Johannes Willms: Tugend und Terror

„Ich folgere daraus also, wer immer in diesem Moment zittert, bekennt sich schuldig, denn niemals fürchtet die wahre Un­schuld die Überwachung seitens der Öf­fent­lich­keit.“
Robespierre

Willms-RevolutionEs ist für jedermann ein gewagtes Unternehmen, eine Geschichte der Französischen Revolution zu schrei­ben. Ich wage die unbelegte Behauptung, dass über  kein Ereignis der Jahre zwischen 1500 und 1900 mehr geschrieben worden ist, als über diesen ein­zig­ar­ti­gen Wendepunkt zur modernen Welt. Nicht nur markiert die Französische Revolution den Anfang vom Ende der Adels- und Königsherrschaft in Europa, ebenso ist sie der Auftakt des grandiosen Aufstiegs des europäischen und in der Folge des Welt-Bürgertums in seiner Mission zur Vernichtung der Menschheit. Unzählige der Segnungen und Flüche der Moderne neh­men in dieser Zeit ihren Ausgang und bis heute wird die Welt von den ideologischen Wellen und Gegenwellen der Revolution von 1789 in Bewegung gehalten.

Nach seiner großen Napoleon-Biographie und der über dessen Neffen Napoleon III erscheint es nur konsequent, dass sich Johannes Willms nun mit jenen Bedingungen beschäftigt, die die Rolle Napoleons auf der europäischen Bühne erst ermöglicht haben. Dabei erweist sich Willms einmal mehr als ein Meister der Quellenauswertung. Das Rückgrat seiner Darstellung bildet ein chronologischer Bericht der Debatten und Beschlüsse der Nationalversammlung bzw. des -konvents, die sowohl durch die jeweiligen äußeren Einflüsse auf die Akteure als auch durch deren Intentionen verständlich gemacht werden. Dabei ist es Willms hoch anzurechnen, dass er nicht, wie das populäre historische Schriftsteller gern tun, auf die sogenannte Psy­cho­lo­gie der Handelnden ausweicht, sondern immer die konkreten ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Umstände benennt, unter denen eine Entscheidung der Legislative oder Exekutive ge­trof­fen und durchgesetzt worden ist. Soweit ich sehe, macht er einzig für den Protagonisten Robespierre eine Ausnahme, bei dem sich Willms ohne längere Erörterung der weit verbreiteten, wenn auch nicht unumstrittenen These anschließt, es habe sich um einen Paranoiker gehandelt. Da es im Falle Robespierres aber unbestreitbar so war, dass es Menschen in seiner unmittelbaren Umgebung gab, die ihm – mit mehr oder weniger guten Gründen – nach dem Leben trachteten, bleibt eine solche historische Ferndiagnose immer etwas windig. Das ist aber auch schon das einzige wirkliche Desiderat, dass ich als historischer Laie in Willms Darstellung habe finden können.

Will man unbedingt Kritikpunkte benennen, so ließe sich anmerken, dass Willms aufgrund seiner Konzentration auf die Legislative zahlreiche Aspekte der Revolution nur am Rande behandelt: So bleibt die Außen- und Eroberungspolitik der Revolutionsregierung für lange Zeit eher vage, bis Willms dies in einem späten Kapitel etwas gedrängt nachholt. Auch die kulturelle Umgestaltung der französischen Ge­sell­schaft, die antichristlichen und atheistischen Tendenzen eines Teils der Revolutionäre, die untrennbar verbunden sind mit einer ersten Hoch­zeit der empirischen Forschung und der spekulativen Anthropologie, werden nur gestreift. Doch muss man Willms zugestehen, dass er keinen wichtigen Aspekt auslässt und dass seine kurzen, präzisen Exkurse immer den Kern der Sache treffen. Insoweit ist Willms Historie innerhalb der von ihm selbst bestimmten Grenzen untadelig. Und, was mehr ist, sie ist exzellent geschrieben.

Eine historisch zugleich exakte und – trotz der benötigten fast 750 Seiten – konzise Geschichte der Revolution, die als Gesamtdarstellung ihresgleichen sucht, nicht für den historischen Fachmann, aber für den historisch Interessierten geschrieben. Jeder, der sich einen soliden Überblick über den politischen Verlauf der Revolution verschaffen will, wird in der nächsten Dekade und darüber hinaus zu diesem Buch greifen.

Johannes Willms: Tugend und Terror. Geschichte der Französischen Revolution. München: C. H. Beck, 2014. Leinen, Lesebändchen, 831 Seiten. 29,95 €.

Drei Liebesromane

Beisserbuch

Frank Duwald von dandelion fragt Blogger-Kollegen nach den drei schönsten Liebesgeschichten. Auf Anhieb würde ich mich für den denkbar Ungeeignetsten zur Beantwortung dieser Frage halten, und das aus gleich zwei Gründen: Zum einen ist der Liebesroman eines der klischeebehaftetsten Genres überhaupt. In meiner Zeit als Buchhändler nannten wir eine bestimmte Sorte von Romanen, die sich durch Variation des immer selben Cover-Motivs auszeichneten, aus offensichtlichen Gründen „Beißerbücher“. Wenig lässt daran zweifeln, dass der Inhalt dieser Romane den Bildern auf den Umschlägen gleicht wie eine Boulevard-Komödie der anderen.

Zum anderen hege ich arge Zweifel daran, dass eine schöne Lie­bes­ge­schich­te eine schöne Liebesgeschichte sein kann. Schon 1764 bemerkt Christoph Martin Wieland in seinem „Don Sylvio von Rosalva“:

Die Moralisten habens uns schon oft gesagt, und werdens noch oft genug sagen, daß es nur ein einziges bewährtes Mittel gegen die Liebe gebe; nehmlich, so bald man sich angeschossen fühle, so schnell davon zu laufen als nur immer möglich sey. Dieses Mittel ist ohne Zweifel vortrefflich; wir bedauern nur, daß es unsern moralischen Ärzten nicht auch gefallen hat, das Geheimnis zu entdecken, wie man es dem Pazienten beybringen solle. Denn man will bemerkt haben, daß ein Liebhaber natürlicher Weise eben so wenig fähig sey, vor dem Gegenstande seiner Lei­den­schaft davon zu laufen, als er es könnte, wenn er an Händen und Füßen gebunden oder an allen Nerven gelähmt wäre; ja man behauptet sogar, vermöge einer unendlichen Menge Erfahrungen worauf man sich beruft, daß es in solchen Umständen nicht einmal möglich sey, zu wünschen daß man möchte fliehen können.

Literarische Liebe ist daher wahrscheinlich dann am besten, wenn ihre Protagonisten sich als jene Patienten erweisen, von denen Wieland spricht. Aus diesen beiden Gründen fällt die Auswahl meiner „schönsten Liebesgeschichten“ für die eine oder den anderen vielleicht etwas zu defätistisch aus.

Johann Wolfgang Goethe: Die Leiden des jungen Werthers (1774)

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Wäre der Protagonist nicht ein Mann, so ließe sich bei diesem Buch von der Mutter aller unglücklich Liebenden sprechen. Das Buch war nicht nur ein internationaler Erfolg, der Goethe binnen kurzem zu einer Berühmtheit machte, es löste auch eine Propaganda aus, die zum Teil bis heute nachwirkt, so etwa die immer wiederholte, aber gänzlich unbelegte Behauptung, das Buch habe eine Welle von Selbstmorden ausgelöst, ein Gerücht, dem offenbar sogar Goethe teilweise Glauben geschenkt hat. Erzählt wird die Geschichte des jungen Werther, der sich in die bereits anderweitig verlobte Lotte verliebt, sich loszureißen versucht, in die Welt flieht, trotz allem zurückkehrt und am Ende keinen besseren Ausweg findet, als sich eine Kugel vor den Kopf zu schießen und es anderswo zu versuchen, da er in der sublunaren Welt seinen Platz nicht hat finden können. Goethe achtet schon in der ersten Fassung des Textes sorgfältig darauf, Werthers Leiden als eine Art sich steigernden Wahn der Leidenschaft darzustellen, als eine Art von Geisteskrankheit, der sich der an ihr Leidende ab einem gewissen Punkt nicht mehr selbst entziehen kann. Noch Hunderte von unglücklich liebenden Romanfiguren des 19. Jahrhunderts sollten auf diesem Wege aus ihrem papiernen Leben scheiden.

Vladimir Nabokov: Lolita (1955)

nabokov lolita 1955

Wohl seufzend hat Nabokov einmal festgestellt, nicht er sei berühmt, „Lolita“ sei es. Und ebenso seufzend könnte man anmerken, dass diese Berühmtheit wie so viele andere auf einem Missverständnis beruht, nämlich auf dem, bei „Lolita“ handele es sich um einen erotischen Roman. Dabei ist „Lolita“ die Geschichte einer tiefen Wunde, die der Protagonist und Erzähler Humbert Humbert in seiner Jugend empfangen hat, als er sich zum ersten Mal und für immer unglücklich verliebte. Seit jenen frühen Jugendtagen wiederholt er das Muster dieser Liebe immer und immer wieder, um ebenso selbstverständlich wie notwendig zu scheitern. Jetzt, während er uns die Geschichte seiner letzten verzweifelten Liebe zu Lolita erzählt, sitzt er im Gefängnis und erwartet die Todesstrafe, nicht, weil er ein minderjähriges Mädchen verführt und missbraucht hat, sondern weil er einen seiner Rivalen um die Liebe Lolitas erschossen hat. „Lolita“ ist ein in jeglicher Hinsicht tief trauriges Buch, das nur Verlierer und Unglück kennt und eine treffliche Antwort zu jener Frage bei E.T.A. Hoffmann ist: „Was ist der Mensch, und was kann aus ihm werden?“

Arno Schmidt: Seelandschaft mit Pocahontas (1955)

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Vielleicht in den Augen manch eines Lesers kein Roman, sondern nur eine Erzählung (Schmidt selbst nannte es einen Kurzroman), aber eben auch eine unglückliche Liebesgeschichte, vielleicht eine der schönsten der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts: Erzählt wird von zwei Kriegs­ka­me­ra­den, Erwin und Joachim, die sich in den 50er Jahren wiedertreffen und am Dümmer in Niedersachsen Urlaub machen. Erwin ist ein erfolgreicher Anstreicher, Joachim ein erfolgloser Schriftsteller, und so zahlt der Handwerker für das Kopftier. Und weil er zahlt, kann er sich, als die beiden am Urlaubsort auf ein sympathisierendes Pärchen von Damen treffen, seine aussuchen – Annemarie, rund und handfest – und Joachim muss sich um die andere kümmern – Selma, dürr, lang und hässlich wie eine UKW-Antenne (das Bild stammt von Schmidt, nicht von mir). Doch was als Verpflichtung beginnt, wird rasch zu einer Liebesgeschichte, einer, in der beide Liebenden nicht an eine gemeinsame Zukunft glauben: Selma ist schon einem groben Menschen versprochen, der sie wegen eines zu erwartenden Erbes genommen hat, und Joachim weiß nicht einmal von einer Gegenwart, geschweige denn könnte er eine Zukunft versprechen. Und so endet auch diese Liebe nach wenigen Tagen, als der Urlaub der Damen zu Ende geht:

Das Trauerkleid der letzten Nacht. / […] »Ach Du.« Kam inbrünstig und drückte sich an; seufzte galgenhumorig: »Na dann atterdag.«; zog auch die Füße an und gab schnelle Tritte auf einen unsichtbaren Hintern (des Schicksals?). / »Knips Du bitte aus.« Noch einmal sah ich so eine lange Indianerin. Am Schalter. Dann ging die Unsichtbare still um mich herum. (Gleich darauf Wadenkrampf, etwa auch souvenir d’amour, und ich ächzte und zischte und massierte: teuflischer Einfall: vielleicht hält sies für Schluchzen!). / Gleich darauf raste der Wecker schon; wir erhoben uns geduldig. Sie reichte sich stumm zum letzten Biß: – »In Beide«: »Schärfer!«; prägte auch ihre Zahnreihen mächtig ein. (Schon klopfte Annemie vorsichtshalber: ?: »Ja wir sind wach!«. Und hastende Stille). / »Sieh mich nich mehr an, damit ich abreisen kann!« / Erich, unverwüstlich, rühmte schon wieder die Autobusschaffnerin: »Haste die gesehn?!«: Kaffeebrauner Mantel, gelber Schal, die schräge schwarze Zahltasche, eine Talmiperle im rechten Ohr, blasses lustiges Gesicht; ich gab Alles zu. / Wolkenmaden, gelbbeuligen Leibes, krochen langsam auf die blutige Sonnenkirsche zu. Erich räusperte sich athletisch: »Na, da wolln wer erssma …..« und wir marschierten zurück, »weiter penn’: verdammte Fützen!«. Mein Kopf hing noch voll von ihren Kleidern und ich antwortete nicht.

(geschrieben für dandelion)

Aus gegebenem Anlass (V): Arno Schmidt und der Venus-Transit

›Das Unglück sei von diesem Haus so fern, wie der Morgenstern vom Abendstern‹, sollte der Zimmermann, beim ›Richtspruch‹, unserm Heim angewünscht haben; (»: ’fluchter Idijot!« hatte mein Großonkel, jedesmal wenn er’s erzählte, hinzugefügt).

Im Jahr 1956 schreibt Arno Schmidt den Essay »Das schönere Europa«, in dem in grober Übersicht die Anstrengungen der europäischen Nationen anläßlich des Venus-Transits vom 3. Juni 1769 geschildert werden.

Venus-Transite sind rare Ereignisse, wenn man an einen irdischen Standpunkt gebunden ist: Man kann sich leicht vorstellen, dass die beiden inneren Planeten – also jene, die innerhalb der Erdbahn unsere Sonne umkreisen – aufgrund ihrer höheren Geschwindigkeit die Erde regelmäßig innen überholen. Sie sind dabei allerdings nur äußerst selten zu beobachten, was daran liegt, dass die Planetenbahnen nicht alle genau in einer Ebene liegen, sondern leicht gegeneinander geneigt erscheinen. Und so stehen die Planeten Merkur und Venus nur sehr selten bei ihrem Vorbeigang zwischen Erde und Sonne so, dass sie von der Erde aus gesehen als dunkle Scheiben vor der Sonne erscheinen. Einen solchen sichtbaren Vorbeigang vor der Sonnenscheibe nennt der Astronom einen Transit. Dabei ist der der Venus der interessantere, da er länger dauert – Venus ist langsamer als Merkur – und die Venus deutlich größer als Merkur und zudem näher an der Erde ist, so dass ihre Beobachtung leichter fällt und die Ergebnisse präziser werden. Leider geschehen Venus-Transite nur etwa alle 105 bzw. 122 Jahre, dann aber gleich zwei Transite innerhalb von nur acht Jahren. Der vorletzte Venus-Transit war 1882 zu beobachten, der letzte im  Jahr 2004 und der nächste wird morgen eintreten.

Die Frage, die sich im 18. Jahrhundert mit Hilfe der Venus-Transite lösen ließ, war die nach den Abständen im Sonnensystem. Das dritte Keplersche Gesetz, das eine Abhängigkeit zwischen den Quadraten der Umlaufzeiten der Planeten und den Kuben ihrer mittleren Entfernung zur Sonne behauptete, war empirisch nicht zu überprüfen, solange man die Entfernungen der Planeten zur Sonne nicht genau kannte.

Nun hatte – wie auch Schmidt richtig schreibt – der englische Astronom Edmond Halley den dringenden Vorschlag gemacht, die für 1761 und 1769 vorhergesagten Venus-Transite dazu zu nutzen, die Entfernung der Erde zur Sonne zu bestimmen, von der ausgehend sich alle anderen Distanzen im Sonnensystem dann bestimmen lassen würden.

Bereits beim Transit von 1761 hatten die großen europäischen Nationen, vornehmlich England und Frankreich, die in der Astronomie des 18. Jahrhunderts führenden Nationen, nicht unerhebliche Anstrengungen unternommen, das Ereignis zu beobachten. Es hatte bereits so etwas wie einen partiellen Waffenstillstand zum Schutz der wissenschaftlichen Expeditionen – die Großteils über See reisen mussten – gegeben. Die damals gewonnen Daten blieben aber weitgehend unzureichend und sollten nun vervollständigt werden. Schmidt betont z. B. zu Recht, dass es die erste Aufgabe der Expedition der Endeavour unter James Cook war, Astronomen der Royal Society nach Tahiti zu bringen, wo sie den Venus-Durchgang glücklich beobachten konnten.

Interessant an Schmidts Darstellung in »Das schönere Europa« ist hauptsächlich der politische Aufhänger, den Schmidt sich für dieses wesentlich astronomische Thema wählt: Die wissenschaftliche Leistung, die Schmidt in anekdotischer und detailverliebter Weise vermittelt, wird gerahmt durch die Feststellung, die führenden Nationen – mit Ausnahme Spaniens – hätten in diesem einen Fall einmal vorbildhaft zusammengearbeitet und einander unterstützt:

A.: Sechs Jahre vorher noch hatten sie nicht Fernrohre sondern Kanonen aufeinander gerichtet, diese Russen; Preußen; Engländer; Österreicher; Franzosen; und bald danach begannen sie wieder das alte blutige Spiel, unentwegt, bis heute.
B.: Aber einmal wenigstens war man doch, und auf’s Erhabenste, einig gewesen :
A. (mit Nachdruck): Siebzehnhundertneunundsechzig !
B. (desgleichen): Am dritten Juni ! [II/1, 274]

Einmal abgesehen von dem sprachlogischen Einwand, dass am 3. Juni 1769 besagte Russen, Preußen, Engländer, Österreicher und Franzosen ihre Fernrohre nicht aufeinander, sondern auf die Sonne gerichtet hatten, erscheint diese Rahmung des astronomischen Materials sehr gesucht. 1769 herrschte seit sechs Jahren Frieden zwischen den genannten Nationen – und dieser Friede hatte nichts mit dem Venus-Transit zu tun –, und die Nutzung wissenschaftlicher Ergebnisse fremder, auch feindlicher Nationen war im 18. Jahrhundert nichts so Besonderes. Viel eher erwähnenswert war etwa, dass die Expeditionen von 1761 – mitten im Siebenjährigen Krieg – unter gegenseitiger Tolerierung der Engländer und Franzosen durchgeführt wurden. Auch schon 1761 war die Publikation und der Austausch der – leider ungenügenden – Daten eine Selbstverständlichkeit. Und so viel kooperativer war die Zusammenarbeit der Forscher 1769 dann auch wieder nicht, wie auch Schmidts deutlich vermittelt:

B.: Jedenfalls entstand eine ganze Literatur um den großen Venusdurchgang von 1769. – Die Engländer fassten ihre Beobachtungen zusammen in vielen Nummern der ‹Philosophical Transactions›. Die Franzosen in den ‹Mémoires de l’Académie Française›; und in dem wichtigen Werk Lalande’s ‹Mémoire sur le Passage de Venus›. Die Schweden gaben ein eigenes Heft heraus. Ebenso die Amerikaner in ihren jungen ‹Memoirs of the American Academy›, und den ‹American Transactions›. Die kalifornischen Beobachtungen wurden zusammengefaßt von Cassini. Die zahlreichen russischen erschienen in einem eigenen Foliobande: ‹Collectio omnium observationum quae occasione transitus Veneris jussu Augustae per imperium Russicum institutae fuerunt. Petropoli 1770.›
A.: Die endgültigen Berechnungen ergaben für die gesuchte Entfernung Sonne=Erde Werte zwischen 145 und 155 Millionen Kilometer; jenachdem die Rechner das Hauptgewicht auf diese oder jene Beobachtung legten – eine knifflige und äußerst schwer zu entscheidende Frage. Während wir heute wissen, daß die Sonnenparallaxe 8,79 Sekunden beträgt, erhielt damals der schwedische Rechner Planmann – der, begreiflicherweise, den Akzent auf seine, und die übrigen nordischen Beobachtungen legte – 8,43 Sekunden. Der Engländer Lexell 8,60; wobei er hauptsächlich die Messungen von Tahiti zugrunde legte, die also das Ergebnis entscheidend verschlechterten. Euler in Petersburg erhielt 8,68; Hell 8,70. [II/1, 273 f.]

Es kann also mit einiger Berechtigung bezweifelt werden, ob die von Schmidt mit soviel Pathos in den Vordergrund gerückte politische Einigkeit Europas sich nun gerade an diesem Fall so einmalig und einzigartig eingestellt hat. Schmidt hat diesen Aufhänger wahrscheinlich aus einer verkaufstaktischen Erwägung heraus gewählt: Da er 1956 für das behandelte historische Ereignis nicht die Rechtfertigung eines runden Jubiläums hatte, versuchte er, es in den Rahmen der für die 50er Jahre zentralen politischen Diskussion um die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft einzustellen.

Leicht aktualisierter Auszug aus dem Vortrag:
Julianische Tage in Lilienthal
Astronomisches bei Arno Schmidt

Gottlieb Wilhelm Rabener: Briefwechsel und Gespräche

rabener_briefwechselManchmal geschehen doch noch kleine Wunder auf dem Buchmarkt. Gottlieb Wilhelm Rabener (1714–1771) ist ein beinahe vollkommen vergessener Satiriker des 18. Jahrhunderts. In seiner Zeit war er viel gelesen und so erfolgreich, dass er sich über zahlreiche Raubdrucke seiner Satire-Anthologien beschweren konnte. Zu Lebzeiten erschienen vier Bände mit seinen Satiren, die wohl von annähernd jedem Gebildeten gelesen worden sind.

Doch Rabeners Nachruhm hatte recht enge Grenzen. Schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren die meisten seiner Texte den meisten Lesern nicht mehr ohne Kommentar zugänglich. Das liegt zum einen daran, dass Satiren nahezu immer sehr stark an zeitgeschichtlichen Ereignissen orientiert sind, zum anderen aber auch daran, dass Rabener unter sehr spezifischen Zensurbedingungen geschrieben hat und, wie jeder kritische Autor unter solchen Bedingungen, seine Satiren entsprechend angepasst hat und von seinen Lesern erwarten durfte, dass sie in der Lage waren, diese Bedingtheit seines Schreibens beim Lesen nachzuvollziehen. Es leuchtet unmittelbar ein, dass sich mit wachsendem zeitlichen Abstand die Lektüre Rabeners nicht vereinfacht hat.

Von daher ist es sehr verwunderlich, dass sich nicht nur jemand genug für Rabener interessiert hat, um in alten Drucken, Bibliotheken und Archiven alle verfügbaren Briefe von und an ihn und Aufzeichnungen von Gesprächen mit ihm aufzusuchen und zu sammeln, sondern dass er tatsächlich auch noch einen Verleger gefunden hat, der dieses abseitige Material in einer schönen und kommentierten Ausgabe für einen akzeptablen Preis auf den Markt bringt. Ich kann den Kauf und die Lektüre hier nicht wirklich allgemein empfehlen, möchte aber doch das Erscheinen und meine Freude darüber hier anzeigen.

Gottlieb Wilhelm Rabener: Briefwechsel und Gespräche. 2 Bände (Text und Kommentar). Hg. v. E. Theodor Voss u. Jan Müller. Göttingen: Wallstein, 2012. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 647 und 352 Seiten. 69,00 €.

Martin Rowson: Tristram Shandy (deutsch)

978-3-86873-370-9Etwas verspäteter Hinweis auf die kongeniale Umsetzung von Laurence Sternes »Tristram Shandy« als Comic, die hier schon nachdrücklich empfohlen wurde und die im letzten Jahr nun auch auf Deutsch erschienen ist. Die Übersetzung besorgte Michael Walter, der als Übersetzer und Kenner des Romans natürlich eine exzellente Wahl für diese Aufgabe ist. Jedem Sterne-Leser sei der Band dringend ans Herz gelegt.

Martin Rowson: Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman. Nach Laurence Sterne. Aus dem Englischen von Michael Walter. München: Knesebeck, 2011. Leinenrücken, Fadenheftung, Lesebändchen, 176 unpaginierte Seiten. 24,95 €.

Philipp Blom: Böse Philosophen

[…] an unsere eigene Faulheit, an Gleichgültigkeit und intellektuelle Wirrheit.

978-3-446-23648-6Populär und bewusst parteiisch geschriebener biographischer Essay um einige Figuren der Hauptphase der französischen Aufklärung. Das Hauptgewicht der Darstellung liegt auf Denis Diderot, als eigentliches Zentrum der Darstellung benutzt Blom aber den Salon des Baron Holbach, der seit der Mitte des 18. Jahrhunderts einer der wichtigen Orte der intellektuellen Auseinandersetzung in Paris darstellte. Leider erfährt der Leser zu wenig über die allgemeine Pariser Salonkultur dieser Zeit, so dass er sich kein Bild davon machen kann, wie typisch bzw. außergewöhnlich der Salon der Holbachs war. Aber das ist noch das geringste Manko des Buches.

Für ein Buch, das über Philosophen und ihre Ideen berichtet, ist es immer schon ein schlechtes Zeichen, wenn sein Autor die Bedeutung grundlegender philosophischer Termini offenbar nicht kennt: So bedeuten transzendent und transzendental sehr unterschiedliches und können nur in ganz seltenen Fällen synonym verwendet werden. Auch sonst bleibt Bloms Darstellung der philosophischen Inhalte meist völlig unkritisch, entweder getragen von einem begeisterten Pathos oder von scharfer Ablehnung, je nachdem wie es dem Geschmack des Autor gerade entspricht. So ist Bloms Kritik der Positionen Rosseaus, so richtig sie in der Sache auch sein mag, stets durchsetzt mit mokanten und polemischen Bemerkungen, die auf die psychische Verfassung oder die persönliche Lebensführung Rousseaus zielen:

Rousseau war fasziniert von der kindlichen Entwicklung (solange sie sich nicht in seinem Haus vollzog, möchte man hinzufügen)

Nein, man möchte es nicht nur hinzufügen, man fügt es hinzu, und das einzig und allein in polemischer Absicht. Im Gegensatz dazu ist alles, was Diderot tut, wohlgetan. Während Rousseaus Gesellschaftsutopie wegen ihrer diktatorischen Konsequenzen scharf angeprangert wird, werden vergleichbare Ansichten Holbachs und Diderots verharmlosend kommentiert: Befürwortung der Todesstrafe durch Diderot? Naja, er hatte eben kein echtes Interesse an der Frage, und ansonsten hat er auch bedauert, dass so etwas notwendig sei. Und sowieso seien 300 Hinrichtungen pro Jahr in Frankreich ja auch keine so bedeutende Sache gewesen. Immerhin wird Friedrich Melchior Grimms These, dass »das Recht des Stärkeren […] die einzige Legitimität« schaffe, zitiert, bleibt aber unkommentiert stehen, anstatt als gesellschaftspolitische Konsequenz jener Ethik der Lust begriffen und kritisiert zu werden, die Blom zuvor seitenweise in den höchsten Tönen als Alternative zur christlichen Tugendlehre gepriesen hat.

Das Buch scheitert letztlich an den atheistischen und antichristlichen Affekten des Autors. Anstatt die historische Lage Mitte des 18. Jahrhunderts als die wichtige Stufe in der Entwicklung der modernen ethischen Theorien zu begreifen, die sie darstellt, versucht er eine einzelne, höchst disparate philosophische Position dieser Zeit zu verabsolutieren. Dabei legt er höchsten Wert auf den Atheismus der Vertreter dieser Position; selbst David Hume, dem er einen gewissen Rang im philosophiegeschichtlichen Prozess nicht abstreiten kann, muss leider abgewertet werden, da er nur Agnostiker gewesen ist und den Atheismus aus erkenntnistheoretischen Bedenken heraus ablehnte. Es ist dann kein Wunder, dass das, was Blom über die kantische Ethik schreibt, blanker Unfug ist und er über Kant und Hegel ansonsten nur anzumerken weiß, sie seien »wie Heilige verehrt« worden. Weder findet sich eine Auseinandersetzung mit der Lessingschen Geschichtsauffassung – einer der wichtigsten deutschen Reaktionen auf die Ideen der Aufklärung – noch mit der Kantischen Bestimmung der Pflicht. Stattdessen wird dem Leser nahegelegt, eines der pornographischen Romänchen Diderots für eine emanzipatorische Kampfschrift

gegen die Verschwendung der Leben der hinter Klostermauern sequestrierten Frauen, gegen die unnatürliche und »nutzlose Tugend« des Zölibats, gegen unterdrückte Leidenschaft und kirchliches Dogma

halten zu sollen. Diderot hätte mit der Leidenschaft der von ihm imaginierten Nonnen sicherlich besseres anzufangen gewusst.

Auch geistesgeschichtlich bleibt Bloms Darstellung naiv: So scheint ihm jeglicher Sinn dafür zu fehlen, dass die im 18. Jahrhundert zum paradigmatischen Referenzbegriff werdende Natur nur eine Metapher mehr ist, aus der die sich emanzipierende bürgerliche Kultur ihre Berechtigung, ja, Überlegenheit abzuleiten versucht. Es handelt sich bei der Natur des 18. und frühen 19. Jahrhunderts eben nicht um einen objektiven Gegenstand empirischer Forschung, sondern um ein inhaltlich höchst flexibles metaphysisches Konzept, das dazu dient, das propagierte neue Menschenbild als unverfälscht und echt auszuzeichnen. In diesem Sinne hätte auch der Terminus Naturwissenschaft bzw. Wissenschaft historisch eingeordnet werden müssen, anstatt stillschweigend so zu tun, als bestehe zwischen unserem Konzept empirischer Forschung und dem des 18. Jahrhunderts eine ungebrochene Kontinuität.

Und nicht zuletzt muss Blom darin widersprochen werden, das Erbe dessen, was er radikale Aufklärung nennt, sei vergessen worden. Das eben ist es nicht, sondern es ist im Prozess der historischen Entwicklung zur Moderne aufgehoben worden. Dass es in seiner kompromisslosen Idealität und Radikalität für die heraufziehende bürgerliche Gesellschaft unbrauchbar war, erkennt sogar Blom an. Und der Glaube, dass die von Blom angepriesene Ethik der Lust praktisch überhaupt geeignet sei, eine funktionierende Gesellschaft zu begründen, setzt ein so illusionäres Menschenbild voraus, dass selbst Blom an jenen Stellen Bedenken zu hegen scheint, an denen sich seine radikalen Aufklärer in allzumenschliche Affären und Streitigkeiten verwickeln.

So bleibt Bloms Darstellung bei aller Detailkenntnis leider polemisch und geschmäcklerisch und kann außer für jene, die darin bestätigt finden wollen, was sie ohnehin schon immer denken, nicht empfohlen werden.

Philipp Blom: Böse Philosophen. Ein Salon in Paris und das vergessene Erbe der Aufklärung. München: Hanser, 2011. Pappband, Lesebändchen, 400 Seiten. 24,90 €.

Johannes Willms: Talleyrand

Von den drei Möglichkeiten, die Talleyrand zwischen 1789 und 1814/15 aufgrund seines aristokratischen Herkommens hatte, Emigration, Passivität oder die Bereitschaft, dem Staat, sprich dem jeweiligen Regime, zu dienen, entschied er sich immer für das Letztere.

978-3-406-62145-1Johannes Willms setzt die Reihe seiner französischen Biographien fort, diesmal mit einem Seitenstück zu seiner umfangreichen Napoleon-Biographie. Talleyrand ist wohl eine der schillerndsten politischen Figuren der Wendezeit zur europäischen Moderne. Er hat es verstanden sowohl vor und während der Französischen Revolution als auch unter Napoleon und der auf ihn folgenden Restauration bedeutende politische Positionen einzunehmen. Keine seiner politischen Niederlagen hat ihn wirklich zu Fall gebracht, jeder seiner Rücktritte markiert nur eine Phase des Übergangs bis zum nächsten Aufstieg in Amt und Würden. Selbst als er sich mit guten Gründen und aus freien Stücken endgültig ins Privatleben zurückziehen wollte, erwies sich sein Drang zu Macht und Einfluss als zu stark, und er betrat binnen Kurzem wieder die politische Bühne. Dabei muss er im persönlichen Umgang ein bestrickender Gesprächspartner voller Esprit gewesen sein.

Johannes Willms zeigt sich mit diesem Buch einmal mehr als ein vorzüglicher Biograph, der nicht nur exzellent schreibt, sondern es auch versteht, den richtigen Abstand zu seinem Objekt einzunehmen: Weder verherrlicht er Talleyrand noch stimmt er in die Kritik ein, die in diesem Mann hauptsächlich einen schamlosen Opportunisten der Macht erkennen will. Sein Blick auf Talleyrand ist differenziert und von einem tiefen Verständnis für dessen Person und die gesellschaftliche, soziale und politische Situation Frankreichs im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert getragen. Dabei scheut er sich nicht vor starken, eigenständigen Urteilen, die zum Teil so ausfallen, dass ihm die historische Forschung kaum wird folgen wollen, was nicht heißen soll, dass diese Urteile falsch sind. Und da Willms spätestens seit seiner Napoleon-Biographie als ausgewiesener Kenner der französischen Geschichte gelten darf, hat das Buch zudem den Vorteil, dem Leser wie nebenbei eine kleine Historie der Französischen Revolution und ihrer Folgen für Frankreich und Europa zu liefern.

Nicht nur wer Willms »Napoleon« goutiert hat, sollte dieses Buch nicht an sich vorbeigehen lassen, sondern auch all jene, die sich für die Französische Revolution als einem der Keime der heutigen westlichen Welt interessieren.

Johannes Wilms: Talleyrand. Virtuose der Macht 1754–1838. München: C. H. Beck, 2011. Pappband, Lesebändchen, 384 Seiten. 26,95 €.

Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre

Und da ich einmal so im Zuge war, habe ich gleich im Anschluss an Die Wahlverwandtschaften auch die Lehrjahre noch einmal gelesen. Nimmt man die beiden Meisterromane und die Vorstufe Wilhelm Meisters theatralische Sendung zusammen, handelt es sich bei diesem Romanprojekt nicht nur um das umfangreichste, sondern auch das, abgesehen vom Faust, die meiste Lebenszeit umfassende Werk Goethes.

Erzählt wird die Geschichte des jungen Wilhelm Meister, der zu Anfang des Romans gerade in dem Alter ist, dass sein Vater ihn erstmals mit geschäftlichen Aufträgen in die Welt hinausschicken will. Wilhelm stammt aus einer Kaufmannsfamilie, zeigt aber wenig Neigung, selbst Kaufmann zu werden. Seine Neigung gehört in jedem Sinne dem Theater, denn nicht nur will er sich als Schauspieler und Theaterautor etablieren, er hat auch ein zärtliches Verhältnis zu Mariane, einer jungen Schauspielerin, die gerade am Ort gastiert. Den ersten Auftrag seine Vaters, für ihn auf Reisen zu gehen, will er nutzen, um mit seiner Geliebten durchzubrennen, doch sieht er eines Abends kurz vor seiner Abreise einen anderen Mann die Wohnung Marianes verlassen, wähnt sich betrogen und reist verbittert allein ab.

Wilhelm schließt sich bald einer wandernden Theatertruppe an, bei der er nicht nur erste Erfahrungen als Schauspieler macht, sondern durch die er nach einigen umständlichen Verwicklungen auch in den Kontakt zu einer locker gefügten Gesellschaft von Adeligen kommt, die seinen weiteren Lebensweg entscheidend prägen soll. Die einzelnen Abenteuer, Liebesverhältnisse, verwickelten Verwandtschaften und Bekanntschaften nachzuerzählen, von denen sich der Autor vorstellt, dass sie seinen Protagonisten langsam aber sicher zu der den Roman beschließenden, wenn auch vorläufigen Klärung seiner Lebensverhältnisse führt, wäre ermüdend. Nach dem zu Goethes Zeit beliebten Muster des Geheimbund-Romans erweist es sich am Ende, dass Wilhelms Lebensweg von einer Gesellschaft vom Turm, die sich zugleich ironisch und esoterisch Formen der Freimaurerei bedient, seit Längerem beobachtet und in Grenzen auch gelenkt worden ist. Auch dass beinahe das gesamte Figurenensemble am Ende miteinander verwandt, verschwägert oder seit Jahren befreundet ist, entspricht weitgehend dem Zeitgeschmack.

Abgesehen davon ist das Buch motivisch und inhaltlich recht locker angelegt, eine Tendenz, die sich bekanntlich in den Wanderjahren noch verstärken wird, was natürlich auch der Arbeitsweise Goethes geschuldet ist, der diese Texte diktiert hat. (Ich habe mich bei der Lektüre mehr als einmal an das Diktum Arno Schmidts erinnert: »Bei Goethe ist der Roman keine Kunstform, sondern eine Rumpelkiste«. Das mag etwas zu scharf sein, stimmt aber in der Tendenz.) Trotz der zahlreichen Themen und Motive ist das Buch für den heutigen Leser von einer erstaunlichen Weltlosigkeit: Kaum ein Ort wird konkret beschrieben, kein Gebäude und kein Interieur nehmen wirklich Gestalt an, die meisten Figuren sprechen in ein und derselben Diktion, und nur hier und da gewinnt man einen deutlicheren Eindruck der fiktionalen Welt. Im Großen und Ganzen scheint die Handlung mehr Anlass für Reflexion und Dialog zu sein, als dass es Goethe tatsächlich auf das Erzählen ankommen würde. Auch diese Tendenz findet sich in den Wanderjahren wieder.

Das pädagogische Konzept und mithin das Menschenbild, das dem Roman zugrunde liegt, muss heute als hilflos idealisierend bezeichnet werden – ob das eine negative Aussage über Goethe oder über unsere Zeit ist, mag für hier und heute dahingestellt bleiben.

Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre. RUB 7826. Stuttgart: Reclam, 1986. 661 Seiten. 11,60 €.

Johann Wolfgang Goethe: Die Wahlverwandtschaften

Wahrscheinlich der Text Goethes, den ich inzwischen neben dem ersten Teil des Faust am häufigsten gelesen habe, diesmal aus didaktischen Gründen. Das Buch vorstellen, geschweige denn rezensieren zu wollen, stellt angesichts der mehr als hundertjährigen Vernachlässigung und seiner anschließend erfolgten Ausschlachtung durch die Germanistik natürlich eine Verwegenheit dar. Ich habe daher einige Zeit überlegt, meine wiederholte Lektüre hier einfach stillschweigend zu übergehen und mich Unbesprochenerem zuzuwenden. Andererseits ist ja gerade hier der Ort, Lektüre von und Auseinandersetzung mit klassischen Texten zu dokumentieren. Versuchen wir es also:

Erzählt wird die Geschichte des adeligen Ehepaares Charlotte und Eduard, die erst nach der Verheiratung mit jeweils anderen Partnern dazu gekommen sind, sich mehr aus sentimentaler Erinnerung als aus Liebe miteinander zu verheiraten. Sie haben sich nach der Hochzeit aufs Land zurückgezogen, um dort in trauter Zweisamkeit ihrer Idylle zu leben. Gestört wird dies Verhältnis durch einen Jugendfreund Eduards, den Hauptmann Otto, der verarmt und arbeitslos für eine Weile auf dem Schloss des Ehepaars Zuflucht findet. Um der Asymmetrie der Verhältnisse aufzuhelfen, wird dann noch Charlottens Nichte und Pflegekind Ottilie hinzugegeben. Leider bricht nun über die Gesellschaft als eine Naturgewalt die Liebe herein: Eduard und Ottilie verlieben sich ebenso ineinander wie Charlotte und der Hauptmann; während jene ihrem Gefühl weitgehend ausgeliefert sind, üben diese eine strengere Zurückhaltung sich und dem anderen gegenüber. Das fatale Überkreuz-Verhältnis gipfelt in einer Liebesnacht der Ehepartner, in der beide an den jeweiligen Geliebten denken und aus der ein Kind hervorgeht, dass nicht den leiblichen Eltern, sondern den bei der Zeugung nur im Geiste anwesenden Geliebten ähnelt.

Nach dem, von den meisten Zeitgenossen als zutiefst anstößig empfundenen, doppelten geistigen Ehebruch hat Goethe einige Schwierigkeiten, das Tempo des Romans aufrecht zu erhalten. Eduard wird vom Erzähler vorerst fortgeschickt, zuerst auf ein kleines Gut, dann gleich in den Krieg, damit er in der Zeit der Schwangerschaft keine zu großen Dummheiten anstellen kann. Auch der Hauptmann, von dem nur eine geringere Gefahr ausgeht, wird durch eine passende Arbeitsstelle entfernt, und um die Zeit zu füllen, finden sich einige neue Kandidaten ein, die Ottiliens Reizen verfallen: ein junger, romantischer Architekt und ein etwas pedantischer, aber um so vernünftigerer Pädagoge, die aber natürlich bei Ottilie kein Glück haben. Nach so manchem weiteren retardierenden Moment wird das Kind endlich geboren, Eduard kehrt zurück und das Unglück kann endlich seinen Lauf nehmen: Gerade als Charlotte in eine Scheidung einzuwilligen bereit ist, erfüllt sich Ottiliens tragisches Schicksal. Aufgeregt und durch Eduard verwirrt und verspätet, fällt ihr das Kind der Eheleute in den Teich, wo es ertrinkt. Diese tragische Schuld bringt Ottilie zur sittlichen Reife; sie entsagt ihrer Liebe und dann auch gleich noch ihrem Leben und hungert sich zu Tode. Natürlich kann auch Eduard nun nicht mehr leben und folgt der Geliebten, die ganz nebenbei im Tode auch beinahe noch zur Heiligen wird, nach. Am Ende soll der Leser für die beiden nebeneinander aufgebahrten Liebenden auf ein glücklicheres Wiedersehen in einer besseren Welt hoffen. Hienieden war ihnen kein Glück beschieden.

Die Wahlverwandtschaften stehen mit am Anfang der langen Reihe von Eheromanen des 19. Jahrhunderts, in denen das Bürgertum die Spannungen zwischen dem seiner Kultur zentralen Gefühlskult und der traditionellen Form der Partnerschaft zum Ausdruck bringt. Wie in vielen späteren Fällen steht auch bei Goethe letztlich eine tragisch aufgefasste Frauengestalt im Zentrum der Erzählung, für die eine Lösung ihres Konflikts im Leben nicht gefunden werden kann und die deshalb beinahe zwangsläufig sterben muss. Dass Ottilie dabei nicht in einem tragischen Sinne scheitert, sondern von ihrem Autor wenn nicht zur Heiligen so doch zumindest zu einem Engel verklärt wird, muss der Leser als unvermeidliche Folge des Goetheschen Optimismus hinnehmen.

Der Roman ist deutlich dichter erzählt als die sonstige späte fiktionale Prosa Goethes. Die Distanz des Erzählers zu seinen Figuren ist beachtlich, wenn er auch Sympathien für die stark idealisierte Ottilie natürlich nicht ganz verbergen kann. Es ist daher nicht erstaunlich, dass viele Leser den Roman eher verstörend fanden und finden. Lässt man sich allerdings ein auf das zugrunde liegende Konzept der Spannung zwischen elementarer Liebeserfahrung und gesellschaftlicher Konvention, liefert das Buch weit mehr als einen Kommentar zur adeligen Gesellschaft der Zeit nach der Französischen Revolution. Wahrscheinlich handelt es sich um Goethes modernsten Roman überhaupt.

Johann Wolfgang Goethe: Die Wahlverwandtschaften. RUB 7835. Stuttgart: Reclam, 2010. 282 Seiten. 5,60 €.

Daniel Schönpflug: Luise von Preußen

Populäre, oberflächlich bleibende Biografie Luises von Preußen als »Königin der Herzen«, wie sie der Untertitel bezeichnet. Der Ausdruck wurde übrigens von August Wilhelm Schlegel in einem Gedicht anlässlich der Berliner Huldigungsfeier für Friedrich III. geprägt. Die Biografie dokumentiert umfangreich die Kleidung der Prinzessin und späteren Königin, auch erfährt man viel über die Inneneinrichtung der von ihr bewohnten Schlösser. Darüber hinaus ist zu lesen, dass Ende des 18. Jahrhunderts »außerhalb der Stadt [Berlin] ländliche Gegenden« lagen (S. 95) und »im Inneren der Stadtmauern […] etwa 170 000 Menschen« lebten (S. 96). Ähnlich überraschend dürfte sein, dass Friedrich Wilhelm II. »eine enge Beziehung mit seiner langjährigen Mätresse« (S. 91) hatte. Überhaupt die Sexualität im 18. Jahrhundert:

Was sich hinter den geschlossenen Türen vollzog, darüber schweigen sich die Quellen aus. Angesichts des Fehlens einer sexuellen Erziehung muss man sich, auch wenn die Prinzen eventuell Erfahrungen mit Mätressen haben konnten, wohl eher ungelenke Versuche vorstellen. Doch erst durch den «Vollzug» galt die Eheschließung als unauflöslich. Abgesehen davon musste sich so bald wie möglich Nachwuchs einstellen, denn das war ja der Hauptzweck der Heirat. Lassen wir also Luise und Friedrich Wilhelm in diesem Moment allein. Ob ihre Hochzeitsnacht schüchtern oder stürmisch, innig oder kühl, albern oder ehrfürchtig war, das kann kein Historiker wissen. Denn auch wenn die Urtriebe des Menschen bleiben, die Masken des Begehrens ändern sich mit den Jahrhunderten. Tatsache ist allerdings, dass kaum zehn Monate nach der Hochzeitsnacht das erste Kind des Kronprinzenpaares zur Welt kam. [S. 85]

Oh goldene Zeiten, in denen sich die Quellen noch ausschwiegen! Und noch andere intime Tätigkeiten gab es:

Auch wenn aufwändige Staatsakte unweigerlich zum Königsein gehörten, war das eigentliche Regieren eine zurückgezogene, ja nahezu geheime Tätigkeit. Selbst Luise dürfte ihren Schwiegervater wohl nie dabei beobachtet haben. Der König hatte keinen dauerhaften Arbeitsplatz, sondern er regierte immer in der Residenz, wo er sich gerade aufhielt. [S. 89]

Man denke: Obwohl der Schwiegerkönig immer in all den Residenzen herumregierte, durfte selbst Luise nie dabei zusehen! Potztausend! Möglicherweise hat sie auch sonst nicht bei allem dabei sein dürfen?

Es ist doch bedauerlich, dass ein Verlag wie C. H. Beck anlässlich des 200. Todestages der Luise von Preußen nichts besseres als diesen Schmonzes auf den Markt zu bringen versteht.

Daniel Schönpflug: Luise von Preußen. Königin der Herzen. München: C. H. Beck, 2010. Leinen, 286 Seiten mit gut 30 Abbildungen. 19,95 €.