Brendan Simms / Charlie Laderman: Fünf Tage im Dezember

In dieser Atmosphäre war es nicht überraschend, dass die Nachfrage nach der Reparatur von Radioapparaten, die durch ständiges Drehen an den Knöpfen auf der Suche nach einem besseren Empfang beschädigt worden waren, deutlich zunahm.

Nach dem Erfolg von Simms Hitler-Biographie liefert DVA nun auch sein neues Buch über die kurze Zeitspanne zwischen dem japanischen Angriff auf Pearl Harbour und Hitlers Kriegserklärung an die USA nach. Zusammen mit seinem Kollegen Charlie Laderman vollzieht er in minutiöser Darstellung auf knapp 550 Seiten die Entwicklung nach, die letztendlich zum Kriegseintritt der USA auch in Europa führte. Auch Vor- und Nachgeschichte werden kurz umrissen, aber im Großen und Ganzen konzentriert sich das Buch auf das, was der deutsche Titel nahelegt (in diesem Fall ist es einmal zu begrüßen, dass der Verlag auf die Übernahme des amerikanischen Titel Hitler’s American Gamble verzichtet hat).

Bei der kleinteiligen Darstellung des Buches, die sich von den Entscheidungen und Strategien der Führungsspitzen bis hin zur Meinung der Frau und des Mannes auf der Straße erstreckt und sich, wenn auch nicht in gleichem Umfang, allen Kriegsschauplätzen und beteiligten Nationen widmet, sind Redundanzen selbstverständlich unvermeidbar. So erfahren wir zum Beispiel immer und immer wieder, dass sich neben anderen Winston Churchill, Roosevelt, Stalin, Hitler, zahlreiche Diplomaten und Beamte sowie befragte US-Amerikaner Gedanken darüber machen, welche Auswirkungen der Angriff der Japaner und der Krieg im Pazifik auf die Hilfslieferungen der USA für Großbritannien und die Sowjetunion im Rahmen des Lend-Lease-Programms haben werden. Und da dies Roosevelt, Churchill und ihre Berater sowie zahlreiche andere Protagonisten über die ganzen fünf Tage hinweg kontinuierlich beschäftigt, lesen wir es auch unzählige Male. Andererseits halten sich die Autoren mit summarischen Urteilen und Zusammenfassungen eher zurück, die nur im ersten und letzten Kapitel ein größere Rolle spielen, was ein sehr an den historischen Ereignissen und ihrer unmittelbaren Einschätzung entlanggeführtes Bild ergibt.

Wer sich in der Geschichte des Zweiten Weltkrieges einigermaßen auskennt, kann getrost auf die Lektüre der ersten beiden (der Angriff auf Pearl Harbour beginnt auf Seite 169!) und des letzten Kapitels verzichten. Für alle, die interessiert sind, mit welcher Genauigkeit sich historische Abläufe des 20. Jahrhunderts rekonstruieren lassen, sicherlich eine nicht nur inhaltlich spannende Lektüre.

Brendan Simms / Charlie Laderman: Fünf Tage im Dezember. Von Pearl Harbour bis zur Kriegserklärung an die USA – Wie sich 1941 das Schicksal der Welt entschied. Aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt. München: DVA, 2021. Pappband, Lesebändchen, 638 Seiten. 32,– €.

Allen Lesern ins Stammbuch (149)

Wie anders aber ist das Los und wie verschieden das Schicksal des Schriftstellers, der so tollkühn ist, all das ans Licht zu holen, was uns jeden Augenblick vor Augen steht und was die gleichgültigen Augen nicht sehen wollen, diesen ganzen schrecklichen, erschütternden Alltagssumpf, der unser Leben auffrisst, die ganze Unergründlichkeit der kalten, zerrissenen alltäglichen Charaktere, von denen unser irdischer, mitunter bitterer und langweilig-beschwerlicher Lebensweg wimmelt, und der so tollkühn ist, sie aller Welt mit der ganzen Kraft seines unerbittlichen Meißels plastisch und klar vor Augen zu führen! Keinen Beifall wird er von der Menge ernten und weder dankbare Tränen sehen noch das einmütige Entzücken der von ihm aufgewühlten Seelen; kein sechzehnjähriges Mägdelein wird ihm mit verwirrten Sinnen und heroischer Begeisterung entgegenfliegen; kein Vergessen wird er finden im süßen Zauber der von ihm hervorgelockten Töne; und er wird schließlich auch dem Urteil unserer Zeit nicht entkommen, dem heuchlerisch-fühllosen Urteil unserer Zeit, das die von ihm umhegten Geschöpfe für null und nichtig erklärt, ihm einen schändlichen Winkel in der Reihe jener Schriftsteller zuweist, die die Menschheit schmähen und ihm die Eigenschaften der von ihm erschaffenen Helden andichtet und ihm Herz und Seele und die göttliche Flamme des Talents abspricht.

dtv 14263, S. 198.

Nikolai Gogol
Tote Seelen

Nikolaj Gogol: Sämtliche Erzählungen

Langweilig ist’s auf dieser Welt, Herrschaften!

Der Band umfasst das gesamte erzählerische Werk Gogols mit Ausnahme der Toten Seelen. Dies sind vier Sammelbände, die eine deutliche Entwicklung des Erzählers Gogol erkennen lassen, und eine fragmentarische Erzählung mit dem Titel Rom. Die Erzählungen der frühesten beiden Sammlungen, Die Abende auf einem Weiler bei Dikanka (1831 und 1832) und Mirgorod (1835), sind in Gogols Heimat, der Ukraine lokalisiert, und hatten sowohl wegen des geschilderten bäuerlichen Milieus als auch wegen des Schauer-Genres (besonders in der ersten Sammlung vorherrschend) einen großen Erfolg beim Publikum. Gogols russische Variation des Schauermotivs arbeitet hauptsächlich mit Hexen und dem Teufel, wobei diese als wirkende Mächte in einer sonst idyllischen, bäuerlichen Welt vorgestellt werden. Oft ist es eine Liebesgeschichte, die den anekdotisch aufgereihten Episoden ein Rückgrat geben.

In Mirgorod tritt das Schauerliche dann schon deutlich zurück: Die Sammlung beginnt mit der Erzählung Altväterliche Grundbesitzer, die kaum eine konkrete Handlung besitzt, sondern hauptsächlich das idyllische Leben und Sterben eines älteren Ehepaars schildert. Dies wird dann unmittelbar mit einer Kriegserzählung aus dem 15. Jahrhundert kontrastiert, die von Männlichkeitsgehabe und Kriegsverherrlichung nur so strotzt; auch hier wird der eigentliche Handlungsknoten erst spät und wieder mittels einer Liebesgeschichte geschürzt. Den Abschluss bildet die Geschichte, wie sich Iwan Iwanowitsch mit Iwan Nikoforowitsch zerstritt, eine hübsche Dorf-Farce, die es verdient hätte, bekannter zu sein.

Es folgen noch zwei Sammlungen: Novellen und Arabesken. Hier finden sich unter anderem die bekanntesten Sachen Gogols wie Die Nase, Der Mantel oder Der Newskijprospekt. Reizvoll sind hier besonders auch die Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen, die versuchen, das langsame Abrutschen in den Wahn aus der Perspektive des Erkrankten darzustellen.

Das Fragment Rom zeigt stilistisch und thematisch am deutlichsten den Einfluss, den E. T. A. Hoffmann auf Gogol gehabt hat, kommt über Ansätze zu einer phantastischen Erzählung aber nicht hinaus.

Über die zurecht bekannten Stücke hinaus ist kaum eine Entdeckung zu machen; wer an Gogol als Erzähler interessiert ist, findet hier eine halbwegs chronologische Darstellung seiner Entwicklung bis hin zu den Toten Seelen.

Nikolaj Gogol: Sämtliche Erzählungen. Aus dem Russischen von Josef Hahn. Lizenzausgabe. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1961. Leinen, Dünndruck, Fadenheftung, 882 Seiten. Nur noch antiquarisch lieferbar.

Nikolai Gogol: Tote Seelen

… die Bauern hatten alle gescheite Gesichter; das Hornvieh war von bester Güte; sogar die Schweine der Bauern sahen aus wie Aristokraten.

Gogols einziger Roman, der zudem Fragment geblieben ist. Von den drei geplanten Teilen erschien 1842 der erste; der zweite soll wohl fertiggestellt worden sein, aber Gogol verbrannte das Manuskript kurz vor seinem Tod unter dem Einfluss eines religiösen Fanatikers. So sind vom zweiten Teil nur einige Kapitel erhalten, aus denen sich aber kein geschlossener Handlungsverlauf ablesen lässt und die zudem Lücken und leichte Unstimmigkeiten aufweisen. Trotzdem ist dem Roman anhaltender Erfolg beschieden gewesen: Nach seinem Erscheinen kontrovers diskutiert, wurde er für die nachfolgende Schriftsteller-Generation zu einem wichtigen Orientierungspunkt, sowohl in der Nachfolge als auch in der Opposition.

Erzählt wird die Geschichte des ehemaligen Zollbeamten Pawel Iwanowitsch Tschitschikow, der irgendwann nach 1812 in die Provinzstadt N. einfährt, die irgendwo zwischen Moskau und Petersburg liegt. Tschitschikow weiß mit seinen Schmeicheleien rasch die gesamte Oberschicht des Städtchens für sich einzunehmen, und beginnt, nachdem er sich so eingeführt hat, mit einer Rundfahrt zu diversen, im Umland gelegenen Güter. Dort kommt er zumeist recht direkt zu seinem eigentlichen Anliegen: Er möchte jene leibeigenen Bauern kaufen, die auf der aktuellen, staatlichen Revisionsliste verzeichnet, seit Erstellung dieser Liste aber verstorben sind. Für diese „toten Seelen“ hofft Tschitschikow, kaum etwas bezahlen zu müssen, da er die Gutsbesitzer von der Verpflichtung zur Zahlung der Kopfsteuer für diese Verstorbenen bis zur Erstellung der nächsten Revisionsliste befreit. Zwar stößt dieses Ansinnen bei allen Gutsbesitzern auf Kopfschütteln, aber angesichts der Aussicht auf einen, wenn auch noch so geringen Gewinn einer- und die Einsparung der Abgaben andererseits gehen nahezu alle darauf ein. Auch der Abschluss der entsprechenden Kaufverträge bei Gericht geht reibungslos über die Bühne, so dass sich Tschitschikow nach wenigen Tagen im Besitz einer stattlichen Anzahl von Leibeigenen sieht, die nur den winzig kleinen Fehler aufweisen, dass sie verstorben sind.

Wozu Tschitschikow diese toten Seelen benötigt wird im gesamten ersten Teil des Romans nicht ausdrücklich gesagt. Da das elfte Kapitel aber seine bisherige Karriere als Beamter zusammenfasst, die eine Abfolge von Korruption und betrügerischer Bereicherung darstellt, lässt sich zumindest vermuten, dass es sich um einen weiteren Betrug handeln dürfte. Anstatt nun N. auf dem schnellsten Weg zu verlassen, verkuckt sich Tschitschikow in die blonde Tochter des Gouverneurs, und weil ihn am Ort alle so sympathisch finden, bleibt er noch einige Tage. Doch kommt es in diesen wenigen Tagen zu einem Sturm der Klatsches und wilder Gerüchte, ausgelöst durch den einzigen Gutsbesitzer, dem Tschitschikow seine toten Seelen nicht hatte abkaufen können. Und ausgerechnet dieser Gutsbesitzer warnt Tschitschikow auch, dass ihm Ärger ins Haus stehe, was zu Tschitschikows fluchtartiger Abreise aus N. führt. Damit endet der erste Teil des Romans.

Der zweite Teil zeigt einen etwas gealterten Tschitschikow, der aber immer noch dasselbe Projekt verfolgt. Es wird nun klar, dass er die Bauern, die in einem verwaltungstechnischen Sinne immer noch am Leben sind, verpfänden möchte, um genug Kapital zu erwerben, um selbst ein Gut zu kaufen. Die Handlung des zweiten Teils bleibt rudimentär: Einerseits erwirbt Tschitschikow, begeistert über die ökonomische und höchst erfolgreiche Führung eines Gutes durch seinen Besitzer, selbst ein heruntergekommenes Gut zu einem Spottpreis, andererseits verwickelt er sich offenbar in einen Erbschaftsbetrug zu Lasten des Vorbesitzers seines gerade erworbenen Landgutes. Auch der zweite Teil sollte mit der Flucht Tschitschikows enden, allerdings diesmal aus wesentlich ernsterer Gefahr als zum Ende des zweiten Teils.

Es ist nur zu selbstverständlich, dass ein solcher Roman, der die Honoratioren der Provinz als eine Gruppe etwas eitler, um sich selbst kreisender Dummköpfe darstellt, die mit einigen Schmeicheleien gefügig, durch einige Gerüchte aber ebenso leicht kopfscheu gemacht werden können, als Satire gelesen wurde. Und sicherlich ist es auch so, dass in vielen Verfassern satirischer Schriften ein Moralist am Grunde ruht, der aufgeschreckt, wenn man seine Hervorbringung als Satire liest und entsprechend belacht. Wie sehr das bei Gogol der Fall war, lässt sich leicht aus den moralisierenden und überhaupt belehrenden Passagen des zweiten Teils ersehen, die wohl zum Ziel hatten, Tschitschikows letztendliche Läuterung in die Wege zu leiten. Es ist daher verständlich, dass sich Gogol von der allgemeinen Rezeption seines Romans missverstanden fühlte. Das ändert aber wenig an der Tatsache, dass die Satire die gelungenste Ebene des gesamten Romans ist. Von daher ist es vielleicht ein Glück, dass es dem Autor verwehrt geblieben ist, diesen Eindruck durch die nachfolgenden Romanteile zunichte zu machen.

In der Übersetzung Vera Bischitzkys ein frisches und humoristisches Buch auf der Höhe der europäischen Literatur seiner Zeit. Und man darf getrost die Lektüre mit dem Ende des ersten Teils einstellen; das Übrige dient nur literarhistorischen Zwecken.

Nikolai Gogol: Tote Seelen. Ein Poem. Aus dem Russischen übersetzt von Vera Bischitzky. dtv 14263. München: dtv, 52021. Broschur, 637 Seiten. 14,90 €.

Jahresrückblick 2021

Auch im Jahr 2021 überwogen klar Lektüren, die einen positiven Eindruck hinterlassen haben. Wirklich schlecht war nur ein einziges Buch:

Als die erfreulichsten Lektüren erwiesen sich auch 2021 einmal mehr wiedergelesene Klassiker:

  • Goethes Italienische Reise, besonders deren erster Teil, der durch seine lebendigen und vielfältigen Schilderungen zu überzeugen weiß, und der
  • Don Quijote von Miguel de Cervantes, der sich in der erneute Lektüre als außerordentlich viel reichhaltiger erwiesen hat, als ich ihn in der Erinnerung hatte. Besonders der zumeist ungeliebte zweite Teil liefert nicht nur die Vorlage für einen bedeutenden Teil der romantischen Romanproduktion in Deutschland, sondern ist zugleich ein wahrscheinlich zeitloser Kommentar zur Meinungskultur.
  • Im Zusammenhang mit dem Don Quijote sollte auch Jean Canavaggios Cervantes-Biographie erwähnt werden, die zwar recht akademisch ist, in diesem Rahmen aber sicherlich als ein Musterstück angesehen werden darf. Ähnlich ging es mir mit einzelnen Kapitel aus Michel Winocks Buch über Flaubert, das besonders bei der Interpretation der Werke überzeugt.
  • Noch erwähnt werden sollten Iwan Turgenews Aufzeichnungen eines Jägers, die sich beim Wiederlesen sowohl inhaltlich als auch stilistisch als überraschend vielfältig erwiesen.

Fjodor M. Dostojewski: Aufzeichnungen aus dem Untergrund

Zum vorläufigen Abschluss meiner Dostojewskij-Lektüre noch einmal eine Rückkehr fast ganz zum Anfang: Im Januar 2019 hatte ich hier die vor der Reihe der letzten sechs Romane entstandenen Aufzeichnungen aus dem Kellerloch in der damals aktuellsten Übersetzung Swetlana Geiers besprochen. Dieser vergleichsweise kurze Text, der eine Mischung aus essayistischer Reflexion und fiktiver autobiografischer Erinnerung des Erzähler liefert, war bei seinem Erscheinen nur wenig beachtet worden und wurde in seiner Bedeutung als thematische Vorschule zahlreicher Themen, die dann in den „fünf Elefanten“ entfaltet werden sollten, erst viel später begriffen. Ich selbst habe es als die Eröffnung des psychologischen Labors Dostojewskijs bezeichnet.

Im Jubiläumsjahr legt nun Manesse in seiner Bibliothek eine Neu­über­set­zung des Textes durch Ursula Keller vor. Zum Inhalt des Buches sei auf die frühere Besprechung verwiesen; das muss hier nicht wiederholt werden. Was Stil und Wortwahl angeht, unterscheiden sich die beiden Über­­­set­­­zun­­gen allerdings deutlich. Gleich auf den ersten Blick erscheint die Übersetzung Kellers oft konkreter und bildhafter im Ausdruck:

Ich bin ein kranker Mensch … Ich bin ein böser Mensch. Ein abstoßender Mensch bin ich. Ich glaube, meine Leber ist krank. Übrigens habe ich keinen blassen Dunst von meiner Krankheit und weiß gar nicht mit Sicherheit, was an mir krank ist. Für meine Gesundheit tue ich nichts und habe auch nie etwas dafür getan, obwohl ich vor der Medizin und den Ärzten alle Achtung habe. Zudem bin ich noch äußerst abergläubisch, so weit z. B., daß ich vor der Medizin alle Achtung habe. (Ich bin gebildet genug, um nicht abergläubisch zu sein, aber ich bin abergläubisch.) Nein, meine Herrschaften, wenn ich für meine Gesundheit nichts tue, so geschieht das nur aus Bosheit. Sie werden sicher nicht geneigt sein, das zu verstehen. Nun, meine Herrschaften, ich verstehe es aber. Ich kann Ihnen natürlich nicht klarmachen, wen ich mit meiner Bosheit ärgern will, ich weiß auch ganz genau, daß ich nicht einmal den Ärzten dadurch schaden kann, daß ich mich nicht von ihnen behandeln lasse; ich weiß am allerbesten, daß ich damit einzig und allein mir selbst schade und niemandem sonst.
Und dennoch, wenn ich nichts für meine Gesundheit tue, so geschieht es aus Bosheit, und ist die Leber krank, dann mag sie noch ärger krank werden!

Geier, S. 7 f.

Ich bin ein kranker Mensch … Ich bin ein zorniger Mensch. Ein hässlicher Mensch bin ich. Ich glaube ich bin leberkrank. Eigentlich habe ich nicht die geringste Ahnung, woran ich erkrankt bin, und weiß nicht einmal sicher, worunter ich leide. Ich bin nicht in Behandlung und war auch nie in Behandlung, obwohl ich Medizin und Ärzten Respekt entgegenbringe. Zugleich bin ich über die Maßen abergläubisch; nun, wenigstens so sehr, dass ich der Medizin Respekt entgegenbringen. (Ich bin gebildet genug, um nicht abergläubisch zu sein, und doch bin ich abergläubisch.) Nein, mit Verlaub – ich will mich aus reinem Trotz nicht in Behandlung begeben. Und genau das werden sie wohl nicht verstehen wollen. Nun, aber ich verstehe es. Ich vermag Ihnen, selbstredend, nicht zu erklären, wem ich mit diesem Trotz das Leben schwer machen; ich weiß sehr genau, dass ich den Ärzten ja damit, dass ich nicht bei ihnen in Behandlung bin, «keinen Haufen vor die Tür» setze; ich weiß selbst am besten, dass sich mit alledem nur mir ganz allein schade und niemandem sonst. Und trotzdem – wenn ich nicht in Behandlung bin, so ist das reiner Trotz. Die Leber ist krank, soll sie doch noch kränker werden!

Keller, S. 9 f.

Von der Frage des zusätzlichen bzw. fehlenden Absatzes abgesehen, erscheint es schon als deutlicher Unterschied, ob der Erzähler sich aus Bosheit oder Trotz der ärztlichen Behandlung verweigert, ob er den Ärzten dadurch nicht schadet oder ihnen keinen Haufen vor die Tür setzt. Solche Unterschiede finden sich kontinuierlich durch den ganzen Text hindurch, begleitet von weiteren seltsamen Phänomenen wie zum Beispiel Klammern, die an unterschiedlichen Stellen des Textes geschlossen werden. Leider hindert mich meine Unkenntnis des Russischen daran, mehr zu tun, als auf diese durchaus eklatanten Unterschiede hinzuweisen. Ein kritisches Urteil muss andernorts gefällt werden. (Für Hinweise auf ein kompetentes Urteil sei gleich hier im Voraus gedankt!)

Wenigstens muss der Neuübersetzung von Ursula Keller attestiert werden, dass sie den Text an zahlreichen Einzelstellen und im Ganzen ver­ständ­li­cher und differenzierter zu übersetzen scheint, dass die durchweg außergewöhnlichen Gedankengänge des Erzählers in ihr weniger obskur und dunkel erscheinen.

Fjodor M. Dostojewski: Aufzeichnungen aus dem Untergrund. Aus dem Russischen von Ursula Keller. München: Manesse, 2021. Pappband, Fadenheftung, Lesebändchen, 312 Seiten. 25,– €.

Fjodor Dostojewskij: Die Brüder Karamasow

Meistens sind die Menschen, sogar Bösewichte, wesentlich naiver und einfältiger, als wir annehmen. Wir sind ja auch nicht anders.

Der letzte der „fünf Elefanten“, im Jahr 1880 als letzter und zugleich umfangreichster Roman Dostojewskijs erschienen. Die Handlung lässt sich in zwei klar voneinander zu unterscheidende Abschnitte teilen: Im ersten Abschnitt geht es hauptsächlich um den jüngsten der drei (eventuell auch vier) Brüder Karamasow, Alexej, der zu Anfang des Romans noch in einem Kloster in seiner Heimatstadt in der russischen Provinz lebt. Dort ist er Vertrauter und Faktotum eines Einsiedlers, um dessen letzte Lebenstage und Sterben die Ereignisse angeordnet sind. Dostojewskij schafft sich damit Gelegenheit, in ausführlicher Breite seine Sicht des russischen Christentums auszubreiten, er geht sogar soweit, dass das komplette sechste Buch der Lebensbeschreibung und den Ansichten des Einsiedler gewidmet ist. Aber auch hier lässt Dostojewskij wieder mehr als nur eine Stimme vernehmen: So wird die über den Roman hinaus bekannte Erzählung Der Großinquisitor in den Roman eigeflochten, die der zweitälteste Bruder Iwan Karamasow seinem jüngeren Bruder Alexej erzählt und die eine eher skeptische Sicht auf die Kirche allgemein, die römisch-katholische Kirche im Speziellen präsentiert.

Mit dem achten von zwölf Büchern beginnt dann die Geschichte Dmitrij Karamasows, des ältesten Bruders, der aus der ersten Ehe des Vaters Fjodor Pawlowitsch stammt. Dmitrij hat den unsteten Charakter seines Vaters geerbt, ist Soldat geworden und hat das Erbe seiner Mutter weitgehend durchgebracht. Er befindet sich mit dem Vater in einem Streit darüber, ob ihm aus diesem Erbe noch eine Restzahlung zusteht; außerdem konkurrieren die beiden Männer trotz ihrem unterschiedlichen Alter um dieselbe Frau, Gruschenka, die ihre Unabhängigkeit dadurch unter Beweis stellt, dass sie beide Bewerber auf Distanz hält. Dmitrij ist zudem verschuldet: Er hat Geld, das ihm seine ehemalige Verlobte – in die wiederum Iwan Karamasow unglücklich verliebt ist – anvertraut hat, veruntreut und damit ein rauschendes Fest mit der umworbenen Gruschenka finanziert, ohne dass ihn das seinem Ziel irgendwie näher gebracht hätte. Nun sucht er verzweifelt nach jemandem, der ihm 3.000 Rubel leiht, damit er dieses veruntreute Geld zurückgeben kann.

Es kommt nun zu einer Reihe von Ereignissen, in deren Verlauf der Vater Fjodor Karamasow erschlagen und beraubt wird, wobei eine überwältigende Kette von Indizien auf Dmitrij als den Täter hinweist: Er ist plötzlich wieder zu Geld gelangt, hat das Fest für Gruschenka wiederholt, war in der Nacht zuvor nachweislich zumindest im väterlichen Garten und hat dort flüchtend den alten Diener des Hauses niedergeschlagen. Dmitrij wird verhaftet, ausführlich befragt und schließlich angeklagt. Der Mordprozess bildet den Höhepunkt und Abschluss des Romans. Mehr muss hier gar nicht verraten werden.

Erzählerisch variiert Dostojewskij hier noch einmal das Erfolgsmuster aus Böse Geister: Ein Ich-Erzähler, der von Teilen der Handlung unmittelbarer Zeuge war, berichtet das Geschehen, wobei er wechselweise als auktorialer Erzähler oder distanzierter Beobachter auftreten kann. Nach einer langen Phase, die ganz anderen Themen gewidmet zu sein scheint und die nur ganz nebenbei die Kriminal-Handlung des zweiten Teils Stück für Stück vorbereitet, rückt ein Verbrechen und – diesmal – seine polizeiliche und juristische Behandlung in den Mittelpunkt, hier mit dem Schwergewicht auf dem Problem, das wirkliche Geschehen aus einer Reihe von Indizien herleiten zu können. Sowohl das Bild, das der Staatsanwalt von dem Geschehen entwirft als auch die epistemische Kritik des Verteidigers an diesem Bild verfehlen das tatsächliche Geschehen, das dem Leser zwar mitgeteilt wird, in der Welt des Romans aber unbeweisbar bleibt. Besonders diese zweite Hälfte des Romans brilliert mit dem, was man Dostojewskijs „Psychologie“ zu nennen beliebt.

Insgesamt ein zu langer Roman, dem man aber dennoch eine gewisse Balance nicht ganz abstreiten kann. Während das Hauptthema des ersten Teils heute weitgehend obsolet geworden sein dürfte, ist der zweite Teil des Romans durchweg interessant, wenn hier auch einige Elemente deutlich zu dramatisch geraten sind. Allerdings ist der zweite Teil ohne die vorbereitenden Elemente des ersten nicht wirklich zu verstehen, so dass man nur die Wahl „ganz oder gar nicht“ hat.

Fjodor Dostojewskij: Die Brüder Karamasow. Aus dem Russischen von Swetlana Geier. Zürich: Ammann, 2003. Leinenband, Fadenheftung, 1279 Seiten. Lieferbar als Fischer Taschenbuch für 18,– €.

Stefan Heym: Flammender Frieden

Außerdem war er in sie verliebt, und diese Liebe war sein Untergang.

Anlässlich des heutigen 20. Todestags Stefan Heyms ist bei Bertelsmann sein zweiter Roman erstmals in deutscher Übersetzung durch Bernhard Robben erschienen. Of Smiling Peace wurde zuerst 1944 auf Englisch verlegt und konnte, obwohl offensichtlich auch diesmal auf eine Hollywood-Verfilmung hingeschrieben, an den Erfolg von Heyms Erstling Hostages (1942; auf Deutsch später: Der Fall Glasenapp) nicht anknüpfen. Als sein dritter Roman Crusaders (1948; deutsch jetzt Kreuzfahrer von heute, auch unter dem Titel Der Bittere Lorbeer) ein internationaler Erfolg wurde, ließ Heym die „Vorstudie“ von 1944 auf sich beruhen und unterband jede Neuausgabe oder Über­set­zung. So erscheint der Roman erst jetzt auf Deutsch und noch dazu in einer Über­set­zung von zweiter Hand. Aber zumindest dies letzte scheint ihm nicht geschadet zu haben.

Erzählt wird im Wesentlichen die Geschichte zweier Männer, deren Leben – leider – schicksalhaft miteinander verflochten sind: Einerseits der Wehrmachts-Major Ludwig von Liszt, andererseits der deutschstämmige Lieutenant Bert Wolff, der zusammen mit seinen Kameraden am 8. November 1942 an der Küste unweit von Algier anlandet. Die Einnahme von Algier und die Gefangennahme der deutschen Waf­fen­still­stands­kon­trol­leu­re, wie sich die deutschen Besatzer euphemistisch nennen, gelingt weitgehend problemlos, aber Liszt und sein Hauptmann Tarnowsky schlüpfen den Amerikanern durch die Finger. Liszt macht sich auf Richtung Osten, um zu den von Sizilien nach Tunesien verlegten Wehrmachtstruppen zu stoßen, was ihm unter abenteuerlichen Umständen auch gelingt, und auf diesem Weg zugleich einen großen Gegenschlag zu organisieren, der die US-amerikanischen Landungstruppen in einer Zangenbewegung aufreiben soll.

Natürlich lieben Liszt und Wolff dieselbe Frau (die im Schnellschuss-Verfahren zusammengezimmerte Beziehung zwischen Marguerite und Wolff gehört zu den peinlichsten Details des Romans), aber wenigstens im Roman bekommt sie keiner der beiden (das hätte man fürs Drehbuch ändern müssen), sondern sie heiratet am Schluss denjenigen von all den ihr zu Füßen herumkriechenden Männern, den sie am meisten verachtet.

Schon an diesem Detail merkt man, dass der Roman an einigen Klischees nicht vorbeikommt. Auch die weite Strecken des Buches bestimmenden Dialoge der zahlreichen Akteure untereinander sind zum Teil von einer Plattheit, die ihresgleichen sucht. Dafür ist die erzählerische Konstruktion, die die Geschichte bis zum Ende parallel in mehreren Strängen vorwärts treibt, durchaus souverän gehandhabt und zeigt eine gut geplante Struktur. Für ein schnell und auf ein breites Publikum hin geschriebenes Buch, das zudem erst den zweiten Roman des Autors darstellt, verdient es durchaus Respekt, auch wenn sich Begeisterung wohl nur bei echten Heym-Fans einstellen wird. Das Nachwort fasst es so zusammen:

In bester amerikanischer Erzähltradition gleichermaßen spannend wie unterhaltsam komponiert, legt Heym mit seinem Flammenden Frieden den Finger in eine Wunde, die bis heute nicht verheilt ist.

S. 477

Ein wenig besser ist es schon, aber nicht viel.

Stefan Heym: Flammender Frieden. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. München: Bertelsmann, 2021. Pappband, 477 Seiten. 24,– €.

Allen Lesern ins Stammbuch (148)

Der […] Leser hat das Buch für baares Geld gekauft und fragt, was ihn schadlos hält? – Meine letzte Zuflucht ist jetzt, ihn zu erinnern, daß er ein Buch, auch ohne es gerade zu lesen, doch auf mancherlei Art zu benutzen weiß. Es kann, so gut wie viele andere, eine Lücke seiner Bibliothek ausfüllen, wo es sich, sauber gebunden, gewiß gut ausnehmen wird. Oder auch er kann es seiner gelehrten Freundin auf die Toilette, oder den Theetisch legen. Oder endlich er kann ja, was gewiß das Beste von Allem ist und ich besonders rathe, es recensiren.

WWuV I. Zürich: Haffmans, 1988. S. 13.

Arthur Schopenhauer
Die Welt als Wille und Vorstellung

Zum 200. Geburtstag von Gustave Flaubert

Ich habe (wenn Du meine innerste und offene Meinung wissen willst) nichts geschrieben, was mich voll und ganz befriedigt. Ich habe in mir – und zwar sehr deutlich, glaube ich – ein Ideal (entschuldige das Wort), ein Stilideal, dessen Verfolgung mich ohne Unterlaß keuchen läßt. Deshalb ist Verzweiflung mein normaler Zustand. Ich brauche eine heftige Ablenkung, um aus ihr herauszukommen. Außerdem bin ich von Natur aus nicht fröhlich. Niedrig, possenhaft und obszön so viel Du willst, aber trotzdem immer finster. Kurz, das Leben geht mir herzlich auf die Nerven. Da hast du mein Glaubensbekenntnis.

Flaubert: Briefe. Zürich: Diogenes, 1977. S. 392.

Gustave Flaubert
an Ernest Feydeau, Anfang August 1857