Ian McEwan: Saturday

mcewan-saturday Der Roman eines Tages, des 15. Februar 2003 in London, eines Samstags, wie der Titel schon verrät. Für den Protagonisten, den erfolgreichen und renommierten Neurochirurgen Henry Perowne, beginnt der Tag merkwürdig genug: Er wacht viel zu früh auf und beobachtet, am Fenster stehend, ein brennendes Flugzeug, das zur Landung in Heathrow ansetzt. Es wird sich erweisen, dass dies am Ende so harmlos ist, wie der ganze Roman.

Henry Perowne ist 48 Jahre alt, mit einer Anwältin verheiratet, hat zwei wundervolle, hochbegabte Kinder und kommt selbst mit seinem berühmten Schwiegervater, einem Dichter, irgendwie zurecht. Henry ist Rationalist, Squash-Spieler, Mercedes-Fahrer, Bach-Liebhaber, Hobby-Koch und auch sonst ein blitzgescheiter Kerl.

Leider passiert ihm auf dem Weg zum Squash ein kleines Malheur: Durch eine Zusammenrottung unglücklicher Umstände hat er in seinem Mercedes 500 einem leichten Zusammenstoß mit einem roten BMW. Damit ist die Konflikthöhe einer klassisch griechischen Tragödie erreicht: Dem BMW entsteigt ein neurologisch erkrankter Kleinkrimineller – im Folgenden Baxter genannt – mit zwei Schlägern. Doch das diagnostische Genie Perownes hilft ihm aus der Patsche: Sofort erkennt er das Krankheitsbild Baxters, der daraufhin verwirrt und gedemütigt das Weite sucht. Nach einem knapp verlorenen Squash-Spiel gegen seinen Chef-Anästhesisten kauft Perowne Fisch ein, besucht seine demente Mutter im Pflegeheim, wohnt einer Probe seines Gitarre spielenden Sohnes bei und fährt dann heim, um zu kochen.

Dort trifft zuerst seine in Paris studierende Tochter ein, die unmittelbar vor der Veröffentlichung ihres ersten Gedichtbandes steht, anschließend der ebenfalls dichtende Schwiegervater, dann der Sohn. Schließlich treffen auch Henrys Frau und mit ihr zusammen der lang erwartete Baxter ein, der sich zuerst bedrohlich gibt, dann aber von einem Gedicht verzaubert und anschließend von Vater und Sohn gemeinsam die Treppe heruntergeworfen wird.

Es kommt, wie es kommen muss: Baxter wird in das Krankenhaus eingeliefert, in dem Perowne arbeitet; der wird vom Squash spielenden Anästhesisten angerufen und fährt ins Krankenhaus, um dort gänzlich leidenschaftslos die Operation Baxters durchzuführen. Alles wird gut! Nach alles in allem etwa 24 Stunden kehrt Perowne in sein Haus zurück, tröstet noch kurz seine Frau, sieht noch ein Flugzeug, das diesmal aber nicht brennt, und schläft mit dem Gedanken ein, dass dieser Tag vorbei ist.

Das Buch ist in seinem Gehalt so albern, wie hier dargestellt. Daran ändert auch nichts, dass die Londoner Großdemonstration gegen den Krieg im Irak den Hintergrund bildet oder sich Perowne Sorgen um die Sicherheitslage der Welt und seiner Familie macht. Der Roman brilliert dagegen auf zwei Ebenen: Zum einen beherrscht McEwan sein Handwerk, wenn es ihm problemlos gelingt, die Lebensgeschichte seines Protagonisten glatt und bruchlos in den Ablauf eines einzigen Tages einfließen zu lassen. Hier steht natürlich der Joycesche Ulysses im Hintergrund und McEwans trivialisierte Fassung beweist einmal mehr sein schriftstellerisches Geschick. Zum anderen sind die Details einzelner Szenen mit beeindruckender Präzision geschildert, was man insbesondere daran merkt, dass diese Sequenzen auch einen Leser fesseln, der sich mit diesen Dingen nicht auskennt oder sich nicht für sie interessiert. Perownes Diagnosen langweilen nicht, auch wenn man nicht in der Lage ist, jeden Terminus technicus zu verstehen und einzuordnen. Und ich hätte niemals geglaubt, mit Interesse der Beschreibung eines Squash-Spiels folgen zu können, aber hier hat mich die entsprechende Passage nicht gestört.

Dass der Autor allerdings die Chuzpe hat, indirekt zu behaupten, er unternehme in diesem Buch nichts anderes als das, was Flaubert und Tolstoi auch gemacht hätten, macht die Sache nicht wirklich besser:

Unter Daisys Anleitung hatte Henry immerhin Anna Karenina und Madame Bovary gelesen, zwei anerkannte Meisterwerke. Obwohl er seine Denkvorgänge verlangsamen und viele Stunden kostbarer Zeit aufwenden mußte, hatte er sich den wechselnden Komplikationen dieser anspruchsvollen Märchen anvertraut. Doch welche Einsichten hielten sie letztlich bereit? Daß Ehebruch zwar verständlich, aber falsch ist, daß es Frauen im neunzehnten Jahrhundert nicht besonders leicht gehabt haben und daß Moskau, die russische Landschaft und die französische Provinz so und nicht anders ausgesehen hatten? Falls, wie Daisy behauptete, das Genie im Detail lag, dann war er keineswegs beeindruckt. Die Details waren angemessen und überzeugend beschrieben, doch jeder auch nur halbwegs aufmerksame Beobachter sollte sie geordnet wiedergeben können und dürfte, wenn er die nötige Geduld besaß, es wohl kaum besonders schwierig finden, derlei niederzuschreiben. Diese Bücher waren das Ergebnis eines unerbittlichen, fachkundigen Sammeleifers.

Immerhin erlaubt er wenig später einer seiner Figuren, leise Zweifel am Lektüreansatz seines Protagonisten anzumelden.

All dies ändert aber nichts an der Tatsache, dass Henry Perowne ein alberner Supermann von einem Protagonisten und die Fabel von dummer Berechenbarkeit ist und der Autor mit keinem seiner angerissenen Konflikte auch nur für einen einzigen Augenblick Ernst macht. Selbst wenn man unterstellen wollte, McEwan habe einen Roman schreiben wollen, wie ihn etwa sein Protagonist gerade noch zu schreiben in der Lage wäre, überzeugt die einfältige und zu durchschaubare Konstruktion nicht. Eine Schauerkomödie der Besserverdienenden, Schönen und Erfolgreichen.

Ian McEwan: Saturday. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. detebe 23627. Zürich: Diogenes, 2007. 390 Seiten. 10,90 €.

Biedermeier – Die Erfindung der Einfachheit

biedermeier Katalog zu einer Ausstellung, die in Milwaukee, Wien und Berlin zu sehen war und derzeit noch in Paris in kleinerem Umfang zu sehen ist. Der Katalog zerfällt in die weithin üblichen beiden Teile: Im ersten Teil finden sich Essays, die sich dem Ausstellungsthema historisch oder theoretisch widmen, der zweite Teil bringt zahlreiche Bildtafeln zur Ausstellung. Die Verantwortlichen für die Ausstellung und Herausgeber des Katalogs verzichten bewusst auf den Versuch, das Phänomen des Biedermeier scharf gegen andere Stile oder Epochen abgrenzen zu wollen.

In der allgemeinen Wahrnehmung leidet das Biedermeier in der Regel darunter, dass ihm nur dasjenige zufällt, was der jeweilige Interpret nicht für die von ihm in den Fokus genommene Epoche, sei es Klassik, Romantik oder Realismus, zu gebrauchen versteht. Ganz im Gegensatz dazu wird hier Biedermeier als ein offener Begriff für eine Reihe von Stiltendenzen gebraucht, die sich zwischen 1815 und 1848 finden lassen, ohne dass behauptet würde, diese Tendenzen seine nicht auch vor oder nach dieser Zeitspanne präsent. Auch wird dem Vorurteil widersprochen, es handele sich beim Biedermeier um eine vornehmlich bürgerliche und deshalb einfache, schlichte und anspruchslose Stilepoche. Im Gegenteil wird aufgezeigt, dass sich sowohl Adel als auch Bürgertum mit einem klaren Stilbewusstsein die Tendenzen dieses Stils zu eigen gemacht haben.

Der historisch-theoretische Teil bringt manche Anregungen zu den vielfältigen Verflechtungen der Zeit- und Stiltendenzen des oben angeführten Zeitraums sowohl in der bilden Kunst als auch in der Literatur. Wirklich erstaunlich war für mich aber der Bildteil, der von Möbeln über Zimmerbilder und Hausrat (Glas, Porzellan, Silber- und andere Metallarbeiten, Tapeten und Stoffmuster) bis hin zu den Gemälden der Zeit eine reichhaltige Auswahl an Exponaten präsentiert. Insbesondere die immer wieder – im Sinne des 20. Jahrhunderts – überraschend moderne Anmutung zahlreicher Alltagsexponate hat mich gefangen genommen. Ein Bilderbuch, in dem es manch eine Quelle der Moderne zu entdecken gibt.

Biedermeier – Die Erfindung der Einfachheit. Katalog. Hg. v. Hans Ottomeyer, Maria Luise Sternath-Schuppanz u. Laurie Winters. Ostfildern: Hatje Cantz, 2006. Leinen, Fadenheftung, Kunstdruckpapier (26,5×33,5 cm), 440 Seiten m. 70 S-W- u. 430 Farbabb. 49,80 €.

Allen Lesern ins Stammbuch (14)

Es gibt Menschen, und darunter solche, die eine ganze Bücherei besitzen, die niemals recht an ein Buch herankommen, weil sie nichts zum zweiten Mal lesen. Und doch ist es nur dann, daß man wie klopfend ein Gemäuer absucht, und stellenweise auf einen hohlen Widerhall trifft, einhält und auf Schätze stößt, die der frühere Leser, der wir doch einst gewesen sind, in ihr vergraben hatte.

Walter Benjamin

Hubert Wolf: Index

wolf-indexDie vatikanischen Archive, die unter anderem auch die Unterlagen der Zensurbehörden und ihrer Entscheidungen enthalten, sind erst seit 1998 einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich. Hubert Wolfs ist wohl die erste populäre deutschsprachige Darstellung der Tätigkeit der Index-Kongregation überhaupt. Wolf ist Kirchenhistoriker und leitet eine Arbeitsgruppe, die damit beschäftigt ist, die Akten der Indexkongegration zu edieren und zum Druck zu befördern. Er sitzt also an der Quelle, was man dem Buch leider auch an einigen Stellen anmerkt.

Die Darstellung ist in zwei Teile gegliedert: Im ersten Teil liefert Wolf eine kurze Geschichte des katholischen Index und einen Überblick über den gewöhnlichen Ablauf eines Verfahrens bei der Indexkongregation. Der zweite Teil liefert anhand von neun Autoren Beispiele für die Art und Weise, wie Indizierungsverfahren von der Anzeige bis zum Urteil und der eventuellen Publikation des Verbotes abliefen. Nur ein Teil dieser Exempel betreffen belletristische Autoren: Knigge (nicht indiziert), Heine (indiziert), Beecher Stowe (nicht indiziert) und Karl May (ebenfalls nicht indiziert). Die anderen behandeln theologische oder kirchengeschichtliche Werke. Besonders diejenigen Fallbeispiele, bei denen es nicht zu einer Indizierung der verhandelten Werke gekommen ist, sind von Interesse, da von ihnen bislang wenig oder nichts bekannt war. Nur die Fälle eines Verbots wurden publiziert; Anzeigen, die entweder gar nicht erst zugelassen wurden (Karl May) oder die nicht zu einem Verbot führten (Beecher Stowe), blieben dagegen bis zur Öffnung der Archive weitgehend unbekannt.

Insgesamt ein gut lesbares Buch, wenn auch der erste Teil deutlich besser gelungen scheint als der zweite. Die Fallbeispiele leiden passagenweise unter einer Neigung des Autors zur zu breiten Darlegung der Aktenlage. So findet sich etwa in den Unterlagen zum Fall Karl May ein Zeitungsausschnitt, der der anonymen Anzeige beilag. Hubert Wolf gelingt es, mit Hilfe der auf der Rückseite abgedruckten lokalen Zeitungsmeldungen Erscheinungsort und -datum zu identifizieren. Allerdings verzichtet er großzügig darauf, uns das Ergebnis schlicht mitzuteilen; stattdessen erfahren wir zuerst, was die beiden Spalten enthalten, aus denen sich nichts schließen lässt, dann den Inhalt der dritten Spalte, aus der sich der Ort wenigstens eingrenzen lässt, und dann erst wird die Katze aus dem Sack gelassen. Dabei handelt es sich wohl um die Vorstellung eines Archivars von Spannung. Leider sind nahezu alle Fallbeispiele von dieser Art der Gründlichkeit geprägt.

Abgerundet wird der Band durch zwei Auswahllisten: zum einen bekannterer indizierter Bücher, zum anderen zwar verhandelter, aber nicht verbotener Bücher.

Wegen des historischen Überblicks im ersten Teil auf jeden Fall zu empfehlen. Dem Freund der schönen Literatur wird es danach genügen, die vier »literarischen« Fälle kurz zur Kenntnis zu nehmen und die ermüdenden und nicht ohne Redundanzen auskommenden übrigen Beispiele auf sich beruhen zu lassen.

Hubert Wolf: Index. Der Vatikan und die verbotenen Bücher. Beck’sche Reihe 1749. München: C.H. Beck, 2007. 303 Seiten. 12,95 €.

Zeno.org

Zeno.org ist ein Ableger der Digitalen Bibliothek. Angefangen hat diese Seite als kommerzieller Download-Anbieter, bei dem man Bände der Digitalen Bibliothek erwerben und auf den eigenen Rechnen herunterladen konnte. Heute Nacht um 0:00 Uhr startet Zeno.org außerdem offiziell die größte freie deutschsprachige Online-Bibliothek. Dieser Status wird auch der Tatsache geschuldet sein, dass Zeno.org als Mirror der Wikipedia fungiert.

Insgesamt wird Zeno.org rund 1,6 Millionen Seiten mit etwa 600 Millionen Wörtern und 420.000 Bildern anbieten. Neben Allgemeinen Lexika – besonders historisch wichtigen – finden sich umfangreiche Texte zu Geschichte, Philosophie, Kunst und Kunstgeschichte sowie aus der klassischen Literatur. Das ist kein Pappenstiel; und diese Bibliothek soll kontinuierlich weiter wachsen.

Zeno.org setzt auf ein Konzept von Sponsoring und Buchpatenschaften, das den Bestand und die Erweiterung der Bibliothek finanzieren soll. Nähere Einzelheiten liefert die Seite. Wir werden das Projekt mit großem Interesse beobachten und hoffen, dass sich die Professionalität der Digitalen Bibliothek auch bei diesem Projekt fortsetzen wird, und wünschen der Seite eine blühende Zukunft.

Wolfgang Frühwald: Goethes Hochzeit

fruehwald Wolfgang Frühwald hat in der Insel Bücherei ein kleines Bändchen vorgelegt, dass sich um den Lebenskomplex Goethes zur Zeit seiner Hochzeit im Oktober 1806 dreht. Unmittelbar vorausgegangen war die Niederlage des preußischen Heeres bei Auerstedt und das Eindringen der marodierenden französischen Soldaten in Weimar. Dabei soll es, nach Darstellung der Zeitgenossen, zu einer kritischen Situation im Hause Goethes gekommen sein, die angeblich durch das todesmutige Dazwischentreten Christianes entschärft worden sein soll. Die Lage im Hause Goethe entspannte sich rasch, als sich hohe französische Offiziere einquartierten und damit weiteren Übergriffen ein Riegel vorgeschoben wurde.

Weiter in den Fliegenden Goethe-Blättern …

Jurek Becker: Der Boxer

Jurek Becker wäre am 30. September dieses Jahres vielleicht 70 Jahre alt geworden (er kannte selbst sein genaues Geburtsdatum nicht); sein viel zu früher Tod vor zehn Jahren hat das verhindert. Mit Jakob der Lügner hat Becker eine der erfolgreichsten deutschsprachigen Nachkriegsromane geschrieben, wenn ihm auch erst die Fernseh-Serie Liebling Kreuzberg, mit seinem Lebensfreund Manfred Krug in der Hauptrolle, wirkliche Popularität eingebracht hat. Davon hat sicherlich auch sein letzter Roman Amanda Herzlos (1992), der noch einmal ein großer Erfolg für Becker war, profitiert.

Anlässlich des Jubiläums habe ich mir wieder einmal Der Boxer aus dem Bücherschrank gezogen. Meine Ausgabe stammt noch vom Anfang der 80er-Jahre, als ich Jurek Becker für mich entdeckt habe. Es war nicht ohne Reiz, gerade diesen Roman, der wesentlich auch das Erinnern zum Thema macht, nach beinahe der Zeitspanne wiederzulesen, die auch der Protagonist Aron Blank mit seinem Erzählen umspannt.

In Der Boxer notiert ein namenloser Erzähler die Erinnerungen des KZ-Überlebenden Aron Blank, der im Nachkriegsdeutschland, genauer in Ostberlin versucht, wieder Fuß zu fassen und in ein normales Leben zurück zu finden, letztendlich aber seine Isolation nicht überwinden kann. Aron Blank beginnt sein neues Leben damit, dass er bei der Beantragung seiner Papiere seinen Vornamen in Arno verändert und sich als Geburtsort Leipzig statt Riga zuschreibt. Außerdem macht er sich um die sechs Jahre jünger, die er in den Lagern der Nazis verbracht hat. Arons Frau ist von den Nazis umgebracht worden, und zwei seiner drei Kinder sind im Ghetto gestorben. Das dritte Kind lässt Aron nach dem Krieg von einer Hilfsorganisation suchen, und es wird auch ein Junge mit dem Vornamen Mark gefunden, der allerdings in der Lagerliste als Mark Berger, nicht Blank, geführt wird. Aron fährt zu dem nun in ein Krankenlager verwandelten KZ, um den völlig abgemagerten und entkräfteten Mark Berger anzuschauen und entschließt sich beim ersten Blick auf das Kind, dass dies sein verlorener Sohn sei. Erst viele Jahre später, nachdem Mark in den Westen Deutschlands geflohen ist, werden die alten Zweifel an dessen Identität in Aron wieder aufleben.

Nachdem sich Aron einmal für Mark entschieden hat, tut er alles für den wiedergefundenen Sohn: Aron verdient als Buchhalter eines Schwarzmarkt-Händlers viel Geld, das er nun dafür aufwendet, Mark mit dem Besten, was sich finden lässt, langsam wieder aufzupäppeln. Er besucht Mark täglich und als der schließlich das Krankenhaus verlässt, verpflichtet er Marks Lieblings-Krankenschwester als Haushälterin und Geliebte. Während er so auf der einen Seite versucht, Mark wenigstens das Grundgerüst einer Familie zu bieten, verweigert er sich auf der anderen Seite der Eingliederung in das sich normalisierende bürgerliche Leben: Als der Schwarzmarkt-Händler sein Geschäft auf eine legale Grundlage stellt und Aron die Stelle eines Hauptbuchhalters anbietet, kündigt er. Statt dessen beginnt er, als Dolmetscher für die russische Besatzungsmacht zu arbeiten. Wenig später befreit ihn eine Erbschaft aus den gröbsten Geldsorgen.

Der titelgebende Boxer taucht erst sehr spät im Buch auf: Als Mark in die Schule kommt, wird er als einer der körperlich schwächsten Schüler Opfer einer brutalen Attacke eines seiner Mitschüler. Daraufhin erzählt ihm Aron eine Geschichte – von der der Leser nicht erfährt, ob sie stimmt oder nur zweckhaft erfunden ist – davon, dass auch er als Kind von einem Stärkeren drangsaliert worden ist, dann aber Boxen gelernt habe. Eines Tages habe er dann den Stärkeren bei einer Gelegenheit verprügelt und so dessen »Herrschaft« ein Ende bereitet. Das Boxen habe er aber bald wieder aufgegeben:

Ein Boxer sei nämlich nicht der, sagte er, der immerzu boxte, sondern einer, der boxen könne. Leider jedoch boxten Boxer oft nur deshalb, weil sie Boxer seien, das ist ja das Unglück.

Auch Mark will daraufhin das Boxen erlernen, benutzt dann aber die erworbene Überlegenheit nicht im Sinne des Vaters, sondern um sich an einem Mitschüler zu rächen, der ihn verpetzt hat.

Für den Erzähler wird das Bild des Boxers offensichtlich zur verständnisleitenden Metapher des Buches: Aron hat sich gegenüber seinen Mitmenschen unangreifbar gemacht. Er ist ein Einzelkämpfer, der die meisten Mitmenschen als Gegner begreift, die es auf Distanz zu halten gilt. Zwar erreicht er, was er sucht: die Souveränität im eigenen Ring. Er bezahlt sie aber damit, dass er in eine unüberwindliche Isolation gerät. Selbst zu dem Menschen, dessen Glück und Wohlergehen im Mittelpunkt seines Denkens und Handelns stehen, kann er keine wirkliche Beziehung aufbauen: Seine Gespräche mit Mark bleiben im Alltäglichen und Unpersönlichen stecken, kein wirkliches Verständnis entwickelt sich zwischen den beiden. Aron vermeidet es, sich in Marks Leben einzumischen, weil er selbst nicht will, dass man sich in sein Leben einmischt. Der aus der erfahrenen Fremdbestimmung durch den Terror des Nationalsozialismus erwachsene Wille zur Autarkie wendet sich an Ende gegen Aron selbst.

Sein letzter Kontakt »zur Welt« ist der Erzähler des Buches, und Aron wirbt mit seiner Lebensgeschichte um diesen Erzähler, nicht ohne ihn zugleich immer wieder von sich zu stoßen. Nur ein einzige Mal im Buch erleben wir Aron tatsächlich entspannt, als der Erzähler eine Spazierfahrt ins Blaue vorschlägt und dieses ziellose Fahren dann auch tatsächlich gelingt.

Als ich ihn zu Hause absetze, ist es schon dunkel, er sagt: »Das war mal eine gute Idee von dir.«

Wir wissen heute, dass Jurek Becker vieles aus der Lebensgeschichte seines Vaters in Der Boxer verarbeitet hat. Auch in dieser Hinsicht bietet das Buch eine bewegende und wichtige Lektüre zur deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts.

Jurek Becker: Der Boxer. st 2954. Frankfurt/M.: Suhrkamp Taschenbuch Verlag, 1998. 6,99 €.

Allen Lesern ins Stammbuch (13)

Da es Menschen gibt, die nicht lesen können, ohne nach den Modellen der lasterhaften oder lächerlichen Gestalten zu suchen, die sie in einem Werke finden, so erkläre ich diesen boshaften Lesern, daß sie nur zu Unrecht die im vorliegenden Buch enthaltenen Porträts auf lebende Vorbilder beziehen könnten. Ich beteure öffentlich: Mein Ziel war einzig, das Leben der Menschen darzustellen, wie es ist; Gott verhüte, daß ich irgend jemanden hätte insbesondere kennzeichnen wollen! Also nehme auch kein Leser für sich in Anspruch, was sich, so gut wie auf ihn, auf andere beziehen kann; oder, wie Phädrus sagt, er verrät sich törichterweise: Stulte nudabit animi conscientiam.

Alain-René Lesage
Gil Blas