Fjodor M. Dostojewski: Aufzeichnungen aus dem Untergrund

Zum vorläufigen Abschluss meiner Dostojewskij-Lektüre noch einmal eine Rückkehr fast ganz zum Anfang: Im Januar 2019 hatte ich hier die vor der Reihe der letzten sechs Romane entstandenen Aufzeichnungen aus dem Kellerloch in der damals aktuellsten Übersetzung Swetlana Geiers besprochen. Dieser vergleichsweise kurze Text, der eine Mischung aus essayistischer Reflexion und fiktiver autobiografischer Erinnerung des Erzähler liefert, war bei seinem Erscheinen nur wenig beachtet worden und wurde in seiner Bedeutung als thematische Vorschule zahlreicher Themen, die dann in den „fünf Elefanten“ entfaltet werden sollten, erst viel später begriffen. Ich selbst habe es als die Eröffnung des psychologischen Labors Dostojewskijs bezeichnet.

Im Jubiläumsjahr legt nun Manesse in seiner Bibliothek eine Neu­über­set­zung des Textes durch Ursula Keller vor. Zum Inhalt des Buches sei auf die frühere Besprechung verwiesen; das muss hier nicht wiederholt werden. Was Stil und Wortwahl angeht, unterscheiden sich die beiden Über­­­set­­­zun­­gen allerdings deutlich. Gleich auf den ersten Blick erscheint die Übersetzung Kellers oft konkreter und bildhafter im Ausdruck:

Ich bin ein kranker Mensch … Ich bin ein böser Mensch. Ein abstoßender Mensch bin ich. Ich glaube, meine Leber ist krank. Übrigens habe ich keinen blassen Dunst von meiner Krankheit und weiß gar nicht mit Sicherheit, was an mir krank ist. Für meine Gesundheit tue ich nichts und habe auch nie etwas dafür getan, obwohl ich vor der Medizin und den Ärzten alle Achtung habe. Zudem bin ich noch äußerst abergläubisch, so weit z. B., daß ich vor der Medizin alle Achtung habe. (Ich bin gebildet genug, um nicht abergläubisch zu sein, aber ich bin abergläubisch.) Nein, meine Herrschaften, wenn ich für meine Gesundheit nichts tue, so geschieht das nur aus Bosheit. Sie werden sicher nicht geneigt sein, das zu verstehen. Nun, meine Herrschaften, ich verstehe es aber. Ich kann Ihnen natürlich nicht klarmachen, wen ich mit meiner Bosheit ärgern will, ich weiß auch ganz genau, daß ich nicht einmal den Ärzten dadurch schaden kann, daß ich mich nicht von ihnen behandeln lasse; ich weiß am allerbesten, daß ich damit einzig und allein mir selbst schade und niemandem sonst.
Und dennoch, wenn ich nichts für meine Gesundheit tue, so geschieht es aus Bosheit, und ist die Leber krank, dann mag sie noch ärger krank werden!

Geier, S. 7 f.

Ich bin ein kranker Mensch … Ich bin ein zorniger Mensch. Ein hässlicher Mensch bin ich. Ich glaube ich bin leberkrank. Eigentlich habe ich nicht die geringste Ahnung, woran ich erkrankt bin, und weiß nicht einmal sicher, worunter ich leide. Ich bin nicht in Behandlung und war auch nie in Behandlung, obwohl ich Medizin und Ärzten Respekt entgegenbringe. Zugleich bin ich über die Maßen abergläubisch; nun, wenigstens so sehr, dass ich der Medizin Respekt entgegenbringen. (Ich bin gebildet genug, um nicht abergläubisch zu sein, und doch bin ich abergläubisch.) Nein, mit Verlaub – ich will mich aus reinem Trotz nicht in Behandlung begeben. Und genau das werden sie wohl nicht verstehen wollen. Nun, aber ich verstehe es. Ich vermag Ihnen, selbstredend, nicht zu erklären, wem ich mit diesem Trotz das Leben schwer machen; ich weiß sehr genau, dass ich den Ärzten ja damit, dass ich nicht bei ihnen in Behandlung bin, «keinen Haufen vor die Tür» setze; ich weiß selbst am besten, dass sich mit alledem nur mir ganz allein schade und niemandem sonst. Und trotzdem – wenn ich nicht in Behandlung bin, so ist das reiner Trotz. Die Leber ist krank, soll sie doch noch kränker werden!

Keller, S. 9 f.

Von der Frage des zusätzlichen bzw. fehlenden Absatzes abgesehen, erscheint es schon als deutlicher Unterschied, ob der Erzähler sich aus Bosheit oder Trotz der ärztlichen Behandlung verweigert, ob er den Ärzten dadurch nicht schadet oder ihnen keinen Haufen vor die Tür setzt. Solche Unterschiede finden sich kontinuierlich durch den ganzen Text hindurch, begleitet von weiteren seltsamen Phänomenen wie zum Beispiel Klammern, die an unterschiedlichen Stellen des Textes geschlossen werden. Leider hindert mich meine Unkenntnis des Russischen daran, mehr zu tun, als auf diese durchaus eklatanten Unterschiede hinzuweisen. Ein kritisches Urteil muss andernorts gefällt werden. (Für Hinweise auf ein kompetentes Urteil sei gleich hier im Voraus gedankt!)

Wenigstens muss der Neuübersetzung von Ursula Keller attestiert werden, dass sie den Text an zahlreichen Einzelstellen und im Ganzen ver­ständ­li­cher und differenzierter zu übersetzen scheint, dass die durchweg außergewöhnlichen Gedankengänge des Erzählers in ihr weniger obskur und dunkel erscheinen.

Fjodor M. Dostojewski: Aufzeichnungen aus dem Untergrund. Aus dem Russischen von Ursula Keller. München: Manesse, 2021. Pappband, Fadenheftung, Lesebändchen, 312 Seiten. 25,– €.

Fjodor Dostojewskij: Die Brüder Karamasow

Meistens sind die Menschen, sogar Bösewichte, wesentlich naiver und einfältiger, als wir annehmen. Wir sind ja auch nicht anders.

Der letzte der „fünf Elefanten“, im Jahr 1880 als letzter und zugleich umfangreichster Roman Dostojewskijs erschienen. Die Handlung lässt sich in zwei klar voneinander zu unterscheidende Abschnitte teilen: Im ersten Abschnitt geht es hauptsächlich um den jüngsten der drei (eventuell auch vier) Brüder Karamasow, Alexej, der zu Anfang des Romans noch in einem Kloster in seiner Heimatstadt in der russischen Provinz lebt. Dort ist er Vertrauter und Faktotum eines Einsiedlers, um dessen letzte Lebenstage und Sterben die Ereignisse angeordnet sind. Dostojewskij schafft sich damit Gelegenheit, in ausführlicher Breite seine Sicht des russischen Christentums auszubreiten, er geht sogar soweit, dass das komplette sechste Buch der Lebensbeschreibung und den Ansichten des Einsiedler gewidmet ist. Aber auch hier lässt Dostojewskij wieder mehr als nur eine Stimme vernehmen: So wird die über den Roman hinaus bekannte Erzählung Der Großinquisitor in den Roman eingeflochten, die der zweitälteste Bruder Iwan Karamasow seinem jüngeren Bruder Alexej erzählt und die eine eher skeptische Sicht auf die Kirche allgemein, die römisch-katholische Kirche im Speziellen präsentiert.

Mit dem achten von zwölf Büchern beginnt dann die Geschichte Dmitrij Karamasows, des ältesten Bruders, der aus der ersten Ehe des Vaters Fjodor Pawlowitsch stammt. Dmitrij hat den unsteten Charakter seines Vaters geerbt, ist Soldat geworden und hat das Erbe seiner Mutter weitgehend durchgebracht. Er befindet sich mit dem Vater in einem Streit darüber, ob ihm aus diesem Erbe noch eine Restzahlung zusteht; außerdem konkurrieren die beiden Männer trotz ihrem unterschiedlichen Alter um dieselbe Frau, Gruschenka, die ihre Unabhängigkeit dadurch unter Beweis stellt, dass sie beide Bewerber auf Distanz hält. Dmitrij ist zudem verschuldet: Er hat Geld, das ihm seine ehemalige Verlobte – in die wiederum Iwan Karamasow unglücklich verliebt ist – anvertraut hat, veruntreut und damit ein rauschendes Fest mit der umworbenen Gruschenka finanziert, ohne dass ihn das seinem Ziel irgendwie näher gebracht hätte. Nun sucht er verzweifelt nach jemandem, der ihm 3.000 Rubel leiht, damit er dieses veruntreute Geld zurückgeben kann.

Es kommt nun zu einer Reihe von Ereignissen, in deren Verlauf der Vater Fjodor Karamasow erschlagen und beraubt wird, wobei eine überwältigende Kette von Indizien auf Dmitrij als den Täter hinweist: Er ist plötzlich wieder zu Geld gelangt, hat das Fest für Gruschenka wiederholt, war in der Nacht zuvor nachweislich zumindest im väterlichen Garten und hat dort flüchtend den alten Diener des Hauses niedergeschlagen. Dmitrij wird verhaftet, ausführlich befragt und schließlich angeklagt. Der Mordprozess bildet den Höhepunkt und Abschluss des Romans. Mehr muss hier gar nicht verraten werden.

Erzählerisch variiert Dostojewskij hier noch einmal das Erfolgsmuster aus Böse Geister: Ein Ich-Erzähler, der von Teilen der Handlung unmittelbarer Zeuge war, berichtet das Geschehen, wobei er wechselweise als auktorialer Erzähler oder distanzierter Beobachter auftreten kann. Nach einer langen Phase, die ganz anderen Themen gewidmet zu sein scheint und die nur ganz nebenbei die Kriminal-Handlung des zweiten Teils Stück für Stück vorbereitet, rückt ein Verbrechen und – diesmal – seine polizeiliche und juristische Behandlung in den Mittelpunkt, hier mit dem Schwergewicht auf dem Problem, das wirkliche Geschehen aus einer Reihe von Indizien herleiten zu können. Sowohl das Bild, das der Staatsanwalt von dem Geschehen entwirft, als auch die epistemische Kritik des Verteidigers an diesem Bild verfehlen das tatsächliche Geschehen, das dem Leser zwar mitgeteilt wird, in der Welt des Romans aber unbeweisbar bleibt. Besonders diese zweite Hälfte des Romans brilliert mit dem, was man Dostojewskijs „Psychologie“ zu nennen beliebt.

Insgesamt ein zu langer Roman, dem man aber dennoch eine gewisse Balance nicht ganz abstreiten kann. Während das Hauptthema des ersten Teils heute weitgehend obsolet geworden sein dürfte, ist der zweite Teil des Romans durchweg interessant, wenn hier auch einige Elemente deutlich zu dramatisch geraten sind. Allerdings ist der zweite Teil ohne die vorbereitenden Elemente des ersten nicht wirklich zu verstehen, so dass man nur die Wahl „ganz oder gar nicht“ hat.

Fjodor Dostojewskij: Die Brüder Karamasow. Aus dem Russischen von Swetlana Geier. Zürich: Ammann, 2003. Leinenband, Fadenheftung, 1279 Seiten. Lieferbar als Fischer Taschenbuch für 18,– €.

Stefan Heym: Flammender Frieden

Außerdem war er in sie verliebt, und diese Liebe war sein Untergang.

Anlässlich des heutigen 20. Todestags Stefan Heyms ist bei Bertelsmann sein zweiter Roman erstmals in deutscher Übersetzung durch Bernhard Robben erschienen. Of Smiling Peace wurde zuerst 1944 auf Englisch verlegt und konnte, obwohl offensichtlich auch diesmal auf eine Hollywood-Verfilmung hingeschrieben, an den Erfolg von Heyms Erstling Hostages (1942; auf Deutsch später: Der Fall Glasenapp) nicht anknüpfen. Als sein dritter Roman Crusaders (1948; deutsch jetzt Kreuzfahrer von heute, auch unter dem Titel Der Bittere Lorbeer) ein internationaler Erfolg wurde, ließ Heym die „Vorstudie“ von 1944 auf sich beruhen und unterband jede Neuausgabe oder Über­set­zung. So erscheint der Roman erst jetzt auf Deutsch und noch dazu in einer Über­set­zung von zweiter Hand. Aber zumindest dies letzte scheint ihm nicht geschadet zu haben.

Erzählt wird im Wesentlichen die Geschichte zweier Männer, deren Leben – leider – schicksalhaft miteinander verflochten sind: Einerseits der Wehrmachts-Major Ludwig von Liszt, andererseits der deutschstämmige Lieutenant Bert Wolff, der zusammen mit seinen Kameraden am 8. November 1942 an der Küste unweit von Algier anlandet. Die Einnahme von Algier und die Gefangennahme der deutschen Waf­fen­still­stands­kon­trol­leu­re, wie sich die deutschen Besatzer euphemistisch nennen, gelingt weitgehend problemlos, aber Liszt und sein Hauptmann Tarnowsky schlüpfen den Amerikanern durch die Finger. Liszt macht sich auf Richtung Osten, um zu den von Sizilien nach Tunesien verlegten Wehrmachtstruppen zu stoßen, was ihm unter abenteuerlichen Umständen auch gelingt, und auf diesem Weg zugleich einen großen Gegenschlag zu organisieren, der die US-amerikanischen Landungstruppen in einer Zangenbewegung aufreiben soll.

Natürlich lieben Liszt und Wolff dieselbe Frau (die im Schnellschuss-Verfahren zusammengezimmerte Beziehung zwischen Marguerite und Wolff gehört zu den peinlichsten Details des Romans), aber wenigstens im Roman bekommt sie keiner der beiden (das hätte man fürs Drehbuch ändern müssen), sondern sie heiratet am Schluss denjenigen von all den ihr zu Füßen herumkriechenden Männern, den sie am meisten verachtet.

Schon an diesem Detail merkt man, dass der Roman an einigen Klischees nicht vorbeikommt. Auch die weite Strecken des Buches bestimmenden Dialoge der zahlreichen Akteure untereinander sind zum Teil von einer Plattheit, die ihresgleichen sucht. Dafür ist die erzählerische Konstruktion, die die Geschichte bis zum Ende parallel in mehreren Strängen vorwärts treibt, durchaus souverän gehandhabt und zeigt eine gut geplante Struktur. Für ein schnell und auf ein breites Publikum hin geschriebenes Buch, das zudem erst den zweiten Roman des Autors darstellt, verdient es durchaus Respekt, auch wenn sich Begeisterung wohl nur bei echten Heym-Fans einstellen wird. Das Nachwort fasst es so zusammen:

In bester amerikanischer Erzähltradition gleichermaßen spannend wie unterhaltsam komponiert, legt Heym mit seinem Flammenden Frieden den Finger in eine Wunde, die bis heute nicht verheilt ist.

S. 477

Ein wenig besser ist es schon, aber nicht viel.

Stefan Heym: Flammender Frieden. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. München: Bertelsmann, 2021. Pappband, 477 Seiten. 24,– €.

Allen Lesern ins Stammbuch (148)

Der […] Leser hat das Buch für baares Geld gekauft und fragt, was ihn schadlos hält? – Meine letzte Zuflucht ist jetzt, ihn zu erinnern, daß er ein Buch, auch ohne es gerade zu lesen, doch auf mancherlei Art zu benutzen weiß. Es kann, so gut wie viele andere, eine Lücke seiner Bibliothek ausfüllen, wo es sich, sauber gebunden, gewiß gut ausnehmen wird. Oder auch er kann es seiner gelehrten Freundin auf die Toilette, oder den Theetisch legen. Oder endlich er kann ja, was gewiß das Beste von Allem ist und ich besonders rathe, es recensiren.

WWuV I. Zürich: Haffmans, 1988. S. 13.

Arthur Schopenhauer
Die Welt als Wille und Vorstellung

Zum 200. Geburtstag von Gustave Flaubert

Ich habe (wenn Du meine innerste und offene Meinung wissen willst) nichts geschrieben, was mich voll und ganz befriedigt. Ich habe in mir – und zwar sehr deutlich, glaube ich – ein Ideal (entschuldige das Wort), ein Stilideal, dessen Verfolgung mich ohne Unterlaß keuchen läßt. Deshalb ist Verzweiflung mein normaler Zustand. Ich brauche eine heftige Ablenkung, um aus ihr herauszukommen. Außerdem bin ich von Natur aus nicht fröhlich. Niedrig, possenhaft und obszön so viel Du willst, aber trotzdem immer finster. Kurz, das Leben geht mir herzlich auf die Nerven. Da hast du mein Glaubensbekenntnis.

Flaubert: Briefe. Zürich: Diogenes, 1977. S. 392.

Gustave Flaubert
an Ernest Feydeau, Anfang August 1857

Thomas Bernhard: Die Autobiographie

… aber hier wird auf das Kopfschütteln, gleich auf welcher Seite und mag sie sich als die kompetenteste ansehen, keinerlei Rücksicht genommen.

Zwischen 1975 und 1982 sind fünf au­to­bio­gra­phisch unterfütterte Erzählungen von Thomas Bernhard erschienen, die 2004 innerhalb der Werkausgabe bei Suhrkamp erstmals in einem Band, dem Band 10 unter dem herausgeberischen Titel Die Autobiographie zusammengefasst wurden. Die Herausgeber dieses Bandes stellen selbst fest, dass der gewählte Titel nicht durch irgend eine Äußerung des Autors gestützt werden kann. Es soll hier nicht diskutiert werden, inwieweit dieser neue Titel und die neue Form die Wahrnehmung und das Verständnis dieser Erzählungen beeinflussen, denn dazu wäre als Vergleichsgröße eine Dokumentation des Verständnisses eines Lesers vonnöten, der die Erzählungen etwa kontinuierlich mit ihrem Erscheinen gelesen hätte; allein schon das wäre wohl weit von jeder Realisierbarkeit entfernt. Doch genug des Nominalstils.

Die Reihe der Erzählungen beginnt mit der Internatszeit Bernhards in den letzten Kriegs- und ersten Nachkriegsmonaten in Salzburg. Der Ich-Erzähler leidet sowohl unter dem Regiment des faschistischen Direktors Grünkranz als auch seines katholischen Nachfolgers „Onkel Franz“. Dieser erste Band, Die Ursache. Eine Andeutung (1975) endet mit dem Entschluss des Erzählers das Gymnasium zu verlassen und eine Lehre bei einem Lebensmittel-Händler zu beginnen. Der Keller. Eine Entziehung (1976) knüpft direkt an dieses Ende an und verfolgt die Lebensgeschichte weiter bis zum Abbruch der Lehre durch eine Lungenerkrankung, die sich der Erzähler beim Abladen einen Fuhre Kartoffeln im Regen zugezogen hat. Der Atem. Eine Entscheidung (1978) berichtet vom sich anschließenden Klinikaufenthalt, Die Kälte. Eine Isolation (1981) von der nachfolgenden Kur. Der letzte Band Ein Kind (1982) springt chronologisch in die Zeit vor Die Ursache und beginnt mit einer Radtour, die der Erzähler als Achtjähriger ohne die Erlaubnis seiner Mutter nach Salzburg unternommen hat, auf der er aber verunglückt, ohne sein Ziel zu erreichen. Nimmt man den erzählerischen Anspruch für einen Moment ernst, so erzählt Bernhard hier sein Leben einigermaßen kontinuierlich zwischen dem achten und dem neunzehnten Lebensjahr nach.

Dabei sind alle fünf Erzählungen beherrscht vom Ton und der Geisteshaltung des erwachsenen Erzählers, seinem durchgehenden Ressentiment eines Außenseiters gegen die Gesellschaft, den Menschen schlechthin, die Österreicher und die Salzburger im speziellen, dem unvergessenen und unverziehenen Leid des von einem ambitionierten Großvater durch diverse Künste (Geigenspiel, Gesang, Malerei) getrieben Kindes, das zusätzlich unter dem Druck einer ihm in Hass-Liebe zugetanen Mutter leidet und keinen heimischen Ort in der Welt finden kann. Die Texte sind einerseits durchaus bewegend, andererseits in der typischen Bernhardschen Manier nervtötend und penetrant. Bernhard zelebriert in dem Kind und Jugendlichen, von dem er erzählt, seine Verletztheit, Einsamkeit und Misanthropie. Es fehlt diesen Büchern in weiten Teilen der sonst oft bei ihm vorherrschende bissige oder auch zynische Humor, der hier ersetzt wird durch ein eher unverstelltes, aber distanziert geschildertes Mitleid mit sich selbst als Kind. Diese größere Unmittelbarkeit sollte einen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch diese Texte hoch stilisiert sind, dass die permanenten Wiederholungen, Reformulierungen und Variationen (die durchaus auch als musikalisches Element verstanden werden können) eine mehrfache Überschreibung des Erinnerten durch einen dies Erinnern instrumentalisierenden Erzähler darstellen.

Die fünf Erzählungen bilden einen guten Einstieg in den Bernhardschen Kosmos: Wer ausprobieren möchte, ob er mit Bernhards Stil zurecht kommt, kann es mit irgendeinem der Bände probieren; vielleicht ist Die Ursache der beste Prüfstein. Es ist aber nicht notwendig, bei der Lektüre die innere Chronologie oder die der Veröffentlichung einzuhalten.

Thomas Bernhard: Die Autobiographie. Werke Bd. 10. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2004. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen. 582 Seiten. 42,– €.

Allen Lesern ins Stammbuch (147)

Betrachtet man die Mehrzahl der beklagenswerthen Köpfe, welche heut zu Tage die belletristischen Recensenten spielen, und sie bloß deshalb spielen können, weil das Drucken eben so leicht geworden ist, als in einer Thee-Versammlung den Mund aufzuthun und zu schwatzen, so begreift es sich, wie diese Leute, wo sie eine Autorität sehen, derselben durch Dick und Dünn nachfolgen, wie die Esel einem vorgehaltenen Bündel von Disteln. […] Großentheils bestehen die ästhetischen Recensenten, Referenten, die romantischen Erzähler, die Dichterlinge, aus überspannten Menschen, welche dadurch zu ihren Kritiken und Productionen gelangt sind, daß sie in der Jugend echte Bildung versäumten, lieber Romane lasen als Kunst und Wissenschaft studirten, und daß sie jetzt, wo sie nirgends nütz und einheimisch sind, sorgen müssen, durch armseelige Productionen ihr bischen Brod zu verdienen. Wären unter diesem Volke nur noch Genie oder Gedanken, die Geist verriethen, man verziehe ihm die albernen und leider so oft lügenhaften Faseleien. Das Gesindel hätte denn doch den Geschmack ausbilden sollen, weil Jeder, der nicht ganz bornirt ist, das kann. Dieses geht bei einigem Fleiße. Aber man lese, man spreche die Leute, – (Gott behüte mich davor, ich habe Beispiele,) schwerlich 12 unter ihnen, die nicht nach alter Weise frech über Homer, Sophokles, Dante, Shakspeare, Schiller, Goethe ableierten, ohne die Schriftsteller selbst zu kennen, – schwerlich 6 belletristische Blätter in denen nicht jedesmal auf der 3ten Seite ein grober Schnitzer gegen Kunst oder Wissen enthalten wäre. Ein Journal über die Journale, welches deren Fehler aufzeichnete, würde dicker als manches der besten derselben. Bloß Journalliteratur ist die Wissenschaft der meisten Journalcorrespondenten, – der Leser hat in der Regel etwas Ernsthafteres zu thun, als weitläuftig ihren Fehlern und Lügen nachzuspüren, – er nimmt ihre Aussagen als ein Amusement auf Glauben an. Ein schlechtes Amusement verdirbt aber zuletzt den Geist auch.

HKA IV, S. 106 f.

Christian Dietrich Grabbe
Etwas über den Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe

Masato Tanaka / Tetsuya Saito: Das illustrierte Kompendium der Philosophie

Die Philosophie ist ihrer Natur nach etwas Esoterisches, für sich weder für den Pöbel gemacht noch einer Zubereitung für den Pöbel fähig; sie ist nur dadurch Philosophie, daß sie dem Verstande und damit noch mehr dem gesunden Menschenverstande, worunter man die lokale und temporäre Beschränktheit eines Geschlechts der Menschen versteht, gerade entgegengesetzt ist; im Verhältnis zu diesem ist an und für sich die Welt der Philosophie eine verkehrte Welt.

Georg Wilhelm Friedrich Hegel

Einführungen in die Philosophie, besonders solche, die für den allerersten Einstieg des Laien geschrieben wurden, ist nur sehr schwierig gerecht zu werden: Diejenigen, für die sie geschrieben sind, können sie offensichtlich nicht beurteilen, und diejenigen, die sie beurteilen können, gehören offensichtlich nicht zur Zielgruppe. Hinzukommt, dass selbst unter Fachleuten nicht nur in den Feinheiten der Interpretation Uneinigkeit herrscht, sondern solche Verwerfungen – die auch für den Einsteiger nicht unbedeutend sind – bereits in ganz grundsätzlichen Auffassungen bestehen können. Von daher dürften solche Einführungen immer in der Kritik stehen, je mehr, je spezifischer das Verständnis der verhandelten Sache beim Rezensenten ist.

Das vorliegende Buch ist eine Einführung in die Philosophiegeschichte und arbeitet in der Hauptsache mit Graphiken, die durch eine Reihe von kurzen , schlicht gehaltenen Erläuterungen begleitet werden.

© Aufbau Verlag
© Aufbau Verlag

Was macht man nun mit sowas? Einerseits sind wesentliche Elemente des Höhlengleichnisses getroffen: Die in der Höhle Gefangenen, deren Welt die an die Höhlenwand geworfenen Schatten sind, der Höhlenausgang, durch den man zur Erkenntnis der Wirklichkeit gelangen kann, sogar ein Rudiment des Sonnengleichnisses ist vorhanden. Andererseits werden bei Platon die schattenwerfenden Gegenstände von hinter einer Mauer verborgenen Trägern (welchen ontologischen Status mögen diese Träger haben?) vor einem Feuer vorbeigetragen, und natürlich kommt in Platons Höhle kein Teufel vor, der den unbedarften Leser vermuten lassen muss, dass es sich bei dieser Einrichtung um eine Art von transzendenter Verschwörung gegen die Menschheit handelt. Nach Betrachtung der beiden Seiten weiß der Leser ungefähr – und wirklich nur so ungefähr – so viel wie nach der Lektüre der ersten Absätze des Siebten Buchs von Platons Der Staat:

»Stelle dir Menschen vor, etwa in einer unterirdischen, höhlenartigen Behausung mit einem Ausgang, der sich über die ganze Breite der Höhle zum Tageslicht hin öffnet; in dieser Höhle sind sie von Kindheit an, gefesselt an Schenkeln und Nacken, so dass sie an Ort und Stelle bleiben müssen und nur geradeaus schauen können; den Kopf können sie wegen der Fesseln nicht herumdrehen; Licht erhalten Sie durch ein Feuer, dass hinter ihnen weit oben in der Ferne brennt; zwischen diesem Feuer und den Gefesselten führt oben ein Weg; an ihm entlang stelle dir einen niedrigen Maueraufbau vor, ähnlich wie Schranken bei den Gauklern vor den Zuschauern errichtet werden, über die hinweg sie ihre Kunststücke zeigen.«
»Ich sehe es vor mir«, sagte er.
»Stelle dir nun längs dieser Mauer Menschen vor, die allerlei Geräte vorbeitragen, die über diese Mauer hinausragen, Statuen von Menschen und anderen Lebewesen aus Holz und Stein und allen möglichen Erzeugnisse menschlicher Arbeit, wobei die Vorbeitragenden, wie es natürlich ist, teils reden, teils schweigen.«
»Ein seltsames Gleichnis und seltsame Gefesselte, von denen du da sprichst«, sagte er.

Platon: Der Staat, 514a ff.
(Trad. Gernot Krapinger)

Sprich: Er weiß, dass es bei Platon ein Höhlengleichnis gibt. Zusätzlich verfügt er über eine Reihe falscher Vorstellungen und hat keine Ahnung, wozu dieses Gleichnis überhaupt dienen soll. Denn wie häufig zeigt das Gleichnis allein nicht, was es eigentlich bedeuten soll.

Leider ist das auf den anderen Seiten auch nicht viel besser. Dort wo traditionelle Einführungen in die Philosophie notwendig oberflächlich sein müssen, ist hier auch diese Oberflächlichkeit noch oberflächlich geraten. In der Sache ist dieses Buch ein feuchter Teller, der sich als Vorspeise ausgibt. Nützlich könnte das Buch allein in einem didaktischen Umfeld sein, also für einen Lehrer der Philosophie, der sich hier Anregungen für eine graphische Unterstützung seines Unterrichts holen könnte.

Masato Tanaka / Tetsuya Saito: Das illustrierte Kompendium der Philosophie. Berlin: Blumenbar, 2021. Bedruckter Pappband, Lesebändchen, 352 Seiten. 26,– €.

Zum 200. Geburtstag von Fjodor M. Dostojewskij

»Mein Freund, die Menschen so zu lieben, wie sie sind, ist unmöglich. Das ist aber geboten. Deshalb tu ihnen Gutes, nimm dich zusammen, halt dir die Nase zu und schließe die Augen (das letzte ist unumgänglich). Ertrage das Böse, was sie dir antun, nach Möglichkeit, ohne es ihnen übelzunehmen, eingedenk dessen, daß auch du Mensch bist. Selbstverständlich behandelst du sie mit der gebotenen Strenge, wenn du auch nur um ein weniges klüger bist als das Mittelmaß. Die Menschen sind ihrer Natur nach niedrig und lieben am liebsten aus Furcht; laß dich zu einer solchen Liebe nicht herab, und gib die Verachtung nicht auf. Irgendwo im Koran befiehlt Allah dem Propheten, die ›Ruchlosen‹ nicht anders als Mäuse anzusehen, ihnen Gutes zu tun und achtlos an ihnen vorüberzugehen – ein wenig überheblich, aber richtig. Übe dich in Verachtung selbst dann, wenn sie gut sind, denn meistens sind sie gerade dann auch schlecht. Oh, mein Lieber, ich sage das, weil ich von mir auf andere schließe! Wer nur nicht hoffnungslos dumm ist, der kann nicht leben, ohne sich selbst zu verachten, ob Ehrenmann oder ehrlos – ganz egal. Seinen Nächsten zu lieben, ohne ihn zu verachten – das ist unmöglich. Meiner Meinung nach ist der Mensch mit der physischen Unmöglichkeit erschaffen, seinen Nächsten zu lieben. Hier steckt von Anfang an ein Fehler in der Wortwahl, und ›Liebe zur Menschheit‹ bezieht sich nur auf jene Menschheit, die du dir selbst in deiner Seele erschaffen hast (mit anderen Worten, auf dich selbst und auch auf die Liebe zu dir selbst) und die deshalb niemals Wirklichkeit werden wird.«

Fjodor M. Dostojewskij
Ein grüner Junge

Gustave Flaubert: Memoiren eines Irren

Es wäre ein Fehler, in all dem hier etwas anderes zu sehen als die Nörgeleien einen armen Irren. Ein Irrer!
Und Sie, Leser – Sie haben vielleicht vor kurzem geheiratet oder Ihre Schulden bezahlt?

Nachdem ich Elisabeth Edls Übersetzung der Éducation sentimentale vorerst übersprungen habe – zum einen, weil es zeitlich nicht passte, zum anderen aber sicherlich auch, weil ich über die Übersetzung des Titels mit Lehrjahre der Männlichkeit doch etwas erschrocken war –, folgt nun also, im Jahr seines 200. Geburtstages, die Neuübersetzung von Flauberts erstem ernsthaften Versuch, einen Roman zu schreiben. Der Text, der keine 100 Druckseiten umfasst, ist zu Lebzeiten des Autors nicht veröffentlicht worden, und man darf davon ausgehen, dass sich Flaubert seiner Schwächen sehr bewusst war.

… Mir ist alles so zuwider, dass ich einen tiefen Ekel davor empfinde weiterzuschreiben, nachdem ich das Vorangehende gelesen habe.
Können die Werke eines gelangweilten Mannes die Leser amüsieren?

S. 40

Aber natürlich zeigt sich die Wichtigkeit eines Autors eben auch darin, dass nach seinem Tod sein Nachlass herausgegeben wird.

Im Falle der Memoiren eines Irren geschah dies zuerst Ende 1900, 20 Jahre nach dem Tod Flauberts. Die Erzählung, die nur ehrenhalber die Bezeichnung Roman verdient, ist deshalb interessant, weil hier schon einige der Motive durchgespielt werden, die in den späteren Werken eine Rolle spielen. Zentral dürfte dabei die Beschreibung der ersten Verliebtheit des Erzählers in eine ältere, verheiratete Frau sein, die deutlich auf die Liebe Frédéric Moreaus aus L’Éducation sentimentale vorausweist. Außer diesen einzelnen Motiven ist der Text weitgehend lamoyant, verbunden mit einer für einen 17-Jährigen doch recht künstlichen Welt- und Menschenfeindlichkeit. Der Erzähler tut sich selbst unendlich leid, was den Leser ungefähr so kalt lässt, wie es Flauberts spätere Erzähler sind. Literarisch ist das beste am Text, dass er nicht länger ist.

Um dem Band etwas mehr Umfang zu geben, hat man eine Auswahl früher Briefe Flauberts hinzugefügt, die – wie Flauberts Briefe überhaupt – immer interessant und lebendig sind. Die wichtigste Stelle im Buch aber ist diese:

Wolfgang Matz hat auch diesen Band als Lektor begleitet; dass er der Einladung folgte, zum (wenigstens vorläufigen) Abschluss dieser Flaubert-Jahre auch das Nachwort beizusteuern, …

S. 200

Es wird also auf absehbare Zeit keine Übersetzung von Bouvard et Pécuchet durch Elisabeth Edl geben. Fassen wir uns also in Geduld.

Gustave Flaubert: Memoiren eines Irren. Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Edl. München: Hanser, 2021. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 240 Seiten. 28,– €.