Jean Canavaggio: Cervantes

Miguel de Cervantes hat für einen Schriftsteller – wenigstens nach unseren bürgerlichen Vorstellungen – ein recht abenteuerliches Leben geführt. Er wurde geboren in dem Jahr, als der Konquistador Hernán Cortés starb, also noch unter der Herrschaft Karls I., als eines von sieben Kindern eines Wundarztes, der seine Familie mehr schlecht als recht über die Runden brachte. Er machte schon in seiner Kindheit zusammen mit seiner Familie eine unruhige Wanderzeit durch, die sein Leben für sehr lange Zeit prägen sollte. Trotz der Armut seiner Familie erhält Miguel eine solide Schulbildung, man spekuliert, ob in einer jesuitischen Schule in Córdoba; ein nachfolgendes Studium der Theologie, das ihm einige Biographen zuschreiben, ist nicht nachweisbar. Wahrscheinlich träumt er in diesen Jahren schon von einer Karriere als Schriftsteller.

Bevor er überhaupt Zeit gehabt hätte, sich an einer Universität einzuschreiben, flieht er nach Italien, wahrscheinlich um sich einer Verhaftung aufgrund eines Duells zu entziehen, arbeitet dort kurzzeitig als Kammerdiener für den späteren Kardinal Giulio Acquaviva und tritt dann ins spanische Heer ein, wird also Teil der spanischen Besatzungsmacht in Italien. Er nimmt zusammen mit seinem jüngeren Bruder Rodrigo als Soldat an der Seeschlacht von Lepanto teil, wird dort von drei Kugeln verletzt, von denen eine seine linke Hand durchschlägt und unbrauchbar macht.

Da die Kriegstätigkeit der Spanier danach in eine etwas ruhigere Phase eintritt, entschließt er sich, zusammen mit Rodrigo nach Spanien zurückzukehren, doch kurz vor der Ankunft wird das Schiff von Piraten aufgebracht und alle Passagiere als Sklaven bzw. Geiseln nach Algier verschleppt. Da Miguel Empfehlungsschreiben hoher Militärs bei sich hat, vermutet man in ihm und seinem Bruder lohnende Geisel, so dass beide gefangengesetzt, aber nicht als Sklaven verkauft werden. Miguel wird fünf Jahre in Algier bleiben, bis es endlich gelingt, ihn freizukaufen und nach Spanien zurückzubringen. In diesen fünf Jahren unternimmt er vier erfolglose Fluchtversuche; am Ende steht er kurz davor, als Galeerensklave eingesetzt zu werden, als buchstäblich in letzter Minute sein Freikauf gelingt. Nach zehn Jahren Abwesenheit kehrt Miguel im Dezember 1580 zu seiner Familie zurück.

In der Folgezeit arbeitet er zum einen an seinem ersten Roman Galatea – einem Schäferroman, wie sie damals überaus beliebt waren –, dessen erster Teil 1585 erscheint (der zweite Teil wurde wohl nie geschrieben). Zum anderen versucht er gleichzeitig als Veteran und ehemalige Geisel vom Hof eine Sinekure zu erhalten, doch ist seine Familie dafür offenbar nicht einflussreich genug. Nicht, dass man ihm bei seinem Schicksal nicht entgegenkommen möchte, aber nur, indem man ihn mit konkreten Missionen beauftragt, die zwar bezahlt werden, aber das Wann ist eher ungewiss. So schlägt sich Cervantes ab 1587 jahrelang als Kommissar zur Requirierung von Öl und Getreide für die spanische Flotte durchs Leben. Das bedeutet nicht nur umständliche Verhandlungen mit unwilligen Bauern und Magistraten, die die unzuverlässige Zahlweise des königlichen Schatzamtes kennen und ihre Ernte lieber auf dem freien Markt anbieten möchten, Cervantes hat sich auch selbst ständig mit der Finanzbehörde herumzuschlagen, ist böswilligen Verleumdungen ausgesetzt und gerät einmal sogar wegen eine falschen Beschuldigung kurzzeitig ins Gefängnis.

Erst Mitte 1594 gibt er dieses Geschäft auf, um Steuereintreiber zu werden. Seine Besoldung kann er in diesem Fall direkt von den eingetriebenen Steuern in Abzug bringen, was ihm aber nichts nützt, da er die gesamten eingezogenen Gelder bei einem Kaufmann hinterlegt, der das zum Anlass nimmt, einen betrügerischen Bankrott zu veranstalten und sich mit dem Bargeld aus dem Staub zu machen. Zwar gelingt es Cervantes, die Steuergelder aus der Konkursmasse zu retten, sein eigenes Geld aber ist unrettbar verloren. Auch diese Affäre geht nicht ohne einen erneuten Gefängnisaufenthalt ab.

Ab 1598 wieder frei, beginnt Cervantes mit der Arbeit am Don Quijote, an dessen erstem Teil er über sieben Jahre hinweg arbeiten wird. Als der Roman Anfang 1605 in Madrid erscheint, macht er seinen Autor nahezu sofort zu einem der bekanntesten Schriftsteller, und das innerhalb weniger Monate nicht nur in Spanien sondern in ganz Europa und Südamerika (bereits im Februar 1605 wird ein erstes Kontingent des Buches nach Peru exportiert). Von dieser Zeit an scheint Cervantes in der Hauptsache als Autor gelebt zu haben.

Neben 16 Theaterstücken erscheinen in den elf Jahren bis zu seinem Tod – in denen Cervantes übrigens ein weiteres Mal für kurze Zeit ins Gefängnis geworfen wird – noch die Novellas Exemplares (ein weiterer europaweiter Erfolg), ein poetologisches Versepos Die Reise zum Parnass und schließlich im November 1615 der 2. Teil des Don Quijote, nachdem bereits im Jahr zuvor ein pseudonymer 2. Teil erschienen war, der sich nicht nur an den Erfolg des Buches anhängen wollte, sondern dessen Vorwort auch eine üble Beschimpfung des Original-Autors enthielt. Cervantes geht sowohl in der Vorrede als auch im Text seines eigenen 2. Teils auf diese Fälschung und besonders auf die Verleumdungen ein und zahlt es dem anonymen Fälscher mit besserer Münze heim. Am 22. April 1616 – so jedenfalls sein Biograph Canavaggio – stirbt Cervantes in Madrid. Postum erscheint 1617 sein letzter Roman Die Irrfahrten von Persiles und Sigismunda.

All dies schildert in erstaunlicher Detailfülle die musterhafte akademische Biographie Canavaggios, der als einer der bester Kenner Cervantes’ gelten muss. Sein Buch ist – soweit ich das sehe – immer noch die präziseste Beschreibung dieses Lebens, obwohl es bereits aus dem Jahr 1986 stammt. Canavaggio liefert nicht nur die bekannten Tatsachen, sondern auch die zahlreichen biographischen Spekulationen und Legenden seiner Kollegen, jeweils mit einer exakten und verlässlichen Einordnung. Zudem werden der historische Hintergrund und die sehr dynamische ökonomische und gesellschaftliche Entwicklung Spaniens während der Lebenszeit Cervantes’ kurz und eingängig vermittelt. Dabei ist das Buch durchweg gut lesbar und klar strukturiert. Bei all diesen Vorteilen ist es selbstverständlich, dass es nicht mehr im Druck ist und nur noch antiquarisch erworben werden kann.

Jean Canavaggio: Cervantes. Aus dem Franzöischen von Enrico Heinemann und Ursel Schäfer. Zürich u. München: Artemis, 1989. Leinen, 387 Seiten. Nicht mehr lieferbar.

Frank Günther: Sommernachtstraum eines Esels

Ein schmales Bändchen mit drei Aufsätzen des Shakespeare-Übersetzers Frank Günther, dem nur noch ein Band in der Gesamtausgabe bei ars vivendi fehlt, um als erster Mensch den Stratforder Meister vollständig in eine andere Sprache übersetzt zu haben.

Im ersten plädiert er für die Aktualität der Dramen, bzw. dafür, dass jeder heutige Zuschauer oder Leser vor der Aufgabe stünde, diese Aktualität durch Rekurs auf seine eigenen Lebenserfahrung herzustellen. Der zweite beschäftigt sich mit der Metamorphose Bottoms in einen Esel, der literarischen Tradition dieser Metamorphose und schließt ab mit einer überraschenden Aktualisierung dieser Metamorphose aus seiner eigenen Lebenserfahrung. Im dritten schließlich antwortet er auf die zehn ahnungslosen Bemerkungen Roland Emmerichs zur Frage der Autorschaft Shakespeares.

Für Shakespeare-Kenner und -Freunde eine amüsante Lektüre an einem verregneten Nachmittag.

Frank Günther: Sommernachtstraum eines Esels. Cadolzburg: ars vivendi, 2019. Klappenbroschur, 48 Seiten. 10,– €.

Mark Greengrass: Das verlorene Paradies

Diese Geschichte Europas der frühen Neuzeit (1517–1648) gehört in die Reihe der Penguin Geschichte Europas, aus der hier schon der Band von Ian Kershaw zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts besprochen wurde. Es scheint mir interessant, dass man bei Random House offenbar nicht davon überzeugt ist, dass die gesamte Reihe für die eigene Verlagsgruppe attraktiv ist, so dass wir einzelne Bände wohl noch in anderen Verlagen erwarten dürfen. Die Reihe lässt sich aus zwei Bänden natürlich nicht beurteilen, aber der allgemeine Eindruck ist durchaus positiv.

Der Originaltitel des Bandes ist etwas deutlicher als der der Übersetzung: “Christendom Destroyed” macht eines der zentralen Konzepte des Autors sofort deutlich, während der literarischere deutsche Titel suggeriert, beim späten Mittelalter habe es sich um eine Art von Paradies gehandelt, wovon in keiner Weise die Rede sein kann und im Buch auch nicht ist.

Der Autor liefert eine sehr detailorientierte Geschichte der Zeit, die bei sehr konkreten Lebensumständen (Wohnverhältnisse, Siedlungsformen, Lebenserwartung, Familienplanung, Ehe, Erbrecht, Primogenitur, Krieg und Krankheiten, Hungersnöte, Klima, Sonnenflecken, Vulkanausbrüche, Essensgewohnheiten und unklare Todesursachen – alles in dieser Reihenfolge) beginnt und sich langsam zu dem vorarbeitet, was man gemeinhin als große Geschichte von einem Geschichtsüberblick erwartet. Wie schon angedeutet, legt der Autor ein bedeutendes Gewicht auf das religiöse Schisma der Reformation, das er einerseits mitverantwortlich macht für einen wesentlichen Wandel im Verhältnis zwischen Untertanen und herrschender Klasse. Andererseits sieht er ein, dass nicht alles, was in der frühen Neuzeit nach einem religiösen Konflikt aussieht, tatsächlich religiöse Ursachen hat oder religiöse Ziele verfolgt.

Es lassen sich dem Buch eine Vielzahl interessanter Details entnehmen, wenn auch die Darstellung hier und da seltsame blinde Flecken aufweist: Kein einziger Satz zur Entstehung der King James Bible, obwohl andere Bibelübersetzungen ausführlich besprochen werden, eine einzige flüchtige Erwähnung der Mayflower und was der Kleinigkeiten mehr sind.

Als ganz und gar missraten muss aber die deutsche Übersetzung angesehen werden, die das Buch gänzlich unnötig aufbläht und den eher lakonischen Stil des Autors durch eine besserwisserische Geschwätzigkeit ersetzt:

auswird
“The Ottomans also turned themselves into a naval power.”„Die Osmanen betrieben auch Flottenbau, um Seemacht zu werden.“
“Protestant reformers undermined pilgrimage to the Holy Places.”„Die Reformatoren hielten Pilgerfahrten zu den heiligen Stätten ohnehin für unwichtig.“
“By 1650, over 180 tons of gold had been exported from the Indies, and 16,000 tons of silver from the New World.”„Bis 1650 waren mehr als 180 Tonnen Gold aus Ostindien und 16.000 Tonnen Silber aus der Neuen Welt nach Europa gelangt.“

Gerade dieser letzte Zusatz aus der Phantasie des Übersetzers ist besonders ärgerlich, da wenige Seiten zuvor ausdrücklich thematisiert wurde, dass ein bedeutender Anteil des Peruanischen Silbers nach China exportiert wurde.

Zum Ausgleich dafür lässt der Übersetzer an anderen Stellen willkürlich Wörter und auch schon einmal ganze Sätze weg, ändert die Reihenfolge der Sätze, die er doch noch die Freundlichkeit besitzt zu übersetzen, und nimmt sich auch sonst all die Freiheiten heraus, die seine Tätigkeit früher einmal zu einem der phantasievollsten im holzverarbeitenden Gewerbe machten. Gleichgültig, wo man die Übersetzung aufschlägt, bietet sich einem dasselbe Bild. Kurz gesagt: Die Übersetzung macht das Buch für einen ernsthaft interessierten Leser vollständig unbrauchbar. Mit ist unklar, warum eine Organisation wie die Wissenschaftliche Buchgesellschaft eine solche Katastrophe zum Druck befördert.

In Details durchaus interessant, im Ganzen wenig überraschend, auf Deutsch ungenießbar.

Mark Greengrass: Das verlorene Paradies. Europa 1517–1648. Aus dem Englischen von Michael Haupt. Darmstadt: wbg Theiss, 2018. Pappband, 781 Seiten. 39,95 €.

Samuel Schoenbaum: William Shakespeare

This is mere speculation.

Schoenbaum-ShakespeareDiese beinahe dreißig Jahre alte, vergleichweise kurze Biographie Shakespeares führt den Untertitel “A Compact Documentary Life”, der den Charakter des Buches vollständig beschreibt. Schoenbaum hält sich streng daran, nur das für bare Münze zu nehmen, was durch ein aus Shakespeares Zeit stammendes Dokument belegt ist. Er referiert zwar auch die ältesten und beliebtesten Shakespeare-Legenden, macht ihre Fragwürdigkeit aber stets deutlich und widerlegt auch nebenbei mit präzisen historischen Fakten und scharfer Argumentation das eine oder andere dieser Märchen. Wer wenigstens einmal die biographischen Fakten zum Leben Shakespeares von den Phantasien seiner Biographen trennen möchte, hat dazu mit Schoenbaums Biographie das richtige Werkzeug in der Hand.

Ansonsten ist es aber auch mit dieser Shakespeare-Biographie wie mit allen anderen: Man liest sie nicht, um wirklich etwas Neues über Shakespeares Leben zu erfahren, sondern um weitere Details zur Elizabethanischen Epoche, ihrer Kultur im Allgemeinen und ihrem Theater im Besonderen kennenzulernen. Dabei müsste in diesem Fall das eine oder andere Detail zu den Texten Shakespeare und ihrer Entstehung revidiert werden, so dass das Buch dem heutigen Leser nur zur fundierenden Ergänzung der neueren Forschung oder als biographisches Purgativ empfohlen werden kann.

Samuel Schoenbaum: William Shakespeare. A Compact Documentary Life. New York / Oxford: Oxford University Press, 1987. Nachdruck durch Amazon Fullfilment. Broschur, 384 Seiten. 23,– €.

James Shapiro: Contested Will

Shapiro-Contested-WillDer seltene Fall eines Buches über die Frage nach der Urheberschaft von Shakespeares Werken, das von einem Stratfordianer verfasst ist.

Wie auch hier bereits dargestellt, gibt es seit dem 19. Jahrhundert eine breite populär- und fachwissenschaftliche Diskussion der Frage nach dem Autor von Shakespeares Werken. Es stehen derzeit wohl in der Hauptsache noch drei Kandidaten zur Diskussion: Francis Bacon, Christopher Marlowe und Edward de Vere. Shapiro geht nur auf zwei dieser Kandidaten ausführlich ein, während er den Fall Marlowe, der allerdings auch auf extrem spekulativen Grundlagen beruht, für erledigt zu halten scheint. Auch Bacon behandelt er eher als historische Position, da mit der Spekulation um dessen Autorenschaft der erste ernsthafte und umfangreiche Versuch unternommen wurde, den Stratforder Kaufmann durch eine Person zu ersetzen, die den modernen Ansprüchen an einen Autor besser gerecht wird. Die einzige noch lebendige Theorie aber dürfte die um Edward de Vere sein, wenn auch hier einige der extremeren Spielarten, in denen Edward de Vere kurz davor ist, als sein eigener Großvater aufzutreten, ebenfalls als weitgehend erledigt angesehen werden dürfen.

Shapiros Darstellung verfolgt zwei Ziele: Zum einen möchte er die historische Entwicklung der alternativen Verfassertheorien darstellen und auf diese Weise verständlich machen, warum Menschen überhaupt auf den Gedanken verfallen, sich einen besseren Autor für Shakespeare Stücke zu wünschen. Zum anderen führt er in einem eigenen Kapitel eine ganze Reihe von Argumenten auf, die insbesondere Edward de Vere als Verfasser ausschließen. In einem Epilog findet sich zudem eine Kritik an der allgemein weitgehend spekulativen biographischen Tradition, in der auch die meisten Biographien des Stratforders stehen. Das seit dem 18. Jahrhundert Stufe für Stufe entstandene Bild vom Zusammenhang zwischen der Biographie und dem Werk eines Autors wird zu Recht für die Elizabethanische Zeit als nicht zielführend zurückgewiesen.

Das Buch beweist nicht in einem positivistischen Sinne – und will dies auch gar nicht –, dass der Stratforder William Shakespeare der Autor der ihm zugeschriebenen Werke ist. Es zeigt aber einleuchtend auf, dass zum einen die vorgeschlagenen Alternativen noch sehr viel unwahrscheinlichere Kandidaten sind, und dass es zum anderen zwischen etwa 1592 und 1610 einen wohlbekannten Londoner Schauspieler und Stückeschreiber gegeben hat, dem ein gebildeter Teil des Publikums und zahlreiche Kollegen die unter dem Namen Shakespeare veröffentlichten Stücke zugeschrieben und zugetraut haben und von dem zumindest einige dieser Kollegen wussten, dass er aus Stratford stammt. Man kann sich nun dagegen wehren wollen und all dies auch weiterhin einer Art von Verschwörung zuschreiben, allerdings muss man dabei wohl zugleich eingestehen, dass es auch nicht ein einziges authentisches, auf eine solche Verschwörung hinweisendes Dokument gibt.

Am Ende bleibt es dabei: Wir verstehen es nicht, aber es scheint tatsächlich so zu sein, wie es zu sein scheint.

James Shapiro: Contested Will. Who wrote Shakespearte? London: Faber and Faber, 2010. Pappband, Fadenheftung, 367 Seiten. Derzeit wohl nur im Taschenbuch für ca. 13,– €.

James Shapiro: A Year in the Life of William Shakespeare: 1599

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Alle biographischen Bücher über William Shakespeare haben mit einer großen Schwierigkeit zu kämpfen: Wir wissen so gut wie nichts über den Mann. Das ist für Menschen der Elizabethanischen Epoche durchaus nichts ungewöhnliches; auch über viele andere Autoren, Künstler, Wissenschaftler etc. der Zeit wissen wir vergleichsweise wenig. Da unsere Zeit aber dem Aberglauben an die Ausnahmepersönlichkeit huldigt, verlangt sie nach Biographien. Shakespeares Biographen helfen sich aus dieser Notlage normalerweise mit einem (oder mehreren) der folgenden Tricks heraus: Entweder sie spekulieren sich ein Leben Shakespeares einfach zusammen (bzw. sie schreiben die Spekulationen anderer ab) oder sie schreiben stattdessen über England, seine allgemeine Kultur oder spezieller über das Theaterwesen der Epoche. Oder sie schreiben die Biographie eines ganz anderen Menschen und behaupten, dieser habe Shakespeares Theaterstücke geschrieben.

James Shapiros Bestseller (dem er mit “1606” inzwischen auch noch ein weiteres Jahresbuch hat folgen lassen) geht grundsätzlich den zweiten Weg: Es konzentriert sich auf die historischen Ereignisse des Jahres 1599, das Shapiro als ein Wendejahr in der Entwicklung Shakespeares begreifen möchte. In diesem Jahr wurde das Globe-Theater errichtet, und Shapiro argumentiert dafür, dass Shakespeare in diesem Jahr einen wesentlichen Schritt in der Entwicklung zum Ausnahmeschriftsteller seiner Zeit getan habe. Shapiro betont außerdem, dass eine angemessene Rezeption Shakespeares ohne die Kenntnis der Kultur und Geschichte seiner Zeit nicht möglich ist, ein Grundsatz, der in dieser Allgemeinheit natürlich einerseits eine Banalität darstellt, dem andererseits aber bis heute in der Phrase von der Zeitlosigkeit Shakespeares eine weitere Banalität entgegensteht.

Der Leser sollte von Shapiros Buch nun nicht alle jene Einsichten in das Leben Shakespeares erwarten, die er aus anderen Biographen über den Schwan vom Avon nicht hat erhalten können. Shapiro erzählt die tagespolitischen und kulturellen Ereignisse des Jahres 1599 nach, soweit wir sie noch kennen: den Feldzug Essex’ gegen Irland und den Anfang vom Ende dieses Machtpolitikers, die gegenstandslose Armada-Hysterie des Jahres 1599, die Gründung der East India Company, den Tod und die Beisetzung Edmund Spensers, den Neubau des Globe, den Weggang des Clowns William Kemp von den Chamberlain’s Men und einige Kleinigkeiten mehr. Außerdem setzt er sich mit vier von Shakespeares Stücken auseinander, deren Entstehung wahrscheinlich in das Jahr 1599 fällt: „König Heinrich V.“, „Julius Cäsar“, „Wie es Euch gefällt“ und „Hamlet“. Shapiro gelingt dabei keine sehr enge Verbindung zwischen den geschilderten Ereignissen und den Theaterstücken. Einsichten wie die folgende sind das äußerste, was man erwarten darf:

Born into a world in which the old religion had been replaced by the new, and like everybody else, living in nervous anticipation of the imminent end of Elizabeth’s reign and the Tudor dynasty, Shakespeare’s sensitivity to moments of epochal change was both extraordinary and understandable. In Hamlet he perfectly captures such a moment, conveying what it means to live in the bewildering space between familiar past and murky future. [S. 279]

Es ließe sich hier nun zu Recht einwenden, dass beinahe jeder Schriftsteller zu jeder Zeit “in the bewildering space between familiar past and murky future” gelebt habe oder sich wenigstens einbilden durfte, das zu tun, dass aber kein anderer einen „Hamlet“ daraus zustande gebracht hat. Doch Shapiro würde sich gegen diesen Einwand kaum zur Wehr setzen. Es geht ihm überhaupt nicht darum, Shakespeare Stücke konsequent aus ihrer Zeit heraus zu entwickeln, sondern er glaubt nur, dass sich beliebte Missverständnisse vermeiden lassen, wenn man sie aus ihrer Zeit heraus zu verstehen versucht.

Hat man die im Großen und Ganzen eher lockere Parallelität zwischen Epochenerzählung und Interpretation der Stücke akzeptiert, ist Shapiros Buch eine anregende und sehr informative Lektüre. Es ist daher kein Wunder, dass das Buch auch nach mehr als 10 Jahren noch nicht auf Deutsch vorliegt.

James Shapiro: A Year in the Life of William Shakespeare: 1599. New York, London u.a.: HarperCollins, 62010. Broschur, 410 Seiten. Ca. 13,– €.

Sebastian Castellio: Das Manifest der Toleranz

Castellio-ToleranzDieses in der „Bibliothek historischer Denkwürdigkeiten“ des Alcorde Verlags erscheinende Buch dokumentiert die Reaktion des Baseler Theologen Sebastian Castellio auf die Verurteilung und nachfolgende Hinrichtung des spanischen Theologen Michael Servet als Ketzer, die 1553 auf Initiative Calvins in Genf stattfand. Dieser Ketzerprozess stellt so etwas wie den Sündenfall des protestantischen Glaubens dar, da sich in ihm Calvin als einer der führenden Köpfe der Reformation der Formen und Argumente der verhassten römischen Kirche und ihrer Inquisition bediente, um sich einen persönlich verhassten theologischen Konkurrenten vom Hals zu schaffen.

Den Kern des Buches bildet Castellios „De haeriticis“, eine Sammlung, die zahlreiche Texte von Augustinus bis Luther zum Problem der Ketzer und der Auseinandersetzung mit ihnen enthält. Ergänzt wird diese Hauptschrift durch kleinere Schriften Castellios aus dem Umfeld der Auseinandersetzung mit Calvin anlässlich des Falls Servet sowie eine biographischen Studie Stefan Zweigs zu Castellio – wie üblich bei Zweig mit mehr rhetorischem als sachlichem Aufwand – und die die Toleranzdebatte betreffenden Kapitel aus der Castellio-Biographie von Hans R. Guggisberg. Zusammen mit der Einführung des Herausgebers Wolfgang F. Stammlers dürfte dies eine so umfassende wie Darstellung der Reaktion Castellios darstellen, wie sie sich wünschen lässt.

Das Anhängen dieser innerchristlichen Toleranzdebatte an die derzeit weitgehend hysterisch geführte Auseinandersetzung zwischen Christen und Muslimen ist ebenso wie der Titel des Buches eine notwendige Werbestrategie, um dem wesentlich religionshistorischen Material eine breitere Aufmerksamkeit zu sichern. Tatsächlich einschlägig ist Castellios Streit mit Calvin nur in einem so abstrakten Sinne – eben unter dem sehr allgemeinen Schlagwort der Toleranz –, dass es an Banalität nicht nur grenzt. Wer sich für die Verwerfungen des christlichen Schismas des 16. Jahrhunderts interessiert, findet einen exzellent gemachten Quellenband. Wer Stoff zum rezenten Konflikt zwischen Christen und Muslimen sucht, wird sich wahrscheinlich enttäuscht sehen.

Das Manifest der Toleranz. Sebastian Castellio: Über Ketzer und ob man sie verfolgen soll. Aus dem Lateinischen von Werner Stingl. Hg. v. Wolfgang F. Stammler. Essen: Alcorde, 2013. Leinen, Lesebändchen, 440 Seiten. 34,– €.

(geschrieben für Literaturwelt)

Dieter Kühn: Geheimagent Marlowe

978-3-10-041510-3 Roman auf Grundlage der Vermutung, Christopher Marlowe habe als Geheimagent gearbeitet. Es gibt keine harten Beweise für diese Hypothese, aber Marlowes Bekanntschaft mit Agenten des Elisabethanischen Geheimdienst und nicht zuletzt die Anwesenheit Robert Poleys bei seinem Tod stützen entsprechende Spekulationen. Dieter Kühn erfindet die letzten Monate im Leben des Christopher Marlowe dementsprechend: Marlowe wird in Kühns Fiktion zum zweiten Male vom Geheimdienst angeworben und unter falscher Identität nach Paris geschickt. Die dortigen Ereignisse bilden eine nicht sehr originelle und nicht sehr detaillierte Agentenschmonzette, die damit endet, dass Marlowe vom französischen Geheimdienst enttarnt wird, der nun versucht, ihn als Doppelagenten zu instrumentalisieren. Als Marlowe nach England zurückkehrt, wird er in dieser Sache von seinen Arbeitgebern zur Rede gestellt. Marlowe macht den Vorschlag, ihn durch einen fingierten Tod aus dem Verkehr zu ziehen, was als Abschluss des Buches dann auch zu geschehen scheint.

Erzählt wird das ganze nun nicht als traditioneller Thriller, sondern als vorgebliches Aktenkonvolut des englischen Geheimdienstes. Kühn verzichtet zum Glück auf den Versuch, den tatsächlichen Ton irgendeiner Akte irgendeiner Zeit nachzubilden, was den Text aber nur unwesentlich spannender macht. Auch der echt witzige Einfall des Autors, sich selbst als Agent »Writer« in die Akte einzumischen, rettet das Buch nicht. Das ganze ist lahm, konstruiert und bemüht.

Dieter Kühn: Geheimagent Marlowe. Frankfurt/M.: S. Fischer, 2007. Pappband, Lesebändchen, 262 Seiten. 18,90 €.