Christa Wolf: Kein Ort. Nirgends

3-423-11928-4Zweitlektüre, zum einen als mein Einstieg ins Kleist-Jahr 2011, zum anderen aus didaktischem Anlass. Mein Gedächtnis will die erste Lektüre in die Zeit des Studiums verlegen, doch meine Ausgabe belehrt mich eines anderen: Sie stammt aus dem Jahr 1994. Auch sonst ist von damals nicht viel in Erinnerung geblieben, und ich fürchte, dass das auch diesmal nicht viel anders gehen wird.

Erzählt wird eine fiktive Begegnung zwischen Karoline von Günderrode und Heinrich von Kleist im Juni 1804 in Winkel am Rhein im Haus der Brentanos. Karoline ist in Begleitung des Ehepaars Savigny, Kleist in der des Arztes Wedekind, in dessen Haushalt er halb als Patient, halb als Gast lebt. Außerdem anwesend sind Clemens Brentano mit seiner Frau Sophie und seiner Schwester Bettine sowie weitere prominente Gäste. Nach anfänglichem Fremdeln geraten die Günderrode und Kleist schließlich auf einem Spaziergang in ein tiefschürfendes Gespräch, in dem beider Missverhältnis zur Welt ausführlich zur Sprache kommt.

Solche fiktiven Gespräche, in denen sich in der Hauptsache der Autor, in diesem Fall die Autorin mit sich selbst unterhält, wurden klassischerweise als Totengespräche inszeniert. Es ist nicht nur durch das ideologische Umfeld, in dem der Text entstand, verständlich, dass Wolf auf eine derartige metaphysische Szenerie verzichtet. Außerdem fügt es dem Gespräch eine gewisse existentielle Note hinzu, dass ihr Selbstmord den beiden Teilnehmern noch bevorsteht. Ob sich die Günderrode und Kleist tatsächlich in ein derartig spätpubertäres, hochtrabendes Geraune verloren hätten, wie Wolf imaginiert, soll ruhig jeder Leser für sich entscheiden. Hübsch ist natürlich der Titel, bei dem es sich um die Eindeutschung des Wortes »Utopie« handelt.

Christa Wolf: Kein Ort. Nirgends. dtv 11928. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1994. 150 Seiten.

Émile Zola: Der Totschläger

zola_rougonDer siebte Band der Rougon-Macquart. Nachdem Zola in Seine Exzellenz Eugène Rougon die Kreise der Pariser Hochpolitik dargestellt hat, wendet er sich im Nachfolgeband dem Arbeitermilieu zu. Im Zentrum des Romans steht Gervaise Macquart, eine der beiden Töchter Antoine Macquarts, die bereits als junges Mädchen Plassans zusammen mit Jacques Lantier verlassen hatte. Der Roman beginnt, als Gervais von Lantier, von dem sie zwei Kinder hat und mit einem dritten schwanger ist, verlassen wird. Lantier ist ein Säufer und Schmarotzer, und als Gervais und ihm die Mittel auszugehen drohen, orientiert er sich anderweitig. Gervais nimmt sich diese Trennung nicht zu sehr zu Herzen, obwohl sie Lantier noch liebt, sondern fängt an, sich und ihre Kinder durch harte Arbeit zu ernähren. Sehr bald bekommt sie einen Heiratsantrag ihres Nachbarn Coupeau, den sie nach einigem Zögern annimmt.

Coupeau erscheint zuerst als Mustergatte: Im Gegensatz zu Lantier trinkt er nicht, er bringt seinen Lohn brav nach Hause, ist genau wie seine Frau spar- und strebsam, so dass die beiden, die auch eine gemeinsame Tochter – Nana – bekommen, bald daran denken können, dass sich Gervais mit einer Wäscherei selbstständig macht. Doch Coupeau erleidet einen Arbeitsunfall, der ihn monatelang arbeitsunfähig macht. Der Verdienstausfall und die Arztkosten verzehren das angesparte Kapital, so dass Gervais den Plan mit der Wäscherei schon verloren gibt, als sich die Goujets, Nachbarn und ein Muster an Wohlanständigkeit, deren Sohn zudem auch noch in Gervais verliebt ist, bereit erklären, ihr das nötige Startkapital zu leihen.

Gervais’ Traum von einer kleinbürgerlichen Zukunft scheint damit gerettet. Es macht ihr auch nichts aus, dass ihr Ehemann nach seiner Gesundung nicht nach Arbeit sucht, sondern sich an das süße Nichtstun gewöhnt zu haben scheint. Im Gegensatz zu früher beginnt er nun auch, regelmäßig zu trinken, zwar erst nur Wein, mit der Zeit aber auch immer stärker Sachen. Die Lage spitzt sich weiter zu, als auch Lantier wieder auftaucht: Entgegen anfänglicher Befürchtungen von Gervais, ihr eifersüchtiger Ehemann könne einen Skandal heraufbeschwören, verstehen sich die beiden Männer beinahe auf Anhieb, und Lantier mietet sich bei den Coupeaus ein, versteht sich mit dem Ehemann aufs Beste und wird ein Schmarotzer mehr im Haushalt, ja schließlich sogar wieder Gervais’ Liebhaber.

Natürlich hält der Verdienst der kleinen Wäscherei Gervais’ zwei solche Schmarotzer schlecht aus, und da auch Gervais dazu neigt, es sich gut gehen zu lassen, leidet die Familie unter ständiger Geldnot. Der soziale Abstieg ist unvermeidlich; Gervais muss, als sie die Miete nicht mehr zahlen kann, den Laden aufgeben, Lantier wechselt gleich mit zu den neuen Ladenbesitzern, und Gervais und ihr Ehemann geraten in eine Spirale der Verarmung, aus dem sie sich nicht zu befreien verstehen. Als schließlich auch Gervais anfängt zu trinken, ist es mit der Familie endgültig aus: Nana wird Prostituierte, Coupeau verendet im Delirium und schließlich geht Gervais an Hunger und Kälte zugrunde.

Der Totschläger hat seinen Titel von einer Bezeichnung billiger Kneipen, die im Pariser Argot des 19. Jahrhunderts »Assommoir« genannt wurden; Totschläger ist als Übersetzung vielleicht etwas drastisch, trifft aber die Intention Zolas bei der Titelgebung. Der Totschläger ist der erste Roman der Rougon-Macquart, bei dem sich Zola genötigt sah, ihn durch ein Vorwort in Schutz zu nehmen. Schon auf den Zeitungs-Vorabdruck hatte die Kritik mit Vorwürfen reagiert, der Roman verwende eine zu drastische Sprache und schildere Szenen, die so nicht literarturfähig seien. Zola wendet dagegen ein, dass er sorgfältig die Sprache des Volkes gesammelt habe und dass das von ihm geschilderte Elend so tatsächlich vorhanden sei. Bereits die zeitgenössische Kritik hat aber festgestellt, dass Der Totschläger bei allem Realismus doch weit entfernt von sozialer Kritik bleibt. Sicherlich schildert Zola unmenschliche soziale Verhältnisse, aber seine Figuren bleiben im Wesentlichen Opfer ihrer selbst. Es sind nicht gesellschaftliche Verhältnisse, die sie scheitern lassen, sondern Zufälle und die Unzulänglichkeiten ihrer Charaktere. Diese Einschränkung der Perspektive wird erst in Zolas späteren Romanen aufgehoben werden.

Übersichtsseite zur Rougon-Macquart

Émile Zola: Die Rougon-Macquart. Natur- und Sozialgeschichte einer Familie unter dem zweiten Kaiserreich. Hg. v. Rita Schober. Berlin: Rütten & Loening, 1952–1976. Digitale Bibliothek Bd. 128. Berlin: Directmedia Publ. GmbH, 2005. 1 CD-ROM. Systemvoraussetzungen: PC ab 486; 64 MB RAM; Grafikkarte ab 640×480 Pixel, 256 Farben; CD-ROM-Laufwerk; MS Windows (98, ME, NT, 2000, XP oder Vista) oder MAC ab MacOS 10.3; 256 MB RAM; CD-ROM-Laufwerk. 10,– €.

Ian McEwan: Der Zementgarten

978-3-257-20648-7 McEwans erster Roman, der zuerst 1978 erschienen ist. Erzählt wird von einem Haushalt mit vier Kindern, in dem zuerst der Vater und wenig später auch die Mutter stirbt. Die Kinder verschweigen den Tod der Mutter, die zuvor schon einige Zeit bettlägerig gewesen war, zementieren ihre Leiche in eine Metallkiste ein und leben einen Sommer lang unbehelligt von Erwachsenen. Erzähler ist Jack, der mit 14 Jahren ältere der beiden Jungen, der sich nicht nur in die veränderte Situation seines Elternhauses einfinden muss, sondern auch mit seiner Pubertät zu kämpfen hat. Als seine 17-jährige Schwester einen Freund mit ins Haus bringt, reagiert Jack mit Eifersucht und Rivalität. Gleichzeitig verarbeitet sein Bruder Tom, der noch zur Grundschule geht, das Mobbing durch seine Schulkameraden, indem er in die Rolle eines Mädchens schlüpft, worin seine beiden Schwestern ihn unterstützen.

Der Roman enthält wenig Handlung im klassischen Sinne, sondern legt den Schwerpunkt der Darstellung auf die soziale und psychische Entwicklung seines Protagonisten. Inwieweit man das überzeugend findet, hängt wohl sehr stark vom einzelnen Leser ab. Mir war das Erzählte über weite Strecken zu statisch und zu impressionistisch. Der vorliegende Stoff scheint mir nur für eine weit kürzere Erzählung ausreichend, der Roman überdehnt ihn.

Ian McEwan: Der Zementgarten. Kollektivübersetzung, Endredaktion: Christian Enzensberger. detebe 20648. Zürich: Diogenes, 1982. 206 Seiten. 8,90 €.

Paolo Giordano: Die Einsamkeit der Primzahlen

978-3-89667-397-8Ungewöhnlich erfolgreiches Roman-Debut eines jungen italienischen Autors. Erzählt wird die Geschichte zweier Beschädigter: Alice, die sich als junges Mädchen beim verhassten Skitraining ein Bein bricht und deshalb hinkt und die sich außerdem eine Magersucht zuzieht. Mattia, der als hochbegabter Zwilling einer lernbehinderten Schwester geboren wird und beim ersten Mal, dass er auf einem Kindergeburtstag eingeladen wird, seine ihm peinliche Schwester auf dem Weg dorthin in einem Park zurücklässt und nicht mehr wiederfindet. Beide Lebenswege werden abwechselnd erzählt, wobei sich der Erzähler nur auf bestimmte Zeitabschnitte konzentriert. Beide lernen sich als Schüler kennen, beide entwickeln eine Freundschaft, die nicht intim wird, obwohl beide offenbar mehr füreinander empfinden. Nach seinem Mathematik-Studium bekommt Mattia die Chance, an eine bedeutende amerikanische Universität zu wechseln, und Alice, die inzwischen als Fotografin arbeitet, lernt gleichzeitig einen jungen Arzt kennen, der sich ernsthaft für sie interessiert. Mattia bleibt an seiner neuen Universität lange Zeit ein Einzelgänger; Alice durchlebt das, was man wohl eine normale Ehe nennen muss, bis ihr Mann endlich ein Kind haben will, was Alice in die missliche Lage bringt, ihre Magersucht eingestehen, vielleicht sogar aufgeben zu müssen. Stattdessen trennt sie sich lieber von ihrem Ehemann.

Es ist das Ende, das das Buch zu etwas Ungewöhnlichem macht: Giordano konstruiert ein erzählerisch gut vorbereitetes Happy End für seine behinderte Liebesgeschichte und hat dann den Mut, das angesteuerte Klischee nicht zu bedienen: Es wird eben nicht alles wieder gut! Im Gegenteil sind beide Figuren nach dieser letzten Chance für den Erzähler nicht mehr interessant. Es spricht für die Qualität des Originals, dass das Buch trotz dieser außergewöhnlichen Entscheidung seines Autors einen solchen Erfolg hatte. Leider ist die deutsche Übersetzung sprachlich etwas lax geraten.

Das Buch wurde 2010 in die Auswahlliste der Jury zum Deutschen Jugendliteraturpreis aufgenommen, ist aber nicht das, was man sich normalerweise unter einem Jugendbuch vorstellt.

Paolo Giordano: Die Einsamkeit der Primzahlen. Aus dem Italienischen von Bruno Genzler. München: Karl Blessing, 2009. Pappband, 365 Seiten. 19,95 €.

Aus meinem Poesiealbum (VIII)

»Verrätst du mich aber«, sagte Neary, »so wirst du den Weg Hippasos’ gehen.«
»Des Akusmatischen, nehme ich an«, sagte Wylie. »Seine Strafe fällt mir gerade nicht ein.«
»In einem Pfuhl ertränkt«, sagte Neary, »weil er ausgeschwatzt hatte, daß Seite und Diagonale inkommensurabel sind.«
»So gehen alle Schwätzer zugrunde«, sagte Wylie.

Samuel Beckett
Murphy

Janne Teller: Nichts

978-3-446-23596-0Bereits im Jahr 2000 in Dänemark erschienen, ist das Buch im skandinavischen Raum angeblich kontrovers diskutiert worden und nun auch auf Deutsch erschienen. Erzählt wird die Geschichte einer 7. Schulklasse im kleinen Ort Tæring, in der der Schüler Pierre Anthon zur Entdeckung der Konsequenzen des Nihilismus vordringt: »Nichts bedeutet irgendwas, das weiß ich seit Langem. Deshalb lohnt es sich auch nicht, irgendetwas zu tun.« Wie die meisten nihilistischen Schwätzer geht Pierre Anthon nun aber nicht zum Nichtstun über, sondern wird zum Propheten des Nihilismus, der seinen Mitschülern auf die Nerven geht.

Da seine Mitschüler philosophisch ebenso unbelehrt sind wie der Prophet (und wahrscheinlich auch die Autorin), entwickeln sie ein Projekt zu seiner Widerlegung: In einem aufgegebenen Sägewerk tragen sie einen Haufen von Gegenständen zusammen, die Bedeutung haben. Damit niemand schummelt, legt jeder Schüler jeweils für einen anderen fest, was für denjenigen von Bedeutung ist und was er hergeben muss. Zu Anfang sind die Opfer am Altar der Bedeutung harmlos, aber mit der Zeit übertrumpfen sich die Vorschläge: Die Unschuld von Sophie, der Sarg mit dem toten Bruder von Elise, ein abgeschnittener Hundekopf und zum Schluss der abgeschnittene Zeigefinger Jan-Johans, des Gitarrenspielers der Klasse.

Nach diesem letzten Opfer fliegt das Projekt der Schüler auf. Nun muss der Leser eine wahrscheinlich satirisch gemeinte Darstellung der modernen Medienlandschaft durchlaufen. Nachdem die Autorin auch das abgekaspert hat, kommt es zum Showdown: Der Prophet Pierre Anthon wird mit dem – inzwischen vom New Yorker MOMA als Kunstwerk angekauften – »Berg der Bedeutung« konfrontiert, aber da er (und wahrscheinlich die Autorin) kein ganz so großer Schwachkopf ist wie seine Mitschüler, macht er sich über deren hilflosen Versuch, Bedeutung anzuhäufen, zu Recht lustig. Er wird daraufhin von seinen Mitschülern ebenso zu Recht erschlagen und Leiche und Berg der Bedeutung anschließend verbrannt. Um ihren Kult um die Bedeutung abzuschließen, sammeln die Schüler schließlich die Asche ihrer Jugend ein und jeder kriegt ’ne Flasche.

Der Text funktioniert überhaupt nur, da er im pseudonaiven Ton einer der Mitschülerinnen erzählt ist. Jeder Hauch nur einer ernsthaft erwachsenen Perspektive würde den ganzen Unfug des Buches augenblicklich zusammenbrechen lassen. Es ist kein Wunder, dass ein solches Buch in einem Land, das Peter Sloterdijk für einen Philosophen hält, auf den Bestsellerlisten landet.

Janne Teller: Nichts. Was im Leben wichtig ist. Aus dem Dänischen von Sigrid C. Engeler. München: Hanser, 2010. Broschiert, 140 Seiten. 12,90 €.

Aus meinem Poesiealbum (VII)

Die Philosophie ist ihrer Natur nach etwas Esoterisches, für sich weder für den Pöbel gemacht noch einer Zubereitung für den Pöbel fähig; sie ist nur dadurch Philosophie, daß sie dem Verstande und damit noch mehr dem gesunden Menschenverstande, worunter man die lokale und temporäre Beschränktheit eines Geschlechts der Menschen versteht, gerade entgegengesetzt ist; im Verhältnis zu diesem ist an und für sich die Welt der Philosophie eine verkehrte Welt.

Georg Wilhelm Friedrich Hegel
Über das Wesen der philosophischen Kritik überhaupt …

literaturkritik.de über Bonaventura

Im wichtigen und umfangreichen Rezensionsforum literaturkritik.de ist ein Hinweis auf einige Literaturblogs, unter anderem auch Bonaventura erschienen. Bis auf die Tatsache, dass die Autorin Simone Schwalm dringend neue Batterien für ihren Ironie-Detektor benötigt, handelt es sich um eine sehr nette Würdigung. Der Nachtwächter dankt!

Gustave Flaubert: Drei Erzählungen

Ausgelöst durch die Lektüre von Yann Martels Beatrice and Virgil habe ich mir noch einmal Flauberts Drei Erzählungen aus dem Schrank genommen, diesmal in der relativ neuen Übersetzung des Haffmans-Verlages, Gott habe ihn selig. Die drei Erzählungen repräsentieren jeweils einen Aspekt von Flauberts Romanschaffen: Ein schlichtes Gemüt seine realistischen Romane, in Die Legende von Saint Julien dem Gastfreundlichen spiegelt sich Die Versuchung des heiligen Antonius wider und Herodias schließlich ist ein Gegenstück zu Salambo, das ich auch wieder einmal lesen müsste.

Ein schlichtes Gemüt ist eine meisterhafte Erzählung, die auf weniger als 50 Seiten ein ganzes Leben umfasst: Félicité wird Hausangestellte bei der verwitweten Madame Aubain, nachdem sie wegen einer unglücklichen Liebesgeschichte von daheim fortgelaufen ist. Sie geht ganz und gar im Dienst für die Familie ihrer Herrin auf; einzig ihr Neffe Victor liegt ihr noch am Herzen, aber der stirbt jung als Seemann auf einer Fahrt nach Amerika. Tiefer jedoch trifft sie der Tod von Virginie, der Tochter des Hauses, die als Klosterschülerin an einer Lungenentzündung stirbt; Félicité beginnt einen heimlichen Totenkult um die Verstorbene. Doch ihre Liebe erfüllt sich schließlich, als sie von ihrer Herrin einen Papagei geschenkt bekommt, den diese von einer Nachbarin erhalten hatte. Loulou bleibt Félicité auch nach seinem Tod treu, nachdem sie ihn  hat ausstopfen lassen. Mehr und mehr gerät er ihr zu einer Personifizierung des Heiligen Geistes, ja es gelingt ihr schließlich, ihn auf einem von ihr geschmückten Fronleichnamsaltar zu platzieren und ihn auf diese Weise mit Zustimmung des Pfarrers ganz und gar zu einer religiösen Ikone zu machen.

Es ist erstaunlich, mit welcher Ruhe und erzählerischen Ökonomie Flaubert auf den wenigen Seiten der Erzählung ein ganzes Leben umspannt. Jegliche Sentimentalität ist dem Erzähler fremd; er bleibt auch hier ein Gott hinter den Kulissen:

Der Künstler muß in seinem Werk wie Gott in der Schöpfung sein, unsichtbar und allmächtig; man soll ihn überall spüren, ihn aber nirgends sehen.

an Mlle Leroyer de Chantepie, 18.3.1857

Die Legende von Saint Julien dem Gastfreundlichen ist inhaltlich eine traditionelle Heiligenlegende, die angeblich durch die Darstellung der Legende in einem Kirchenfenster von Rouen inspiriert wurde. Julien wird unter Prophezeiungen geboren: Während der Schwangerschaft wird seiner Mutter seine Bestimmung zum Heiligen vorausgesagt, dem Vater am Tag der Geburt seine Karriere als großer Kriegsmann und Angehöriger einer kaiserlichen Familie. Julien wächst auf als ein grausames Kind, das aus Lust Tiere tötet, bald der Leidenschaft der Jagd verfällt und von dieser Besessenheit schließlich durch ein Wunder erlöst wird: Es stellen sich ihm im Wald eine unermessliche Anzahl von Tieren, die er alle tötet, um am Ende vom letzten Hirschen verflucht zu werden, er werde seine beiden Eltern ermorden. Von dieser Prophezeiung verschreckt und im Glauben tatsächlich seine Mutter aus Versehen getötet zu haben, flieht Julien, wird wie vorausgesagt ein gesuchter Krieger und heiratet schließlich in eine kaiserliche Familie ein. Natürlich muss sich auch noch die andere Prophezeiung erfüllen, und Julien tötet in einem Anfall von Eifersucht seine Eltern, die er für seine Frau und einen Liebhaber hält. Wie zu erwarten wendet er sich nun ab vom weltlichen Wohlleben und wird Fährmann an einem Fluss, lebt in Armut und im Dienst an seinem Mitmenschen. Erlöst wird er am Ende durch Jesus selbst, der ihm in Gestalt eines Aussätzigen erscheint und von ihm nicht nur Gastfreundschaft, sondern Dienst und Demut weit darüber hinaus erbittet. Bei der Geschichte handelt es sich offenbar um eine erzählerische Handübung; Flaubert spricht selbst davon, er habe die Drei Erzählungen als »Buch des Ausruhens« geschrieben.

Herodias erzählt in einiger Ausführlichkeit die Fabel vom Tod Johannes des Täufers, wie sie ihn  den Evangelien des Matthäus und des Markus zu finden ist. Die Perspektive ist dabei die des Herodes Antipas, der sich eingezwängt sieht zwischen den Machtansprüchen der Römer, den Drohungen des Araber, den Vorurteilen der Juden und dem Versuch, die Liebe seiner Frau Herodias zurückzugewinnen. Höhepunkte der Erzählung ist sicherlich die große Strafpredigt des Johannes, die unmittelbarer Auslöser seiner Hinrichtung wird, da er in ihr öffentlich sowohl Herodes als auch Herodias bloßstellt, und die Hinrichtung des Johannes, die zwar hinter den Kulissen bleibt, deren Umstände aber ein letztes Mal die Bedeutung Johannes des Täufers bestätigen. Auch in diesem Fall sollte man nur ein artistisches Interesse Flauberts am Stoff voraussetzen und nicht annehmen, dass es ihm um die eine oder andere Botschaft gegangen sei.

Die Drei Erzählungen waren ein bedeutender Erfolg bei Kollegen und Kritikern, brachten aber nicht die von Flaubert erhofften Einkünfte. Zwar hatte er die Erzählungen vorab zu sehr guten Zeilenhonoraren zwei Zeitungen verkaufen können, aber die Buchausgabe blieb hinter seinen Erwartungen zurück. So war das Buch, das eine kleine artistische Werkschau ist, in Flauberts Einschätzung ein Misserfolg.

Gustave Flaubert: Drei Erzählungen. Aus dem Französischen von Claus Sprick und Cornelia Hasting. Zürich: Haffmans, 2000. Leinenrücken, Dünndruckpapier, Fadenheftung, Lesebändchen, 140 Seiten.

Yann Martel: Beatrice and Virgil

Ein – um es höflich zu sagen – recht seltsames Buch. Yann Martel hatte 2001 den von ihm lange erwarteten Durchbruch mit „Life of Pi“, in dem er zu Anfang beklagt, mit seinem vorangegangenen Buch nicht den erhofften Erfolg gehabt zu haben und deshalb nun einen Bestseller schreiben zu wollen, was ihm dann auch offensichtlich gelungen ist. Vorangegangen war eine Sammlung von Erzählungen, “The Facts Behind the Helsinki Roccamatios” (1993), in der besonders die Titelerzählung herausragt, in der der Erzähler und sein aidskranker Freund gemeinsam die Geschichte einer italienischen Einwandererfamilie in Helsinki erfinden, sowie der Roman “Self” (1996), der in der Hauptsache dadurch auffiel, dass der Protagonist mitten im Roman das Geschlecht wechselt. Beide Bücher waren das, was man Kritikererfolge nennt; beide wurde auch ins Deutsche übersetzt (1994 und 1996).

Wer nach der Veröffentlichung von „Life of Pi“ die Meldungen um Yann Martel etwas verfolgte, gewann den Eindruck, dass das nächste Buch des Autors wieder eher ungewöhnlich sein würde (vgl. z. B.: hier oder hier). Es sollte sich um eine Kombination von Erzählung und Essay handeln, die im Herbst 2008 als Dos-à-dos erscheinen sollten. Stattdessen erschien nun 2010 „Beatrice and Virgil“, auf dessen ersten Seiten ein Buchprojekt des Protagonisten Henry, das aus einer Rücken an Rücken publizierten Kombination aus Erzählung und Essay bestehen sollte, von einer Tafelrunde von Verlegern ergänzt um einen Buchhändler und einen Historiker beerdigt wird. Henry ist dadurch so frustriert, dass er die Schriftstellerei aufgibt und sich anderen kreativen Feldern zuwendet.

Doch von Zeit zu Zeit erhält Henry noch Leserbriefe als Reaktionen auf seinen vorangegangenen Bestseller. Darunter findet sich eines Tages auch ein Brief, der Fotokopien von Flauberts Erzählung „Die Legende von St. Julian dem Gastfreundlichen“ mit zahlreichen Anstreichungen enthält sowie eine Szene aus einem Theaterstück, in der sich zwei Figuren – Beatrice und Virgil – über die Vorzüge der Birne unterhalten. In der Erzählung Flauberts, die nun in einiger Ausführlichkeit zitiert wird, sind alle die Stellen markiert, an denen der Protagonist Julian Tiere tötet; Henry versteht dies als Anspielung auf sein eigenes, erfolgreiches Buch, in dem ebenfalls Tiere wichtige Rollen spielen. Die Szene aus dem Theaterstück macht Henry schließlich so neugierig, dass er dem Absender antwortet und ihn dann auch persönlich aufsucht. Es handelt sich um einen Tierpräparator, der in seiner Stadt lebt, und offenbar seit Jahren an jenem Theaterstück schreibt, dessen Figuren sich als ein Esel und ein Affe erweisen, die sich auf dem Hemd des Insassen eines Konzentrationslagers über Gott und die Welt unterhalten.

Es folgt nun eine langwierige Auseinandersetzung mit diesem Stück, wiederum anhand ausgiebiger Zitate, das sich immer deutlicher darauf zuspitzt, dass es ein Stück über die Unsagbarkeit der Erfahrungen des Holocaust ist. Je länger das Stück ausgebreitet wird und je länger der Roman Martels wird, desto deutlicher wird dem Leser, dass der Autor weder einen blassen Schimmer hat, worauf das Ganze hinauslaufen soll, noch wie er sich die nun einmal so eingefädelte Geschichte wieder vom Hals schaffen kann. Martel führt deshalb eine völlig überraschende, weder erzählerisch vorbereitete noch einsichtige Wendung herbei, indem er Henry plötzlich erkennen lässt, dass es sich bei dem Tierpräparator um einen Nazi-Kollaborateur handelt, der daraufhin versucht, Henry zu erstechen und sich anschließend mit seinem gesamten Laden und dem Stück verbrennt. Durch das Aufschreiben dieser ganzen Geschichte, wobei er allerdings das Stück aus dem Gedächtnis rekonstruieren muss, wird Henry wieder zum Schriftsteller.

Das Buch ist ein durch und durch missratenes literarisches Experiment, das weder seinem Thema noch Martels literarischer Begabung in irgendeiner Weise gerecht wird. Die Sache wird in der deutschen Ausgabe noch dadurch verschlimmert, dass der Verlag das Buch „Ein Hemd des 20. Jahrhunderts“ nennt, was nicht nur den falschen Eindruck erweckt, es handele sich um das im Buch beerdigte Buchprojekt, sondern was auch dem ausdrücklichen Entschluss des Erzählers auf den letzten Seiten des Buches widerspricht. Aber ein Unglück kommt eben selten allein.

Yann Martel: Beatrice and Virgil. Edinburgh u. a.: Canongate, 2010. Broschur, 213 Seiten. Ca. 9,– €.