Thomas Mann: Der Erwählte

Sehr oft ist das Erzählen nur ein Substitut für Genüsse, die wir selbst oder der Himmel uns versagen.

Im Jahr 1951 erschien nach einer für Thomas Mann recht kurzen Entstehungszeit von nur etwas mehr als drei Jahren sein kürzester und zugleich sein letzter abgeschlossener Roman Der Erwählte. Es handelte sich um eine modernisierte, sanft parodistische Nacherzählung des Gregorius des Hartmann von Aue, den Mann schon in seinem Münchner Studium kennengelernt hatte. Der Stoff hatte in der Fassung der Gesta Ro­ma­no­rum im Doktor Faustus eine kleine Rolle gespielt, was dann eine intensive Beschäftigung mit dem kleinen Epos Hartmanns auslöste. Dabei hatte Mann durchaus Schwierigkeiten, sich das mittelhochdeutsche Original anzueignen, konnte auch in den USA eine vage von ihm erinnerte Übersetzung im Reclam Verlag nicht finden, doch erhielt er Hilfe vom Schweizer Mediävisten Samuel Singer, der ihn schon bei der Arbeit am Doktor Faustus unterstützt hatte und der seine Mitarbeiterin Marga Bauer den Text Hartmanns ins Hochdeutsche übertragen ließ. (Dan­kens­wer­ter­wei­se liefert der Kommentarband dieser Ausgabe die Übersetzung voll­stän­dig mit!) Auf dieser Grundlage entstand ab Anfang 1948 der kleine Roman.

Den Inhalt habe ich schon an anderer Stelle kurz skizziert. Der le­gen­den­haf­te Stoff und die Freiheit, die ein weitgehend unbestimmt und ironisch geschildertes Mittelalter dem Autor ließ, sowie die Engführung der Parodie an der Vorlage haben Thomas Mann eine erzählerische Leichtigkeit erlaubt, wie sie in seinem Werk sonst nur in einigen seiner Erzählungen zu finden ist. Der Roman ist scheinbar mit leichter Hand wie nebenbei erzählt und weist die für Mann typische tonale Einheitlichkeit des Erzählens in einem besonderen Maße auf. Es liegt wahrscheinlich an dem etwas entlegenen Sujet, dass dieses Buch zu den eher unbekannten Thomas Manns gehört.

Die Neuedition innerhalb der Großen Frankfurter Ausgabe bringt im Textteil keine echten Verbesserungen, da die letzten Korrekturfassungen des Romans komplett verloren gegangen sind; es wird deshalb der im März 1951 innerhalb der Stockholmer Werkausgabe erschienene Text nachgedruckt. Dafür glänzt aber auch dieser Teil der aktuellen Werkausgabe mit einem umfangreichen Kommentarband, der neben einem Ein­zel­stel­len­kom­men­tar nicht nur Entstehungsgeschichte und Rezeption minutiös dokumentiert, sondern, wie oben schon angedeutet, unter anderem auch die beide wichtigen Quellentexte reproduziert, die Mann benutzt hat. Für alle Freunde des Romans eine reiche biographische und stoffliche Fundgrube.

Thomas Mann: Der Erwählte. Große kommentierte Frankfurter Ausgabe Bd. 11. Frankfurt/M.: S. Fischer, 2021 (erschienen 2022!). Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 302 (Text) + 559 (Kommentar) Seiten. 139,– €. Beide Bände sind auch einzeln lieferbar.

Katja Leuchtenberger: Uwe Johnson

Kurzbiographie Johnsons in seinem Hausverlag von einer ausgewiesenen Kennerin des Autors. Das Buch ist in drei Abschnitte geteilt: Leben (ca. die Hälfte des Textes), Werk (ein weiteres Drittel) und Wirkung. Es folgt ein Anhang mit Zeittafel, Bibliographie und Personen- sowie Werkregister.

Inhaltlich ist das Buch unter Berücksichtigung des geringen Umfangs tadellos, wenn auch das Leben etwas weichgezeichnet erscheint; Johnsons Fremdheit in Gesellschaft, seine rigorose, auf andere oft verstörend wirkende Rechthaberei oder sein Alkoholismus kommen zwar vor, aber wohl dosiert und abgemildert. Von daher ist das vermittelte Bild nicht ganz richtig, ganz falsch ist es aber eben auch nicht.

Was die Darstellung des Werks angeht, so gibt es kaum etwas einzuwenden; eine bessere Kurzdarstellung aller Aspekte von Johnsons Schreiben kenne ich einfach nicht. Im Abschnitt Wirkung gibt es das zu erwartende Maß von allgemeinem Geschwätz des Sowohl-Als-auch gemischt mit einigen wenigen handfesten Informationen; da ist ein Querlesen vollständig ausreichend.

Die Seiten des Bandes sind recht angenehm gestaltet: Fotos werden in Maßen eigesetzt, die Darstellung des Haupttextes unterstützende Zitate aus Primär- und Sekundärtexten sind in grau hinterlegten Kästen in den Fließtext eingefügt. Auf Fuß- oder Endnoten wird komplett verzichtet.

Insgesamt ersetzt oder ergänzt der Band die inzwischen in die Tage gekommene Rowohlt-Monographie von Jürgen Grambow (1997). Für eine rasche und überblickende Information gut geeignet.

Katja Leuchtenberger: Uwe Johnson. sb 47. Berlin: Suhrkamp, 2010. Broschur, 158 Seiten. 8,90 €.

John Kennedy Toole: A Confederacy of Dunces

You could tell by the way that he talked, though, that he had gone to school a long time. That was probably what was wrong with him.

Ich muss gestehen, dass mich dieses Buch sehr spät erreicht hat. Geschrieben in den 1960er-Jahren, erschienen nach langem Widerstand diverser Verlage erst 1980, erhielt es 1981 den Pulitzer-Preis für Fiction und wurde schon 1982 zum ersten Mal und dann 2011 ein weiteres Mal ins Deutsch übersetzt. Dennoch ist mir das Buch bewusst erst letztes Jahr über den Weg gelaufen. In den USA wird es als wegweisendes Buch der sogenannten Southern literature gelesen und steht auf zahlreichen Must-read-Listen. In Deutschland scheint es mir immer noch ein Geheimtipp zu sein; aber da kann ich mich irren.

Erzählt werden einige Wochen aus dem Leben des Ignatius J. Reilly, eines übergewichtigen 30-Jährigen, der in New Orleans im Haus seiner Mutter Irene wohnt, den Kontakt zur Außenwelt so gut wie möglich meidet und sich in exzessiver Kritik des Kinos und Fernsehprogramms übt. Ignatius hat Mediävistik studiert und auch einige Zeit an der Universität unterrichtet, konnte sich aber nicht ins Hochschulsystem einpassen und wurde entlassen. Seitdem liegt er seiner Mutter auf der Tasche.

Erzählanlass ist ein Autounfall, bei dem Ignatius’ entnervte Mutter versehentlich beim Ausparken in ein Gebäude fährt und einen Balkon beschädigt. Der Hauseigentümer verlangt, dass die Reillys ihm den Schaden, gut 1.000 $, ersetzen, und um eine juristische Auseinandersetzung zu vermeiden, stimmt Irene dieser Forderung auch zu. Da aber völlig unklar ist, wie die beiden das Geld auftreiben sollen, bleibt als einziger Ausweg, dass Ignatius in die von ihm gehasste Welt zieht und sich Arbeit sucht. Er nimmt zuerst eine Stellung im Büro einer Hosen-Fabrik an, wobei er seinen Vorgesetzten über seine wahre Archivierungs-Methode hinwegtäuscht, die schlicht im Wegwerfen der ihm zur Ablage übergebenen Akten besteht, um schließlich unter den Arbeitern der Fabrik eine Art von Aufstand in Szene zu setzen. Nach seiner Entlassung beginnt er als Hotdog-Verkäufer zu arbeiten, dies aber auch nur, weil er dabei als sein bester Kunde nahezu unbegrenzten Zugriff auf die Würsten hat.

Neben dieser scheinbaren Haupthandlung entwickeln sich zahlreiche Nebenhandlungen, die nicht im Einzelnen erzählt zu werden brauchen. Es ist genug zu sagen, dass sich die Konsequenzen der einzelnen Handlungsstränge zu einem immer bedrohlicheren Szenarium für den Protagonisten aufzubauen scheinen, wobei die drohenden Schicksalsschläge Ignatius immer wieder auf wundersame Weise verfehlen.

Ein etwas überdrehter, aber intelligenter und witziger Roman von einer überraschenden Welthaltigkeit. Er steht klar in der Tradition des modernen Schelmenromans und erweist sich trotz seiner anekdotischen Struktur als gut konstruiert. Ein Tipp für ein verregnetes Wochenende.

John Kennedy Toole: A Confederacy of Dunces. Kindle-Edition. Penguin / Random House, 2016. 338 Seiten (Druck-Ausgabe). 8,99 €.

100 Jahre Ulysses

Gob, the devil wouldn’t stop him till he got hold of the bloody tin anyhow and out with him and little Alf hanging on to his elbow and he shouting like a stuck pig, as good as any bloody play in the Queen’s royal theatre:
—Where is he till I murder him?
And Ned and J. J. paralysed with the laughing.
—Bloody wars, says I, I’ll be in for the last gospel.
But as luck would have it the jarvey got the nag’s head round the other way and off with him.
—Hold on, citizen, says Joe. Stop!
Begob he drew his hand and made a swipe and let fly. Mercy of God the sun was in his eyes or he’d have left him for dead. Gob, he near sent it into the county Longford. The bloody nag took fright and the old mongrel after the car like bloody hell and all the populace shouting and laughing and the old tinbox clattering along the street.
The catastrophe was terrific and instantaneous in its effect. The observatory of Dunsink registered in all eleven shocks, all of the fifth grade of Mercalli’s scale, and there is no record extant of a similar seismic disturbance in our island since the earthquake of 1534, the year of the rebellion of Silken Thomas. The epicentre appears to have been that part of the metropolis which constitutes the Inn’s Quay ward and parish of Saint Michan covering a surface of fortyone acres, two roods and one square pole or perch. All the lordly residences in the vicinity of the palace of justice were demolished and that noble edifice itself, in which at the time of the catastrophe important legal debates were in progress, is literally a mass of ruins beneath which it is to be feared all the occupants have been buried alive. From the reports of eyewitnesses it transpires that the seismic waves were accompanied by a violent atmospheric perturbation of cyclonic character. An article of headgear since ascertained to belong to the much respected clerk of the crown and peace Mr George Fottrell and a silk umbrella with gold handle with the engraved initials, crest, coat of arms and house number of the erudite and worshipful chairman of quarter sessions sir Frederick Falkiner, recorder of Dublin, have been discovered by search parties in remote parts of the island respectively, the former on the third basaltic ridge of the giant’s causeway, the latter embedded to the extent of one foot three inches in the sandy beach of Holeopen bay near the old head of Kinsale. Other eyewitnesses depose that they observed an incandescent object of enormous proportions hurtling through the atmosphere at a terrifying velocity in a trajectory directed southwest by west. Messages of condolence and sympathy are being hourly received from all parts of the different continents and the sovereign pontiff has been graciously pleased to decree that a special missa pro defunctis shall be celebrated simultaneously by the ordinaries of each and every cathedral church of all the episcopal dioceses subject to the spiritual authority of the Holy See in suffrage of the souls of those faithful departed who have been so unexpectedly called away from our midst. The work of salvage, removal of débris, human remains etc has been entrusted to Messrs Michael Meade and Son, 159 Great Brunswick street, and Messrs T. and C. Martin, 77, 78, 79 and 80 North Wall, assisted by the men and officers of the Duke of Cornwall’s light infantry under the general supervision of H. R. H., rear admiral, the right honourable sir Hercules Hannibal Habeas Corpus Anderson, K. G., K. P., K. T., P. C., K. C. B., M. P., J. P., M. B., D. S. O., S. O. D., M. F. H., M. R. I. A., B. L., Mus. Doc., P. L. G., F. T. C. D., F. R. U. I., F. R. C. P. I. and F. R. C. S. I.

Brendan Simms / Charlie Laderman: Fünf Tage im Dezember

In dieser Atmosphäre war es nicht überraschend, dass die Nachfrage nach der Reparatur von Radioapparaten, die durch ständiges Drehen an den Knöpfen auf der Suche nach einem besseren Empfang beschädigt worden waren, deutlich zunahm.

Nach dem Erfolg von Simms Hitler-Biographie liefert DVA nun auch sein neues Buch über die kurze Zeitspanne zwischen dem japanischen Angriff auf Pearl Harbour und Hitlers Kriegserklärung an die USA nach. Zusammen mit seinem Kollegen Charlie Laderman vollzieht er in minutiöser Darstellung auf knapp 550 Seiten die Entwicklung nach, die letztendlich zum Kriegseintritt der USA auch in Europa führte. Auch Vor- und Nachgeschichte werden kurz umrissen, aber im Großen und Ganzen konzentriert sich das Buch auf das, was der deutsche Titel nahelegt (in diesem Fall ist es einmal zu begrüßen, dass der Verlag auf die Übernahme des amerikanischen Titel Hitler’s American Gamble verzichtet hat).

Bei der kleinteiligen Darstellung des Buches, die sich von den Entscheidungen und Strategien der Führungsspitzen bis hin zur Meinung der Frau und des Mannes auf der Straße erstreckt und sich, wenn auch nicht in gleichem Umfang, allen Kriegsschauplätzen und beteiligten Nationen widmet, sind Redundanzen selbstverständlich unvermeidbar. So erfahren wir zum Beispiel immer und immer wieder, dass sich neben anderen Winston Churchill, Roosevelt, Stalin, Hitler, zahlreiche Diplomaten und Beamte sowie befragte US-Amerikaner Gedanken darüber machen, welche Auswirkungen der Angriff der Japaner und der Krieg im Pazifik auf die Hilfslieferungen der USA für Großbritannien und die Sowjetunion im Rahmen des Lend-Lease-Programms haben werden. Und da dies Roosevelt, Churchill und ihre Berater sowie zahlreiche andere Protagonisten über die ganzen fünf Tage hinweg kontinuierlich beschäftigt, lesen wir es auch unzählige Male. Andererseits halten sich die Autoren mit summarischen Urteilen und Zusammenfassungen eher zurück, die nur im ersten und letzten Kapitel ein größere Rolle spielen, was ein sehr an den historischen Ereignissen und ihrer unmittelbaren Einschätzung entlanggeführtes Bild ergibt.

Wer sich in der Geschichte des Zweiten Weltkrieges einigermaßen auskennt, kann getrost auf die Lektüre der ersten beiden (der Angriff auf Pearl Harbour beginnt auf Seite 169!) und des letzten Kapitels verzichten. Für alle, die interessiert sind, mit welcher Genauigkeit sich historische Abläufe des 20. Jahrhunderts rekonstruieren lassen, sicherlich eine nicht nur inhaltlich spannende Lektüre.

Brendan Simms / Charlie Laderman: Fünf Tage im Dezember. Von Pearl Harbour bis zur Kriegserklärung an die USA – Wie sich 1941 das Schicksal der Welt entschied. Aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt. München: DVA, 2021. Pappband, Lesebändchen, 638 Seiten. 32,– €.

Allen Lesern ins Stammbuch (149)

Wie anders aber ist das Los und wie verschieden das Schicksal des Schriftstellers, der so tollkühn ist, all das ans Licht zu holen, was uns jeden Augenblick vor Augen steht und was die gleichgültigen Augen nicht sehen wollen, diesen ganzen schrecklichen, erschütternden Alltagssumpf, der unser Leben auffrisst, die ganze Unergründlichkeit der kalten, zerrissenen alltäglichen Charaktere, von denen unser irdischer, mitunter bitterer und langweilig-beschwerlicher Lebensweg wimmelt, und der so tollkühn ist, sie aller Welt mit der ganzen Kraft seines unerbittlichen Meißels plastisch und klar vor Augen zu führen! Keinen Beifall wird er von der Menge ernten und weder dankbare Tränen sehen noch das einmütige Entzücken der von ihm aufgewühlten Seelen; kein sechzehnjähriges Mägdelein wird ihm mit verwirrten Sinnen und heroischer Begeisterung entgegenfliegen; kein Vergessen wird er finden im süßen Zauber der von ihm hervorgelockten Töne; und er wird schließlich auch dem Urteil unserer Zeit nicht entkommen, dem heuchlerisch-fühllosen Urteil unserer Zeit, das die von ihm umhegten Geschöpfe für null und nichtig erklärt, ihm einen schändlichen Winkel in der Reihe jener Schriftsteller zuweist, die die Menschheit schmähen und ihm die Eigenschaften der von ihm erschaffenen Helden andichtet und ihm Herz und Seele und die göttliche Flamme des Talents abspricht.

dtv 14263, S. 198.

Nikolai Gogol
Tote Seelen

Nikolaj Gogol: Sämtliche Erzählungen

Langweilig ist’s auf dieser Welt, Herrschaften!

Der Band umfasst das gesamte erzählerische Werk Gogols mit Ausnahme der Toten Seelen. Dies sind vier Sammelbände, die eine deutliche Entwicklung des Erzählers Gogol erkennen lassen, und eine fragmentarische Erzählung mit dem Titel Rom. Die Erzählungen der frühesten beiden Sammlungen, Die Abende auf einem Weiler bei Dikanka (1831 und 1832) und Mirgorod (1835), sind in Gogols Heimat, der Ukraine lokalisiert, und hatten sowohl wegen des geschilderten bäuerlichen Milieus als auch wegen des Schauer-Genres (besonders in der ersten Sammlung vorherrschend) einen großen Erfolg beim Publikum. Gogols russische Variation des Schauermotivs arbeitet hauptsächlich mit Hexen und dem Teufel, wobei diese als wirkende Mächte in einer sonst idyllischen, bäuerlichen Welt vorgestellt werden. Oft ist es eine Liebesgeschichte, die den anekdotisch aufgereihten Episoden ein Rückgrat geben.

In Mirgorod tritt das Schauerliche dann schon deutlich zurück: Die Sammlung beginnt mit der Erzählung Altväterliche Grundbesitzer, die kaum eine konkrete Handlung besitzt, sondern hauptsächlich das idyllische Leben und Sterben eines älteren Ehepaars schildert. Dies wird dann unmittelbar mit einer Kriegserzählung aus dem 15. Jahrhundert kontrastiert, die von Männlichkeitsgehabe und Kriegsverherrlichung nur so strotzt; auch hier wird der eigentliche Handlungsknoten erst spät und wieder mittels einer Liebesgeschichte geschürzt. Den Abschluss bildet die Geschichte, wie sich Iwan Iwanowitsch mit Iwan Nikoforowitsch zerstritt, eine hübsche Dorf-Farce, die es verdient hätte, bekannter zu sein.

Es folgen noch zwei Sammlungen: Novellen und Arabesken. Hier finden sich unter anderem die bekanntesten Sachen Gogols wie Die Nase, Der Mantel oder Der Newskijprospekt. Reizvoll sind hier besonders auch die Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen, die versuchen, das langsame Abrutschen in den Wahn aus der Perspektive des Erkrankten darzustellen.

Das Fragment Rom zeigt stilistisch und thematisch am deutlichsten den Einfluss, den E. T. A. Hoffmann auf Gogol gehabt hat, kommt über Ansätze zu einer phantastischen Erzählung aber nicht hinaus.

Über die zurecht bekannten Stücke hinaus ist kaum eine Entdeckung zu machen; wer an Gogol als Erzähler interessiert ist, findet hier eine halbwegs chronologische Darstellung seiner Entwicklung bis hin zu den Toten Seelen.

Nikolaj Gogol: Sämtliche Erzählungen. Aus dem Russischen von Josef Hahn. Lizenzausgabe. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1961. Leinen, Dünndruck, Fadenheftung, 882 Seiten. Nur noch antiquarisch lieferbar.

Nikolai Gogol: Tote Seelen

… die Bauern hatten alle gescheite Gesichter; das Hornvieh war von bester Güte; sogar die Schweine der Bauern sahen aus wie Aristokraten.

Gogols einziger Roman, der zudem Fragment geblieben ist. Von den drei geplanten Teilen erschien 1842 der erste; der zweite soll wohl fertiggestellt worden sein, aber Gogol verbrannte das Manuskript kurz vor seinem Tod unter dem Einfluss eines religiösen Fanatikers. So sind vom zweiten Teil nur einige Kapitel erhalten, aus denen sich aber kein geschlossener Handlungsverlauf ablesen lässt und die zudem Lücken und leichte Unstimmigkeiten aufweisen. Trotzdem ist dem Roman anhaltender Erfolg beschieden gewesen: Nach seinem Erscheinen kontrovers diskutiert, wurde er für die nachfolgende Schriftsteller-Generation zu einem wichtigen Orientierungspunkt, sowohl in der Nachfolge als auch in der Opposition.

Erzählt wird die Geschichte des ehemaligen Zollbeamten Pawel Iwanowitsch Tschitschikow, der irgendwann nach 1812 in die Provinzstadt N. einfährt, die irgendwo zwischen Moskau und Petersburg liegt. Tschitschikow weiß mit seinen Schmeicheleien rasch die gesamte Oberschicht des Städtchens für sich einzunehmen, und beginnt, nachdem er sich so eingeführt hat, mit einer Rundfahrt zu diversen, im Umland gelegenen Güter. Dort kommt er zumeist recht direkt zu seinem eigentlichen Anliegen: Er möchte jene leibeigenen Bauern kaufen, die auf der aktuellen, staatlichen Revisionsliste verzeichnet, seit Erstellung dieser Liste aber verstorben sind. Für diese „toten Seelen“ hofft Tschitschikow, kaum etwas bezahlen zu müssen, da er die Gutsbesitzer von der Verpflichtung zur Zahlung der Kopfsteuer für diese Verstorbenen bis zur Erstellung der nächsten Revisionsliste befreit. Zwar stößt dieses Ansinnen bei allen Gutsbesitzern auf Kopfschütteln, aber angesichts der Aussicht auf einen, wenn auch noch so geringen Gewinn einer- und die Einsparung der Abgaben andererseits gehen nahezu alle darauf ein. Auch der Abschluss der entsprechenden Kaufverträge bei Gericht geht reibungslos über die Bühne, so dass sich Tschitschikow nach wenigen Tagen im Besitz einer stattlichen Anzahl von Leibeigenen sieht, die nur den winzig kleinen Fehler aufweisen, dass sie verstorben sind.

Wozu Tschitschikow diese toten Seelen benötigt wird im gesamten ersten Teil des Romans nicht ausdrücklich gesagt. Da das elfte Kapitel aber seine bisherige Karriere als Beamter zusammenfasst, die eine Abfolge von Korruption und betrügerischer Bereicherung darstellt, lässt sich zumindest vermuten, dass es sich um einen weiteren Betrug handeln dürfte. Anstatt nun N. auf dem schnellsten Weg zu verlassen, verkuckt sich Tschitschikow in die blonde Tochter des Gouverneurs, und weil ihn am Ort alle so sympathisch finden, bleibt er noch einige Tage. Doch kommt es in diesen wenigen Tagen zu einem Sturm der Klatsches und wilder Gerüchte, ausgelöst durch den einzigen Gutsbesitzer, dem Tschitschikow seine toten Seelen nicht hatte abkaufen können. Und ausgerechnet dieser Gutsbesitzer warnt Tschitschikow auch, dass ihm Ärger ins Haus stehe, was zu Tschitschikows fluchtartiger Abreise aus N. führt. Damit endet der erste Teil des Romans.

Der zweite Teil zeigt einen etwas gealterten Tschitschikow, der aber immer noch dasselbe Projekt verfolgt. Es wird nun klar, dass er die Bauern, die in einem verwaltungstechnischen Sinne immer noch am Leben sind, verpfänden möchte, um genug Kapital zu erwerben, um selbst ein Gut zu kaufen. Die Handlung des zweiten Teils bleibt rudimentär: Einerseits erwirbt Tschitschikow, begeistert über die ökonomische und höchst erfolgreiche Führung eines Gutes durch seinen Besitzer, selbst ein heruntergekommenes Gut zu einem Spottpreis, andererseits verwickelt er sich offenbar in einen Erbschaftsbetrug zu Lasten des Vorbesitzers seines gerade erworbenen Landgutes. Auch der zweite Teil sollte mit der Flucht Tschitschikows enden, allerdings diesmal aus wesentlich ernsterer Gefahr als zum Ende des zweiten Teils.

Es ist nur zu selbstverständlich, dass ein solcher Roman, der die Honoratioren der Provinz als eine Gruppe etwas eitler, um sich selbst kreisender Dummköpfe darstellt, die mit einigen Schmeicheleien gefügig, durch einige Gerüchte aber ebenso leicht kopfscheu gemacht werden können, als Satire gelesen wurde. Und sicherlich ist es auch so, dass in vielen Verfassern satirischer Schriften ein Moralist am Grunde ruht, der aufgeschreckt, wenn man seine Hervorbringung als Satire liest und entsprechend belacht. Wie sehr das bei Gogol der Fall war, lässt sich leicht aus den moralisierenden und überhaupt belehrenden Passagen des zweiten Teils ersehen, die wohl zum Ziel hatten, Tschitschikows letztendliche Läuterung in die Wege zu leiten. Es ist daher verständlich, dass sich Gogol von der allgemeinen Rezeption seines Romans missverstanden fühlte. Das ändert aber wenig an der Tatsache, dass die Satire die gelungenste Ebene des gesamten Romans ist. Von daher ist es vielleicht ein Glück, dass es dem Autor verwehrt geblieben ist, diesen Eindruck durch die nachfolgenden Romanteile zunichte zu machen.

In der Übersetzung Vera Bischitzkys ein frisches und humoristisches Buch auf der Höhe der europäischen Literatur seiner Zeit. Und man darf getrost die Lektüre mit dem Ende des ersten Teils einstellen; das Übrige dient nur literarhistorischen Zwecken.

Nikolai Gogol: Tote Seelen. Ein Poem. Aus dem Russischen übersetzt von Vera Bischitzky. dtv 14263. München: dtv, 52021. Broschur, 637 Seiten. 14,90 €.

Jahresrückblick 2021

Auch im Jahr 2021 überwogen klar Lektüren, die einen positiven Eindruck hinterlassen haben. Wirklich schlecht war nur ein einziges Buch:

Als die erfreulichsten Lektüren erwiesen sich auch 2021 einmal mehr wiedergelesene Klassiker:

  • Goethes Italienische Reise, besonders deren erster Teil, der durch seine lebendigen und vielfältigen Schilderungen zu überzeugen weiß, und der
  • Don Quijote von Miguel de Cervantes, der sich in der erneute Lektüre als außerordentlich viel reichhaltiger erwiesen hat, als ich ihn in der Erinnerung hatte. Besonders der zumeist ungeliebte zweite Teil liefert nicht nur die Vorlage für einen bedeutenden Teil der romantischen Romanproduktion in Deutschland, sondern ist zugleich ein wahrscheinlich zeitloser Kommentar zur Meinungskultur.
  • Im Zusammenhang mit dem Don Quijote sollte auch Jean Canavaggios Cervantes-Biographie erwähnt werden, die zwar recht akademisch ist, in diesem Rahmen aber sicherlich als ein Musterstück angesehen werden darf. Ähnlich ging es mir mit einzelnen Kapitel aus Michel Winocks Buch über Flaubert, das besonders bei der Interpretation der Werke überzeugt.
  • Noch erwähnt werden sollten Iwan Turgenews Aufzeichnungen eines Jägers, die sich beim Wiederlesen sowohl inhaltlich als auch stilistisch als überraschend vielfältig erwiesen.