Alexandre Dumas: Die drei Musketiere

»Nun«, sprach Rochefort, »das ist abermals so ein Zufall, der dem anderen die Stange halten kann. […]«

Dieser Fortsetzungsroman entstand 1844 unmittelbar vor „Der Graf von Monte Christo“, und fällt im direkten Vergleich mit diesem deutlich ab. Zwar nimmt das Buch im letzten Viertel deutlich an Fahrt auf, und seine Konstruktion wird subtiler, aber es erreicht nicht die dichte Verflechtung seines Personals in die zentrale Intrige (hier sind es am Ende gleich zwei Intrigen, die über die Strecke helfen müssen), die „Der Graf …“ auszeichnet. Es fehlt ein sich über den gesamten Text erstreckender Plan; der Mittelteil der Erzählung besteht in der Hauptmasse aus rein anekdotischem Füllstoff, der die Leser unter- und hinhalten soll, bis es Zeit ist, das durchaus furiose Ende auszupacken.

Mit „Die drei Musketiere“ liefert Dumas ein französisches Pendant zu dem in England von Walter Scott erfolgreich begründeten Historischen Roman, der eine sogenannte spannende Handlung vor einen historischen Hintergrund setzt, der den Lesern mehr oder weniger vertraut ist. Bei Dumas dient dazu die Regierungszeit Ludwig XIII., den er ganz traditionell als einen schwachen König unter der Fuchtel des intriganten Kardinals Richelieu vorführt. Der Handlungszeitraum sind die Jahre 1625 bis 1628; der zweite Teil der Handlung fällt in die Zeit der Belagerung von La Rochelle.

Im Zentrum der Handlung steht der junge Gascogner d’Artagnan, der sich aufmacht, um in Paris Musketier zu werden, und dessen hauptsächliche Charaktereigenschaft ist, sich bei jeder Gelegenheit zu duellieren. Auf diese Weise macht er auch Bekanntschaft mit dem titelgebenden Trio Athos, Porthos und Aramis, mit denen zusammen er sogleich in eine staatsumstürzende Intrige verwickelt wird. Besonders dieser erste Teil der Erzählung ist zahlreich verfilmt worden; auf eine Verfilmung des zweiten, dunkleren und voraussetzungsreicheren Teils hat man in der Regel klugerweise verzichtet. Allerdings muss man Dumas einräumen, dass seine Einbeziehung der Ermordung des Herzogs von Buckingham in die Handlung, so unwahrscheinlich seine Konstruktion auch immer sein mag, ein kleines schriftstellerisches Meisterstück bildet. Ansonsten ist auch diesem Buch die Geschwindigkeit anzumerken, mit der Dumas arbeiten musste, so dass es Flüchtigkeitsfehler – so wird etwa d’Artagnan gleich zweimal zum Musketier gemacht (S. 360 und 544) – bis in die Buchausgabe geschafft haben.

Dumas hat zu diesem Erfolgsroman gleich zwei Fortsetzungen von jeweils etwa gleicher Länge geliefert – „Zwang Jahre später“ (1845) und „Der Vicomte von Bragelonne“ (1847) –, mit denen er dem Interesse des Publikums des 19. Jahrhunderts an Historischen Romanen entgegenkam. Ob ich diese Teile, die ich nicht bereits gelesen habe, ebenfalls hier besprechen werde, ist derzeit noch nicht entschieden.

Es ist in jedem Fall zu empfehlen, „Die drei Musketiere“ vor oder mit einigem Abstand zu „Der Graf von Monte Christo“ zu lesen; man kann alternativ auch die Kapitel 29 bis 42 getrost querlesen, ohne viel zu versäumen. Auch dieser Ausgabe liegt die Übersetzung von August Zoller (1845) zugrunde, die hier ebenfalls modernisiert, aber nicht gekürzt wurde.

Alexandre Dumas: Die drei Musketiere. Aus dem Französischen von August Zoller. Neu überarbeitet von Michaela Meßner. dtv 14765 (Neuausgabe 2020). München: dtv, 22024. Broschur, 748 Seiten. 15,– €.

James F. Cooper: Conanchet oder die Beweinte von Wish-Ton-Wish

Im Falle Cooper beginnt die erstaunliche Tatsache sich abzuzeichnen, daß jede Übersetzung, sie kann nicht anders, besser werden muß, als das Original!

Arno Schmidt

Auch diese Lektüre gehört in die Reihe meiner Revisionen der Übersetzungen Arno Schmidts. Cooper gehört schon früh unter die Schmidtschen literarischen Hausheiligen und seine Übersetzung von The Wept of Wish-Ton-Wish (1829) ist wohl so etwas wie ein Testballon gewesen für seine spätere Übersetzung der Littlepage-Trilogie (die ebenfalls demnächst noch einmal gelesen werden soll). Was Schmidt bewogen hat, ausgerechnet dieses sowohl inhaltlich als auch sprachlich antiquarische Buch zu übersetzen, soll etwas später erwogen werden.

Das Stück spielt in Connecticut in den Jahren zwischen etwa 1660 bis 1675. Ort der Handlung ist eine abgelegene Puritaner-Siedlung, eine Gründung des Hauptmanns Marcus Heathcote, der sich zu Anfang des Romans mit seiner Familie und seinen Bediensteten aufmacht, um in der Wildnis noch einmal ganz von vorn zu beginnen. Die Handlung selbst konzentriert sich im Wesentlichen auf zwei Episoden in der Geschichte der Ansiedlung, die beide den kriegerischen Konflikt mit den lokalen Indianern thematisieren. In beiden spielt ein Häuptling der Narragansets, eben der bei Schmidt titelgebende Conanchet eine zentrale Rolle. Im ersten Teil wird der Häuptling als junger Mann von den Siedlern gefangengenommen und lebt für einige Monate mit ihnen zusammen, wobei er langsam aber sicher das Vertrauen der Siedler gewinnt, ohne sich tatsächlich mit ihnen einzulassen. Diese erste Episode endet mit einem die Siedlung nahezu komplett zerstörenden Überfall durch die Narragansets, den allerdings die meisten der Siedler wie durch ein Wunder überleben.

Die zweite Episode schildert die Verwicklung der wieder erblühten Siedlung in den sogenannten King Philip’s War, die erste große kriegerische Auseinandersetzung zwischen den Indianer im Nordosten der späteren USA und den weißen Siedlern. Im Verlauf dieses Krieges kehrt Conanchet an den Ort seiner früheren Gefangenschaft zurück, und es stellt sich heraus, dass er ein im früheren Überfall verschwundenes und für tot gehaltenes junges Mädchen, Ruth, entführt und zu seiner Frau gemacht hat. Seine emotionale Verbindung mit den von ihm wiederum für tot gehaltenen Siedlern verhindert die nochmalige Zerstörung der Siedlung und bringt ihn in Konflikt mit seinen Verbündeten im Krieg. Die Handlung endet in einer melodramatischen Tragödie, die hier nicht im Detail geschildert werden muss.

Neben den zum Teil äußerst drastischen Schilderungen der Kampf­hand­lun­gen ist der Roman weitgehend angefüllt mit der ausführlichen Be­schrei­bung puritanischen Lebens und ebensolcher Dialoge, die bereits nach kurzer Zeit dazu geeignet sind, den Leser bis aufs Äußerste zu strapazieren. Schmidt hat als Grundlage seiner Übersetzung die erste deutsche Übertragung durch Karl Meurer (wohl ebenfalls bereits 1829 erstmals erschienen) zugrunde gelegt, wobei er sie über weite Strecken in den sprachlichen Details präzisiert und über den gesamten Text hinweg um knapp 5 % gekürzt hat.1 Wirklich überzeugen kann das Buch dennoch nicht.

Auch Schmidts Nachwort, das hauptsächlich deutsche Leser mit Cooper und der Breite seines Werks vertraut machen soll, gibt keinen echten Aufschluss darüber, warum gerade dieses Werk ausgewählt wurde, um eine Cooper-Renaissance in Deutschland anzustoßen. Schmidt selbst lässt an Coopers Fabeln und Hauptfiguren kaum ein gutes Haar und lobt dagegen im Allgemeinen dessen Landschaftsschilderungen und Nebenfiguren. Und so wird es – neben den Motiven der Zivilisationsflucht und des Lebens in der Isolation, die in Schmidts eigenen Inselphantasien eine bedeutende Rolle gespielt haben – wahrscheinlich eine der Nebenfiguren des Romans sein, die Schmidts Aufmerksamkeit gefesselt hat: Bei dem im Text nur unter dem angenommenen Namen Submissus auftretenden Einzelgänger, der die Siedler beim ersten Angriff der Indianer vor dem Untergang rettet und auch im zweiten Teil eine durchgehende Nebenrolle spielt, handelt es sich wohl um ein Porträt des sogenannten Königsmörder William Goffe, der zum unmittelbaren Umfeld Cromwells gehörte und maßgeblich am Prozess gegen Charles I beteiligt war. Er war einer jener unter Charles II Ver­ur­teil­ten, denen es gelungen war, nach Amerika zu entkommen, aber auch dort immer noch durch Agenten der englischen Regierung verfolgt wurden. Schmidt liebte solche Verflechtungen von Fiktion und Historie und hat mit seinem Das steinerne Herz selbst ein Muster für das Historische im Roman geliefert.

Alles in allem eine eher zähe Lektüre, die zwar einmal mehr den edlen amerikanischen Wilden feiert, bis auf wenige Passagen aber weder historisch interessant noch anderweitig belangreich ist.

James F. Cooper: Conanchet oder die Beweinte von Wish-Ton Wish. Aus dem Englischen von Arno Schmidt. Fischer Tb. 1287. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verlag, 21977. Broschur, 414 Seiten. Derzeit nicht im Druck.


1 – Günter Jürgensmeier war so freundlich, mir einen vergleichenden Text der beiden Übersetzungen zusammen mit einigen wichtigen statistischen Details zur Verfügung zu stellen.

Aus dem Zugang (5): Shakespeare

Und wieder ist ein großes Werk vollendet: Vor ziemlich genau 21 Jahren ist mit Romeo und Julia der ersten von neununddreißig Bänden der Shakespeare-Übersetzung Frank Günthers erschienen. Heuer nun beschließt Band 38, Sonette, diese Gesamtausgabe, die ihresgleichen sucht. Sie liefert sowohl die englischen Originaltexte (nach denen des Arden-Shakespeare) als auch eine moderne und nah am Original geführte, kommentierte Übersetzung (fast) aller Texte Shakespeares (The Two Noble Kinsmen fehlt diesmal – wahrscheinlich eine berechtigte Entscheidung–, aber sowas ist beinahe schon gute Tradition deutscher Gesamtausgaben), in jedem Band einen Stellenkommentar, den Werkstattbericht des Übersetzers und einen Essay eines renommierten Shakespearerologen und dürfte damit die am breitesten aufgestellte deutsche Shakespeare-Ausgabe aller Zeiten sein.

Und der Übersetzer hätte es beinahe geschafft, wenn ihn Schicksalsschläge und Krankheit nicht abgehalten hätten, als erster Mensch Shakespeare komplett in eine andere Sprache zu übertragen. Es hat nicht viel gefehlt: Von den 154 Sonetten hat er 22 übersetzt: die Nummern I bis XXI und dazu noch die Nummer LXVI, die in zahlreichen Übersetzungen und Aneignungen in Deutschland als politisches Gedicht Karriere gemacht hat. Er ist auf dem letzten Stück dieses enormen Weges der Übersetzung gestorben.

Der Verlag hat sich auf Empfehlung Günthers hin entschlossen, diesen letzten Band durch die Übersetzungen Christa Schuenkes zu ergänzen, die auf jeden Fall in ihrer Aktualität an die von Günther heranreichen. (Ich selbst hätte mich auch mit einem fragmentarischen letzten Band zufrieden gegeben, aber das soll nur beiseite gesprochen sein.) Wie gut sich diese Übersetzungen halten werden, muss natürlich die Zeit zeigen; ich selbst maße mir nicht an, Lyrik und deren Übersetzung auf diesem Niveau zu beurteilen, weil ich mir auch nicht annähernd eine Vorstellung von der Schwierigkeit dieser Sache machen kann.

Hier wird, wie bisher, immer mal wieder ein Band aus dieser Ausgabe besprochen werden, eben so, wie sie sich in meine Lektüre einreihen.

William Shakespeare: Sonette. Aus dem Englischen übersetzt von Frank Günther und Christa Schuenke. Zweisprachige Ausgabe. Gesamtausgabe Bd. 38. Cadolzburg: ars vivendi, 2021. Geprägter Leineneinband, Fadenheftung, zwei Lesebändchen, 200 Seiten. 33,– €.

Jean Canavaggio: Cervantes

Miguel de Cervantes hat für einen Schriftsteller – wenigstens nach unseren bürgerlichen Vorstellungen – ein recht abenteuerliches Leben geführt. Er wurde geboren in dem Jahr, als der Konquistador Hernán Cortés starb, also noch unter der Herrschaft Karls I., als eines von sieben Kindern eines Wundarztes, der seine Familie mehr schlecht als recht über die Runden brachte. Er machte schon in seiner Kindheit zusammen mit seiner Familie eine unruhige Wanderzeit durch, die sein Leben für sehr lange Zeit prägen sollte. Trotz der Armut seiner Familie erhält Miguel eine solide Schulbildung, man spekuliert, ob in einer jesuitischen Schule in Córdoba; ein nachfolgendes Studium der Theologie, das ihm einige Biographen zuschreiben, ist nicht nachweisbar. Wahrscheinlich träumt er in diesen Jahren schon von einer Karriere als Schriftsteller.

Bevor er überhaupt Zeit gehabt hätte, sich an einer Universität einzuschreiben, flieht er nach Italien, wahrscheinlich um sich einer Verhaftung aufgrund eines Duells zu entziehen, arbeitet dort kurzzeitig als Kammerdiener für den späteren Kardinal Giulio Acquaviva und tritt dann ins spanische Heer ein, wird also Teil der spanischen Besatzungsmacht in Italien. Er nimmt zusammen mit seinem jüngeren Bruder Rodrigo als Soldat an der Seeschlacht von Lepanto teil, wird dort von drei Kugeln verletzt, von denen eine seine linke Hand durchschlägt und unbrauchbar macht.

Da die Kriegstätigkeit der Spanier danach in eine etwas ruhigere Phase eintritt, entschließt er sich, zusammen mit Rodrigo nach Spanien zurückzukehren, doch kurz vor der Ankunft wird das Schiff von Piraten aufgebracht und alle Passagiere als Sklaven bzw. Geiseln nach Algier verschleppt. Da Miguel Empfehlungsschreiben hoher Militärs bei sich hat, vermutet man in ihm und seinem Bruder lohnende Geisel, so dass beide gefangengesetzt, aber nicht als Sklaven verkauft werden. Miguel wird fünf Jahre in Algier bleiben, bis es endlich gelingt, ihn freizukaufen und nach Spanien zurückzubringen. In diesen fünf Jahren unternimmt er vier erfolglose Fluchtversuche; am Ende steht er kurz davor, als Galeerensklave eingesetzt zu werden, als buchstäblich in letzter Minute sein Freikauf gelingt. Nach zehn Jahren Abwesenheit kehrt Miguel im Dezember 1580 zu seiner Familie zurück.

In der Folgezeit arbeitet er zum einen an seinem ersten Roman Galatea – einem Schäferroman, wie sie damals überaus beliebt waren –, dessen erster Teil 1585 erscheint (der zweite Teil wurde wohl nie geschrieben). Zum anderen versucht er gleichzeitig als Veteran und ehemalige Geisel vom Hof eine Sinekure zu erhalten, doch ist seine Familie dafür offenbar nicht einflussreich genug. Nicht, dass man ihm bei seinem Schicksal nicht entgegenkommen möchte, aber nur, indem man ihn mit konkreten Missionen beauftragt, die zwar bezahlt werden, aber das Wann ist eher ungewiss. So schlägt sich Cervantes ab 1587 jahrelang als Kommissar zur Requirierung von Öl und Getreide für die spanische Flotte durchs Leben. Das bedeutet nicht nur umständliche Verhandlungen mit unwilligen Bauern und Magistraten, die die unzuverlässige Zahlweise des königlichen Schatzamtes kennen und ihre Ernte lieber auf dem freien Markt anbieten möchten, Cervantes hat sich auch selbst ständig mit der Finanzbehörde herumzuschlagen, ist böswilligen Verleumdungen ausgesetzt und gerät einmal sogar wegen eine falschen Beschuldigung kurzzeitig ins Gefängnis.

Erst Mitte 1594 gibt er dieses Geschäft auf, um Steuereintreiber zu werden. Seine Besoldung kann er in diesem Fall direkt von den eingetriebenen Steuern in Abzug bringen, was ihm aber nichts nützt, da er die gesamten eingezogenen Gelder bei einem Kaufmann hinterlegt, der das zum Anlass nimmt, einen betrügerischen Bankrott zu veranstalten und sich mit dem Bargeld aus dem Staub zu machen. Zwar gelingt es Cervantes, die Steuergelder aus der Konkursmasse zu retten, sein eigenes Geld aber ist unrettbar verloren. Auch diese Affäre geht nicht ohne einen erneuten Gefängnisaufenthalt ab.

Ab 1598 wieder frei, beginnt Cervantes mit der Arbeit am Don Quijote, an dessen erstem Teil er über sieben Jahre hinweg arbeiten wird. Als der Roman Anfang 1605 in Madrid erscheint, macht er seinen Autor nahezu sofort zu einem der bekanntesten Schriftsteller, und das innerhalb weniger Monate nicht nur in Spanien sondern in ganz Europa und Südamerika (bereits im Februar 1605 wird ein erstes Kontingent des Buches nach Peru exportiert). Von dieser Zeit an scheint Cervantes in der Hauptsache als Autor gelebt zu haben.

Neben 16 Theaterstücken erscheinen in den elf Jahren bis zu seinem Tod – in denen Cervantes übrigens ein weiteres Mal für kurze Zeit ins Gefängnis geworfen wird – noch die Novellas Exemplares (ein weiterer europaweiter Erfolg), ein poetologisches Versepos Die Reise zum Parnass und schließlich im November 1615 der 2. Teil des Don Quijote, nachdem bereits im Jahr zuvor ein pseudonymer 2. Teil erschienen war, der sich nicht nur an den Erfolg des Buches anhängen wollte, sondern dessen Vorwort auch eine üble Beschimpfung des Original-Autors enthielt. Cervantes geht sowohl in der Vorrede als auch im Text seines eigenen 2. Teils auf diese Fälschung und besonders auf die Verleumdungen ein und zahlt es dem anonymen Fälscher mit besserer Münze heim. Am 22. April 1616 – so jedenfalls sein Biograph Canavaggio – stirbt Cervantes in Madrid. Postum erscheint 1617 sein letzter Roman Die Irrfahrten von Persiles und Sigismunda.

All dies schildert in erstaunlicher Detailfülle die musterhafte akademische Biographie Canavaggios, der als einer der bester Kenner Cervantes’ gelten muss. Sein Buch ist – soweit ich das sehe – immer noch die präziseste Beschreibung dieses Lebens, obwohl es bereits aus dem Jahr 1986 stammt. Canavaggio liefert nicht nur die bekannten Tatsachen, sondern auch die zahlreichen biographischen Spekulationen und Legenden seiner Kollegen, jeweils mit einer exakten und verlässlichen Einordnung. Zudem werden der historische Hintergrund und die sehr dynamische ökonomische und gesellschaftliche Entwicklung Spaniens während der Lebenszeit Cervantes’ kurz und eingängig vermittelt. Dabei ist das Buch durchweg gut lesbar und klar strukturiert. Bei all diesen Vorteilen ist es selbstverständlich, dass es nicht mehr im Druck ist und nur noch antiquarisch erworben werden kann.

Jean Canavaggio: Cervantes. Aus dem Franzöischen von Enrico Heinemann und Ursel Schäfer. Zürich u. München: Artemis, 1989. Leinen, 387 Seiten. Nicht mehr lieferbar.

Miguel de Cervantes Saavedra: Der geistvolle Hidalgo Don Quijote von der Mancha

Da er sich an die engen Grenzen des Berichtes halte und auf sie beschränke, wo er doch Geschick, Begabung und Verstand genug besitze, um über das gesamte Weltall zu schreiben, soll man, wie er bittet, seine Mühe nicht verachten, sondern ihn loben nicht für das, was er schreibe, sondern für das, was er nicht geschrieben habe.

Die dritte Übersetzung dieses Weltklassikers, die ich nun gelesen habe. Meine erste Lektüre des Buches liegt in der späten Schulzeit und wurde wahllos mit der Übersetzung von Ludwig Braunfels erledigt, die heute noch unter die meistgedruckten deutschen Texte des Romans gehört. Dann geriet ich stark unter den literarischen Geschmack Arno Schmidts und fühlte mich daher genötigt, das Buch noch einmal aus der Feder Ludwig Tiecks zu lesen. Und nun endlich die erste Übersetzung des 21. Jahrhunderts von Susanne Lange, die wohl dem heutigen Leser den besten Eindruck davon vermittelt, wie das Buch im Spanischen auf den Leser wirkt.

Die Geschichte der Übersetzungen des Don Quijote ins Deutsche beginnt erstaunlicher Weise bereits Mitte des 17. Jahrhunderts: Joachim Caesar übersetzt 1648 die ersten 23 Kapitel des ersten Bandes – grob geschätzt ein Fünftel des gesamten Romans –, worin die Entstehung des Wahns Don Quijotes erzählt wird und einige der berühmtesten Abenteuer, darunter der Kampf mit der Wind­müh­le, seine Erlebnisse in einer Schenke, die er für eine Burg hält, die Sichtung und Verbrennung der Bibliothek Don Quijotes, aber auch eine der ersten romantischen Nebenhandlungen, eine der zahl­rei­chen Liebesgeschichten, mit denen besonders der erste Teil des Buches aufgefüllt wird.

Deutlich umfangreicher gerät dann die Übersetzung durch Friedrich Justin Bertuch (1775–1778), die sich als vollständige Übersetzung ausgibt, aber immer noch einige der eingeschobenen Novellen fortlässt, um das Ausschweifende des Romans einzudämmen. Erst die Übersetzung Ludwig Tiecks (1799/1801) liefert tatsächlich den vollständigen Text im Deutschen und ist allein deswegen bis heute im Druck und auch elektronisch verfügbar. Tiecks Text wird zur Grundlage der romantischen Verehrung des Buches, das, neben dem Tristram Shandy, zum Muster für zahlreiche der anek­do­ti­schen und von Nebenhandlungen regierten Erzählungen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird. Der Roman wird so auch in Deutschland zum Klassiker, so dass im 19. Jahrhundert gleich fünf weitere Übersetzungen gedruckt werden (Förster und Müller, 1825; Anonym, 1837; Adalbert von Keller, 1839; Edmund Zoller, 1867; Ludwig Braunfels, 1883). Besonders die von Braunfels bläht den Text des Originals unnötig auf, indem er nicht nur in ein möglichst umständliches Deutsch übertragen wird, sondern auch eine unendliche Zahl von kleinsten Einschüben aufweist, was beides Braunfels wohl für eine Verstärkung des beabsichtigten humoristischen Effekts hält. Für das 20. Jahrhundert sind nur zwei Übersetzungen zu verzeichnen: Die von Konrad Thorer (Insel, 1908), die ausdrücklich eine Bearbeitung der anonymen Übersetzung von 1837 ist, und die von Anton M. Rothbauer (Goverts, 1964; zuletzt noch einmal bei Zweitausendeins um die Jahrhundertwende gedruckt), die zwar behauptet, eine eigenständige Leistung zu sein, der man aber das Skelett der Braunfelsschen Übersetzung in jedem Satz anmerkt. Man darf aber nicht zu streng mit Rothbauer ins Gericht gehen, der immerhin die Mühe auf sich genommen hat, eine deutsche Cervantes-Gesamtausgabe mit über 4.700 Seiten in vier Bänden zu erstellen.

Erst im Jahr 2008 legt Hanser mit der Übersetzung von Susanne Lange einen neuen, modernen und entschlackten Text des Don Quijote auf Deutsch vor. Langes Übersetzung ist – soweit ich das erkennen kann – stilistisch unbeeinflusst von den Vorgängern, bewegt sich nah am Original und versucht nicht, den Roman noch lustiger zu machen, als er es ohnehin schon nicht ist. Auch unterlässt sie jeglichen Versuch, die Reichhaltigkeit des Originals auf irgendeinen vermeintlichen Hauptzug zu konzentrieren. Sicherlich ist es so, dass der Don Quijote eine Parodie auf die grassierenden Ritterromane seiner Zeit darstellt, er ist aber auch zugleich – und damit sich selbst ins Wort fallend – ein Kommentar auf die soziale Wandlung der Welt und besonders Spaniens seit dem Abschluss der Reconquista Anfang 1492: Die meisten Ritterorden sind zusammengebrochen, der Ritterstand selbst spielt keine bedeutende Rolle mehr; in Südamerika hausen Glücksritter und Räuberhauptleute und betreiben das Geschäft der Ausbeutung dieses Kontinents; die Seefahrer sind endgültig zu den Helden der neuen Zeit aufgestiegen, und der umherziehende Ritter eines imaginierten Mittelalters taugt nur noch als Verrückter und Witzfigur in einer Welt, in der es in der Hauptsache um Geld geht, nicht um Ehre, Gerechtigkeit, Schönheit oder Liebe. Zugleich bedient Cervantes seine Leser mit verwickelten Liebes- und Fluchtgeschichten, thematisiert den fortdauernden Krieg gegen die Muslime, an dem er selbst teilgenommen und dem er eine Hand geopfert hat, den Konflikt der Religionen, den die Reconquista hinterlassen hat, und die damit einhergehenden Ungerechtigkeiten und persönlichen Schicksale. Don Quijote ist eben nicht nur ein Abgesang auf die heile Welt der Romane (und damit zugleich auf das Erzählen trivialer Phantasien), sondern es ist zugleich eine ganz konkrete und durchaus kritische Bestandsaufnahme der neuzeitlichen Welt.

Hinzukommt, besonders im zweiten Teil, die Frage, inwieweit eine objektive Wahrnehmung dieser Welt überhaupt möglich ist. Don Quijote ist nicht nur ein Verrückter, sondern er stellt durch seine Grundannahme, dass alles, was ihm begegnet, von ihm feindlich gesinnten Zauberern in seiner Erscheinung verändert wurde, und man die Welt nur richtig deutet, wenn man diese Verzauberung durchschaut und rückgängig macht, das Muster des forschenden und erkennenden Menschen der Neuzeit schlechthin dar. Wer den tiefsitzenden Ursprung des Zorns im Streit zwischen Na­tur­wis­sen­schaft­lern und Gläubigen, Empirikern und Metaphysikern, Skeptikern und Verschwörungsanhängern begreifen will, lese dieses Buch. Denn es ist durchaus nicht damit getan, Sancho Panza als realistisches Korrektiv des verrückten Don Quijotes zu lesen, sondern es gilt zu begreifen, dass Panza auch den Verrat der Realisten am Ideal einer gerechten und edlen Welt darstellt. Es ist nämlich alles andere als ein Zufall, dass das Schlitzohr Panza in einer langen Passage des Romans als Richter über ein von ihm eingebildetes Inselreich fungiert und dort als weiser Mann durchgeht, weil er gewitzter ist als die gewitzten Betrüger, über die er zu urteilen hat.

Wer diesen Weltroman der Neuzeit lesen will, greife unbedingt zu dieser schlanken und eingängigen Übersetzung; und man sollte Geduld haben und den Roman nicht deshalb unterschätzen, weil er als humorige Schnurre daherkommt; dafür allein ist er erheblich zu lang geraten. Aber besonders der zweite Teil des Buches hat es in sich, denn wir sind noch lange nicht hinweg über das, was dort erzählt wird.

Miguel de Cervantes Saavedra: Der geistvolle Hidalgo Don Quijote von der Mancha. Aus dem Spanischen von Susanne Lange. Zwei Bände. München: Hanser, 2008. Leinen Fadenheftung, Lesebändchen, 696 + 791 Seiten. 68,– €. Auch als dtv-Taschenbuch 14469.

Savinien Cyrano de Bergerac: Reise zum Mond und zur Sonne

Gott der Gerechte! Was macht man nicht alles dem Volke weis in Eurer Welt!

Eine Lektüre aus nostalgischem Grund: Zu Beginn meines Studiums habe ich eine ganze Reihe Utopien und phantastischer Reisen der frühen Neuzeit gelesen. Allerdings war damals Cyrano de Bergerac noch nicht im Schwange, da die Verfilmung des Theaterstücks von Edmond Rostand, die ihn wieder in die aktive Erinnerung der Kultur schwemmen sollte, noch ausstand. Die beiden Reisen sind die einzigen Romane, die Cyrano geschrieben hat, wobei die zur Sonne Fragment geblieben ist. Beide wurde mit wesentlichen Kürzungen, die in der Hauptsache die religions- und kirchenkritischen Passagen betrafen, aus dem Nachlass herausgegeben. Zum Glück sind die Manuskripte des Autors erhalten geblieben, so dass moderne Ausgaben die vollständigen Texte präsentieren.

Ich bin nun eher zufällig auf die hier vorgestellten Ausgabe gestoßen, die auch schon wieder nicht mehr lieferbar ist. Sie wurde 2005 erstmalig veröffentlicht und 2009 dann bei dtv, wenn ich es richtig sehe, in nur einer einzigen Auflage nachgedruckt. Das Buch ist liebevoll gemacht, gut übersetzt und ausgezeichnet historisch kommentiert, also eigentlich so, wie solche Bücher sein sollen. Es ist sehr schade, wenn Bücher wie dieses einfach sang- und klanglos wieder verschwinden.

Erzählt wird das, was bereits der Titel besagt: Der Ich-Erzähler – zweifellos ein Alter ego des Autors – unternimmt auf wunderliche, aber durchaus technische Art und Weise zwei Reisen: Die zum Mond bringt ihn ins biblische Paradies, wo er auf einige Propheten des Alten Testaments trifft, die allerdings theologisch recht unkonventionelle Meinungen vertreten. Außerdem führt der Erzähler dort eine breite Diskussion zeitgenössischer physikalische Theorien. Bei der Reise zur Sonne ist in der ersten Hälfte der phantastische Anteil stärker ausgeprägt; so gerät der Erzähler etwa in eine Gesellschaft sprechender Vögeln, die ihn als Unmenschen anklagen und wegen der auf Erden praktizierten Grausamkeit der Menschen den Vögeln gegenüber zum Tode verurteilen, vor dem er nur errettet wird, weil er früher einmal nett zum Papagei seiner Tante war. Auch findet sich die Darstellung einer Gesellschaft von Bäumen, die vor dem Feuertier (das ist der Salamander) zittern, aber von einem Eistier beschützt werden, und was der Dinge mehr sind. Übrigens leben alle verstorbenen Philosophen auf der Sonne weiter, doch bevor der Erzähler mit dem großen Campanella als Führer so recht in dieses Reich vordringen kann, bricht das Fragment ab.

Die Lektüre ist aufgrund der großen zeitlichen Distanz nur zusammen mit dem Kommentar wirklich fruchtbar: Der Übersetzer und Herausgeber Wolfgang Tschöke hat sich die Mühe gemacht, die Parallelen zu und Übernahmen aus Cyranos literarischen Vorlagen und die von ihm diskutierten wissenschaftlichen Theorien im Anhang ausführlich darzulegen. Wer es darauf anlegte, könnte von diesem Kommentar aus einen Weg durch alle empirischen Wissenschaften des 17. Jahrhundert finden. So ist das Buch nicht nur jenen zu empfehlen, die sich für frühe Utopien der Neuzeit interessieren, sondern auch jenen, die einen Einblick in den Stand der naturwissenschaftlichen Diskussion Mitte des 17. Jahrhundert gewinnen wollen. Eine sehr anregende, wenn auch nicht ganz einfach Lektüre.

Savinien Cyrano de Bergerac: Reise zum Mond und zur Sonne. Aus dem Französischen von Wolfgang Tschöke. München: dtv, 2009. Broschur, 360 Seiten. Derzeit nicht lieferbar.

Mark Greengrass: Das verlorene Paradies

Diese Geschichte Europas der frühen Neuzeit (1517–1648) gehört in die Reihe der Penguin Geschichte Europas, aus der hier schon der Band von Ian Kershaw zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts besprochen wurde. Es scheint mir interessant, dass man bei Random House offenbar nicht davon überzeugt ist, dass die gesamte Reihe für die eigene Verlagsgruppe attraktiv ist, so dass wir einzelne Bände wohl noch in anderen Verlagen erwarten dürfen. Die Reihe lässt sich aus zwei Bänden natürlich nicht beurteilen, aber der allgemeine Eindruck ist durchaus positiv.

Der Originaltitel des Bandes ist etwas deutlicher als der der Übersetzung: “Christendom Destroyed” macht eines der zentralen Konzepte des Autors sofort deutlich, während der literarischere deutsche Titel suggeriert, beim späten Mittelalter habe es sich um eine Art von Paradies gehandelt, wovon in keiner Weise die Rede sein kann und im Buch auch nicht ist.

Der Autor liefert eine sehr detailorientierte Geschichte der Zeit, die bei sehr konkreten Lebensumständen (Wohnverhältnisse, Siedlungsformen, Lebenserwartung, Familienplanung, Ehe, Erbrecht, Primogenitur, Krieg und Krankheiten, Hungersnöte, Klima, Sonnenflecken, Vulkanausbrüche, Essensgewohnheiten und unklare Todesursachen – alles in dieser Reihenfolge) beginnt und sich langsam zu dem vorarbeitet, was man gemeinhin als große Geschichte von einem Geschichtsüberblick erwartet. Wie schon angedeutet, legt der Autor ein bedeutendes Gewicht auf das religiöse Schisma der Reformation, das er einerseits mitverantwortlich macht für einen wesentlichen Wandel im Verhältnis zwischen Untertanen und herrschender Klasse. Andererseits sieht er ein, dass nicht alles, was in der frühen Neuzeit nach einem religiösen Konflikt aussieht, tatsächlich religiöse Ursachen hat oder religiöse Ziele verfolgt.

Es lassen sich dem Buch eine Vielzahl interessanter Details entnehmen, wenn auch die Darstellung hier und da seltsame blinde Flecken aufweist: Kein einziger Satz zur Entstehung der King James Bible, obwohl andere Bibelübersetzungen ausführlich besprochen werden, eine einzige flüchtige Erwähnung der Mayflower und was der Kleinigkeiten mehr sind.

Als ganz und gar missraten muss aber die deutsche Übersetzung angesehen werden, die das Buch gänzlich unnötig aufbläht und den eher lakonischen Stil des Autors durch eine besserwisserische Geschwätzigkeit ersetzt:

auswird
“The Ottomans also turned themselves into a naval power.”„Die Osmanen betrieben auch Flottenbau, um Seemacht zu werden.“
“Protestant reformers undermined pilgrimage to the Holy Places.”„Die Reformatoren hielten Pilgerfahrten zu den heiligen Stätten ohnehin für unwichtig.“
“By 1650, over 180 tons of gold had been exported from the Indies, and 16,000 tons of silver from the New World.”„Bis 1650 waren mehr als 180 Tonnen Gold aus Ostindien und 16.000 Tonnen Silber aus der Neuen Welt nach Europa gelangt.“

Gerade dieser letzte Zusatz aus der Phantasie des Übersetzers ist besonders ärgerlich, da wenige Seiten zuvor ausdrücklich thematisiert wurde, dass ein bedeutender Anteil des Peruanischen Silbers nach China exportiert wurde.

Zum Ausgleich dafür lässt der Übersetzer an anderen Stellen willkürlich Wörter und auch schon einmal ganze Sätze weg, ändert die Reihenfolge der Sätze, die er doch noch die Freundlichkeit besitzt zu übersetzen, und nimmt sich auch sonst all die Freiheiten heraus, die seine Tätigkeit früher einmal zu einem der phantasievollsten im holzverarbeitenden Gewerbe machten. Gleichgültig, wo man die Übersetzung aufschlägt, bietet sich einem dasselbe Bild. Kurz gesagt: Die Übersetzung macht das Buch für einen ernsthaft interessierten Leser vollständig unbrauchbar. Mit ist unklar, warum eine Organisation wie die Wissenschaftliche Buchgesellschaft eine solche Katastrophe zum Druck befördert.

In Details durchaus interessant, im Ganzen wenig überraschend, auf Deutsch ungenießbar.

Mark Greengrass: Das verlorene Paradies. Europa 1517–1648. Aus dem Englischen von Michael Haupt. Darmstadt: wbg Theiss, 2018. Pappband, 781 Seiten. 39,95 €.

William Shakespeare: König Heinrich VIII.

König Heinrich VIII. gehört zu den derzeit unbeliebteren Stücken Shakespeares, während es noch Anfang des 20. Jahrhunderts mit großem Pomp und Erfolg inszeniert worden ist. Im Kern behandelt es eine vergleichsweise kurze Phase im Leben Heinrichs VIII. zwischen seiner ersten Bekanntschaft mit Anne Boleyn und der Taufe ihrer gemeinsamen Tochter Elizabeth. Das Stück endet mit einer Apotheose der jungen Elizabeth, wahr­schein­lich zu dem Zweck, um damit zugleich Elizabeth Stuart zu feiern, die 1613, im Jahr der Erstaufführung, Friedrich V. von der Pfalz, den späteren böhmischen Winterkönig geheiratet hat.

Das Stück weist eher wenig Dramatik auf, insbesondere was seine Titelfigur angeht: Heinrich VIII. erscheint fast als eine Figur des Hintergrundes, während sich im Vordergrund eine Reihe politischer Tragödien abspielt: Der Herzog von Buckingham fällt einer Intrige des Kardinals Wolsey zum Opfer, der damit einen seiner politischen Gegner beseitigt. Königin Katharina durchleidet die Scheidung von ihrem untreuen Ehemann; der Kardinal wird anschließend selbst Opfer einer Intrige oder eigenen Ungeschicks, und sein Nachfolger Thomas Cramner entgeht nur knapp der nächsten Intrige, weil der König ihn als seinen treuen Freund anerkennt und schützt. Es folgen Geburt und Taufe der späteren Königin Elizabeth, und bei der Taufe eben jene Feier der goldenen Zukunft, die Elizabeth dem englischen Volk bereiten werde.

Wenn man unbedingt einen kritischen Gehalt des Stückes suchen will, so findet man ihn in der durchgehenden Thematisierung des Problems der Wahrheit in der politischen Welt. Wahr ist, was so erscheint, und oft muss eben dieser Schein genügen. Darauf weist auch schon platterdings der Titel hin, unter dem das Stück erstmals gespielt wurde: Alles ist wahr. Übersetzer Frank Günther weist darauf hin, dass dieser Titel selbst zweideutig ist, denn er könne neben dem Anpreisen der historischen Verlässlichkeit des Stückes auch bedeuten, dass eben alles und jedes als wahr erscheinen kann, wenn es nur richtig in Szene gesetzt wird. In diesem Sinne wäre dann auch die das Stück beschließende Apotheose Elizabeths cum grano salis zu lesen.

Das Stück ist in seiner Anlage insgesamt eher opernhaft und muss mit großem Pomp inszeniert werden, um seine Wirkung zu entfalten. Es enthält zahlreiche dafür geeignete Szenen, die in den Regieanweisungen mit außergewöhnlicher Aus­führ­lich­keit geschildert werden. Offensichtlich passt ein solch eher oberflächliches Spektakel nicht gut in das rezente Bild von Shakespeare als Dramatiker. Hinzukommt, dass es eines jener Stücke ist, bei dem man seit der Mitte des 19. Jahrhunderts annimmt, dass Sha­kes­pea­re nur als Co-Autor tätig gewesen ist (so weit wir wissen, damals wie heute eher der Normalfall); der andere Autor soll John Fletcher ge­we­sen sein, der Shakespeare als festen Autor der King’s Men abgelöst hat. Hand­fes­te Be­le­ge für Fletchers Beteiligung am Stück gibt es nicht, nur stilistische Hinweise für die Tätigkeit eines zweiten Autors neben Sha­kes­pea­re.

Wer nicht allzu viel vom Stück erwartet, kann hier ein Stück dramatischer Panegyrik genießen, wie sie zu dieser Zeit durchaus üblich war. Solche Festdramen schlossen sich nahtlos an Inszenierungen königlicher Herrschaft wie Feste, Umzüge, Ankunftsfeiern und ähnliches an. Sie waren als Spektakel beim Volk höchst beliebt und lieferten das, was heute Fern­se­hen, das Goldene Blatt, die Frankfurter Allgemeine und vergleichbare Medien leisten. Dass auch Shakespeare, als Star der Unterhaltungsindustrie seiner Zeit, an solchen Inszenierungen beteiligt war, ist kaum ver­wun­der­lich. Klappern, so heißt es, gehört zum Handwerk.

William Shakespeare: König Heinrich VIII. Übersetzt von Frank Günther. Zweisprachige Ausgabe. Gesamtausgabe Bd. 32. Cadolzburg: ars vivendi, 2015. Geprägter Leineneinband, Fadenheftung, zwei Lesebändchen, 320 Seiten. 33,– €.

Peter H. Wilson: Der Dreißigjährige Krieg

Im Vergleich zu dem emsigen Herzog Maximilian von Bayern, war der „Bierjörge“ ein fauler Gesell, der die eine Hälfte seiner Zeit mit Jagen und Saufen verbrachte und die andere mit Saufen und Jagen (zwischen 1611 und 1653 soll der Kurfürst sage und schreibe 113 629 Stück Wild erlegt haben).

Vorausschauend aufs nächste Jahr bringt der Theiss Verlag, mithin die Wissenschaftliche Buchgesellschaft die Übersetzung eines englischen Buches aus dem Jahr 2009 auf den Markt. Wilsons Darstellung des Krieges sowie seiner Vorgeschichte und seinen Nachwirkungen umfasst beinahe 1000 Seiten, mit dem Anhang 1144. Es handelt sich um ein de­tail­lier­tes, eng an den historischen Daten geführtes und weitgehend ideologiefreies Bild der Kriege zwischen 1555 und 1648, ihrer Vorgeschichte, den Zusammenhängen zwischen ihnen und ihrem jeweiligen Einfluss auf das weitere Geschehen.

Allein auf die Vorgeschichte der Serie von Auseinandersetzungen, die wir gemeinhin den Dreißigjährigen Krieg nennen, verwendet Wilson etwa 340 Seiten, auf denen er eine europäische Umschau über die Interessen der einzelnen internationalen Mitspieler (die beiden Zweige Habsburgs, das Heilige Römische Reich, die niederländischen Generalstaaten, Dänemark, Schweden und Polen sowie Frankreich, England, Ungarn und nicht zuletzt die Türkei) hält. Aufgrund dieser Bestandsaufnahme sieht sich Wilson gerechtfertigt, seine Darstellung des Kriegsgeschehens, das mit dem Böhmischen Auf­stand beginnt und dem Westfälischen Frieden endet, wesentlich unter drei Voraussetzungen zu schreiben, die in dieser Kombination nicht von allen anderen Historikern geteilt werden:

  1. Es hilft nicht, den Krieg sowohl in seinem Anfang als auch in seinem Verlauf auf eine oder wenige Ursachen zu reduzieren. Stattdessen muss versucht werden, der außerordentlichen Komplexität des Geschehens gerecht zu werden.
  2. Der Dreißigjährige Krieg war nicht in erster Linie ein Religionskrieg:

Der Dreißigjährige Krieg war nur insofern ein Religionskrieg, als der Glaube in der frühen Neuzeit das leitende Prinzip in allen Bereichen öffentlichen oder privaten Handelns lieferte. Um den tatsächlichen Zusammenhang zwischen dem militärischen Konflikt und den theo­lo­gi­schen Streitigkeiten innerhalb des Christentums zu verstehen, müssen wir zwischen militanten und gemäßigten Gläubigen unterscheiden.

  1. Der Dreißigjährige Krieg war nicht unvermeidlich.

Entlang dieser Grundthesen entwickelt Wilson dann auf über 500 Seiten ein Panorama des Krieges, das an Faktenreichtum seinesgleichen sucht: Niemals ist ein Heer einfach nur ein Heer, sondern immer erfahren wir seine Stärke, seine Zusammensetzung und wer es wann angeworben und wieviel er dafür bezahlt hat bzw. hätte bezahlen müssen. Einfache ö­ko­no­mi­sche Zwänge der Kriegsführung wie etwa die Tatsache, dass man ein Heer bei seiner Auflösung auszahlen muss, weshalb man es lieber in den näch­sten Konflikt entsendet, in der berechtigten Hoffnung, dass sich zahl­rei­che der Soldforderungen im Laufe der Zeit von selbst erledigen werden, werden von Wilson auf derselben Ebene diskutiert wie territoriale, genealogische, hierarchische oder religiöse Ziele der handelnden Parteien.

Doch Wilsons Darstellung ist nicht nur minutiös, sie ist auch weitgehend frei von übergeordneten ideologischen Konzepten, die versuchen, den Krieg in einen großen Zusammenhang einzubinden, in dem das immer mehr oder weniger zufällige Nacheinander sich zu einem sinnfälligen Prozess gestaltet. Dies geht soweit, dass Leser sich eventuell zuerst andernorts einen Überblick über den Kriegsverlauf im Großen verschaffen sollten, bevor sie versuchen, Wilson zu folgen. Wilsons Erzählung ist oft dem konkreten Geschehen so nah, dass der Leser sich in die Perspektive des Zeitgenossen versetzt fühlt, der den Abläufen nur mehr beobachtend, nicht verstehend folgen kann. Nach einer ebenso exakten wie um­fas­sen­den Darstellung des Krieges und Friedensschlusses klingt das Buch mit 100 Seiten über seine Nachwirkungen aus: Politische, ökonomische, demographische, soziale und kulturelle Folgen werden thematisiert.

Ich muss unmittelbar nach der Lektüre zugeben, dass es mir schwerfällt, einen kritischen Standpunkt gegenüber Wilsons überwältigender Kriegs­ge­schich­te zu entwickeln. Beinahe war ich erleichtert darüber, dass jedes einzelne Urteil Wilsons (so sehr viele sind es nicht) über Friedrich Schiller und dessen Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Dreißigjährigen Krieg mit Fehlern behaftet ist – was für eine Erleichterung!

Ein sehr gründliches und überzeugendes Geschichtsbuch. Es stellt wahr­schein­lich für die meisten Leser eine Zumutung dar, da es das historische Geschehen nicht in einer einzigen überlegenen und sou­ve­ränen Ein­ord­nung handhabbar und verständlich macht, sondern es als einen le­ben­di­gen, sich aus sich selbst fortzeugenden Prozess behandelt, der nur aus seinen direkten und immer konkreten Voraussetzungen heraus ver­ständ­lich wird. Wahrscheinlich sollte alle Geschichte so oder so ähnlich ge­schrie­ben werden; durchsetzen wird es sich nicht, allein schon wegen der Mühsal, die der Autor damit gehabt haben muss, sich die Grund­la­gen für eine solche Erzählung zu erarbeiten. Ein Buch für alle, die sich entweder für die komplexe und faszinierende Welt des 17. Jahrhunderts oder für historisches Erzählen überhaupt interessieren.

Peter H. Wilson: Der Dreißigjährige Krieg. Eine europäische Tragödie. Aus dem Englischen von Thomas Bertram, Tobias Gabel und Michael Haupt. Stuttgart: Theiss, 2017. Pappband, Lesebändchen, 1144 Seiten. 49,95 €.

Nathaniel Hawthorne: Der scharlachrote Buchstabe

Es gibt keinen Weg, der uns aus diesem trostlosen Labyrinth herausführt.

Hawthorne_BuchstabeHanser legt einen der ersten nordamerikanischen Klassiker in einer neuen Übersetzung vor. Hawthornes romantische Erzählung war nicht nur beim Publikum ein kontrovers diskutierter Erfolg, sondern wurde auch von Schriftsteller-Kollegen gelobt. Für ein romantisches Schaustück war das Buch 1850 etwas spät erschienen; um den Text literarhistorisch richtig einzuordnen, muss man sich klar machen, dass nur sieben Jahre später Flauberts „Madame Bovary“ erscheint.

Erzählt wird die Geschichte Hester Prynnes, die ursprünglich mit einem älteren Gelehrten in England verheiratet war und von diesem in die jungen Staaten Nordamerikas vorausgeschickt wurde. Nachdem ihr Ehemann als auf See verschollen gilt, lässt sich Hester auf eine außereheliche Beziehung ein, aus der eine Tochter hervorgeht. Die Erzählung setzt damit ein, dass Hester mit ihrer Neugeborenen an den Bostoner Pranger gestellt wird; sie weigert sich aber auch dort, den Vater ihres Kindes zu benennen. Wie der Zufall und die Forderungen der romantischen Dramatik es wollen, trifft an jenem Tag, als Hester als Sünderin öffentlich zur Schau gestellt wird, auch ihr tot geglaubter Ehemann in Boston ein. Die Eheleute erkennen einander, doch der Ehemann sagt sich von Hester los und verpflichtet sie, sein Inkognito – er nennt sich jetzt Roger Chillingworth – als Geheimnis zu bewahren.

In den kommenden Jahren lebt Hester, die zur Kennzeichnung ihres Status als Sünderin ein rotes A auf ihrem Kleid tragen muss, ein Leben am Rand der Bostoner Gesellschaft und beschäftigt sich in der Hauptsache mit Näharbeiten und dem Aufziehen ihrer Tochter Pearl, die als ein etwas wundersames, wildes und naturnahes Kind dargestellt wird. Roger Chillingworth dagegen praktiziert als Arzt und befreundet sich mit dem kränklichen Priester Arthur Dimmesdale, von dem er auf nicht näher erklärte Weise weiß, dass dieser der Vater Pearls ist. Chillingworth, der in der Zeit, in der er verschollen war, bei den Indianern die Geheimnisse der Naturmedizin erlernt hat, hegt einen verborgenen Hass auf Dimmesdale und verlängert und verschlimmert dessen Krankheit, während er vorgibt, ihn zu behandeln.

Erst nach sieben Jahren entschließt sich Hester, dieser Quälerei ein Ende zu machen, indem sie Dimmesdale die Identität Chillingsworth’ verrät. Dimmesdale und Hester entschließen sich daraufhin, Amerika gemeinsam zu verlassen und in Europa ein neues, gemeinsames Leben zu beginnen. Kurz vor der Abfahrt muss Hester allerdings erfahren, dass auch Chillingworth auf dem selben Schiff eine Passage gebucht hat, das Martyrium der beiden Liebenden sich also fortzusetzen droht. Doch am Tag vor der Abreise, am Tag der Gouverneurswahl, bekennt sich Dimmesdale vor der versammelten Bevölkerung Bostons zu seiner Vaterschaft und Sünde, bevor er in den Armen Hesters stirbt.

Man könnte nun meinen, dass diese Zusammenfassung der Fabel wesentliche Teile auslässt, aber ganz im Gegenteil ist es so, dass bis auf zwei, drei Episoden die Handlung des Buches damit vollständig beschrieben ist. Um aber die immerhin gut 320 Seiten zu füllen, scheint das etwas wenig zu sein, und so ist es auch. Hawthorne setzt zum einen eine mit der Erzählung nur sehr locker verbundene Einleitung von 60 Seiten vor die eigentliche Fabel, die aus der autobiographischen Skizze „Das Zollhaus“ besteht und Hawthornes Tätigkeit im Zollhaus von Salem und seine Entlassung aus diesem Dienst thematisiert. Nebenbei liefert diese Einleitung eine typisch romantische Herausgeberfiktion: Hawthorne behauptet, auf dem Dachboden des Zollhauses auf alte Notizen gestoßen zu sein, die die Geschichte Hesters erzählen und die Grundlage seines Buches liefern. Zum anderen kann man Hawthorne den Vorwurf der Geschwätzigkeit nicht ersparen. Dieser Eindruck verdichtet sich soweit, dass es als unfreiwillige Ironisierung des eigenen Stils erscheint, wenn er an einer Stelle einen seiner Ergüsse mit der Wendung „mit einem Wort“ zusammenzufassen sucht.

Wirklich genießen kann man das Buch wahrscheinlich nur in historischer Perspektive: Der romantische Ton, der das Buch prägt, ist offenbar eine bewusst gewählte Stilposition des Autors, wie besonders die vorgeschaltete Einleitung klar macht, in der die unverstellte Stimme des Autors zu hören ist. Das europäischen Mittelalters der romantische Ritterromane muss auf dem neuen Kontinent durch die frühe Neuzeit ersetzt werden, der aber ausreichend Züge des Dunklen Zeitalters beigegeben werden, um das romantische Bild zu vervollständigen. Ansonsten machen außer der schon erwähnten Geschwätzigkeit Hawthornes weitere manieristische Entscheidungen einen unmittelbares Genuss des Buches schwer: die Reduktion auf praktisch nur vier handelnde Figuren, die zudem kaum zum Handeln kommen, aber in jedem Moment exaltiert und unnatürlich erscheinen. Am schrecklichsten zeigt sich diese kontinuierlich überspannte Grundstimmung in der direkten Rede:

»Na, was ist das, Mutter?« rief sie. »Warum ließen die Leute ihre Arbeit heute liegen? Ist das ein Spieltag für die ganze Welt? Schau, dort ist der Hufschmied! Er hat sein rußiges Gesicht gewaschen und zieht sich Sabbatkleider an und sieht aus, als wäre er gerne fröhlich, wenn einer nur so nett wäre, es ihm beizubringen! Und da ist Herr Brackett, der alte Kerkermeister, der mir zunickt und mich anlächelt. Warum tut er das, Mutter?« (S. 283)

Auch Hawthorne wird bewusst gewesen sein, dass keine Siebenjährige im Lauf der Erdgeschichte jemals so geredet hat oder jemals so reden wird.

Was die neue Übersetzung angeht, so stellt man bereits durch einen ersten Vergleich mit dem Original fest, dass Übersetzer Jürgen Brôcat, der für seine Übersetzung von Walt Whitmans „Grasblätter“ 2009 sehr gelobt wurde, an grammatikalischen Strukturen kaum interessiert zu sein scheint. Er greift durchweg massiv in Wortstellung und Satzstruktur ein, ohne dass dabei ein Prinzip erkennbar wäre. Auch sonst fallen einige merkwürdige übersetzerische Entscheidungen auf: Hawthornes Gattungsbezeichnung für den Roman „A Romance“ (etwa „eine romantische Erzählung“) übersetzt Brôcan mit „Eine Phantasie“ (was vielleicht an E.T.A. Hoffmann erinnern soll, meiner unmaßgeblichen Meinung nach aber wenig passt); die Beschreibung Pearls als „elf-child“ wird bei ihm zu einen „Koboldkind“, was zu der nicht minder seltsamen Entscheidung führt, das später im Text tatsächlich vorkommende englische „imp“ (Kobold) mit „Wicht“ zu übersetzen, was im Deutschen doch sehr etwas anderes ist als der „Wichtel“, was das englische „elf“ durchaus auch bedeuten könnte. Als im Haus des Gouverneurs Pearls christliche Erziehung geprüft und sie dabei nach ihrem Schöpfer gefragt wird, antwortet sie, ihre Mutter habe sie von einem wilden Rosenbusch gepflückt, ein Einfall, den Hawthorne gleich im nächsten Satz mit der sehr merkwürdigen Wendung begründet, „Pearl stood outside of the window“, was im Kontext wohl bedeuten soll, Pearl stehe direkt neben dem Fenster; Brôcat entschließt sich dazu, das mit „da Pearl draußen vor dem Fenster stand“ zu übersetzen, was zwar semantisch richtig, ansonsten aber weitgehend sinnfrei erscheint. Und „a row of venerable figures, sitting in old-fashioned chairs, which were tipped on their hind legs back against the wall“ mit „eine Reihe ehrwürdiger Gestalten auf altmodischen Stühlen, die mit den Hinterbeinen gegen die Wand kippen“ zu übersetzen, kann nur als mittlerer Unfall bezeichnet werden. Dies und viele weitere Kleinigkeiten haben wenigstens mir das Vergnügen an der Übersetzung verdorben; hier wäre ein schlichterer Zugriff auf den ohnehin stilistisch exaltierten Text wahrscheinlich glücklicher gewesen.

Alles in allem eine sehr anspruchsvolle Lektüre, die vom Leser einiges an historischem Einfühlungsvermögen und stilistischer Toleranz verlangt. Davon, dass sich wohl nur den wenigstens deutschen Lesern der tatsächlich geschichtliche Gehalt des Textes, der wesentlich zu seinem Status als Klassiker beiträgt, erschließen wird, muss dabei ganz abgesehen werden.

Nathaniel Hawthorne: Der scharlachrote Buchstabe. Aus dem Englischen von Jürgen Brôcat. München: Hanser, 2014. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, bedrucktes Vorsatzpapier, 480 Seiten. 27,90 €.