Thomas Bernhard: Die Autobiographie

… aber hier wird auf das Kopfschütteln, gleich auf welcher Seite und mag sie sich als die kompetenteste ansehen, keinerlei Rücksicht genommen.

Zwischen 1975 und 1982 sind fünf au­to­bio­gra­phisch unterfütterte Erzählungen von Thomas Bernhard erschienen, die 2004 innerhalb der Werkausgabe bei Suhrkamp erstmals in einem Band, dem Band 10 unter dem herausgeberischen Titel Die Autobiographie zusammengefasst wurden. Die Herausgeber dieses Bandes stellen selbst fest, dass der gewählte Titel nicht durch irgend eine Äußerung des Autors gestützt werden kann. Es soll hier nicht diskutiert werden, inwieweit dieser neue Titel und die neue Form die Wahrnehmung und das Verständnis dieser Erzählungen beeinflussen, denn dazu wäre als Vergleichsgröße eine Dokumentation des Verständnisses eines Lesers vonnöten, der die Erzählungen etwa kontinuierlich mit ihrem Erscheinen gelesen hätte; allein schon das wäre wohl weit von jeder Realisierbarkeit entfernt. Doch genug des Nominalstils.

Die Reihe der Erzählungen beginnt mit der Internatszeit Bernhards in den letzten Kriegs- und ersten Nachkriegsmonaten in Salzburg. Der Ich-Erzähler leidet sowohl unter dem Regiment des faschistischen Direktors Grünkranz als auch seines katholischen Nachfolgers „Onkel Franz“. Dieser erste Band, Die Ursache. Eine Andeutung (1975) endet mit dem Entschluss des Erzählers das Gymnasium zu verlassen und eine Lehre bei einem Lebensmittel-Händler zu beginnen. Der Keller. Eine Entziehung (1976) knüpft direkt an dieses Ende an und verfolgt die Lebensgeschichte weiter bis zum Abbruch der Lehre durch eine Lungenerkrankung, die sich der Erzähler beim Abladen einen Fuhre Kartoffeln im Regen zugezogen hat. Der Atem. Eine Entscheidung (1978) berichtet vom sich anschließenden Klinikaufenthalt, Die Kälte. Eine Isolation (1981) von der nachfolgenden Kur. Der letzte Band Ein Kind (1982) springt chronologisch in die Zeit vor Die Ursache und beginnt mit einer Radtour, die der Erzähler als Achtjähriger ohne die Erlaubnis seiner Mutter nach Salzburg unternommen hat, auf der er aber verunglückt, ohne sein Ziel zu erreichen. Nimmt man den erzählerischen Anspruch für einen Moment ernst, so erzählt Bernhard hier sein Leben einigermaßen kontinuierlich zwischen dem achten und dem neunzehnten Lebensjahr nach.

Dabei sind alle fünf Erzählungen beherrscht vom Ton und der Geisteshaltung des erwachsenen Erzählers, seinem durchgehenden Ressentiment eines Außenseiters gegen die Gesellschaft, den Menschen schlechthin, die Österreicher und die Salzburger im speziellen, dem unvergessenen und unverziehenen Leid des von einem ambitionierten Großvater durch diverse Künste (Geigenspiel, Gesang, Malerei) getrieben Kindes, das zusätzlich unter dem Druck einer ihm in Hass-Liebe zugetanen Mutter leidet und keinen heimischen Ort in der Welt finden kann. Die Texte sind einerseits durchaus bewegend, andererseits in der typischen Bernhardschen Manier nervtötend und penetrant. Bernhard zelebriert in dem Kind und Jugendlichen, von dem er erzählt, seine Verletztheit, Einsamkeit und Misanthropie. Es fehlt diesen Büchern in weiten Teilen der sonst oft bei ihm vorherrschende bissige oder auch zynische Humor, der hier ersetzt wird durch ein eher unverstelltes, aber distanziert geschildertes Mitleid mit sich selbst als Kind. Diese größere Unmittelbarkeit sollte einen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch diese Texte hoch stilisiert sind, dass die permanenten Wiederholungen, Reformulierungen und Variationen (die durchaus auch als musikalisches Element verstanden werden können) eine mehrfache Überschreibung des Erinnerten durch einen dies Erinnern instrumentalisierenden Erzähler darstellen.

Die fünf Erzählungen bilden einen guten Einstieg in den Bernhardschen Kosmos: Wer ausprobieren möchte, ob er mit Bernhards Stil zurecht kommt, kann es mit irgendeinem der Bände probieren; vielleicht ist Die Ursache der beste Prüfstein. Es ist aber nicht notwendig, bei der Lektüre die innere Chronologie oder die der Veröffentlichung einzuhalten.

Thomas Bernhard: Die Autobiographie. Werke Bd. 10. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2004. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen. 582 Seiten. 42,– €.

Allen Lesern ins Stammbuch (147)

Betrachtet man die Mehrzahl der beklagenswerthen Köpfe, welche heut zu Tage die belletristischen Recensenten spielen, und sie bloß deshalb spielen können, weil das Drucken eben so leicht geworden ist, als in einer Thee-Versammlung den Mund aufzuthun und zu schwatzen, so begreift es sich, wie diese Leute, wo sie eine Autorität sehen, derselben durch Dick und Dünn nachfolgen, wie die Esel einem vorgehaltenen Bündel von Disteln. […] Großentheils bestehen die ästhetischen Recensenten, Referenten, die romantischen Erzähler, die Dichterlinge, aus überspannten Menschen, welche dadurch zu ihren Kritiken und Productionen gelangt sind, daß sie in der Jugend echte Bildung versäumten, lieber Romane lasen als Kunst und Wissenschaft studirten, und daß sie jetzt, wo sie nirgends nütz und einheimisch sind, sorgen müssen, durch armseelige Productionen ihr bischen Brod zu verdienen. Wären unter diesem Volke nur noch Genie oder Gedanken, die Geist verriethen, man verziehe ihm die albernen und leider so oft lügenhaften Faseleien. Das Gesindel hätte denn doch den Geschmack ausbilden sollen, weil Jeder, der nicht ganz bornirt ist, das kann. Dieses geht bei einigem Fleiße. Aber man lese, man spreche die Leute, – (Gott behüte mich davor, ich habe Beispiele,) schwerlich 12 unter ihnen, die nicht nach alter Weise frech über Homer, Sophokles, Dante, Shakspeare, Schiller, Goethe ableierten, ohne die Schriftsteller selbst zu kennen, – schwerlich 6 belletristische Blätter in denen nicht jedesmal auf der 3ten Seite ein grober Schnitzer gegen Kunst oder Wissen enthalten wäre. Ein Journal über die Journale, welches deren Fehler aufzeichnete, würde dicker als manches der besten derselben. Bloß Journalliteratur ist die Wissenschaft der meisten Journalcorrespondenten, – der Leser hat in der Regel etwas Ernsthafteres zu thun, als weitläuftig ihren Fehlern und Lügen nachzuspüren, – er nimmt ihre Aussagen als ein Amusement auf Glauben an. Ein schlechtes Amusement verdirbt aber zuletzt den Geist auch.

HKA IV, S. 106 f.

Christian Dietrich Grabbe
Etwas über den Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe

Masato Tanaka / Tetsuya Saito: Das illustrierte Kompendium der Philosophie

Die Philosophie ist ihrer Natur nach etwas Esoterisches, für sich weder für den Pöbel gemacht noch einer Zubereitung für den Pöbel fähig; sie ist nur dadurch Philosophie, daß sie dem Verstande und damit noch mehr dem gesunden Menschenverstande, worunter man die lokale und temporäre Beschränktheit eines Geschlechts der Menschen versteht, gerade entgegengesetzt ist; im Verhältnis zu diesem ist an und für sich die Welt der Philosophie eine verkehrte Welt.

Georg Wilhelm Friedrich Hegel

Einführungen in die Philosophie, besonders solche, die für den allerersten Einstieg des Laien geschrieben wurden, ist nur sehr schwierig gerecht zu werden: Diejenigen, für die sie geschrieben sind, können sie offensichtlich nicht beurteilen, und diejenigen, die sie beurteilen können, gehören offensichtlich nicht zur Zielgruppe. Hinzukommt, dass selbst unter Fachleuten nicht nur in den Feinheiten der Interpretation Uneinigkeit herrscht, sondern solche Verwerfungen – die auch für den Einsteiger nicht unbedeutend sind – bereits in ganz grundsätzlichen Auffassungen bestehen können. Von daher dürften solche Einführungen immer in der Kritik stehen, je mehr, je spezifischer das Verständnis der verhandelten Sache beim Rezensenten ist.

Das vorliegende Buch ist eine Einführung in die Philosophiegeschichte und arbeitet in der Hauptsache mit Graphiken, die durch eine Reihe von kurzen , schlicht gehaltenen Erläuterungen begleitet werden.

© Aufbau Verlag
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Was macht man nun mit sowas? Einerseits sind wesentliche Elemente des Höhlengleichnisses getroffen: Die in der Höhle Gefangenen, deren Welt die an die Höhlenwand geworfenen Schatten sind, der Höhlenausgang, durch den man zur Erkenntnis der Wirklichkeit gelangen kann, sogar ein Rudiment des Sonnengleichnisses ist vorhanden. Andererseits werden bei Platon die schattenwerfenden Gegenstände von hinter einer Mauer verborgenen Trägern (welchen ontologischen Status mögen diese Träger haben?) vor einem Feuer vorbeigetragen, und natürlich kommt in Platons Höhle kein Teufel vor, der den unbedarften Leser vermuten lassen muss, dass es sich bei dieser Einrichtung um eine Art von transzendenter Verschwörung gegen die Menschheit handelt. Nach Betrachtung der beiden Seiten weiß der Leser ungefähr – und wirklich nur so ungefähr – so viel wie nach der Lektüre der ersten Absätze des Siebten Buchs von Platons Der Staat:

»Stelle dir Menschen vor, etwa in einer unterirdischen, höhlenartigen Behausung mit einem Ausgang, der sich über die ganze Breite der Höhle zum Tageslicht hin öffnet; in dieser Höhle sind sie von Kindheit an, gefesselt an Schenkeln und Nacken, so dass sie an Ort und Stelle bleiben müssen und nur geradeaus schauen können; den Kopf können sie wegen der Fesseln nicht herumdrehen; Licht erhalten Sie durch ein Feuer, dass hinter ihnen weit oben in der Ferne brennt; zwischen diesem Feuer und den Gefesselten führt oben ein Weg; an ihm entlang stelle dir einen niedrigen Maueraufbau vor, ähnlich wie Schranken bei den Gauklern vor den Zuschauern errichtet werden, über die hinweg sie ihre Kunststücke zeigen.«
»Ich sehe es vor mir«, sagte er.
»Stelle dir nun längs dieser Mauer Menschen vor, die allerlei Geräte vorbeitragen, die über diese Mauer hinausragen, Statuen von Menschen und anderen Lebewesen aus Holz und Stein und allen möglichen Erzeugnisse menschlicher Arbeit, wobei die Vorbeitragenden, wie es natürlich ist, teils reden, teils schweigen.«
»Ein seltsames Gleichnis und seltsame Gefesselte, von denen du da sprichst«, sagte er.

Platon: Der Staat, 514a ff.
(Trad. Gernot Krapinger)

Sprich: Er weiß, dass es bei Platon ein Höhlengleichnis gibt. Zusätzlich verfügt er über eine Reihe falscher Vorstellungen und hat keine Ahnung, wozu dieses Gleichnis überhaupt dienen soll. Denn wie häufig zeigt das Gleichnis allein nicht, was es eigentlich bedeuten soll.

Leider ist das auf den anderen Seiten auch nicht viel besser. Dort wo traditionelle Einführungen in die Philosophie notwendig oberflächlich sein müssen, ist hier auch diese Oberflächlichkeit noch oberflächlich geraten. In der Sache ist dieses Buch ein feuchter Teller, der sich als Vorspeise ausgibt. Nützlich könnte das Buch allein in einem didaktischen Umfeld sein, also für einen Lehrer der Philosophie, der sich hier Anregungen für eine graphische Unterstützung seines Unterrichts holen könnte.

Masato Tanaka / Tetsuya Saito: Das illustrierte Kompendium der Philosophie. Berlin: Blumenbar, 2021. Bedruckter Pappband, Lesebändchen, 352 Seiten. 26,– €.

Zum 200. Geburtstag von Fjodor M. Dostojewskij

»Mein Freund, die Menschen so zu lieben, wie sie sind, ist unmöglich. Das ist aber geboten. Deshalb tu ihnen Gutes, nimm dich zusammen, halt dir die Nase zu und schließe die Augen (das letzte ist unumgänglich). Ertrage das Böse, was sie dir antun, nach Möglichkeit, ohne es ihnen übelzunehmen, eingedenk dessen, daß auch du Mensch bist. Selbstverständlich behandelst du sie mit der gebotenen Strenge, wenn du auch nur um ein weniges klüger bist als das Mittelmaß. Die Menschen sind ihrer Natur nach niedrig und lieben am liebsten aus Furcht; laß dich zu einer solchen Liebe nicht herab, und gib die Verachtung nicht auf. Irgendwo im Koran befiehlt Allah dem Propheten, die ›Ruchlosen‹ nicht anders als Mäuse anzusehen, ihnen Gutes zu tun und achtlos an ihnen vorüberzugehen – ein wenig überheblich, aber richtig. Übe dich in Verachtung selbst dann, wenn sie gut sind, denn meistens sind sie gerade dann auch schlecht. Oh, mein Lieber, ich sage das, weil ich von mir auf andere schließe! Wer nur nicht hoffnungslos dumm ist, der kann nicht leben, ohne sich selbst zu verachten, ob Ehrenmann oder ehrlos – ganz egal. Seinen Nächsten zu lieben, ohne ihn zu verachten – das ist unmöglich. Meiner Meinung nach ist der Mensch mit der physischen Unmöglichkeit erschaffen, seinen Nächsten zu lieben. Hier steckt von Anfang an ein Fehler in der Wortwahl, und ›Liebe zur Menschheit‹ bezieht sich nur auf jene Menschheit, die du dir selbst in deiner Seele erschaffen hast (mit anderen Worten, auf dich selbst und auch auf die Liebe zu dir selbst) und die deshalb niemals Wirklichkeit werden wird.«

Fjodor M. Dostojewskij
Ein grüner Junge

Gustave Flaubert: Memoiren eines Irren

Es wäre ein Fehler, in all dem hier etwas anderes zu sehen als die Nörgeleien einen armen Irren. Ein Irrer!
Und Sie, Leser – Sie haben vielleicht vor kurzem geheiratet oder Ihre Schulden bezahlt?

Nachdem ich Elisabeth Edls Übersetzung der Éducation sentimentale vorerst übersprungen habe – zum einen, weil es zeitlich nicht passte, zum anderen aber sicherlich auch, weil ich über die Übersetzung des Titels mit Lehrjahre der Männlichkeit doch etwas erschrocken war –, folgt nun also, im Jahr seines 200. Geburtstages, die Neuübersetzung von Flauberts erstem ernsthaften Versuch, einen Roman zu schreiben. Der Text, der keine 100 Druckseiten umfasst, ist zu Lebzeiten des Autors nicht veröffentlicht worden, und man darf davon ausgehen, dass sich Flaubert seiner Schwächen sehr bewusst war.

… Mir ist alles so zuwider, dass ich einen tiefen Ekel davor empfinde weiterzuschreiben, nachdem ich das Vorangehende gelesen habe.
Können die Werke eines gelangweilten Mannes die Leser amüsieren?

S. 40

Aber natürlich zeigt sich die Wichtigkeit eines Autors eben auch darin, dass nach seinem Tod sein Nachlass herausgegeben wird.

Im Falle der Memoiren eines Irren geschah dies zuerst Ende 1900, 20 Jahre nach dem Tod Flauberts. Die Erzählung, die nur ehrenhalber die Bezeichnung Roman verdient, ist deshalb interessant, weil hier schon einige der Motive durchgespielt werden, die in den späteren Werken eine Rolle spielen. Zentral dürfte dabei die Beschreibung der ersten Verliebtheit des Erzählers in eine ältere, verheiratete Frau sein, die deutlich auf die Liebe Frédéric Moreaus aus L’Éducation sentimentale vorausweist. Außer diesen einzelnen Motiven ist der Text weitgehend lamoyant, verbunden mit einer für einen 17-Jährigen doch recht künstlichen Welt- und Menschenfeindlichkeit. Der Erzähler tut sich selbst unendlich leid, was den Leser ungefähr so kalt lässt, wie es Flauberts spätere Erzähler sind. Literarisch ist das beste am Text, dass er nicht länger ist.

Um dem Band etwas mehr Umfang zu geben, hat man eine Auswahl früher Briefe Flauberts hinzugefügt, die – wie Flauberts Briefe überhaupt – immer interessant und lebendig sind. Die wichtigste Stelle im Buch aber ist diese:

Wolfgang Matz hat auch diesen Band als Lektor begleitet; dass er der Einladung folgte, zum (wenigstens vorläufigen) Abschluss dieser Flaubert-Jahre auch das Nachwort beizusteuern, …

S. 200

Es wird also auf absehbare Zeit keine Übersetzung von Bouvard et Pécuchet durch Elisabeth Edl geben. Fassen wir uns also in Geduld.

Gustave Flaubert: Memoiren eines Irren. Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Edl. München: Hanser, 2021. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 240 Seiten. 28,– €.

Jean-Yves Ferri / Didier Conrad: Asterix und der Greif

Und wieder einmal ein nur eher mäßig gelungener Asterix-Band. Nach bewährtem Muster werden kleine Episoden aneinandergeklebt bis eben die 48 Seiten wieder einmal voll sind. Diesmal ist das Reiseziel die unendliche Weite Russlands (lateinisch: Barbaricum) und das napoleonische Heer ein römisches Expeditionsheer wurde von Cäsar ausgesandt, um den legendären Greif zu fangen und nach Rom in den Zirkus zu schleifen. Nun fragt man sich zu Recht, was denn das die Gallier angeht, und so muss der lokale sarmatische Schamane Terrine einen Traum haben, der ihm mitteilt, Rettung (wovor, wird an keiner Stelle geklärt) könne nur von den Galliern kommen, was ihn (den Schamanen, nicht den Traum) veranlasst, per Traumtelegramm seinen alten Kumpel Miraculix herbeizurufen, der natürlich in Begleitung von Asterix und Obelix kommt. Damit hat er auch schon seine Schuldigkeit getan. Am Ende erfindet er noch den Borschtsch, damit er überhaupt irgendetwas zu tun hat, während Asterix und Obelix eine Armee sarmatischer Amazonen davon abhalten, die Geschichte zu früh zu beenden.

Die Geschichte besteht hauptsächlich aus retardieren Elementen und stellt eine Art von Comic-Adaption des militärhistorischen Teils von Krieg und Frieden dar. Einige Details sind ganz witzig (skythische Scouts (vielleicht ist das Wortspiel auf Französisch lustiger), die eine Art von Reiseführersprache sprechen; die römische Legion, die von Aber- und Verschwörungsglauben jeglicher Art geplagt wird (dass der Haupt-Verschwörungstheoretiker buchstäblich grün ist, fand ich nun eher unwitzig); Idefix, der sich nebenbei zum Anführer eines Wolfsrudels mausert und sicherlich noch dies und das), aber insgesamt ist es eine eher langatmige, schlecht erfundene Geschichte, die mehr eine Ausrede für einen neuen Asterix-Band bildet, als dass sie wirklich für sich selbst stehen könnte.

Nun gut, in zwei Jahren kommt der nächste Band.

Jean-Yves Ferri / Didier Conrad: Asterix und der Greif. Asterix Bd. 39. Berlin: Egmont Ehapa, 2021. Bedruckter Pappband, 48 Seiten (28,8 × 22,4 cm). 12,– €.

Aus dem Zugang (5): Shakespeare

Und wieder ist ein großes Werk vollendet: Vor ziemlich genau 21 Jahren ist mit Romeo und Julia der ersten von neununddreißig Bänden der Shakespeare-Übersetzung Frank Günthers erschienen. Heuer nun beschließt Band 38, Sonette, diese Gesamtausgabe, die ihresgleichen sucht. Sie liefert sowohl die englischen Originaltexte (nach denen des Arden-Shakespeare) als auch eine moderne und nah am Original geführte, kommentierte Übersetzung (fast) aller Texte Shakespeares (The Two Noble Kinsmen fehlt diesmal – wahrscheinlich eine berechtigte Entscheidung–, aber sowas ist beinahe schon gute Tradition deutscher Gesamtausgaben), in jedem Band einen Stellenkommentar, den Werkstattbericht des Übersetzers und einen Essay eines renommierten Shakespearerologen und dürfte damit die am breitesten aufgestellte deutsche Shakespeare-Ausgabe aller Zeiten sein.

Und der Übersetzer hätte es beinahe geschafft, wenn ihn Schicksalsschläge und Krankheit nicht abgehalten hätten, als erster Mensch Shakespeare komplett in eine andere Sprache zu übertragen. Es hat nicht viel gefehlt: Von den 154 Sonetten hat er 22 übersetzt: die Nummern I bis XXI und dazu noch die Nummer LXVI, die in zahlreichen Übersetzungen und Aneignungen in Deutschland als politisches Gedicht Karriere gemacht hat. Er ist auf dem letzten Stück dieses enormen Weges der Übersetzung gestorben.

Der Verlag hat sich auf Empfehlung Günthers hin entschlossen, diesen letzten Band durch die Übersetzungen Christa Schuenkes zu ergänzen, die auf jeden Fall in ihrer Aktualität an die von Günther heranreichen. (Ich selbst hätte mich auch mit einem fragmentarischen letzten Band zufrieden gegeben, aber das soll nur beiseite gesprochen sein.) Wie gut sich diese Übersetzungen halten werden, muss natürlich die Zeit zeigen; ich selbst maße mir nicht an, Lyrik und deren Übersetzung auf diesem Niveau zu beurteilen, weil ich mir auch nicht annähernd eine Vorstellung von der Schwierigkeit dieser Sache machen kann.

Hier wird, wie bisher, immer mal wieder ein Band aus dieser Ausgabe besprochen werden, eben so, wie sie sich in meine Lektüre einreihen.

William Shakespeare: Sonette. Aus dem Englischen übersetzt von Frank Günther und Christa Schuenke. Zweisprachige Ausgabe. Gesamtausgabe Bd. 38. Cadolzburg: ars vivendi, 2021. Geprägter Leineneinband, Fadenheftung, zwei Lesebändchen, 200 Seiten. 33,– €.

Susanne Fischer: »Julia, laß das!«

Julia, oder die Gemälde ist der letzte Roman, an dem Arno Schmidt bis zu seinem zum Tode führenden Schlaganfall gearbeitet hat. Die 100 Typoskriptseiten, die fertig wurden, sind 1983 in der damals üblichen Weise als photomechanische Wiedergabe bei Haffmans erschienen; seit 1992 gibt es auch die gesetzte Fassung innerhalb der Bargfelder Ausgabe. Diese 100 Seiten sind einerseits typisch für das Spätwerk (eine Gruppe von Erwachsenen, der eine Gruppe von Jugendlichen gegenübergestellt ist; eine weitere Gruppe von Hippies (hier variiert als Hexen), die als gesellschaftliche Außenseiter nur sich und ihrer Lust leben; eine einzelne, etwas geisterhafte junge oder wie hier auch sehr junge Frau, die zwischen diesen Gruppen osziliert; Gespräche über abgelegene und halbvergessene Literatur und Schmidts psychoanalytisch unterfütterte Etymmystik; eine reduzierte Handlung, die in der Hauptsache dazu dient, die Figurenkommunikation zu steuern), andererseits bilden eine Reihe von Autoren das literarische Unterfutter des Buches, die bislang bei Schmidt nur eine kleine oder gar keine Rolle gespielt hatten (Balduin Möllhausen, Jakob Lorber, Friedrich Thesmar, H. P. Lovecraft oder Rider Haggard).

Erzählanlass ist, dass bei einem Besuch des Bückeburger Schlosses sich das junge Mädchen Julia aus dem Gemälde „Die vier Schwestern von Oranien“ von Jan Mytens (das existierende Gemälde zeigt eine Gruppe erwachsener Frauen) in den alternden und herzkranken Schriftsteller Leonhard Jhering verkuckt, aus ihrem Bild heraussteigt und von nun an bis zum Ende durch den Roman geistert. Eines der geplanten Enden des Romans sieht vor, dass Jhering zusammen mit Julia ins Bild zurückgekehrt ist und dort nun der Zeitlichkeit entrückt der Ewigkeit entgegenexistiert.

Natürlich war schon bei Erscheinen des Typoskripts 1983 eine für Schmidt-Leser wichtige Frage, was zwischen der Seite 100 und diesem möglichen Ende noch alles durchgespielt werden sollte. So veröffentlichte Haffmans 1985 im Arno-Schmidt-Raben einen ersten Satz von 41 Notizzetteln aus dem Zettelkasten zur Julia. Seitdem bestand mehr oder weniger die Hoffnung (oder eben auch die Befürchtung), dass eine Edition der kompletten Notizzettel aus dem Zettelkasten zur Julia zumindest eine Ahnung von dem geben könnte, wie Schmidt den Roman fortgesetzt hätte. Dieser Hoffnung wurde jetzt mit dem Buch von Susanne Fischer ein Ende gesetzt: Weder wird es in absehbarer Zeit eine vollständige Publikation des Zettelkastens geben, noch gibt es irgendeine Möglichkeit aus dem vorhandenen Nachlass-Material eine auch nur irgendwie geartet Extrapolation der nicht geschriebenen Teile des Romans zu leisten. Selbst Elemente, die sich aus den ganz allgemeinen Entwürfen ablesen lassen – so etwa die Überfahrt zum Wilhelmstein, der dabei erfolgende Schiffbruch und die dann erzwungene Existenz auf der Insel – bleiben vollständig abstrakt, weil entweder kein, nur unzureichendes oder gar widersprüchliches Material im Kasten vorliegt.

Grundsätzlich geben die Zettel zur Julia denselben Eindruck wie andere ganz oder teilweise bekannte Zettelkästen zu anderen Werken: Ohne den Kopf des Autors sind sie weitgehend wertlos und liefern nur unverbundene Details, von denen nicht einmal sicher ist, wie und in welcher Reihenfolge sie im Roman letztlich verarbeitet werden sollten. Was Susanne Fischer nun als Ersatz für einen kompletten Abdruck der Notizzettel liefert, ist eine allgemeine Beschreibung von dessen Inhalt – mit dem Hauptgewicht auf jenem Teil, der für die noch ungeschriebenen Kapitel der Julia vorgesehen war – mit zahlreichen Einzel-Beispielen. Überraschendster Befund ist dabei, dass ein Großteil der Zettel der Sexualität, konkreter der Beschreibung diverser Geschlechtsakte gewidmet ist. Sex im Alter bzw. älterer Menschen scheint ein weiteres, den Autor sehr beschäftigendes Thema gewesen zu sein. Fischer betont mehrfach zu Recht, dass sich nicht erkennen lasse, wie viel des gesammelten Materials am Ende verwendet worden wäre, aber zumindest lässt sich feststellen, dass sich die in Schmidts Spätwerk abzulesende Tendenz zur Aufspaltung der sozialen Welt in eine ästhetisch abgehobene, ins Phantastische grenzenlos übergehende und eine krude, weitgehend von Sexualität in diversen Spielformen bestimmte Wirklichkeit hier nahtlos fortsetzt. Die in Sitara und der Weg dorthin an der Werken Karl Mays und in Zettel’s Traum an denen Edgar Allan Poes durchgespielte Analyse der Literatur als verdeckte Darstellung der sexuellen Obsessionen ihrer Autoren zusammen mit Schmidts von Anfang an vorhandener Neigung zu dichotomen Unterscheidungen („Bezeichnend für uns Gemisch aus Scheiße und Mondschein.“ – Goethe und Einer seiner Bewunderer. BA I, 2. S. 200.) führen zu dieser zwar produktiven aber kaum wirklichkeitsnahen Weltsicht. Auch ist die beschriebene Welt der Romane glücklicherweise immer deutlich reicher, als deren Verständnis durch die Protagonisten erlauben sollte.

Insgesamt bringt der Band eine negative Bereicherung unseres Wissens um Arno Schmidt, in dem er jegliche Hoffnung aufhebt, das merkwürdige Fragment der Julia mit Hilfe des Nachlasses tatsächlich noch zum letzten vollständigen Roman Arno Schmidts destillieren zu können. Und es ist Susanne Fischer sehr zu danken, dass sie die sicherlich nicht einfache Entscheidung getroffen hat, den Erwartungen der Schmidt-Leser nicht nachzugeben und den Zettelkasten zur Julia Zettel für Zettel abdrucken zu lassen. Dass das eines Tages dennoch geschehen wird, ergibt sich aus dem Sinn und der Aufgabe der Arno Schmidt Stiftung nahezu von selbst. Ich wenigstens will hoffen, dann keine Bücher mehr kaufen zu können.

Susanne Fischer: »Julia, laß das!« Arno Schmidts Zettelkasten zu Julia, oder die Gemälde. Berlin: Suhrkamp, 2021. Klappenbroschur, Fadenheftung, 146 Seiten. 30,– €.

Allen Lesern ins Stammbuch (146)

Die Guten lassen leider fast überall eine Sitte durchgehen, die eine saubere Buchkritik auf das schärfste kompromittiert. Es ist da ein Lobgehudel ausgebrochen, das jede Empfehlung wertlos macht: es gibt keinen Verlag mehr, der nicht für jedes seiner Bücher ein Zeugnis vorweisen kann, wie es Dante, Balzac, Strindberg, Tolstoi und Dostojewski zusammen nicht bekommen haben. Das ist leicht erklärlich: es gehört nämlich gar nichts dazu, leere Ballons aufzupusten – und nichts wiegt leichter als diese kleinen Lobeshaufen, die man an jeder Straßenecke zusammenfegen kann. Da schreibt jeder über jedes, da wissen alle alles – Aber es ist doch eine Lüge und ein Schwindel, wenn jede neue Verlagsentdeckung (»In Amerika 80000000000000 Exemplare verkauft«) vier, zehn, hundertundzehn Literaten findet, die nur darauf gewartet haben, dergleichen hochzuloben. Diese Snobs, die einen neuen Modeschriftsteller wie eine Krawatte tragen, sollte man nach Hause jagen – bald wird das Publikum auf kein Lob mehr hören und nichts mehr glauben, wenn man es so anlügt.

Gesammelte Werke, Bd. 6 (1928), S. 57.

Kurt Tucholsky
Auf dem Nachttisch

George Orwell: Reise durch Ruinen

Die Welt wird sich in drei Lager teilen, und letztlich werden davon zwei übrig bleiben, denn Großbritannien ist nicht stark genug, um allein zu stehen, und wird deshalb Teil des amerikanischen Systems werden. Die kleineren Nationen werden sich um die Großen gruppieren – entlang von Linien, die sich heute schon recht genau abzeichnen.

Orwell war, bevor er durch seine beiden späten Bücher berühmt wurde, schon länger als zehn Jahre unter anderem auch als Journalist tätig. Da er ein politisch interessierter Beobachter der europäischen Entwicklung war – im Gegensatz zu der Mehrheit der linken Intellektuellen Westeuropas hatte er ein sehr distanziertes Verhältnis zur Sowjetunion unter Stalin entwickelt –, war es nur natürlich, dass er sich im März 1945 im Auftrag des Observers mit den britischen Truppen auf den Kontinent begab, um im Rückraum der Front Eindrücke aus erster Hand zu sammeln und den englischen Zeitungslesern zu berichten.

Der vorliegende Band versammelt elf dieser Zeitungsberichte aus dem Jahr 1945 (nur einer davon beschäftigt sich speziell mit der Lage in Österreich), ergänzt um zwei Artikel von 1940 (über Hitlers Mein Kampf) und 1943 (über einen Band mit Essays von Thomas Mann) sowie einen abschließenden Essay zur aktuellen Weltlage, der zwar kurz vor dem Abwurf der ersten Atombombe am 6. August 1945 geschrieben wurde, aber dennoch eine sehr klarsichtige Analyse der politischen Weltlage liefert.

Die zehn Artikel zur Lage in Deutschland kreisen immer wieder um einige zentrale Themen:

  • Das Schicksal der Displaced Persons, also der nach Deutschland verschleppten Fremdarbeiter, die nun in ihre Länder zurückgeführt werden sollen, was in den letzten Kriegstagen eine nicht zu unterschätzende Aufgabe darstellt.
  • Die Schwierigkeit der Versorgung der Bevölkerung im kommenden Winter 1945/46, da es den Bauern an Arbeitskräften fehlt – die meisten deutschen Männer stehen noch im Feld oder sind Kriegsgefangene; die Zwangsarbeiter sind befreit und warten entweder auf ihren Rücktransport oder machen sich bereits selbstständig auf den Weg in ihre Heimat.
  • Die politischen Ansichten der Deutschen, speziell ihr Eindruck, dass die Alliierten nicht nach einem gemeinsamen Plan agieren und sich bald untereinander verstreiten werden. Er registriert bei den Deutschen immer erneut große Sympathien für die Briten und Amerikaner und Antipathie oder sogar Furcht vor den Franzosen und Russen. Er hält diese schiefe Wahrnehmung wohl zurecht für ein Hindernis bei der politischen Neugestaltung des Landes, für die zu dieser Zeit – der Krieg ist noch nicht zu Ende – noch keine offiziellen Pläne vorzuliegen scheinen.
  • Die herkulische Aufgabe des Wiederaufbaus Europas, wobei er nicht nur die zerstörten Städte Deutschlands im Blick hat, sondern auch die von den deutschen Streitkräften in England, Frankreich und Osteuropa hinterlassenen Zerstörung. Zu diesem Themenfeld gehören auch Überlegungen, dass eine Reorganisation der Industrie – zumindest soweit sie noch existiert – zu einer Friedenswirtschaft alles andere als rasch umzusetzen sein wird.

Trotz dieser natürlich durch Orwells unmittelbares Erleben bedingten thematischen Enge entsteht ein lebendiges Bild des Westens und Südwesten Deutschlands in den Wochen unmittelbar vor Kriegsende, in denen sich die Niederlage auch für die Deutschen schon klar abzeichnete. Für die wenigen Seiten, die der Band umfasst, ist er erstaunlich inhaltsreich und liefert zugleich einiges an Material zum Verständnis besonders von 1984.

George Orwell: Reisen durch Ruinen. Reportagen aus Deutschland und Österreich 1945. Aus dem Englischen von Lutz-W. Wolff. München: Beck, 2021. Bedruckter Pappband, 111 Seiten. 16,– €.