Ilija Trojanow: Der Weltensammler

weltensammlerSir Richard Francis Burton (1821–1890) war einer der bedeutenden Forschungsreisenden, Abenteurer und Orientalisten des 19. Jahrhunderts. Ilija Trojanow hat drei Episoden aus dem Leben Burtons herausgegriffen und einen Roman aus ihnen gemacht: Burtons ersten Aufenthalt in Indien ab 1842, seine damals zwar nicht einmalige, aber nichtsdestotrotz wagemutige und sensationelle Pilgerreise nach Mekka 1853 sowie die Expedition 1857/58 zum Tanganjika- und Victoriasee (den Burton allerdings nicht erreichte, sondern den sein Partner John Hanning Speke allein »entdeckte«). In zwei Rahmen-Kapiteln beschäftigt er sich mit dem Tod Burtons.

Trojanow geht es dabei nicht darum, eine Biographie Burtons zu verfassen, sondern er benutzt die äußeren Lebensdaten Burtons, um einen Roman über die Themen der kulturellen Differenz und der interkulturellen und -religiösen Toleranz zu verfassen. Alle drei Episoden werden aus doppelter Perspektive erzählt: Zum einen personal angebunden an das Erleben des Portagonisten Burton, zum anderen gespiegelt im Blick eines oder mehrere Einheimischer. Im Fall der Mekka-Reise ist dies eingekleidet in die Fiktion einer offiziellen Untersuchung der Frage, ob Burton diese Reise als englischer Spion unternommen habe, in den beiden anderen erzählen vertraute Untergebene Burtons ihre Sicht der Ereignisse.

Diese doppelte Perspektive ist die eigentliche Pointe des Buches: Burtons zwanghaften Versuchen, sich in andere Kulturen einzuleben, sie bis zum Identitätsverlust nachzuahmen, weil er sich in seiner eigenen Kultur nicht zurecht findet, wird der Blick jener entgegengestellt, die ihren Alltag in der »anderen Welt« leben.

Du kannst dich verkleiden, soviel du willst, du wirst nie erfahren, wie es ist, einer von uns zu sein. Du kannst jederzeit deine Verkleidung ablegen, dir steht immer dieser letzte Ausweg offen. Wir aber sind in unserer Haut gefangen. Fasten ist nicht dasselbe wie Hungern.

Im Endeffekt verstärkt Burton seine Isolation »von aller Welt«, je mehr Welten er sich zu eigen macht:

Wer in England wird ihm ins Dämmerreich folgen können, wer wird verstehen, daß die Antworten verschleierter sind als die Fragen?

Nachdem man das einmal verstanden hat, wird der Roman etwas zäh. Ich habe den dritten Teil eher unwillig gelesen, denn er bringt nichts mehr in einem wesentlichen Sinne Neues. Die Figur Spekes mag für den einen oder anderen Leser als Gegenfolie zu Burton und Lehrstück europäischer Arroganz interessant sein – ich allerdings kenne meinen Hemingway und brauche keine weiteren Romane mehr, um mir Europäer in Afrika vorstellen zu können.

Etwas schade ist es, dass Burton als Intellektueller und Schriftsteller nur am Rande zur Sprache kommt. Immerhin zeichnete er im 19. Jahrhundert durch seine Reisebücher und etwa auch mit seiner Übersetzung der »Märchen aus den 1001 Nächten« verantwortlich für einen wesentlichen Teil der Vermittlung der indischen und arabischen Kultur in die westliche Welt. Aber es mag sein, dass sich darüber nicht so gut in einem Roman schreiben lässt.

Der Roman hat 2006 den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Belletristik gewonnen und war im selben Jahr in der Short-List für den Deutschen Buchpreis.

Ilija Trojanow: Der Weltensammler. Hanser, 2006. Pappband, 477 Seiten. 24,90 €.

Colm Tóibín: Porträt des Meisters in mittleren Jahren

toibinNoch ein Henry-James-Roman, der ebenso wie David Lodges »Autor, Autor« aus dem Jahr 2004 stammt. Der Originaltitel lautet schlicht »The Master«, aber das Marketing beim Hanser Verlag fand offenbar die Joyce-Anspielung schick.

Das Buch setzt später ein als das von Lodge: Jedes der elf Kapitel ist mit einer Monatsangabe überschrieben und das erste Kapitel beginnt im Januar 1895 mit der desaströsen Premiere von James’ Theaterstück »Guy Domville«, und es folgen dann drei weitere Kapitel bevor das Buch das einigermaßen kontinuierliche Erzählen aufgibt und sich in Sprüngen bis zum Oktober 1899 bewegt; allerdings umfasst das letzte Kapitel auch noch den Übergang in das Jahr 1900.

Insgesamt ist Tóibíns Buch bei weitem nicht so konzentriert wie das von Lodge. Tóibín unternimmt lange Rückblenden, die zum Teil weitere Rück- oder Vorblenden enthalten, so dass man am Anfang manch eines Abschnitts nicht ganz sicher sein kann, wo in der Chronologie man sich gerade befindet. Man vermisst einen roten Faden, der das Buch strukturieren würde; im Grunde laufen alle Erzählstränge recht unverbindlich nebeneinander her und James muss für die Assoziationsbrücken des Autors Tóibín geradestehen.

Da geht denn dann auch einiges schief: So erfährt der Leser auf S. 235 zum ersten Mal etwas über Constance Fenimore Woolson, die Henry James bis zu ihrem Freitod in Venedig im Januar 1894 sehr nahe gestanden hatte. Dementsprechend heißt es dann zwei Seiten später:

Ihr Tod war für Henry, ebenso wie der seiner Schwester Alice, ein ständiger täglicher Begleiter.

Wenn das so war, dürfte die Frage berechtigt sein, warum der Leser davon erst nach über 230 Seiten Kenntnis erlangt, nachdem er bereits dreieinhalb Jahre im Leben des Henry James hinter sich gebracht hat. Solche Beliebigkeiten in der Darstellung finden sich recht häufig.

Im Gegensatz zu Lodge, der das Thema eher dezent anspricht, betont Tóibín die vermutliche Homosexualität Henry James’ stark und setzt sich deshalb auch intensiv mit den Prozessen um Oscar Wilde auseinander, denen James aufgrund der ihm zugeschriebenen habituellen Invertiertheit fasziniert folgen muss.

Recht gelungen ist die Darstellung des älteren Bruders William James und seiner Familie im letzten Kapitel des Buches, aber alles in allem wäre wahrscheinlich anzuraten, die Lektürezeit besser auf das Buch von Lodge oder die Biographie von Leon Edel zu verwenden.

Colm Tóibín: Porträt des Meisters in mittleren Jahren. Aus dem Englischen von Giovanni und Ditte Bandini. Hanser Verlag, 2005. Pappband; 427 Seiten. 24,90 €.

David Lodge: Autor, Autor

188967399_14e15afd94David Lodge, englischer Literaturwissenschaftler und Schriftsteller, hat sein neues Buch einem Klassiker der englischsprachigen Literatur gewidmet: Es erzählt die Lebensgeschichte des amerikanischen Autors Henry James (1843–1916). Doch »Autor, Autor« ist keine Biografie, sondern ein Roman, der sich aber in nahezu allen Details an die Tatsachen hält.

Henry James hat heute in der englischsprachigen Welt in etwa den Status, den Theodor Fontane in der deutschsprachigen Literatur einnimmt: eine der wichtigen Stationen auf dem Weg zum modernen Roman. Das war aber nicht immer so. David Lodge konzentriert sich im Hauptteil seines Buches auf eine Zeit der Krise im Leben von Henry James, der seit Ende 1876 hauptsächlich in London lebte. Ende der 1880er Jahre ist sein Ruhm als Autor im Schwinden begriffen, der Absatz seiner Bücher geht von Jahr zu Jahr zurück und James sieht sich auf lange Sicht einer ernsthaften finanziellen Notlage gegenüber.

Da kommt es ihm gerade recht, dass er Ende 1888 die Anfrage einer englischen Theatertruppe bekommt, die ihn bittet, seinen Roman »Der Amerikaner« zu einem Theaterstück umzuarbeiten. Nach anfänglichem Zögern begreift James dieses Angebot als Chance, seine finanzielle Lage dauerhaft abzusichern. Er geht nicht nur auf das Angebot ein, sondern entwirft zugleich den Plan, eine Karriere als Bühnenautor zu beginnen. Erst nach mehr als fünf Jahren wird James die Fruchtlosigkeit seiner Versuche endgültig einsehen. Lodge beschreibt die Hoffnungen, Anstrengungen, Erfolge und Niederlagen, die James in diesen Jahren durchlebt, mit großer Sensibilität und Empathie.

Begleitet wird die Erzählung dieser Lebensphase von der Darstellung zweier wichtiger Freundschaften mit anderen Autoren: George du Maurier (dem Großvater von Daphne du Maurier), eigentlich Zeichner, der 1894 mit seinem Roman »Trilby« einen Megaseller schreibt, und Constance Fenimore Woolson, der Frau, die dem lebenslang keuschen Henry James wohl am nächsten stand; auch sie war als Autorin kommerziell wesentlich erfolgreicher als James.

Dieser Hauptteil wird durch die Erzählung der letzten Wochen gerahmt, die Henry James durchlebt: Seinem langsamen geistigen Verfall nach einem Schlaganfall, der Ehrung durch das englische Königshaus mit dem Order of Merit, seinem Tod und schließlich einem Ausblick auf seinen Nachruhm, der in der englischsprachigen Welt bis heute anhält.

Lodges »Autor, Autor« ist ein ruhig und sorgfältig erzählter Roman, was seinem Inhalt auch ganz angemessen ist. An einer Stelle macht sich Lodge beinahe ein wenig lustig über Henry James und zugleich über sich selbst:

Das Thema […] war reizvoll, aber er gab bereitwillig zu, daß der Roman mit zu vielen Kommentaren behaftet und im Tempo zu gemächlich war. [S. 137]

Doch wer ein wenig Geduld für das Buch aufbringt und sich für Schriftsteller und das späte 19. Jahrhundert interessiert, sollte »Autor, Autor« auf jeden Fall lesen.

David Lodge: Autor, Autor. Aus dem Englischen von Renate Orth-Guttmann. Gerd Haffmans bei Zweitausendeins, 2006. Fadenheftung; 544 Seiten. 17,90 €.

Wilhelm Raabe (1831–1910)

Wilhelm Raabe war einer der wichtigsten und berühmtesten deutschen Erzähler der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Theodor Fontane schrieb über ihn: »Hätte Raabe mehr Kritik, so wäre er absolut Nr. 1.« Thomas Mann, Kurt Tucholsky und Arno Schmidt schätzten ihn, aber heute droht er, langsam vergessen zu werden.

Dabei war Wilhelm Raabe in seinen letzten Lebensjahren, in denen er wieder in Brauschweig lebte, ein berühmter Mann. Erst spät im 19. Jahrhundert hatte eine neue Generation von Lesern besonders Raabes frühe Romane und Erzählungen wiederentdeckt, und Raabe wurde eine berühmte Persönlichkeit. Es lag für Raabe selbst ein wenig Bitterkeit in diesem Ruhm, denn er selbst schätzte sein oft süßliches und harmloses Frühwerk nicht mehr besonders, hatte sich als Schriftsteller unter großer Anstrengung weiterentwickelt, und fühlte sich durch den späten Ruhm zugleich geschmeichelt und mißverstanden.

So ist es denn heute besonders sein Spätwerk, das Leser schätzen und in dem sie den »wahren« Raabe finden: »Stopfkuchen« (1891) und »Die Akten des Vogelsangs« (1896) gehören zu den großartigsten Büchern des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Mit »Pfisters Mühle« (1884) entstand der erste deutsche Roman, der die systematische Zerstörung der Umwelt durch die Industrialisierung ins Zentrum stellt, und in»Odfeld« (1888) schildert Raabe eine überwältigende Rabenschlacht.

Raabes Bücher sind voll hintergründigem Humor, er ist ein Meister der ironischen Anspielungen und er vermag es, ganz wundervolle Sätze zu schreiben:

Einer gottlob unter einem ganzen, ja auch unter einem halben Dutzend deutscher Männer hat immer Astronomie ein wenig gründlicher getrieben als die übrigen und weiß Auskunft zu gehen, Namen zu nennen und mit seinem Stabe zu deuten, wo die andern vorübergehend in der schauerlichen Pracht des Weltalls verlorengehen und kopfschüttelnd sagen: Es ist großartig.

Den Nachlass Raabes verwaltet heute die Raabe-Foschungsstelle an der Stadtbibliothek Braunschweig. Die Mehrung von Raabes Nachruhm und Koordination der Raabe-Forschung hat sich die Raabe-Gesellschaft auf ihre Fahnen geschrieben.

Viele Texte Raabes sind als Taschenbuchausgaben bei Reclam in der gelben Universal-Bibliothek leicht und preiswert zu erreichen. Und bei dtv gibt es als Begleitlektüre eine empfehlenswerte Biographie von Werner Fuld.

Jan-Christoph Hauschild / Michael Werner: Heinrich Heine

133064406_91ca674923Eine kurze und zugleich dichte Kurz-Biographie, die nicht nur Heines Leben in seinen wesentlichen Zügen beschreibt, sondern auch die Zeitumstände darstellt, die zum Verständnis Heines oft unerläßlich sind. Einzig Heines ambivalentes Verhältnis zu Juden- und Christentum kommt mir etwas zu kurz, aber die begrenzte Seitenzahl erzwingt immer Kürzungen irgendwelcher Art.

Man merkt dem Buch an, dass die Autoren über einen breiten biographischen und zeitgeschichtlichen Hintergrund zu Heine verfügen, der in der großen Heine-Biographie bei 2001 dann vollständiger zum Tragen kommt. Das dtv-Potrait kann zur kurzen Information uneingeschränkt empfohlen werden. Das Buch teilt zudem mit den anderen Bänden der Reihe den Vorzug, auf gutem Papier gedruckt und mit einer Fadenheftung ausgestattet zu sein.

Hauschild, Jan-Christoph / Werner, Michael: Heinrich Heine
dtv, 2. Aufl. 2006. ISBN 3-423-31058-8
Kartoniert – 160 Seiten – 9,50 Eur[D]

John Griesemer: Rausch

48746508_02bc0ea3b0Ein Roman fast so lang wie das Atlantikkabel, das in ihm verlegt werden soll. (Wahrscheinlich eine Formulierung, die bereits in drei Rezensionen verwendet worden ist.) John Griesemer benutzt die mehrfachen Versuche, zwischen 1857 und 1866 ein Telegraphenkabel durch den Atlantik zu legen, als Hintergrund für eine Odyssee seiner Protagonisten. An erster Stelle steht Chester Ludlow, der verantwortliche Ingenieur aller gescheiterten Versuche, dessen Ehe während dieser Zeit eine tiefe Krise durchläuft, der sich in eine leidenschaftliche Affäre mit der Frau eines anderen Mannes verstrickt und schließlich nach dem Tod dieser Frau und seines Halbbruders Otis zu seiner Ehefrau zurückfindet. Franny Ludlow, eine ehemalige Schauspielerin, durchlebt ihre eigene Krisenzeit: Tief getroffen vom Tod ihrer kleinen Tochter hat sie sich in sich selbst zurückgezogen und sucht, während ihr Mann unterwegs ist, zusammen mit dessen Halbbruder Otis nach einem spirituellen Weg, mit ihrer Tochter wieder in Verbindung zu treten. Ihr wird eine einzige Vision zuteil, woraufhin sie sich entschließt, als spirituelles Medium die USA zu durchreisen. Otis umrundet derweil beinahe den Planeten auf der Suche nach einer Landroute für ein Telegraphenkabel über die Beringstraße und durch Asien.

Eine weitere Figur, die einen Fokus der Geschichte bildet, ist der Londoner Zeichner und Maler Jack Trace, der für seinen Lebensunterhalt sorgt, indem er Londoner Zeitungen Zeichnungen und kleine Artikel anbietet, darunter auch Berichte über das größte Schiff seiner Zeit, die Great Eastern, die von einem Desaster ins nächste gerät und schließlich das Schiff sein wird, mit dessen Hilfe das Atlantikkabel erfolgreich verlegt wird.

An diesem letzten, geglückten Versuch aber ist John Griesemer kaum mehr interessiert; er behandelt ihn beinahe nur en passant am Schluss seines Romans. Während er die Handlung vorwärts treibt, scheint er es vielmehr darauf anzulegen, den Motiven nachzuhorchen, die seine Figuren umtreiben, und als Hintergrund ein Bild von der englischen und nordamerikanischen Gesellschaft in der Mitte des 19. Jahrhunderts zu liefern. Letzteres gelingt allerdings nur bedingt: Die sozialen und ökonomischen Verwerfungen kommen höchstens in Andeutungen vor und der Auftritt von Karl Marx zu Anfang des Romans bleibt eine witzige Episode ohne konkrete Folgen. Griesemer ist zu sehr mit der Innenwelt seiner Figuren beschäftigt, als dass hier mehr hätte gelingen können.

Wahrscheinlich hätte es den Lesern der deutschen Übersetzung geholfen, wenn man den englischen Originaltitel »Signal & Noise« einfach ins Deutsche übertragen hätte, anstatt das Rauschen des Originals zu einem deutschen »Rausch« zu verkümmern. Aber beim Verlag hat sich wohl einer gedacht, dass ein Rausch allemal besser zieht als ein Rauschen. Schade!

Insgesamt ist – um mich zu wiederholen – der Roman schon unmäßig lang. Da er auch nicht in allen Passagen gleich gut gelungen scheint, war die Lektüre dann und wann schon etwas mühsam und zäh; aber dann kam eben wieder eine gelungene Episode – etwa die Beschreibung eines Sturms auf hoher See oder der vom amerikanischen Bürgerkrieg verstörte Jack Trace auf einer gesprengten Eisenbahnbrücke –, so dass der Antrieb zum Weiterlesen wiederkam. Ein ungewöhnliches Buch für geduldige Leser mit Neugier auf das 19. Jahrhundert.

Lizenzausgabe der Büchergilde Gutenberg des Titels:
Griesemer, John: Rausch
Aus dem Amerikanischen von Ingo Herzke
marebuchverlag, 2003; ISBN 3-936384-86-X
Gebunden
686 Seiten – 23,2 × 13,8 cm – 24,90 Eur[D]