Aus meinem Poesiealbum (IX)

»Man gewöhnt sich quasi daran«, wiederholte er. »Fünfzig Prozent der Tröstungen der Philosophie in fünf Wörtern. Und die restlichen fünfzig Prozent lassen sich in acht ausdrücken: Bruder, wenn du tot bist, bist du tot. Oder wer es vorzieht, kann neun daraus machen: Bruder, wenn du tot bist, bist du nicht tot!«

Aldous Huxley
Das Genie und die Göttin

Wilhelm Weischedel: Die philosophische Hintertreppe

978-3-423-19511-9Nicht die aktuelle Lektüre, sondern eine neue Ausgabe des Buches ist der Anlass für diesen Artikel, und auch nicht der Inhalt, sondern mehr die Aufmachung. Der Deutsche Taschenbuch Verlag hat eine sehr schön gestaltete Jubiläumsreihe herausgebracht: Flexible, bedruckte Leineneinbände schmücken Klassiker und Erfolgsbücher des Verlags. Darunter in der Sachbuch-Reihe eben auch Weischedels inzwischen betagte, aber dennoch ungebrochen beliebte Einführung in die Philosophie.

Allerdings scheinen mit dem Buchhersteller in diesem Fall die visuellen Pferde durchgegangen zu sein, denn wie oben zu sehen ist, ist ihm die Hintertreppe doch etwas pompös geraten. Wenn das, was auf dem Umschlag zu sehen ist, tatsächlich die Hintertreppe sein sollte, was muss das für ein gargantueskes Gebäude sein und wie muss man sich erst das Haupttreppenhaus denken?

Andererseits könnte man hier einen Fall von subtilem Humor vermuten. Vielleicht hat er sich gedacht, dass das Gebäude der Philosophie, über mehrere Jahrtausende gewachsen, tatsächlich mittlerweile ein so pompöser und stilistisch heillos ruinierter Bau sein muss, dass es doch sein könnte, dass dieser prachtvolle und ehemals repräsentative Zugang schon seit langem als Hintertreppe dient. Dann könnte hier sogar eine kleine Erkenntnis versteckt sein, dass nämlich die allermeisten Leser philosophischer Einführungen niemals über diese hinauskommen. Sie lesen dann von Zeit zu Zeit mit immer größerer Ratlosigkeit eine Einführung um die andere, aber jedes Mal wenn sie dann endlich zur eigentlich Türe hinein wollen, finden sie sie so verschlossen wie beim letzten Versuch. So optimistisch einen solche Einführungen auch immer stimmen mögen, kaum eine von ihnen führt tatsächlich ins Gebäude hinein. Das gilt leider auch für Weischedels nette und durchaus anspruchsvolle »Hintertreppe«. Nachdem man auf ihr hinauf gestiegen ist, findet man, dass das Gebäude der Philosophie zwar eine Hintertreppe haben mag, aber keinen Dienstboteneingang.

In diesem Sinne sei das Buch wärmstens empfohlen!

Wilhelm Weischedel: Die philosophische Hintertreppe. Die großen Philosophen in Alltag und Denken. dtv 19511. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2011. Bedrucktes Leinen, 336 Seiten. 10,– €.

Matthias Matussek: Wir Deutschen

978-3-596-17151-4Ein Buch von einer so guten Laune, dass man sich gleich übergeben möchte. Matussek ist ein unerträglicher Aufschneider, der lauter tolle Leute kennt, die auch wie er der Meinung sind, dass es aufwärts und vorwärts und überhaupt am besten und schönsten deutschwärts geht. Endlich ist der Deutsche wieder stolz, und das mit gutem Recht. Denn Beethoven und Goethe, Heine und Thomas Mann, damit kann man sich doch sehen lassen, oder? Dass der eine nach Wien gegangen ist, der andere nur in Rom erfahren konnte, was Glück ist, dass der dritte nach Paris fliehen musste, weil man ihn in Deutschland als Autor in den Kerker geworfen hätte und der vierte nach der Flucht vor den Nationalsozialisten dann doch lieber in der Schweiz geblieben ist, muss man ja nicht allzu sehr betonen.

Dass Matussek sich dem Leser als Nachfolger, wenn nicht gar als letzter legitimer Erbe Heines präsentiert und das in einem Kapitel, das nur so von Fehlern wimmelt, von halb Gewusstem und schlecht Erinnertem, das ist die eine Sache. Dass sich die Herrschaften des deutschen Feuilletons nicht entblöden, ihm das nachzuquatschen, ist die andere. Es ist sehr, sehr schade, dass uns heutzutage ein Karl Kraus fehlt, der eine aufgepumpte Schweinsblase wie Herrn Matussek einmal öffentlich zum Platzen bringen könnte.

Für die Engländer ist Nation etwas so Selbstverständliches, dass die »Encyclopaedia Britannica« dem Begriff »Nation« keine einzige Zeile widmet […].

Erstens ist die EB ein US-amerikanisches Lexikon, zweitens weiß jeder, der mit der EB umgehen kann, dass man in den Index schauen muss, um feststellen zu können, ob über irgend etwas tatsächlich keine Zeile in der EB steht. Und natürlich steht mehr als eine Zeile über den Begriff »Nation« in der EB, nur eben nicht an der Stelle, wo Herr Matussek nachgeschaut hat; falls er nachgeschaut hat. Und so ist das ganze Buch; nun, wenigstens die erste Hälfte, denn darüber hinaus habe ich mir diesen Schwachsinn nicht angetan. Das Übrige ist aber sicher ganz toll!

Matthias Matussek: Wir Deutschen. Warum uns die anderen gern haben können. Fischer Taschenbuch 17151. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verlag, 22009. 352 unerträgliche Seiten. 9,95 €.

Patrick Bahners: Die Panikmacher

978-3-406-61645-7Die in diesen Zeiten der religiösen Hysterie, von denen ich noch vor 15 Jahren behauptet hätte, dass sie nie wieder zurückkehren würden, notwendige Stimme der Vernunft. Bahners beschäftigt sich sachlich, manchmal zu sachlich, mit den Herr- und Frauschaften Sarrazin, Kelek, Broder, Schwarzer, Irmer und was der Gestalten mehr sind. Ein prickelndes Buch ist dabei nicht gerade herausgekommen, denn die bekämpften Dummheiten wiederholen sich rasch und die Argumentationslinien und –fronten sind relativ schnell klar. Ich selbst hätte mir gewünscht, dass Bahners ein stärkeres Gewicht auf die historische Genese der jetzigen Situation legen würde und sich nicht als letzte Ressource zumeist auf das Grundgesetz zurückzieht. Warum, frage ich mich, reden in der jetzigen Situation nur so wenige über Lessing und die deutsche Aufklärung? Und dann sind auch noch die Hälfte davon konservative Katholiken. Ist die Ringparabel und das, was sie meint, tatsächlich so spurlos an all den deutschen Abiturienten vorbeigerauscht? Überlassen wir den Anspruch, in der Tradition der Aufklärung zu stehen, tatsächlich so Nasen wie Matthias Matussek?

Es ist nur zu hoffen, dass Bahners Buch wenigstens halb so viele Leser findet, wie Sarrazins Buch Käufer hatte. Es ist aber zu befürchten, dass die Stammtisch-Schwätzer dieses Thema noch für lange Zeit besetzt halten werden.

Patrick Bahners: Die Panikmacher. Die deutsche Angst vor dem Islam. Eine Streitschrift. München: C. H. Beck, 2011. Pappband, 320 Seiten. 19,95 €

Allen Lesern ins Stammbuch (40)

Wohl ist Moderne Literatur ‹anspruchsvoll›, ist ‹kompliziert› und ‹schwer zu verstehen› – das ist ‹Das Leben› übrigens auch – aber von einem Buch, nur weil man es nicht so gemütlich wie gewohnt ‹vom Blatt lesen› kann, nun flink zu dekretieren, ‹es tauge nichts› : also das wäre einwandfrei ein Defekt im Leser !

Arno Schmidt

Émile Zola: Ein Blatt Liebe

zola_rougonDer bislang schwächste Band im Zyklus der Rougon-Macquart. Erzählt wird eine sehr konventionelle Ehebruchsgeschichte aus der Sicht der Geliebten: Hélène Grandjean – Tochter Ursule Mourets und Enkelin Adelaïde Fouques – ist als verwitwete Mutter einer 11-jährigen, kränklichen Tochter von Marseilles nach Passy, einem Pariser Vorort, gezogen. Hier baut sie sich nach dem Ende ihrer Trauerzeit langsam einen neuen Bekanntenkreis auf, zu dem auch der in unmittelbarer Nachbarschaft lebende Arzt Henri Deberle und dessen Frau gehören, in deren Garten Hélène mit ihrer Tochter Jeanne viel Zeit verbringt. Zwischen Hélène und Henri entwickelt sich ein unausgesprochenes Liebesverhältnis, um dessentwillen Hélène auch den Heiratsantrag eines anderen Bekannten, Rambaud, vorerst ablehnt. Erst als Hélène erfährt, dass auch Henris Frau eine Affäre hat oder wenigstens kurz davor ist, eine zu beginnen, gibt sie ihrer Leidenschaft nach und beginnt mit Henri ein Verhältnis. Naturgemäß muss aber gerade an diesem Abend ein heftiges Gewitter über Passy niedergehen, das die kleine Jeanne am offenen Fenster überrascht und so durchnässt und schwächt, dass sie binnen Kurzem an der Schwindsucht dahinsicht. Der Tod ihrer Tochter, dem auch Henri nur hilflos zusehen kann, beendet das Verhältnis zwischen den Liebenden. Am Ende zeigt uns der Roman Hélène als um ihre Tochter trauernde Gattin des braven und biederen Rambaud, mit dem zusammen sie inzwischen wieder in Marseilles lebt.

Nahezu alles an diesem Roman ist voraussehbar und banal. Zolas Beschreibungskunst exzelliert einzig in fünf breit angelegten Darstellungen des Pariser Panoramas zu unterschiedlichen Tageszeiten und bei unterschiedlicher Witterung. Zola selbst war mit dem Roman nicht sonderlich zufrieden, hielt die Behandlung dieses Allerweltsthemas aber wohl für unverzichtbar für ein vollständiges Porträt des Zweiten Kaiserreichs.

Übersichtsseite zur Rougon-Macquart

Émile Zola: Die Rougon-Macquart. Natur- und Sozialgeschichte einer Familie unter dem zweiten Kaiserreich. Hg. v. Rita Schober. Berlin: Rütten & Loening, 1952–1976. Digitale Bibliothek Bd. 128. Berlin: Directmedia Publ. GmbH, 2005. 1 CD-ROM. Systemvoraussetzungen: PC ab 486; 64 MB RAM; Grafikkarte ab 640×480 Pixel, 256 Farben; CD-ROM-Laufwerk; MS Windows (98, ME, NT, 2000, XP oder Vista) oder MAC ab MacOS 10.3; 256 MB RAM; CD-ROM-Laufwerk. 10,– €.

Edgar Hilsenrath: Moskauer Orgasmus

978-3-423-13947-2Mein erstes Buch von Edgar Hilsenrath, und – ich gebe es zu – ich habe mich vom Titel verführen lassen, auch in dem Gedanken, dass mein Blog plötzlich in ganz anderen Google-Suchvorgängen auftauchen könnte. Ansonsten war das Buch ein Fehlgriff. Hilsenrath versuchte mit diesem Text, die Vorlage für eine schrille Hollywood-Komödie zu liefern, wovon er wohl eine eher nur vage Vorstellung hatte. So lassen die häufige Verwendung des Wortes »Schwanz« für das männliche Geschlechtsteil sowie die wiederholten Spekulationen einzelner Figuren über die Größe des Schwanzes der männlichen Hauptfigur vermuten, dass Hilsenraths Kenntnisse US-amerikanischer Film-Komödien beschränkt waren.

Alles in allem ein schlicht albernes Buch, das auch durch die wenigen ansprechenden Passagen – etwa über die Bukowina – nicht gerettet wird. Wer literarischen Klamauk mag, wird vielleicht ganz gut bedient, aber ich fürchte auch für diese Leser ist der Stoff zu dünn für die ausgestoßene Seitenzahl.

Edgar Hilsenrath: Moskauer Orgasmus. dtv 13947. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2010. 311 Seiten. 9,90 €.

Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre

Und da ich einmal so im Zuge war, habe ich gleich im Anschluss an Die Wahlverwandtschaften auch die Lehrjahre noch einmal gelesen. Nimmt man die beiden Meisterromane und die Vorstufe Wilhelm Meisters theatralische Sendung zusammen, handelt es sich bei diesem Romanprojekt nicht nur um das umfangreichste, sondern auch das, abgesehen vom Faust, die meiste Lebenszeit umfassende Werk Goethes.

Erzählt wird die Geschichte des jungen Wilhelm Meister, der zu Anfang des Romans gerade in dem Alter ist, dass sein Vater ihn erstmals mit geschäftlichen Aufträgen in die Welt hinausschicken will. Wilhelm stammt aus einer Kaufmannsfamilie, zeigt aber wenig Neigung, selbst Kaufmann zu werden. Seine Neigung gehört in jedem Sinne dem Theater, denn nicht nur will er sich als Schauspieler und Theaterautor etablieren, er hat auch ein zärtliches Verhältnis zu Mariane, einer jungen Schauspielerin, die gerade am Ort gastiert. Den ersten Auftrag seine Vaters, für ihn auf Reisen zu gehen, will er nutzen, um mit seiner Geliebten durchzubrennen, doch sieht er eines Abends kurz vor seiner Abreise einen anderen Mann die Wohnung Marianes verlassen, wähnt sich betrogen und reist verbittert allein ab.

Wilhelm schließt sich bald einer wandernden Theatertruppe an, bei der er nicht nur erste Erfahrungen als Schauspieler macht, sondern durch die er nach einigen umständlichen Verwicklungen auch in den Kontakt zu einer locker gefügten Gesellschaft von Adeligen kommt, die seinen weiteren Lebensweg entscheidend prägen soll. Die einzelnen Abenteuer, Liebesverhältnisse, verwickelten Verwandtschaften und Bekanntschaften nachzuerzählen, von denen sich der Autor vorstellt, dass sie seinen Protagonisten langsam aber sicher zu der den Roman beschließenden, wenn auch vorläufigen Klärung seiner Lebensverhältnisse führt, wäre ermüdend. Nach dem zu Goethes Zeit beliebten Muster des Geheimbund-Romans erweist es sich am Ende, dass Wilhelms Lebensweg von einer Gesellschaft vom Turm, die sich zugleich ironisch und esoterisch Formen der Freimaurerei bedient, seit Längerem beobachtet und in Grenzen auch gelenkt worden ist. Auch dass beinahe das gesamte Figurenensemble am Ende miteinander verwandt, verschwägert oder seit Jahren befreundet ist, entspricht weitgehend dem Zeitgeschmack.

Abgesehen davon ist das Buch motivisch und inhaltlich recht locker angelegt, eine Tendenz, die sich bekanntlich in den Wanderjahren noch verstärken wird, was natürlich auch der Arbeitsweise Goethes geschuldet ist, der diese Texte diktiert hat. (Ich habe mich bei der Lektüre mehr als einmal an das Diktum Arno Schmidts erinnert: »Bei Goethe ist der Roman keine Kunstform, sondern eine Rumpelkiste«. Das mag etwas zu scharf sein, stimmt aber in der Tendenz.) Trotz der zahlreichen Themen und Motive ist das Buch für den heutigen Leser von einer erstaunlichen Weltlosigkeit: Kaum ein Ort wird konkret beschrieben, kein Gebäude und kein Interieur nehmen wirklich Gestalt an, die meisten Figuren sprechen in ein und derselben Diktion, und nur hier und da gewinnt man einen deutlicheren Eindruck der fiktionalen Welt. Im Großen und Ganzen scheint die Handlung mehr Anlass für Reflexion und Dialog zu sein, als dass es Goethe tatsächlich auf das Erzählen ankommen würde. Auch diese Tendenz findet sich in den Wanderjahren wieder.

Das pädagogische Konzept und mithin das Menschenbild, das dem Roman zugrunde liegt, muss heute als hilflos idealisierend bezeichnet werden – ob das eine negative Aussage über Goethe oder über unsere Zeit ist, mag für hier und heute dahingestellt bleiben.

Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre. RUB 7826. Stuttgart: Reclam, 1986. 661 Seiten. 11,60 €.

Johann Wolfgang Goethe: Die Wahlverwandtschaften

Wahrscheinlich der Text Goethes, den ich inzwischen neben dem ersten Teil des Faust am häufigsten gelesen habe, diesmal aus didaktischen Gründen. Das Buch vorstellen, geschweige denn rezensieren zu wollen, stellt angesichts der mehr als hundertjährigen Vernachlässigung und seiner anschließend erfolgten Ausschlachtung durch die Germanistik natürlich eine Verwegenheit dar. Ich habe daher einige Zeit überlegt, meine wiederholte Lektüre hier einfach stillschweigend zu übergehen und mich Unbesprochenerem zuzuwenden. Andererseits ist ja gerade hier der Ort, Lektüre von und Auseinandersetzung mit klassischen Texten zu dokumentieren. Versuchen wir es also:

Erzählt wird die Geschichte des adeligen Ehepaares Charlotte und Eduard, die erst nach der Verheiratung mit jeweils anderen Partnern dazu gekommen sind, sich mehr aus sentimentaler Erinnerung als aus Liebe miteinander zu verheiraten. Sie haben sich nach der Hochzeit aufs Land zurückgezogen, um dort in trauter Zweisamkeit ihrer Idylle zu leben. Gestört wird dies Verhältnis durch einen Jugendfreund Eduards, den Hauptmann Otto, der verarmt und arbeitslos für eine Weile auf dem Schloss des Ehepaars Zuflucht findet. Um der Asymmetrie der Verhältnisse aufzuhelfen, wird dann noch Charlottens Nichte und Pflegekind Ottilie hinzugegeben. Leider bricht nun über die Gesellschaft als eine Naturgewalt die Liebe herein: Eduard und Ottilie verlieben sich ebenso ineinander wie Charlotte und der Hauptmann; während jene ihrem Gefühl weitgehend ausgeliefert sind, üben diese eine strengere Zurückhaltung sich und dem anderen gegenüber. Das fatale Überkreuz-Verhältnis gipfelt in einer Liebesnacht der Ehepartner, in der beide an den jeweiligen Geliebten denken und aus der ein Kind hervorgeht, dass nicht den leiblichen Eltern, sondern den bei der Zeugung nur im Geiste anwesenden Geliebten ähnelt.

Nach dem, von den meisten Zeitgenossen als zutiefst anstößig empfundenen, doppelten geistigen Ehebruch hat Goethe einige Schwierigkeiten, das Tempo des Romans aufrecht zu erhalten. Eduard wird vom Erzähler vorerst fortgeschickt, zuerst auf ein kleines Gut, dann gleich in den Krieg, damit er in der Zeit der Schwangerschaft keine zu großen Dummheiten anstellen kann. Auch der Hauptmann, von dem nur eine geringere Gefahr ausgeht, wird durch eine passende Arbeitsstelle entfernt, und um die Zeit zu füllen, finden sich einige neue Kandidaten ein, die Ottiliens Reizen verfallen: ein junger, romantischer Architekt und ein etwas pedantischer, aber um so vernünftigerer Pädagoge, die aber natürlich bei Ottilie kein Glück haben. Nach so manchem weiteren retardierenden Moment wird das Kind endlich geboren, Eduard kehrt zurück und das Unglück kann endlich seinen Lauf nehmen: Gerade als Charlotte in eine Scheidung einzuwilligen bereit ist, erfüllt sich Ottiliens tragisches Schicksal. Aufgeregt und durch Eduard verwirrt und verspätet, fällt ihr das Kind der Eheleute in den Teich, wo es ertrinkt. Diese tragische Schuld bringt Ottilie zur sittlichen Reife; sie entsagt ihrer Liebe und dann auch gleich noch ihrem Leben und hungert sich zu Tode. Natürlich kann auch Eduard nun nicht mehr leben und folgt der Geliebten, die ganz nebenbei im Tode auch beinahe noch zur Heiligen wird, nach. Am Ende soll der Leser für die beiden nebeneinander aufgebahrten Liebenden auf ein glücklicheres Wiedersehen in einer besseren Welt hoffen. Hienieden war ihnen kein Glück beschieden.

Die Wahlverwandtschaften stehen mit am Anfang der langen Reihe von Eheromanen des 19. Jahrhunderts, in denen das Bürgertum die Spannungen zwischen dem seiner Kultur zentralen Gefühlskult und der traditionellen Form der Partnerschaft zum Ausdruck bringt. Wie in vielen späteren Fällen steht auch bei Goethe letztlich eine tragisch aufgefasste Frauengestalt im Zentrum der Erzählung, für die eine Lösung ihres Konflikts im Leben nicht gefunden werden kann und die deshalb beinahe zwangsläufig sterben muss. Dass Ottilie dabei nicht in einem tragischen Sinne scheitert, sondern von ihrem Autor wenn nicht zur Heiligen so doch zumindest zu einem Engel verklärt wird, muss der Leser als unvermeidliche Folge des Goetheschen Optimismus hinnehmen.

Der Roman ist deutlich dichter erzählt als die sonstige späte fiktionale Prosa Goethes. Die Distanz des Erzählers zu seinen Figuren ist beachtlich, wenn er auch Sympathien für die stark idealisierte Ottilie natürlich nicht ganz verbergen kann. Es ist daher nicht erstaunlich, dass viele Leser den Roman eher verstörend fanden und finden. Lässt man sich allerdings ein auf das zugrunde liegende Konzept der Spannung zwischen elementarer Liebeserfahrung und gesellschaftlicher Konvention, liefert das Buch weit mehr als einen Kommentar zur adeligen Gesellschaft der Zeit nach der Französischen Revolution. Wahrscheinlich handelt es sich um Goethes modernsten Roman überhaupt.

Johann Wolfgang Goethe: Die Wahlverwandtschaften. RUB 7835. Stuttgart: Reclam, 2010. 282 Seiten. 5,60 €.

Allen Lesern ins Stammbuch (39)

… denn gerade von diesen Leuten hört man die bittersten Klagen über den verworrenen Lauf der Welthändel, über die Seichtigkeit der Wissenschaften, über den Leichtsinn der Künstler, über die Leerheit der Dichter und was alles noch mehr ist. Sie bedenken am wenigsten, daß eben sie selbst und die Menge, die ihnen gleich ist, gerade das Buch nicht lesen würden, das geschrieben wäre, wie sie es fordern, daß ihnen die echte Dichtung fremd sei, und daß selbst ein gutes Kunstwerk nur durch Vorurteil ihren Beifall erlangen könne.

Johann Wolfgang von Goethe
Wilhelm Meisters Lehrjahre