P.G. Wodehouse: Jetzt oder nie!

wodehouse_jetztWieder ein Band in der guten Übersetzung von Thomas Schlachter, von der andere  hier schon vorgestellt wurden.  Er ist nach dem bewährten Strickmuster Wodehouses geschrieben: Ein begrenztes Personal wird auf einem Landsitz – diesmal Claines Hall in Sussex – versammelt, eine Anzahl einer widersprechender Interessen ins Werk gesetzt und dann konsequent ein Reigen der Verwirrungen und Verwechslungen durchgeführt. Der Landsitz gehört in diesem Fall Mable und Howard Steptoe, einem amerikanischen Ehepaar. Mable versucht mit einigem Aufwand vom lokalen Adel anerkannt zu werden, während sich Howard, ein ehemaliger Boxer und Filmstatist, sich in England denkbar unwohl und fehl am Platz fühlt. Mable versucht ihren Gatten mithilfe eines Kammerdieners zur Gesellschaftsfähigkeit zu erziehen, hat damit aber nur begrenzten Erfolg, da Howard einen Diener nach dem anderen vergrault. Auf dem Landsitz leben außerdem noch Sally Fairmile, eine verarmte Nichte der Steptoes, die die Stelle einer unbezahlten Bediensteten ausfüllt, Mrs Chavendar, eine Freundin Mables, und Lord Holbeton, der sich gerade heimlich mit Sally verlobt hat. Holbeton steht nach dem Tod seines Vaters unter der Vormundschaft von James Duff, eines Londoner Schinkenfabrikanten, der zudem noch vor 15 Jahren mit Mrs Chavendar verlobt war.

Alles beginnt nun damit, dass sowohl Mrs Chavendar als auch Sally die Büroräume James Duffs aufsuchen, jene, um sich über die Ungenießbarkeit des Duffschen Premium-Schickens zu beschweren, diese, um Duff über die Verlobung in Kenntnis zu setzen und nach Möglichkeit ein bisschen Geld aus dem alten Herrn herauszubetteln. Beide Damen treffen aber hauptsächlich auf Joss Weatherby, einem von James Duff beschäftigten jungen Malers, der einerseits Duff das Leben gerettet, andererseits Mrs Chavendar porträtiert hat. Joss verliebt sich Knall und Fall in Sally, von der er unter anderem erfährt, dass sie wieder einmal auf der Suche nach einem neuen Kammerdiener für Howard Steptoe ist. Joss erkennt darin eine Chance, Sally den Hof zu machen und fährt sofort nach Claines Hall, um sich auf die Stelle zu bewerben. Duff dagegen setzt es sich in den Kopf, das in Caines Hall befindliche Porträt Mrs Chavendars in seinen Besitz zu bringen, um dieses Konterfei zu Werbezwecken für seine Schinken einzusetzen. Auch er macht sich daher nach Sussex auf und stiftet vor Ort sowohl Sally und Lord Holbeton als auch Joss dazu an, das Bild zu stehlen.

Aus dieser Konstellation heraus entwickelt Wodehouse eine seiner routinierten Prosakomödien, deren Motive der Wodehouse-Kenner sicherlich schon aus dem einen und anderen kennen wird. Dennoch eine angenehme und elegante Lektüre für Zwischendurch.

P.G. Wodehouse: Jetzt oder nie! Mit einem Nachwort von Evelyn Waugh. Aus dem Englischen von Thomas Schlachter. Suhrkamp Taschenbuch 3774. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2006. 235 Seiten. 7,90 €.

Joseph Conrad: Jugend / Herz der Finsternis / …

conrad_jugend … Das Ende vom Lied. Drei Erzählungen Joseph Conrads, die in dieser Zusammenstellung zum ersten Mal 1902 erschienen sind. In dem mitgelieferten Vorwort Conrads aus dem Jahr 1917 weist der Autor jegliche Idee einer zyklischen Anlage der Sammlung zurück und betont, dass die Texte nur aufgrund ihrer in etwa zeitgleichen Entstehung zusammengehören. Karriere gemacht hat bekanntlich Herz der Finsternis, das spätestens durch die freie Variation in Apocalypse Now in der westlichen Kultur Kultstatus bekommen hat.

Allerdings lag bislang keine wirklich gute Übersetzung vor. Ich selbst hatte mir nach der ersten Lektüre der englischen Originale Conrads eigentlich vorgenommen, keine weiteren Übersetzungen seiner Bücher ins Deutsche zu lesen. Doch als mir letztens von meinem Buchhändler der hier vorgestellte Band in die Hand gedrückt wurde, war ich erstaunt, wie genau der Ton der ersten Seite von Herz der Finsternis meiner Erinnerung an das Original entsprach. Dieser erste Eindruck hat sich gehalten: Die Übersetzungen haben durchgängig ein hohes Niveau und ein genaues Gespür für die von Conrad tonal erzeugten Stimmungen. Das lässt sich natürlich nicht in allen Fällen nachbilden, ist aber hier besser gelungen, als ich es bislang in irgend einer der älteren Übersetzungen gefunden habe.

Die beiden ersten Erzählungen haben eine Rahmenerzählung, in der Conrads Erzählerfigur Marlow in einem Kreis Londoner Bekannter eigene Erlebnisse berichtet: Jugend von seiner ersten Fahrt als Zweiter Offizier auf einem heruntergekommenen Frachter, der schließlich auf hoher See Opfer eines Schwelbrandes in der Ladung wird, Herz der Finsternis von seiner Zeit als Kapitän auf dem Kongo und seiner Begegnung mit dem Handelsagenten Kurtz, der – halb wahnsinnig, halb hybrider Philosoph – im Kern die Faszination und begriffliche Hilflosigkeit der Weißen angesichts der Konfrontation mit dem schwarzen Kontinent widerspiegelt.

Die wohl insgesamt weniger bekannte Erzählung Das Ende von Lied (deren Originaltitel The End of the Tether den sprichwörtlichen Geduldsfaden mit ins assoziative Spiel bringt), ist die Geschichte des alternden Kapitän Whalley, der sich, um seine verheiratete Tochter finanziell unterstützen zu können, noch einmal für drei Jahren als Kapitän verpflichtet. Dies erweist sich für ihn als ein Wettlauf mit der Zeit und der eigenen Gesundheit. Diese Erzählung kann als ein Musterstück retardierenden Erzählens gelesen werden, denn die Fabel bleibt wesentlich anekdotisch und ließe sich ohne großen Verlust auf zwei Seiten zusammenfassen. Doch die ausführliche Beschreibung zahlreicher Nebenfiguren, ihrer Motive und Geschichte sowie die beinah quälende Verzögerung der Auflösung des Rätsels um Kapitän Whalley machen diesen Text mit beinahe 130 Seiten zum längsten des Bandes.

Wer mit der Lektüre Conrads beginnen möchte, dem sei dieser Band ans Herz gelegt; die anderen, die Conrad nicht im Original lesen, mögen hier nachschauen, was einem sorgfältigen Übersetzer im Deutschen möglich ist.

Joseph Conrad: Jugend / Herz der Finsternis / Das Ende vom Lied. Aus dem Englischen von Manfred Allié. Frankfurt/M.: S. Fischer, 2007. Pappband, Lesebändchen, 379 Seiten. 19,90 €.

Allen Lesern ins Stammbuch (20)

Heute lag die Abrechnung der VG Wort für das Jahr 2007 mit beigefügtem Scheck im Briefkasten.

Ich veröffentlichte zu meinem vierzigsten Geburtstag eine Berechnung darüber, daß ich bis dahin aus meiner Literatur – „aus der gesamten Holz- und Faserindustrie“ – insgesamt im Durchschnitt monatlich 4,50 Mark verdient hätte, und damit war ich in mehrere europäische Sprachen übersetzt, heute wäre der Durchschnitt etwas höher, aber zum Leben auch unter den einfachsten Bedingungen zu gering.

Gottfried Benn

Alan Bennett: The Uncommon Reader

bennett_reader Der Titel spielt auf eine im angelsächsischen Raum recht bekannte zweibändige Essaysammlung Virginia Woolfs an, die The Common Reader überschrieben ist, was wiederum ein Ausdruck Dr. Johnsons ist. Im Mittelpunkt von Bennetts Erzählung steht nun allerdings eine äußerst ungewöhnliche Leserin: Queen Elizabeth II., die beim Gassigehen mit ihren Corgis hinter ihrem Palast zufällig auf einen Bücherbus stößt, der die Dienerschaft ihrer Majestät mit Lesestoff versorgt. Höflich, wie sie ist, betritt sie den Bus und trifft dort auf einen ihrer Küchenjungen, Norman Seakins. Und da sie nun einmal die Gelegenheit hat, entleiht sie als weiteres Zeichen ihrer königlichen Gnade einen Roman von Ivy Compton-Burnett, an deren Adelung sich die Königin noch gut erinnern kann.

Dies ist der Beginn einer neuen Beschäftigung der Queen: Zum ersten Mal seit vielen, vielen Jahren liest sie einen Roman, liest einfach nur, um zu lesen. Der junge Norman Seakins wird zum Pagen befördert und mit den königlichen Lektürewünschen betraut. Und Elisabeth II. wird zu einer leiderschaftlichen Leserin; bald sind ihr die öffentlichen Obliegenheiten und Repräsentationspflichten nur mehr lästig, und ihre Majestät kehrt bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu ihren Büchern zurück. Und als sei all dies nicht schon schlimm genug, denkt sie schließlich darüber nach, selbst ein Buch zu schreiben, etwas im Stil Prousts vielleicht …

Diese kleine Erzählung hat einen wundervollen Humor und transportiert auf ihren etwa 120 Seiten viele Erfahrungen, die jeder ernsthafte Leser im Verlauf seiner Lesegeschichte auch selbst gemacht hat. Sowohl der Widerstand des Hofstaates gegen das veränderte Verhalten der Königin, als auch das gänzliche Unverständnis der königlichen Familie, bieten einen wundervoll ironischen Blick auf das Haus Windsor – besonders Prinz Philip hat mir viel Freude gemacht:

‘We have a travelling library,’ the Queen said to her husband that evening. ‘Comes every Wednesday.’
‘Jolly good. Wonders never cease.’
‘You remember Oklahoma?’
‘Yes. We saw it when we were engaged.’ Extraordinary to think of it, the dashing blond boy he had been.
‘Was that Cecil Beaton?’ said the Queen.
‘No idea. Never liked the fellow. Green shoes.’
‘Smelled delicious.’
‘What’s that?’
‘A book. I borrowed it.’
‘Dead, I suppose.’
‘Who?’
‘The Beaton fellow.’
‘Oh yes. Everybody’s dead.’
‘Good show, though.’
And he went off to bed glumly singing ‘Oh, what a beautiful morning’ as the Queen opened her book.

Das Büchlein erscheint im August in deutscher Übersetzung unter dem Titel Die souveräne Leserin bei Wagenbach.

Alan Bennett: The Uncommon Reader. London: Faber and Faber, 2008. Paperback, 121 Seiten. Ca. 11,– €.

Charles Dickens: Harte Zeiten

dickens_harte_zeiten Harte Zeiten ist 1854 im Anschluss an Bleakhaus entstanden. Erzählt wird hauptsächlich die Geschichte des Geschwisterpaares Louisa und Tom Gradgrind, die von ihrem Vater nach einem streng rationalen Programm erzogen werden: Fantasie, Märchen, überhaupt Gefühle aller Art sind verpönt, stattdessen werden die Wissenschaften, insbesondere aber Mathematik – genauer: die Statistik – und Logik hoch gehalten. Die Kinder geraten dementsprechend: Louisa heiratet den Bankier und Webereidirektor Josiah Bounderby, der ihr gänzlich gleichgültig ist, weil sie hofft, damit ihrem Bruder Tom das Leben erleichtern zu können, der in Bounderbys Bank als Angestellter beschäftigt ist. Tom verfällt aber, sobald er dem väterlichen Regime entflohen ist, nahezu sofort der Spielleidenschaft und häuft rasch drückende Schulden an.

In dieser Situation kommt der weltgewandte, aber tief gelangweilte Dandy James Harthouse nach Coketown, einer kleinen, fiktiven Industriestadt, in der der Roman spielt, um sich um einen Parlamentssitz in der Gegend zu bewerben. Er wird als Parteifreund auch im Hause Bounderbys empfangen und entschließt sich gleich bei ihrer ersten Begegnung, Louisa zu verführen. Um ihr Vertrauen zu gewinnen, kümmert er sich um den haltlosen Tom, der gerade zu dieser Zeit einen Einbruch in die Bank vortäuscht, um seine eigene Veruntreuung zu vertuschen. Harthouse nimmt sich Toms als vorgeblicher Freund an, um sich das Vertrauen Louisas zu erwerben, die sich schließlich vor seinen Verführungskünsten, denen sie ebenso wenig entgegenzusetzen hat wie ihren eigenen Gefühlen für diesen Mann, verzweifelt ins elterliche Heim flüchtet. Am Ende scheitern beide Geschwister: Tom muss ins Ausland fliehen, wo er im Elend stirbt, und Louisa wird von ihrem scheinheiligen und angeberischen Ehemann verstoßen und geschieden.

Als Nebenstrang dient die Geschichte Stephen Blackpools, eines Coketowner Arbeiters, der vom Schicksal arg gebeutelt wird: Seine Frau ist Alkoholikerin, die Frau, die er liebt, Rachael, ist genau wie er selbst zu moralisch, um eine außereheliche Beziehung zu beginnen, er ist ein Außenseiter unter den Arbeitern, da er nicht bereit ist, sich ihrem Arbeitskampf anzuschließen und schließlich wird er von seinem Chef Bounderby auch noch entlassen, weil der Blackpools Einstellung nicht versteht. So verlässt Blackpool die Stadt, nicht ohne dass Tom zuvor durch einen kleinen Trick den Verdacht auf ihn lenkt, für den Bankraub verantwortlich zu sein. In dieser Nebenhandlung kommen nicht nur die nicht nur für Dickens typischen aufrechten, hoch moralischen und bitter armen Idealtypen vor, sondern sie wird von ihm auch dazu benutzt, ein erschreckendes Bild von der Industriearbeit seiner Zeit zu zeichnen. Ergänzt wird dieses Bild durch die Figur Slackbridge, der als gewerkschaftlicher Redner und Arbeiterführer an zwei Stellen zu Wort kommt. Dickens ist für die Figur Slackbridges zu Recht scharf kritisiert worden, da er mit seinen letztlich naiven Gutmenschen Blackpool und Rachael die soziale und gesellschaftliche Problematik seiner Zeit eindeutig unterläuft.

Besonders der erste Teil des Romans lebt von Dickens scharfer und witziger Satire gegen den Glauben an eine reine Rationalität, wie sie im Utilitarismus Jeremy Benthams oder John Stuart Mills zum Ausdruck kommt. Sicherlich spitzt Dickens Musterfamilie Gradgrind die Thesen der Utilitaristen polemisch zu, aber der Kritik, die aus den von Dickens aufgezeigten Konsequenzen einer seelen- und mitleidslosen Rationalität folgt, kann sich der Utilitarismus nur schlecht entziehen. Es ist schlicht falsch, zwischenmenschliche Beziehungen auf ein statistisches Rechenexempel reduzieren zu wollen, und wer dergleichen versucht, missversteht wesentlich, worum es im menschlichen Miteinander geht.

Insgesamt sicherlich nicht der gelungenste Roman von Dickens, aber gerade aufgrund seines polemischen Gehalts unterhaltsam und lesenswert. Die Übersetzung von Christiane Hoeppener ist recht korrekt – wenn es auch einzelne Unsicherheiten bei den verwendeten Anreden gibt –, macht aber insgesamt einen eher steifen Eindruck.

Charles Dickens: Harte Zeiten. Aus dem Englischen von Christiane Hoeppener. Rowohlt Jahrhundert, Bd. 10. Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1987. 382 Seiten. – Diese Übersetzung ist derzeit nur antiquarisch lieferbar.

Lieferbare Alternativ-Ausgabe: Charles Dickens: Harte Zeiten. Aus dem Englischen von Paul Heichen. Insel Taschenbuch 955. Frankfurt/M.: Insel Taschenbuch Verlag, 1986 ff. 433 Seiten mit Illustrationen v. F. Walker u. Maurice Greiffenhagen. 11,50 €.

Charles Dickens: Bleakhaus

Dieser in Deutschland eher unbekannte Roman von Dickens gehört in der angelsächsischen Welt zu seinen bekanntesten und gelobtesten. Er ist ab 1852 entstanden und gilt als Auftakt des Spätwerks. Die figurenreiche Handlung erzählt im Kern die Geschichte Esther Summersons, einer Waise, die als junge Frau in den Haushalt ihres Vormunds John Jarndyce aufgenommen wird. John Jarndyce hat ebenfalls die Vormundschaft über Ada Clare und Richard Carstone, die, ebenso wie ihr Vormund, in einen langwierigen Erbschaftsprozess verstrickt sind, der in gewisser Weise das Rückgrat der Erzählung bildet. Denn während der Roman die Geschichte Esthers entfaltet, begleitet er zugleich den moralischen und gesellschaftlichen Fall Richards, dem der schier endlose Prozess »Jarndyce kontra Jarndyce« langsam aber sicher zur fixen Idee und einzigen Lebensperspektive wird. Dickens nutzt diesen Erzählstrang zu einer sorgfältigen Satire des englischen Rechtswesens, in dem er selbst für einige Jahre als Rechtsanwalts-Gehilfe tätig gewesen war.

Der Gang der Handlung ist bei weitem zu komplex und vielfältig, um auch nur zu versuchen, hier eine Inhaltsangabe zu liefern. Neben den eindimensionalen und moralisch blitzsauberen Hauptfiguren tummeln sich zahlreiche skurrile und höchst reizvolle Nebenfiguren, so etwa der intrigante und kaltherzige Anwalt Tulkinghorn oder der hochnäsige und elitäre Sir Leicester Dedlock oder der joviale und zugleich unbestechliche Inspektor Bucket, um nur einige wenige als Beispiele zu nennen. Die Fülle der verwendeten Figuren bedingt eine hohe Komplexität der Handlung, die in zahlreichen Handlungssträngen zugleich vorangetrieben wird. Dabei erweist sich keiner der Stränge als rein dekorativ, sondern alle erfüllen eine genau bestimmte erzählerische Funktion. Ich erlaube mir, ein längeres Zitat Arno Schmidts herzusetzen, das den Gesamteindruck des Buches sehr gut wiedergibt:

Es ist, allein was das ‹Gerüst› der Fabel, die Konstruktion im Großen wie im Kleinsten, anbelangt, von mathematischer Perfektion. Der bloße ‹Leser› merkt das, bewußt, zunächst überhaupt nicht; wogegen der Fachmann auf jeder der 1000 Seiten ein paarmal neidisch die Zähne aufeinandersetzen, und bewundernd die Luft einziehen muß. Es gibt in der ganzen Weltliteratur nur noch 3 oder 4 weitere, ähnlich umfangreiche Stücke, die derart ‹berechnet› wären, derart ‹aufgebaut›. / Vom ersten Satz an, wo Nebel und Dämmerung und die übliche unmenschliche Staats=Justiz=Maschinerie mit einander identifiziert werden, steht kein Wort, keine Episode mehr umsonst: nie sind Zufall – oder, wenn Sie so wollen, Notwendigkeit! – als so eisernes Netz über Menschen und Dinge gespannt worden. Scheinbar zufällige Nebensätzlichkeiten, Ausrufe, Einsilbiges aller Art: wirken sich im Lauf der Handlung aus. Scheinbar belanglose – nicht ‹Taten›, sondern Handgriffe! – führen maschinenhaft, 500 Seiten später, Verbrechen & Tod herbei, Glück oder Unglück Unbekannter, Nie=Gesehener, Nie=Bedachter.

Diese Durchkonstruiertheit des Buches, die sicherlich ein artistisches Glanzstück darstellt, ist zugleich sein wesentliches Manko, da es sich besonders gegen Ende hin in Auflösung und Zusammenführung der zahlreichen Stränge abarbeitet, dabei sogar kurz vor Ultimo noch einen Mordfall in die Handlung einbaut, um sie wenigstens noch ein bisschen spannend zu halten, so dass der geübte Leser dem Schmidtschen Wort »maschinenhaft« oft nur seufzend beipflichten kann. Natürlich stellt das Buch eine beeindruckende schriftstellerische Leistung dar, aber zu vieles bleibt letztlich leerlaufendes Räderwerk einer hybriden erzählerischen Konstruktion. Die Geschichte Esther Summersons bleibt flach – nicht umsonst ist das Buch inzwischen mehrfach mit großem Aufwand als Soap opera verfilmt worden – und vorhersehbar (wenn der Leser nicht immer wieder vergäße, um was es eigentlich geht), und der satirische Gehalt des Buches, der den Zeitgenossen Dickens wohl weit mehr Freude bereitet hat als uns, blitzt nur hier und da in der schieren Masse des Textes auf. Beeindruckend bleiben – wie so oft bei Dickens – einige Nebenfiguren und die Beschreibung des Elends und der Not in den Londoner Slums des 19. Jahrhunderts.

Charles Dickens: Bleakhaus. Aus dem Englischen von Gustav Meyrink. detebe 21166. Zürich: Diogenes Verlag, 1984 ff. 843 Seiten mit zahlreichen Druckfehlern. 14,90 €.

Włodzimierz Odojewski: Ein Sommer in Venedig

odojewski_sommerEs ist nicht ganz einfach, dieser Erzählung gerecht zu werden, wenn man über ein rein emotionales Urteil hinauskommen will. Erzählt wird eine Episode im Sommer 1939, in deren Mittelpunkt der neunjährigen Marek steht, der in einer gutbürgerlichen Familie Polens aufwächst. Seine Familie hat eine lange Tradition von Reisen nach Venedig, die bereits von den Großeltern begonnen wurde. Im Sommer 39 soll endlich auch Marek zusammen mit seiner Mutter die Lagunenstadt besuchen, eine Reise auf die er sich seit Langem freut und vorbereitet hat. Venedig ist der Fixpunkt seiner kindlichen Fantasie und Sehnsucht.

Allerdings verläuft der Sommer 1939 dann ganz anders: Mareks Mutter entwickelt eine ungewohnte patriotische Betriebsamkeit, und schließlich erhält sein Vater auch noch einen Gestellungsbefehl. Es wird daher beschlossen, die Reise nach Venedig aufzugeben, und stattdessen reisen Mutter und Sohn zur Tante Weronika nach Südpolen. Weronika lebt in einer großen, ländlichen Villa, die einmal zu einem Hotel hatte umgebaut werden sollen, ein Umbau, der aber nie abgeschlossen wurde. Hier vergisst Marek bald seine Enttäuschung über die ausgefallene Reise. Im Weiteren kreist die Erzählung wesentlich um zwei Ereignisse: Auf der einen Seite den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, der mit apokalyptischen Bildern eines Fliegerangriffs und Flüchtlingsströmen in die ländliche Idylle einbricht, und auf der anderen die Entdeckung einer »Quelle« im Keller der Villa, einem Wasserrohrbruch, der langsam aber sicher den gesamten Keller auffüllt.

Diese »Quelle« und der sich langsam füllende Keller werden zum Anlass einer merkwürdigen Realitätsflucht beinahe der gesamten Familie: Nachdem man sich zuerst ausführliche Gedanken um die Verwandlung der Villa in ein Kurbad mit Mineralquelle macht, führt der immer höhere Wasserstand zur kollektiven Fanatsie, es handele sich beim Keller um eine Art von Venedig. Man schafft Tische hinunter, verbindet sie mit Holzplanken, stellt weitere Möbel auf die Tische und verbringt auf diese Weise eine »Saison in Venedig« (so der polnische Originaltitel der Erzählung). Die Erzählung endet damit, dass ein deutscher Offizier ankommt, um die Villa zu besichtigen – die vermeint- lichen Sieger haben die Zuflucht erreicht und wahrscheinlich hält mit ihnen auch das Realitätsprinzip wieder seinen Einzug.

Die Erzählung ist atmosphärisch dicht, hinterlässt aber den Eindruck, als handele es sich um einen Teil einer größer angelegten Lebens- geschichte. Zahlreiche Motive werden zwar angespielt – sehr auffällig etwa das erotische Erwachen des Protagonisten –, kommen im Weiteren aber in keiner Weise zum Tragen. Auch das Thema Realität versus Fantasie scheint der Autor nur zu probieren, nicht wirklich durchzuführen. Vieles wirkt so unfertig wie die Zimmer der Villa, deren Umbau nie vollendet wurde. Dass dies auch dem Autor bewusst war, manifestiert sich im letzten, erzählerisch dilettantischen Absatz der Erzählung, in dem versucht wird, die Geschichte im Hauruck-Verfahren in die Jetztzeit der Leser hinein zu verlängern.

Inzwischen ist bei SchirmerGraf (einem Verlag mit offenbarem Mangel an Bindestrichen) mit Als der Zirkus kam eine weitere Erzählung Odojewskis erschienen, deren Protagonist ebenfalls Marek zu sein scheint. Mag sein, es rundet sich darin das eine oder andere, das hier offengeblieben ist.

Włodzimierz Odojewski: Ein Sommer in Venedig. Aus dem Polnischen von Barbara Schaefer. München: SchirmerGraf, 2007. Leinenband, Lesebändchen, 126 Seiten. 14,80 €.

Allen Lesern ins Stammbuch (18)

Mein nächstes Buch wird »Schmerznovelle« heißen. Es wird sich auch – wenigstens im Groben – an die tradierten Definitionen der Gattung Novelle halten.

Vorgestern erreichte mich ein Anruf aus dem Verlag. Marketingabteilung.

– Hörmal, Helmut, wie wärs denn mit :

SCHMERZ
Roman

– Nein, das Ding heißt Schmerznovelle und basta.

Heute der nächste Anruf.

– Hörmal, Helmut, wie wärs denn mit:

SCHMERZNOVELLE
Roman

Helmut Krausser

Drohnen-Philosophie

Mr. Skimpole was as agreeable at breakfast, as he had been over-night. There was honey on the table, and it led him into a discourse about Bees. He had no objection to honey, he said (and I should think he had not, for he seemed to like it), but he protested against the overweening assumptions of Bees. He didn’t at all see why the busy Bee should be proposed as a model to him; he supposed the Bee liked to make honey, or he wouldn’t do it–nobody asked him. It was not necessary for the Bee to make such a merit of his tastes. If every confectioner went buzzing about the world, banging against everything that came in his way, and egotistically calling upon everybody to take notice that he was going to his work and must not be interrupted, the world would be quite an unsupportable place. Then, after all, it was a ridiculous position, to be smoked out of your fortune with brimstone, as soon as you had made it. You would have a very mean opinion of a Manchester man, if he spun cotton for no other purpose. He must say he thought a Drone the embodiment of a pleasanter and wiser idea. The Drone said, unaffectedly, »You will excuse me; I really cannot attend to the shop! I find myself in a world in which there is so much to see, and so short a time to see it in, that I must take the liberty of looking about me, and begging to be provided for by somebody who doesn’t want to look about him.« This appeared to Mr. Skimpole to be the Drone philosophy, and he thought it a very good philosophy–always supposing the Drone to be willing to be on good terms with the Bee: which, so far as he knew, the easy fellow always was, if the consequential creature would only let him, and not be so conceited about his honey!

Charles Dickens
Bleak House