Ian McEwan: Am Strand

Eine längere Erzählung, in deren Zentrum die Hochzeitsnacht eines jungen, englischen Ehepaars steht. Die Hochzeitsreise hat sie nach Dorset geführt, wo sie in einem Hotel in der Nähe von Chesil Beach Quartier nehmen. Es ist der Juli 1962, und McEwan betont die zeitliche Nähe der erzählten Ereignisse zum Umbruch der Sexualmoral Ende der 60er-Jahre. Die Jungvermählten, Florence und Edward, scheinen auf den ersten Blick beide über keine erheblichen sexuellen Erfahrungen zu verfügen: Zwar masturbiert Edward offensichtlich exzessiv, aber Florence hat einen heimlichen Ekel vor den Vorstellungen, die sie von sexuellen Handlungen zwischen den Geschlechtern hat.

So beginnt diese Hochzeitsnacht unter schlechten Voraussetzungen: Während Edward sich an der Schwelle zur Erfüllung seiner sexuellen Wünsche wähnt, sieht sich Florence einer angstbesetzten Probe ihrer Liebe zu Edward gegenüber. McEwan behandelt die konkrete Situation selbst mit einigem psychologischen Geschick. Statt seine Protagonisten geradewegs auf die sich abzeichnende Katastrophe zusteuern zu lassen, schiebt er einen Augenblick echter Erregung als retardierendes Moment in den Gang der Ereignisse ein: Mehr zufällig berührt Edward bei einem ungeschickten Griff an den Oberschenkel seiner Frau dabei eines ihre Schamhaare, und sein hin- und herstreichelnder Daumen versetzt sie für einen Moment lang in einen Zustand, der sie ihre Angst vergessen lässt. Aber dann verdirbt Edward alles: Weil er den Reißverschluss am Kleid seiner Frau nicht öffnen kann, bricht er alle weiteren Zärtlichkeiten ab, entkleidet sich und versucht, ohne weitere Umstände zum Vollzug zu kommen. Florence, im Bewusstsein ihrer ehelichen Pflicht, greift nach seinem Glied und versucht, es in sich einzuführen. Bei dem Versuch erleidet Edward, der sich für die bevorstehende Hochzeitsnacht seit einer Woche der Masturbation enthalten hatte, einen vorzeitigen Samenerguss, den er nur als ein eklatantes Versagen begreifen kann. Florence wiederum ekelt sich vor dem sich über sie ergießenden Samen Edwards so sehr, dass sie aufspringt und aus dem Zimmer flieht.

Später findet Edward Florence am Strand wieder, und es kommt zum Streit. Florence eröffnet Edward einen Plan, den sie sich schon vor der Hochzeitsnacht zurechtgelegt hatte: Edward soll jegliche Freiheit genießen, sich mit anderen Frauen sexuell auszuleben, dabei aber mit ihr zusammenleben und sie lieben. Edward kann dies im Augenblick nur als einen Zynismus und Betrug an sich und seiner Liebe begreifen, und so kommt es zu einem endgültigen Bruch zwischen den beiden.

McEwan füllt diese kleine Studie mit den Vorgeschichten seiner beiden Protagonisten auf und rundet sie mit einer kurzen Erzählung ihrer weiteren Schicksale ab. Am spannendsten an der Geschichte von Florence dürfte ihr enges Verhältnis zu ihrem Vater sein, von dem der Text offenlässt, ob es sich um eine platonische Vater-Tochter-Liebe handelt, wie sie sich wohl in vielen Fällen entwickelt, oder ob diese Liebe in einen Missbrauch gemündet ist, den Florence komplett aus ihrem Bewusstsein verdrängt hat. Letzteres bleibt aber Spekulation, die der Text höchstens nahelegt, aber nicht tatsächlich stützt.

McEwan lässt aber von Beginn an keinen Zweifel daran, dass es sich für ihn wesentlich um eine Geschichte mangelnder Kommunikation handelt:

Sie waren beide jung, gebildet und in ihrer Hochzeitsnacht beide noch unerfahren, auch lebten sie in einer Zeit, in der Gespräche über sexuelle Probleme schlicht unmöglich waren. Einfach sind sie nie.

Wie oben bereits gesagt, ist die Nähe zur sogenannten Sexuellen Revolution nicht zufällig gewählt: McEwan konfrontiert die heutige Lage an der sexuellen Front – wie sie inzwischen in der Literatur gehandelt wird – mit der Situation, in der sich junge Menschen noch vor knapp 50 Jahren normalerweise befanden. Dies ist eine reizvolle Folie, und der Autor verzichtet bewusst auf jeglichen expliziten Kommentar der vorgeführten Differenz.

Ein gehaltvolles kleines Buch, das McEwan einmal mehr als einen Autor von außergewöhnlichem psychologischem Einfühlungsvermögen zeigt.

Ian McEwan: Am Strand. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Zürich: Diogenes, 2007. Leinenband, 208 Seiten. 18,90 €.

William Faulkner: Licht im August

Die Neuübersetzung bei Rowohlt war der gegebene Anlass, endlich zu beginnen, eine schon lange als Versäumnis empfundene Lektürelücke zu füllen. Die erste und bislang einzige Übersetzung des Romans durch Franz Fein war 1935, nur drei Jahre nach dem Erscheinen des Originals, auch schon bei Rowohlt gedruckt worden und hatte zumindest bei einigen deutschen Lesern – etwa Gottfried Benn – Eindruck gemacht. Die Neuübersetzung durch Helmut Frielinghaus und Susanne Höbel liest sich – wenn ich meinen vergleichenden Stichproben trauen darf – insgesamt deutlich flüssiger, was sicherlich zum großen Teil der auch im Nachwort von Paul Ingendaay festgestellten Tatsache zu schulden ist, »dass Übersetzungen schneller altern als Originale«. Die Neuübersetzung folgt zudem enger der grammatikalischen Struktur des Originals und ist im Einzelausdruck häufig präziser.

Licht im August ist wahrscheinlich Faulkners beliebtester weil zugänglichster seiner sonst oft als schwierig bezeichneten Romane. Es handelt sich in weiten Teilen um einen Roman ohne erzählerisches Zentrum: Er ist weder durch einen durchgängigen Protagonisten geprägt, noch scheint es lange Zeit einen einheitlichen Erzählstrang zu geben, der alle Figuren des Romans einbinden würde. Für längere Zeit scheint die Erzählung von Figur zu Figur zu schweifen und erst allmählich fügen sich die vereinzelt erscheinenden Aspekte zu einem Gesamtbild. Die wichtigsten Protagonisten sind:

  • Lena Grove, eine junge, hochschwangere Frau, die auf der Suche nach Lucas Burch, dem Vater ihres Kindes, ist. Sie ist seit vielen Wochen unterwegs und kommt nun nach Jefferson, dem Hauptort von Faulkners fiktivem Yoknapatawpha County. Sie hat gehört, dass Lucas dort in einem Hobelwerk arbeite, was einerseits zwar auf einer Namensverwechslung beruht, sich andererseits aber als richtig erweist.
  • Joe Christmas ist ein Arbeiter in besagtem Hobelwerk. Er ist als Waisenjunge zuerst in einem Heim und schließlich bei bigotten Pflegeeltern aufgewachsen, hat mutmaßlich einen schwarzen Vorfahren und ist deshalb ein Außenseiter sowohl in der Welt der Weißen als auch der Schwarzen. Es hat ihn eher zufällig nach Jefferson verschlagen, wo er hängenbleibt, weil ihm das Geld ausgegangen ist, er bequem eine Unterkunft findet und schließlich ein Verhältnis mit einer alleinstehenden Frau, Joanna Burden, beginnt, der die Hütte gehört, in der er wohnt. Nach einiger Zeit beginnt er illegal Alkohol zu verkaufen, wodurch er zu einigem Wohlstand kommt. An dem Tag, an dem Lena in Jefferson eintrifft, brennt das Haus Joanna Burdens ab und sie wird – vermutlich von Christmas – ermordet aufgefunden.
  • Joe Brown ist ein Arbeitskollege von Christmas im Hobelwerk. Er heißt in Wirklichkeit Lucas Burch und ist der Vater von Lenas Kind. Als Joe Brown wird er bald nach seiner Ankunft in Jefferson Komplize von Joe Christmas bei dessen Alkoholgeschäften. Lucas Burch ist ein undisziplinierter, junger Mann mit einer Neigung zum Saufen und entspricht in keiner Weise der idealisierten Vorstellung, die sich die Mutter seines Kindes von ihm macht. Als Lena in Jefferson eintrifft, wird Lucas gerade von der Polizei verhaftet, da er sich als Zeuge für den Mordfall Joanna Burden angeboten hat (er beschuldigt Joe Christmas der Tat, um die ausgesetzte Belohnung einzustreichen), selbst aber vorerst als Verdächtiger behandelt wird.
  • Byron Bunch arbeitet ebenfalls im Hobelwerk in Jefferson und ist derjenige, dessen Namen mit dem von Lucas Burch verwechselt wurde, als Lena gesagt wurde, ihr Liebhaber arbeite in Jefferson. Byron macht gerade am Samstagnachmittag Überstunden als Lena am Hobelwerk ankommt. Obwohl Byron weiß, dass er sich besser aus der Geschichte heraushalten sollte, empfindet er nicht nur sofort Mitleid und Sympathie für Lena, sondern den beiden wird auch rasch klar, dass es sich bei Joe Brown wahrscheinlich um Lucas Burch handeln dürfte. Sicheres Erkennungsmerkmal ist schließlich eine Narbe. Byron kümmert sich von nun an um Lena und bald wird deutlich, dass er bereit wäre, Lena zu heiraten und das Kind anzunehmen, wozu Lena aber bis zum Ende des Buches nicht bereit sein wird.
  • Gail Hightower ist ein gescheiterter Geistlicher in Jefferson, mit dem Byron Bunch befreundet ist. Byron sucht ihn auf, um in der Sache mit Lena Rat zu bekommen, wird Hightowers Vorschlägen aber letztendlich nicht folgen. Hightower stammt aus einer alten Südstaatenfamilie und ist besessen von der Geschichte seines Großvaters, der auf der Seite der Konförderierten am Sezessionskrieg teilgenommen hatte und dabei zu Tode kam. Hightower ist in seiner Gemeinde in Jefferson gescheitert, da seine Frau einen unsittlichen Lebenswandel geführt und sich schließlich umgebracht hat, wodurch Hightower in seiner Gemeinde Persona non grata wurde. Hightower bleibt aber in Jefferson, lebt ein zurückgezogenes Leben, liest, schaut aus dem Fenster und wartet, dass die Zeit vorbeigeht. Seine Verbindung zu den Ereignissen des Romans besteht nur durch Byron Bunch, dem es gelingt, Hightower auf verschiedenen Ebenen in die Ereignisse zu verwickeln.
  • Joanna Burden ist eine weitere Außernseiterin in Jefferson. Sie ist der letzte Spross einer Familie von Gegnern der Sklaverei und lebt allein im Haus ihrer Familie. Sie setzt noch immer den Kampf ihrer Familie für die ehemaligen Sklaven fort, indem sie sich für die Ausbildung und die Rechte Schwarzer engagiert. Joe Christmas und später auch Joe Brown/Lucas Burch leben in einer Hütte hinter ihrem Haus. Sie beginnt eine zuerst rein sexuelle Beziehung mit Joe Christmas, die über eine längere Zeit Höhen und Tiefen durchläuft. Schließlich macht sie klar, dass Christmas sie heiraten und Aufgaben im Rahmen ihres sozialen Kampfes übernehmen soll. Als Christmas sich dem verweigert, beginnt sie nicht nur für ihn zu beten, sondern ihn ebenfalls zum Gebet zu nötigen, was – aufgrund von Christmas’ Vorgeschichte – schließlich der Auslöser für ihre Ermordung wird.

Es wäre nicht sonderlich kompliziert, dieser Reihe von biografischen Skizzen noch zahlreiche weitere anzufügen: Percy Grimm, der Christmas erschießen und anschließend kastrieren wird, hätte eine verdient, ebenso die wahrscheinlichen Großeltern von Joe Christmas oder das Ehepaar Armstid, das Lena auf ihrem Weg nach Jefferson bei sich aufnimmt. Das Buch ist überaus reich an Figuren, die sorgfältigst gestaltet und ausgewählt sind. Es erzählt eine beeindruckende Fülle von Lebensgeschichten, Herkunftslinien, Einzelschicksalen, aber auch Typen. Faulkner ist ganz konzentriert auf sein Figuren, lässt jeder einzelnen Sorgfalt und Aufmerksamkeit angedeihen und erledigt die Handlung in weiten Teilen fast wie nebenbei. Hinzutreten thematische Schwerpunkte wie etwa Religion, Rassenhass und -vorurteile, Gerechtigkeit, Recht und Lynchjustiz. Zudem ist das ganze Buch mit einer christlichen Allegorie hinterlegt, in der Christmas als Jesus figuriert, Burch als Judas, Lena als Jungfrau Maria, Bunch als Josef und Hightower vielleicht als eine Parodie Gottes. Man hat nachgezählt, dass das Buch 66 Charaktere habe, was der Anzahl der Bücher der Bibel entspreche, und 21 Kapitel wie das Johannesevangelium. Und so sterben sowohl Joe Christmas als auch Jesus beide im Kapitel 19 des betreffenden Textes, was ja kein Zufall sein kann.

Gleichgültig wie ernst man solche allegorischen Konstruktionen nehmen mag und wie weit man ihnen folgen will: Dass das alles genau kalkuliert und aufeinander abgestimmt ist, beweist sich, wenn sich am Ende all das Vereinzelte zu einem Gesamtbild rundet, das zugleich erstaunlich detailreich und ausgewogen ist. Ein großartiges Buch von einem beeindruckenden Erzähler. Die Neuübersetzung sollte der alten auf jeden Fall vorgezogen werden; noch besser ist es aber, den Roman im Original zu lesen, so man das kann.

William Faulkner: Licht im August. Deutsch von Helmut Frielinghaus und Susanne Höbel. Mit einem Nachwort von Paul Ingendaay. Reinbek: Rowohlt, 2008. Pappband, Lesebändchen, 480 Seiten. 19,90 €.

Miniaturen (7)

Bald darauf fuhr mit Getöse, mit tönenden Pfeifen und Glocken die Feuerwehr vor, prächtig anzusehen. Es war ein neuer Wagen, rot lackiert, mit goldenen Verzierungen sowie mit einer handbetriebenen Sirene und einer Glocke, die von der Farbe golden und im Klang heiter, arrogant und stolz war. Hutlose Männer und junge Burschen klammerten sich unter erstaunlicher Missachtung der physikalischen Gesetze, wie sie Fliegen eigen ist, an die Seiten. Der Wagen war mit mechanischen Leitern ausgestattet, die auf einen Handgriff in gewaltige Höhen emporschnellten, so wie Klappzylinder, nur dass da nichts war, wohin sie schnellen konnten. Die ordentlich aufgerollten, noch jungfräulichen Rollen von Wasserschläuchen erinnerten an die Anzeigen von Telefongesellschaften in volkstümlichen Zeitschriften, nur dass da nichts war, woran man sie anschließen, und nichts, was durch sie hindurchfließen konnte. Also schwangen sich die hutlosen Männer, die ihre Ladentresen und Schreibtische im Stich gelassen hatten, vom Wagen herab, darunter auch der, der die Sirene betätigt hatte. Sie kamen heran, […] und einige von ihnen, mit Pistolen schon griffbereit in den Taschen, machten sich auf die Suche nach jemandem, den man kreuzigen konnte.

William Faulkner
Licht im August

Wie Bobby Fischer den Kalten Krieg gewann

edmons_fischer Das Elend mit diesem Buch beginnt schon beim Titel: Aus dem englischen Bobby Fischer Goes to War (also: »Bobby Fischer zieht in den Krieg«) macht der deutsche Verlag den oben angeschriebenen Titel. Man versucht damit wahrscheinlich, das Buch denjenigen Lesern zu empfehlen, die schon das vorangegangene Opus des Autorenteams David Edmonds und John Eidinow, Wittgenstein’s Poker, gekauft hatten, das bei der DVA den Titel Wie Ludwig Wittgenstein Karl Popper mit dem Feuerhaken drohte trägt. Nun vertreten die beiden Autoren im Buch leider einen Standpunkt, der dem gewählten Titel ausdrücklich widerspricht:

Tatsächlich war der Weltmeisterschaftskampf keineswegs eine Verkörperung des Ost-West-Konfliktes, sondern fiel zeitlich genau in die Hochblüte der Entspannungspolitik. […] Obwohl nahezu alle westlichen Darstellungen des Fischer- Spasski-Kampfes die Ereignisse in weltpolitische Zusammenhänge rücken, sind sie in dieser Hinsicht seltsam irreführend. [S. 358]

Und genau in diese als irreführend bezeichnete Darstellungslinie ordnet der deutsche Titel das Buch ein. Allerdings ist es auch verständlich, dass sich in der Marketing-Abteilung der DVA keiner bereit fand, das Buch bis dorthin zu lesen. Das ist wesentlich auch der Übersetzung zuzuschreiben:

Fischers taktische Meisterleistung gegen Donald Byrne (den Bruder von Robert) wurde umgehend, auch wenn es vielleicht etwas übertrieben war, als die beste Einzelpartie des Jahrhunderts bezeichnet. Sein Spiel war ein beeindruckendes Kunstwerk, vielschichtig und komplex, mit kühner Weitsicht, und es machte in der Schachwelt Furore. Der Internationale Meister Bob Wade meinte, daß die Partie mit dem siebzehnten Zug, bei dem Fischer (Schwarz) einen Läufer zurücknahm, Le6, und den Angriff auf seine Königin übersah, auf eine »unsterbliche Ebene« gehoben wurde. Tatsächlich hatte Fischer keine vernünftige Alternative zu Le6, da jeder andere Zug zu seiner Niederlage geführt hätte, doch die Schnelligkeit, mit der die Stellung seines Gegners danach zusammenbrach, kam für Schachliebhaber trotzdem fast einem Wunder gleich. Schon beim fünfundzwanzigsten Zug war unübersehbar, daß Byrnes Figuren in einer erbärmlichen Unordnung waren. [S. 22 f.]

Mag man diese und ähnliche Stellen noch den Übersetzern zur Last legen wollen (was ist eigentlich so schwierig daran, ein Buch vor der Drucklegung einem Schachspieler mit einem etwas ausgeprägteren Stilgefühl zur Lektüre anzudienen, um wenigstens solch dilettantische Passagen wie die oben zitierte zu vermeiden?), zeigen andere die Inkompetenz und Geschwätzigkeit der Autoren auf:

Bei ihrer Einzelpartie [in Mar del Plata, 1960] spielte Spasski (Weiß) das Königsgambit, eine ungestüme Eröffnung, bei der Weiß einen Bauern opfert, um die Brettmitte zu beherrschen und die wichtigsten Figuren rasch einsetzen zu können. (Die Eröffnung gilt inzwischen als unvorteilhaft: Bei präzisem Spiel von Schwarz gewinnt Weiß praktisch keinen Ausgleich für den Verlust des Bauern.) [S. 29]

In jedem Gambit wird ein Bauer geopfert; das Wort Gambit meint nichts anderes. Und in jeder Eröffnung geht es darum, die Brettmitte zu beherrschen und die Figuren rasch zur Wirkung zu bringen. Und das Königsgambit galt schon damals bei den meisten Schachspielern als riskante Eröffnung, in der Weiß eher auf Ausgleich spekuliert, als ihn sicher zu erreichen. Die Wahl des Königsgambits durch Spasski besagt eher etwas über seine Einschätzung des jungen Fischer, als es eine Aussage über die Qualität der Eröffnung macht.

Die Eröffnung [die Sizilianische Verteidigung], eine Spezialität des Sizilianers Gioacchino Greco, der im siebzehnten Jahrhundert lebte, wird in dem sowjetischen Film Schachfieber aus dem Jahre 1925 erwähnt, bei dem mit José Capablanca ein echter Weltmeister mitspielte. Die Ehe eines Paars droht auseinanderzugehen, weil der Ehemann schachbesessen ist. Schließlich findet das Paar doch noch sein Glück, da die Frau den Zauber des Spiels schätzen lernt. Ihr letzter Satz, unmittelbar vor der Schlußszene, die mit einem Kuß endet, lautet: »Schatz … laß uns die Sizilianische Verteidigung probieren.« [S. 259 f.]

Einmal abgesehen davon, dass dieser Und-das-wissen-wir-auch-noch-Unsinn nahezu die einzige Erläuterung der beiden Autoren zu Fischers meistgespielter Eröffnung darstellt, könnte man wenigstens durch kurzes Nachschlagen in Erfahrung bringen, dass sich Gioachino Greco nur mit einem »c« schrieb und dass die Sizilianische Verteidigung zwar durch Greco benannt, aber schon vor dessen Geburt, spätestens von Giulio Cesare Polerio in die Praxis eingeführt worden war. Außerdem könnte man die kleine Höflichkeit besitzen, den Schachweltmeister von 1921–1927, José Raúl Capablanca, mit seinen beiden Vornamen zu benennen. Was der Rest dieser Passage in dem Buch verloren hat, bleibt völlig unerfindlich. Aber weiter geht’s:

Bei Zug sechzehn [der vierten Partie des WM-Kampfes 1972] brachte Fischer unklugerweise ein Bauernopfer, wonach Spasskis beide Läufer das Brett praktisch in Beschlag nahmen, indem sie die langen Diagonalen kontrollierten. Wenn es dem Weltmeister im komplexen Mittelspiel gelungen wäre, Raum für einen vermeintlich sinnlosen Zug mit seinem Turm zu finden, hätte er Weiß (Fischer) zwingen können, einen Bauern vorzuziehen. Und dieser Bauer hätte anschließend den Fluchtweg blockiert, über den Fischer entkommen konnte. [S. 260]

Leider war es nun aber Spasski, der schon im 13. Zug einen Bauern opferte (der allerdings erst im 16. Zug geschlagen wurde), ein Zug übrigens, der von den Kommentatoren nicht für unklug, sondern für besonders stark gehalten wird, da er, wie auch die beiden Autoren richtig irgendwo abgeschrieben haben, die beiden schwarzen Läufer aktiviert (von denen wiederum nur einer »die lange Diagonale kontrolliert«, während der andere schlicht auf die weiße Königsstellung zielt). Was es mit dem »vermeintlich sinnlosen Zug mit seinem Turm«, für den Spasski angeblich keinen »Raum« hat finden können, auf sich hat, wissen die Götter. Wahrscheinlich ist 29… Td8 gemeint, ein Zug, den Spasski ohne Tempoverlust hätte einschalten können, da Fischer seinen Springer auf d4 mittels 30. c3 hätte verteidigen müssen. Aber auch dabei hat weder die Rede vom mangelnden »Raum« noch vom »blockierten Fluchtweg« einen Sinn.

Wenn man von den zahlreichen sachlichen und sprachlichen Mängeln absieht, ist das Buch eine ganz brauchbare Darstellung der welt- und schachpolitischen Umstände, unter denen der WM-Kampf 1972 in Reykjavík stattgefunden hat. Das Buch macht zum einen deutlich, welche Entwicklungen der WM-Kampf 1972 angestoßen hat, so etwa den Traum von der Vermarktung des Schachspiels im Fernsehen, dem auch heute noch hohe Funktionäre anhängen, oder die Steigerung der Preisfonds, die zu einer ausgeprägten Profi-Elite des Schachs geführt hat. Zum anderen liefert es interessante Einblicke in die Bedingungen, Strukturen und Entscheidungsprozesse auf der sowjetischen Seite, die so detailliert und zugleich kompakt bislang wohl noch nicht zu lesen waren. Dagegen fällt die von den Autoren ausgegrabene Sensation der Entdeckung von Fischers wahrem Vater etwas dünn aus, da der wahre so wenig eine Rolle in Fischers Leben gespielt hat wie der falsche.

Insgesamt ein schlecht geratenes Buch, das durch die Übersetzung keine Aufwertung erfahren hat. Für den echten Fachmann wahrscheinlich weitgehend unerheblich, für den nachgeborenen Schachspieler aber von einigem Interesse, wenn er sich denn entschließen kann, an den Schwächen und Fehlern vorbeizulesen.

David Edmonds / John Eidinow: Wie Bobby Fischer den Kalten Krieg gewann. Die ungewöhnlichste Schachpartie aller Zeiten. Aus dem Englischen von Klaus Timmermann und Ulrike Wasel. München: DVA, 2005. Pappband, 432 Seiten. 22,90 €.

Einiges über Heinrich von Kleist

Im Jahr 2007 sind zwei umfangreiche Kleist-Biografien erschienen: Zum einen von dem renommierten Germanisten Gerhard Schulz bei C. H. Beck, zum anderen vom Journalisten und Kulturwissenschaftler Jens Bisky bei Rowohlt Berlin. Diesen beiden Bänden tritt ein deutlich schmaleres Bändchen von Peter Staengle, Mitherausgeber der Brandenburger Kleist-Ausgabe, an die Seite, das 2006 beim Kleist-Archiv Sembdner in Heilbronn erschienen ist.

schulz_kleistAls gänzlich missraten muss leider Gerhard Schulzens Kleist-Biografie angesehen werden. Das Buch neigt zur Stilblüte, ist allgemein geschwätzig in dem Sinne, dass dem Autor zu irgend einem Detail im Lebens Kleists immer auch noch etwas anderes einfällt, was mit der Sache aber wenig bis nichts zu tun hat, bleibt im Einzelnen oberflächlich, weist zahlreiche offenbare Widersprüche auf, die unvermittelt nebeneinander stehen und was der Mängel mehr sind. Für all dies können hier nur Pars pro Toto einige Beispiel geliefert werden. Sätze wie etwa der folgende, finden sich durchgängig:

Kleist hatte allerdings schon früh in seiner Potsdamer Zeit die Klarinette gewählt und sich darin unterrichten lassen, jenes [sic!] Instrument, von dem man sagte, [sic!] daß es der menschlichen Stimme am nächsten komme, obwohl [sic!] es damals anders klang als heute.

Welche logische Beziehung mag hier durch das Wort »obwohl« ausgedrückt sein? Und was mag das nächste Zitat sagen wollen?

Und so war es damals auch eher förderlich für Kleist, daß sein eigener Aufsatz zunächst in der großen Verborgenheit des Ungedruckten blieb.

An anderer Stelle wird Kleists Abschied vom Militär mit Schillers Desertion in Beziehung gesetzt, um zu dem Ergebnis zu gelangen, dass beide zuvor im Militär waren und nachher nicht mehr. Da findet sich eine gute Seite Text zu Prinz Louis Ferdinand, auf der auch Theodor Fontanes bekanntes Gedicht zitiert wird, um nachher altklug anzumerken, es stimme »nur bedingt«, und in folgender Passage zu gipfeln:

Ob Kleist und Louis Ferdinand einander je begegnet sind, ist nicht überliefert. Sehr früh hat Kleist jedoch in Potsdam einen der «Genossen» des Prinzen kennengelernt: Peter von Gualtieri, der sich Pierre nannte, wie er es überhaupt vorzog, französisch zu sprechen und zu schreiben, selbst an Goethe.

Man denke: Auf Französisch selbst an Goethe! Das waren wilde Zeiten!

Was die kulturellen und intellektuellen Zeitumstände angeht, herrscht bei Schulz im besten Fall Verwirrtheit vor:

Im gleichen Jahre 1777, in dem Heinrich von Kleist geboren wurde, verfaßte sein Landesherr, der Preußenkönig Friedrich II., einen Essay über Regierungsformen und Herrscherpflichten. Darin betrachtete er «die große Wahrheit, daß wir gegen die anderen so handeln sollen, wie wir von ihnen behandelt zu werden wünschen», als «Grundlage der Gesetze» – elf Jahre später erhob Kant diese Wahrheit zum kategorischen Imperativ und «Grundgesetz» der «praktischen Vernunft», also der Sittlichkeit schlechthin.

Auch wenn es ein beliebter Irrtum ist, wird die Gleichsetzung von Goldener Regel und kategorischem Imperativ auch durch Wiederholung nicht richtiger.

An der Schwelle zum technisch-industriellen Zeitalter waren die Naturwissenschaften erst allmählich im Begriff, eigenständig zu werden und sich zu differenzieren – Physik schloß oft noch die Chemie mit ein. Demzufolge bildete Mathematik auch nicht die Zuträgerin von Anwendbarem, sondern war reine Wissenschaft aus der Denkschule vor allem von Leibniz.

Newtons die neue Physik begründendes Buch von 1687 trägt den Titel Philosophiae Naturalis Principia Mathematica. Und Daniel Bernoulli und Leonhard Euler dürften sich für die »Denkschule vor allem von Leibniz« auch herzlich bedankt haben.

Aber auch was Kleist selbst angeht, kann sich Schulz zu keiner auch nur einigermaßen stimmigen Meinung entschließen:

Kleist war seinem Wesen nach ein geselliger, der Freundschaft fähiger wie ihrer bedürftiger Mensch.

[…] der eher Menschenscheue […]

[…] so gesellig er war, so einsam konnte und wollte er zuweilen sein […]

Immer so, wie’s gerade passt, nicht wahr Gevatter?

Das alles sind wohlgemerkt nur wenige von zahlreichen Funden, die sich bereits auf den ersten 100 Seiten dieses Buches machen lassen. Auch dieses Werk wäre wohl besser »in der großen Verborgenheit des Ungedruckten« geblieben!

bisky_kleistIm Gegensatz dazu macht Jens Biskys Biografie einen soliden Eindruck. Auch Bisky liebt zwar die Abschweifung und die ausführliche Darstellung von Informationen zur Zeit Kleists, die man auch andernorts leicht finden könnte, doch insgesamt ist sein Buch ein Zeugnis beeindruckenden Fleißes. Das geht soweit, dass dem Leser an einigen Stellen gänzlich unnötig die absonderlichsten Theorien zu Kleist referiert werden, nur um anschließend zu betonen, all dies sei Spekulation oder Irrtum. Dies macht die Lektüre in manchen Passagen mühsam. Besonders der Fachmann hat Mühe, das Wesentliche unter dem Beiläufigen und Selbstverständlichen herauszufiltern, während der Laie die Lektüre angesichts der schieren Masse von Material wohl gern einstellen würde. An einigen Stellen neigt Bisky auch zur Überinterpretation, so etwa, wenn er versucht, Einheit und Sinn in Kleists frühe Briefe zu bringen, wo etwa Staengle sehr bodenständig und richtig urteilt:

Kleists Briefe in dieser Zeit beschwören ein Bild verzweifelter Orientierungslosigkeit.

Schwächen finden sich auch in der Darstellung der spezifisch deutschen Aufklärung – Lessings Position fehlt komplett; Kants Projekt wird weder von Kleist noch von Bisky richtig verstanden – und der zeitgenössischen Philosophie. Beides ist aber in Bezug auf Kleist zu verschmerzen.

Über einzelne sprachliche Eigenheiten (»Hier wird mit der Zauberrute der Analogie gedacht« oder »Hier liegt der Knüppel beim Hund«) mag man hinwegsehen wollen. Was schmerzlich fehlt ist ein Werkregister, das einen gezielten Zugriff auf die Analyse einzelner Texte Kleists erlauben würde. Die Interpretationen selbst sind nach meinem Geschmack zu oberflächlich und bleiben zu sehr dem offensichtlichen verhaftet, sind aber für jemanden, der sich über Kleist Orientierung verschaffen will, wahrscheinlich nützlich und eine eigene erste Lektüre stützend. Die Erzählungen kommen leider (einmal mehr) deutlich zu kurz.

staengle_kleist Peter Staengles Darstellung konzentriert sich in der Hauptsache auf das Leben Kleists und gibt zu den Werken und ihrer Interpretation eher verhalten Auskunft. Das, was wir über Kleists Leben wissen, wird knapp, präzise und korrekt referiert. Dort, wo Staengle Hinweise zur Interpretation der Werke gibt, sind sie ebenso kurz, wie in die richtige Richtung weisend. Man wünscht sich bald, Staengle und nicht Bisky hätte die umfangreichere Darstellung verfasst. Das Buch ist in dem, was es leisten will und leistet, nahezu als tadellos zu bezeichnen, allerdings liefert es oft eben nur die äußere Schale für das, weswegen Kleist für uns von Interesse ist: das Werk. Wie oben bereits gesagt, sind Staengles Zugriffe normalerweise bodenständig und sehr konkret; er benennt das, was wir wissen, ebenso direkt und ungekünstelt wie das, was wir nicht wissen. Insgesamt sicherlich die angenehmste Lektüre unter den drei Neuerscheinungen.

loch_kleist Es bleibt am Ende nur noch auf die bereits 2003 bei Wallstein erschienene Biografie Kleists von Rudolf Loch hinzuweisen: Sie ist unter den umfassenden Biografien immer noch die lesbarste und ausgewogenste, die den Anspruch einer Einführung in Leben und Werk zurzeit aufs Beste einlöst. Loch ist ein ausgewiesener Kenner Kleists, was besonders seinen Werkdeutungen zugute kommt. Sicherlich bleibt auch hier vieles ungesagt und die Interpretation zeigt alles in allem eine Neigung zur Glättung der Texte, aber eine radikale Problematisierung, wie sie für das Verständnis Kleists letztendlich nötig ist, kann von einer Gesamtdarstellung mit Fug nicht erwartet werden. Auch vom Inhalt abgesehen ist dies sicherlich das schönste Buch unter den hier vorgestellten: Nicht nur hat es einen sehr angenehmen Satzspiegel, es verfügt auch über lebende Kolumnentitel und ist fadengeheftet!

Wem also im Wesentlichen eine Lebensbeschreibung mit kurzen Abrissen zu den Werken genügt, greife zum Buch von Staengle, wer eine umfassendere Darstellung sucht, lasse die Finger von den beiden neueren Publikationen, sondern greife zum Buch von Loch.

Gerhard Schulz: Kleist. Eine Biographie. München: C.H. Beck, 2007. Leinen, Lesebändchen, 608 Seiten. 26,90 €.

Jens Bisky: Kleist. Eine Biographie. Berlin: Rowohlt Berlin, 2007. Pappband, Lesebändchen, 528 Seiten. 22,90 €.

Peter Staengle: Kleist. Sein Leben. Heilbronn: Kleist-Archiv Sembdner, 2006. Broschur, 241 Seiten. 8,– €.

Rudolf Loch: Kleist. Eine Biographie. Göttingen: Wallstein, 2003. Pappband, fadengeheftet, 542 Seiten. 37,– €.

Kleist → Kehlmann → Goldt → Kraus

Der Präsident der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft, Prof. Dr. Günter Blamberger (Köln), teilt in einem Rundschreiben »u. a.« mit:

Die Kleist-Jury hat Daniel Kehlmann als Vertrauensperson für den Kleist-Preis 2008 bestimmt und dieser hat als Preisträger Max Goldt ausgewählt, einen Prosakünstler, den Sie vor allem als Kolumnist der ‚Titanic‘ kennen, als einen, der in den letzten 20 Jahren den deutschen Alltag zur Kenntlichkeit entstellt hat – in Witz, Scharfsinn, ästhetischem Urteilsvermögen dem großen Sprachkritiker Karl Kraus vergleichbar.

Nun ist ja manches vergleichbar, aber Goldt und Kraus?

Vor solchem Helden hat es mir gegraut,
da wagt’ ich höchstens diese wenigen Verse:
Er gleicht dem Siegfried durch die dicke Haut
und dem Achilles durch die Ferse.

Aus dem Verein sollte ich wohl auch besser wieder austreten.

Volker Hage: Philip Roth

hage_rothSeit 25 Jahren begleitet Volker Hage schreibend das Werk von Philip Roth. Ergänzend zur Veröffentlichung von Exit Ghost vereinigt Hanser nun die fünf Interviews (1983, 1991, 1998, 2000 und 2006) mit und sieben Rezensionen zu Roth, die in diesem Zeitraum entstanden sind, in diesem Bändchen. Nahezu alle Beiträge erscheinen hier in umfangreicherer Fassung als bei der Erstveröffentlichung. Bei der Rezension von Exit Ghost handelt es sich um einen Originalbeitrag.

Hage zeigt sich einmal mehr als aufmerksamer Leser und intelligenter Gesprächspartner eines der bedeutendsten Autoren der Gegenwart. So liefert das Buch eine exzellente und derzeit auch konkurrenzlose Einführung ins Werk von Philip Roth. Komplettiert wird das Bändchen durch eine tabellarische Chronik zu Leben und Werk.

Volker Hage: Philip Roth. Bücher und Begegnungen. München: Hanser, 2008. Broschur, 156 Seiten. 15,90 €.

Philip Roth: Exit Ghost

roth_exitDas neunte und – wie der Titel und das Ende des Buches andeuten – letzte Buch, in dem der Schriftsteller Nathan Zuckerman als Protagonist fungiert. Zuletzt hatte Zuckerman in Der menschliche Makel die Geschichte Coleman Silks erzählt, eines vorgeblich jüdischen, in Wahrheit aber schwarzen Professor der Altphilologie, der wegen einer unbedachten Äußerung, die als rassistisch ausgelegt wird, aus seiner Fakultät gemobbt wird. Zu dieser Zeit lebte Zuckerman zurückgezogen in Massachusetts.

Zu Anfang von Exit Ghost finden wir Nathan Zuckerman Ende Oktober 2004 in New York. Er hofft auf einen medizinischen Eingriff, der seine Inkontinenz beheben soll, die sich nach einer Prostata-Operation eingestellt hat. Neben der Inkontinenz, die ihm hauptsächlich lästig und peinlich ist, ist Impotenz eine weitere Folge der Operation, die Zuckerman Selbstbewusstsein und -bild arg zusetzt. Zuckerman ist nun 71 Jahre alt und war mit 60 in die Provinz geflohen, nachdem er eine Reihe von Morddrohungen erhalten hatte. Er hat sich in den elf Jahren weitgehend des gesellschaftlichen Umgangs entwöhnt und findet sich und New York nach dieser Zeit sehr verändert wieder. Trotz einigem inneren Widerstand, entschließt er sich, für eine Weile in New York zu bleiben, um den Erfolg der Behandlung abzuwarten und dies eventuell wiederholen zu lassen. Es wird schließlich nicht mehr als eine Woche werden.

Binnen kurzem ist Zuckerman in alte und neue Geschichten verstrickt: Er begegnet zufällig Amy Bellette wieder, trifft das junge Ehepaar Jamie und Billy, mit denen er für die Zeit, die er in New York verbringen will, die Wohnung zu tauschen plant, und schließlich nimmt ein Freund Jamies, Richard Kliman, Kontakt zu ihm auf, der eine Biografie über E. I. Lonoff schreiben will. Lonoff stand zusammen mit Amy Bellette im Zentrum des ersten Zuckerman-Romans Der Ghostwriter, in dem Zuckerman als junger Autor den von ihm verehrten Erzähler Lonoff besucht.

Zuckerman verliebt sich auf den ersten Blick in die attraktive Jamie, nicht ohne sich schmerzlich seines Alters und seines körperlichen Unvermögens bewusst zu sein. Während er sich mit dieser Verliebtheit herumquält, wehrt er sich zugleich gegen die Vereinnahmung durch Kliman, der ein ehemaliger Kommilitone und Ex-Freund Jamies ist und den Zuckerman verdächtigt, ein Verhältnis mit Jamie zu haben. Kliman ist in jeglicher Hinsicht Zuckermans Konkurrent: Er ist ein junger und agiler sexueller Rivale, er ist ein aufstrebender junger Autor, er hat seine Karriere und sein Leben noch vor sich und erinnert Zuckerman mit all seiner Energie und seinem Enthusiasmus zu sehr an sich selbst in jungen Jahren, als dass er ihm nicht zugleich ständig die Mängel seiner Altersexistenz vor Augen führen würde.

Kliman will Zuckerman als Quelle und Autorität für seine Lonoff- Biografie einspannen. Klimans These ist, dass der einzige und unvollendet gebliebene Roman Lonoffs auf einer autobiografischen Konstellation beruht und Lonoff eine inzestuöse Beziehung zu seiner Halbschwester gehabt habe. Während Kliman durch die Veröffentli- chung ein Revival des vergessenen Lonoffs herbeizuführen hofft, befürchtet Zuckerman, dass eine solche Biografie Lonoff und sein Werk auf den vorgeblichen Skandal dieses Inzests reduzieren und damit für immer beschädigen würde. Zuckerman selbst entwickelt spontan eine alternative, literarische Deutung des Inzest-Motivs, indem er die These aufstellt, Lonoff habe sich durch biografische Spekulationen über Hawthorne zu diesem Thema anregen lassen.

Aus dieser relativ einfachen Struktur gewinnt Roth überraschend reiches Material: Da das Flirten tête-à-tête mit Jamie nicht gelingen will, entwickelt Zuckerman in seinem Hotelzimmer imaginäre Dialoge, die schließlich auf das Ermöglichen des Unmöglichen hinauslaufen: Die fiktive Jamie erklärt sich bereit, sich mit dem fiktiven Zuckerman in seinem Hotelzimmer zu treffen, der daraufhin fluchtartig das Hotel, New York und wahrscheinlich auch gleich die Welt verlässt:

Er löst sich auf. Sie ist unterwegs, und er verschwindet. Er ist für immer fort.

Gespiegelt wird diese imaginäre Beziehung in Zuckermans Gesprächen mit Amy Bellette, die in Der Ghostwriter als Studentin eine Beziehung mit alternden E. I. Lonoff begonnen hatte und Zuckerman nun von Lonoffs letzten Jahren, seinem unvollendeten Roman und seinem Sterben erzählt. In diesen und den Gesprächen zwischen Zuckerman und Kliman entwickelt Roth das zweite große Thema des Romans: Den Umgang der Öffentlichkeit mit Schriftstellern. Zuckerman wehrt sich gegen die Biografie Klimans auch deshalb so sehr, weil er befürchtet, dass auch sein Leben und Werk postum auf eine Reihe von Skandalen reduziert werden wird. Er setzt die Integrität des Werks, das für einen »unbefangenen Leser« geschrieben sei, der Integrität der Informanten eines Literaturbetriebs gegenüber, der Schriftsteller nicht anhand ihrer künstlerischen Leistungen, sondern ihrer moralischen Verfehlungen gewichtet.

Exit Ghost zeigt wie schon zuvor Der menschliche Makel einen erzählerisch deutlich entspannteren Philip Roth, als man ihn aus vielen früheren Romanen kennt. Motivisch rundet der Roman die Zuckerman- Reihe mit der Wiederaufnahme der Figuren Lonoffs und Amy Bellettes schön ab, und auch die Figur Zuckermans selbst findet mit diesem letzten Liebesabenteuer einen gelungenen Abschluss. Er zieht sich nun endgültig in die Provinz zurück und überlässt die Welt den Jungen. Mag sein, wir werden später einmal von seinem Tod und seiner Beerdigung lesen, mag auch sein, er ist für immer aus unserem Blickfeld verschwunden. Roth zumindest wird Zuckerman wohl auch nach diesem Buch nicht vollständig aus den Augen verlieren.

Philip Roth: Exit Ghost. Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren. München: Hanser, 2008. Pappband, 297 Seiten. 19,90 €.

Allen Lesern ins Stammbuch (17)

Es gab einmal eine Zeit, da intelligente Menschen die Literatur zum Denken nutzten. Diese Zeit geht nun zu Ende. […] Der vorherrschende Gebrauch, den die Feuilletons der Intelligenzblätter und die Universitätsinstitute von der Literatur machen, steht in so destruktivem Gegensatz sowohl zu den Zielen der erzählenden Literatur als auch zu dem Gewinn, den ein unbefangener Leser aus ihr ziehen kann, dass es besser wäre, wenn die Öffentlichkeit aufhörte, irgendeinen Gebrauch von der Literatur zu machen.

Philip Roth
Exit Ghost

Umberto Eco: Das Foucaultsche Pendel

eco_pendel Nach beinahe 30 Jahren aus Neugier die Lektüre eines zweiten Romans von Eco (seine Essays und wissenschaftlichen Publikationen stehen auf einem gänzlich anderen Blatt), da er mir in der letzten Zeit immer mal wieder untergekommen ist und mich interessiert hat, ob sich der Eindruck der Lektüre von Der Name der Rose wieder einstellen würde. Und er hat sich wieder eingestellt; diesmal habe ich die Lektüre allerdings nach 250 Seiten abgebrochen. Auch Das Foucaultsche Pendel ist ein langweiliger Krimi, aufgefüllt mit Material, das Beweis für einen beeindruckenden Fleiß des Autors ist, ansonsten aber nichts anderes als eine in Dialoge umgesetzte, wirre Ansammlung von Referaten anderer Literatur, die ich im Original nicht würde lesen wollen, um so viel weniger in Ecos Inhaltsangaben.

Der Roman dreht sich im Wesentlichen um zahlreiche Lieblingsthemen der europäischen Mystiker und Verschwörungstheoretiker: Im Zentrum stehen die Templer, aber auch Rosenkreuzer und zahlreiche andere ähnliche Gruppen werden nach Belieben ins Treffen geführt. Verbunden ist das alles durch ein dünnes Fähnchen von Handlung, in der sich die handelnden Personen ständig gegenseitig den Inhalt irgendwelcher Bücher erzählen. Da dem Autor selbst klar war, dass eine solche Lektüre für einen nicht dem Wahn verpflichteten Leser insgesamt ungefähr so spannend ist wie die eines Kursbuchs, strickt er eine Rahmenhandlung, in der ein Ich-Erzähler unmittelbar vor der großen Entdeckung steht, auf die hin sich der Leser durch 700 Seiten Stoff quälen soll.

Mir liegt die 18. Auflage der deutschen Taschenbuchausgabe vom De- zember 2006 vor, und ich frage mich, wie einem solch durch und durch wirren und langatmigen Buch solche Best- und Longseller-Qualität zuwachsen kann. Ich muss allerdings gestehen, dass ich schon die Faszination des Rosen-Buches nicht wirklich habe nachvollziehen können. Nur die wenigsten seiner weltweit in die Millionen gehenden Leser kann sich ernsthaft für die Probleme der Bettelorden oder Ecos Anspielungen auf die positivistische Philosophie interessiert haben, die auch dadurch nicht wirklich spannender wurden, dass Eco sich herabgelassen hat, sie denen, die sie nicht von selbst verstanden, ausführlich nachzuweisen und zu erläutern. Nun hatte Der Name der Rose wenigstens einen starken und schillernden Protagonisten wie William von Baskerville, dem in Das Foucaultsche Pendel jegliches Pendant fehlt.

Ich werde Eco hiermit endgültig unter die mir unlesbaren Roman-Autoren ablegen.

Umberto Eco: Das Foucaultsche Pendel. Aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber. dtv 11581. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 182006. 841 Seiten. 13,– €.