igor Mytarin, der im Jahr 2033 in der fiktiven Stadt Taschlinsk an seiner Abschluss-Arbeit schreibt und seinen Pädagogik-Lehrer Georgi Analtoljewitsch Nossow tief verehrt, wenn er auch nicht immer einer Meinung mit ihm ist. Nossow hat seinem Studenten ein Manuskript in die Hand gedrückt, das von Ereignissen berichtet, die sich ungefähr 40 Jahre zuvor in derselben Stadt zugetragen haben sollen. Mytarin hält das Manuskript für eine offensichtliche Fiktion, ist sich aber nicht sicher, ob er Nossow die Autorenschaft an der seltsamen Erzählung zuschreiben soll.

Die Rahmenhandlung umfasst nur elf Tage, in denen sich in der Stadt Taschlinsk von offizieller Seite Widerstand gegen eine vor der Stadt lebende Jugendbewegung formiert. Die Jugendlichen verweigern die Teilnahme am bürgerlichen Leben und nehmen sich das vegetative Leben der Pflanzen zum Vorbild ihres Lebensentwurfs. Da immer mehr Jugendliche aus der Stadt zu den »Kindern der Flora« entlaufen, wächst der Druck auf die Stadtverwaltung, etwas gegen die Gruppierung zu unternehmen. So plant man, die Jugendlichen mit Hilfe der Polizei gewaltsam aus dem Stadtbezirk zu entfernen. Der Pädagoge Nossow ist der einzige unter den Honoratioren der Stadt, der sich für die »Kinder der Flora« einsetzt, auch weil – wie wir erst spät im Verlauf des Romans erfahren – sein Sohn einer der Führer der Gruppe ist. Trotz seines engagierten Einsatzes findet die Aktion statt, die selbst aber nicht mehr geschildert wird; jedoch deutet eine Bemerkung im Vorwort des Erzählers an, dass Nossow dabei wahrscheinlich ums Leben gekommen ist.

Das Manuskript im Manuskript, das peu à peu so wiedergegeben wird, wie es Mytarin während der Rahmenhandlung gelesen haben will, erzählt von der Wiederkehr Jesu auf die Erde. Begleitet wird er vom Evangelisten Johannes, der das Schicksal des »ewigen Juden« Ahasver hat übernehmen müssen, nachdem er diesen im Zorn getötet hatte. Er lebt zurzeit unter dem Namen Ahasver Lukitsch und gibt vor, ein Vertreter staatlicher Versicherungen zu sein, kauft aber in Wirklichkeit Menschen ihre Seele für die Erfüllung eines Wunsches ab. Die Binnenerzählung kommt nie bis zu einer Handlung im traditionelles Sinne, sondern gerät mehr und mehr ins Phantastische. Nach dem offensichtlichen Vorbild von Bulgakows »Der Meister und Margarita« wird einmal mehr die Geschichte Jesu und – in der Hauptsache – des Evangelisten Johannes neu erzählt. Der wiedergekehrte Jesus spielt nur eine Nebenrolle; überhaupt bleibt seine Rückkehr zur Erde ohne erwähnenswerte Folgen. In dem Moment, als der junge Nossow in der Binnenhandlung auftritt, bricht die Erzählung unvermittelt ab.

Der Roman ist offensichtlich sowohl eine unmittelbare Reaktion auf die politische Liberalisierung in der Sowjetunion unter Gorbatschow als auch ein Spiel mit der phantastischen Tradition der russischen Literatur. Was die politische Eben angeht, so ist es mehr als verständlich, dass die Strugatzkis die tatsächliche dramatische Entwicklung nicht voraussehen konnten, sondern von einer weit zahmeren gesellschaftlichen Veränderung ausgehen. Dabei steht im Vordergrund, dass das politische Establishment auch weiterhin Störungen der bürgerlichen Ordnung mit massiven Maßnahmen entgegentreten wird. Zugleich befürchten sie das Aufkommen latent vorhandener faschistischer Einstellungen. Der Gegenentwurf Nossows ist eine empathische Menschlichkeit, deren christliche Inspiration angedeutet wird, die sich aber jeder konkreten ideologischen Einbindung verweigert. Der Roman liefert so einen sowohl gesellschaftlich als auch literarisch höchst anspruchsvollen Kommentar zum tagespolitischen Geschehen. Es ist kein Wunder, dass die Brüder trotz den sehr verhaltenen Reaktionen von Kritik und Leserschaft auf diesen Roman sehr stolz waren.

Der Band wird ergänzt von zwei Erzählungen, die unter dem Pseudonym S. Jaroslawzew veröffentlicht wurden, das für eine relativ lange Zeit nicht gelüftet wurde. In »Aus dem Leben des Nikita Woronzow« (1984) unterhalten sich ein Moskauer Staatsanwalt und ein befreundeter Schriftsteller über einen merkwürdigen Todesfall: Ein älterer Mann, der eine Gruppe jugendlicher Rowdys zurecht weist, wird von einem der Jugendlichen niedergeschlagen und bleibt tot auf der Straße liegen. Bei der Autopsie stellt sich allerdings heraus, dass er Sekunden vor dem Schlag an einem Herzschlag gestorben ist und der Junge nur einen toten Mann geschlagen hat. Im Nachlass des Mannes findet sich ein Schulheft, in dem sein Todesdatum auf die Minute genau vorausgesagt wird. Weitere Befragungen Bekannter des Mannes durch den Staatsanwalt ergeben, dass der Tote wohl sein Leben immer und immer wieder durchleben muss: Nach jedem Tod findet er sich wieder als Jugendlicher nach einer schweren Erkrankung und durchläuft sein Leben erneut, wobei er sich an alle anderen Durchgänge erinnern kann. Die Erzählung ist eine harmlose Variation auf Schauergeschichten, wie man sie allenthalben finden kann.

Die längere Erzählung »Ein Teufel unter den Menschen« (entstanden 1991, jedoch erst 1993, zwei Jahre nach dem Tod Arkadi Strugatzkis veröffentlicht) verbindet eine nicht verwendete Idee für eine Nebenfigur in »Die Last des Bösen« mit der Katastrophe von Tschernobyl, die dabei allerdings nur eine nebensächliche Rolle spielt. Erzähler ist der Arzt Alexej Andrejewitsch Kornakow, der die Geschichte seines Schulfreundes Kim Sergejewitsch Woloschin aufschreibt: Kim, der im Zweiten Weltkrieg zur Waise wird, wächst in ärmlichen Verhältnissen in Taschlinsk auf und macht nach der Schule eine Ausbildung zum Mechaniker. Als sich die Tochter eines Moskauer Journalistik-Professors in ihn verliebt, macht er kurzfristig eine Karriere als Journalist in Moskau, fällt dann aber in Ungnade und durchläuft eine Reihe von Gulags. Nach seiner Entlassung kehrt er zusammen mit seiner Frau nach Taschlinsk zurück, wo sie aber bald verstirbt. Als sich der Unfall in Tschernobyl ereignet, meldet er sich freiwillig als Hilfskraft, allerdings in der Absicht, von den dortigen Verhältnissen anschließend als Journalist berichten zu können.

Aus Tschernobyl zurückgekehrt, erkrankt er an den Folgen der radioaktiven Strahlung, doch stirbt er nicht. Er entwickelt stattdessen die unwillkürliche Fähigkeit, Lebewesen, die seinen Zorn erregen, auf telepathischem Weg zu töten. Nachdem er selbst diese Fähigkeit verstanden hat, gelingt es ihm, sie zu beherrschen und gezielt einzusetzen, was in der kleinen Stadt verständlicherweise zu einiger Aufregung führt. Am Ende verschwindet Woloschin spurlos aus Taschlinsk; in drei kurzen Epilogen versuchen die Strugatzkis, dieser etwas ziellosen Geschichte eine Wendung in eine Satire der Macht zu geben.

Alles in allem ein recht uneinheitlicher Sammelband, dessen Texte literarisch durchaus nicht alle auf gleicher Höhe sind. Inhaltlich und formal herausragend ist ohne Frage der Roman »Die Last des Bösen«, der besonders allen Liebhabern von Bulgakows »Der Meister und Margarita« als dunkles Gegenstück ans Herz gelegt sei.

Arkadi und Boris Strugatzki: Gesammelte Werke 3. Deutsch von Hans Földeak (Die Schnecke am Hang), Thomas Reschke (Die zweite Invasion der Marsmenschen), Kurt Baudisch (Die Last des Bösen), Edda Werfel (Aus dem Leben des Nikita Woronzow) und Erik Simon (Ein Teufel unter den Menschen). Nach den ungekürzten und unzensierten Originalversionen ergänzt von Erik Simon. Kindle-Edition, 2012. 897 Seiten (Buchausgabe). 9,99 €.