Herfried Münkler: Der Große Krieg

Die Zeit der einseitigen Schwarzweißzeichnungen in der Ursachenforschung zum Ersten Weltkrieg ist vorbei, und die von Hegel in seiner Vorrede zur Rechtsphilosophie apostrophierte «Eule der Minerva» inspiziert eine Landschaft, in der die mit den Ursachen und dem Verlauf des Ersten Weltkriegs befasste Forschung inzwischen ihr Grau in Grau malt. Eindeutige Antworten sind dadurch ebenso unmöglich geworden wie eindeutige Schuldzuweisungen.

Muenkler_KriegHerfried Münklers Geschichte des Ersten Weltkrieges ist die erste von mindestens drei großen Darstellungen des Ersten Weltkriegs, die ich in diesem Jahr zu lesen vorhabe (Christopher Clarks „Die Schlafwandler“ und Jörn Leonhards „Die Büchse der Pandora“ sollen folgen). Münkler ist zwar Politologe, hat sich aber schon in zahlreichen anderen Veröffentlichungen mit spezifisch historischen Themen beschäftigt, so dass dieses Buch keine wirkliche Überraschung darstellt.

Das Schwergewicht von Münklers Darstellung liegt auf dem Kriegsverlauf im militärischen Sinne (ohne dass sein Buch zu einer Militärhistorie im engeren Sinne wird), also der Entwicklung der Operationen, den Motiven der jeweiligen militärischen Führungen, den Bedingungen, unter denen an den diversen Fronten gekämpft wurde, den Auswirkungen von Siegen und Niederlagen für die den Krieg betreibenden Nationen. Außerdem kreist Münklers Erzählung des Kriegsverlaufes in der Hauptsache um das Geschehen im Deutschen Reich bzw. Einflussbereich, so dass der Untertitel „Die Welt 1914–1918“ vielleicht ein wenig in die Irre führen könnte.

In diesen von Münkler selbst gewählten Grenzen ist sein Buch, soweit ich das beurteilen kann, tadellos. Sicherlich kann man sich über Einzelheiten streiten, etwa über die genaue Rolle, die die politische Führung des Reiches in der Juli-Krise gespielt hat, also ob es tatsächlich so war, dass der Wille zum Krieg im Wesentlichen von den Militärs gegen die Regierung durchgesetzt wurde, aber insgesamt informiert Münkler exzellent über das Geschehen und liefert eine überzeugende Deutung, wie aus dem Anlass von Sarajevo ein nicht mehr zu begrenzender europäischer Krieg geworden ist.

Der Frage nach der Kriegsschuld weicht Münkler zu Recht aus, oder anders gesagt: Er zeigt auf, dass diese Frage falsch gestellt ist. Münkler macht deutlich, dass im Denken der Führung des deutschen Militärs und zumindest auch eines bedeutenden Teils der Politiker ein Krieg als eine unausweichliche Folge der geopolitischen Lage verstanden wurde, den es je eher, je besser auszukämpfen galt. Hinzukommt bei allen späteren Kriegsteilnehmern das Phänomen, dass man einen politischen „Gesichtsverlust“ und damit eine Einbuße von Einfluss auf das internationale politische Geschehen befürchtete, wenn man in der Juli-Krise keine Stärke bewies. Hinzukommen konkrete machtpolitische Konflikte auf dem Balkan, auf dem die k.u.k. Monarchie ihren Führungsanspruch und damit indirekt auch ihren Anspruch, als eine europäische Großmacht begriffen zu werden, massiv in Frage gestellt sah. Am Ende lassen sich alle Teilnehmer mehr oder weniger darauf ein, dass dies eben eine  günstige Gelegenheit ist, die anliegenden politischen Konflikte mit dem bewährten Mittel eines Krieges zu klären, um wenigstens zu einem neuen politischen Gleichgewicht zu gelangen. Dazu trägt sicherlich auch bei, dass die meisten der Entscheider in Militär und Politik tatsächlich der Überzeugung waren, dass der Krieg innerhalb von fünf Monaten wieder beendet sein würde.

Zuzustimmen ist Münkler jedenfalls in der Einschätzung, dass der Regierung Bethmann Hollwegs spätestens mit Ausbruch des Krieges die eigentliche politische Führung des Deutschen Reiches von einer Allianz aus Kaiser und Militär aus der Hand genommen wurde und später allein in die Hände der Obersten Heeresleitung geraten ist. Erst mit dem Eingeständnis der Unmöglichkeit, den Krieg noch weiterzuführen, wird die politische Macht wieder den zivilen politischen Akteuren übergeben, die damit vor die Aufgabe gestellt werden, die innen- und außenpolitischen Folgen des ersten Versuchs eines „absoluten Krieges“ wenigstens einigermaßen in den Griff zu bekommen. So ist für Münkler weniger die Kriegsschuldfrage wichtig als vielmehr die, warum es nicht  gelingen konnte, den Krieg zu einem deutlich früheren Zeitpunkt zu beenden. Ihm ist wohl zuzustimmen, dass dies wesentlich auch an der strukturellen Machtlosigkeit der deutschen Politik vor der Allianz von Kaiser und Militärs liegt.

Was man in Münklers Darstellung vermissen kann, ist die Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen und politischen Folgen dieses Krieges. Zwar werden alle wichtigen Phänomene kurz angerissen, auch ist Münkler in seiner These zuzustimmen, dass der Erste Weltkrieg das Ende der bürgerlichen Kultur im engeren Sinne bedeutet, aber alle daraus resultierenden Folgen bleiben bei Münkler ausgeblendet. Auch die gesellschaftlichen Unruhen in Deutschland gegen Kriegsende kommen eher am Rande vor, soweit es sich nicht um militärische Ereignisse (Kampfstreiks, Meutereien etc.) handelt. Hier hätte zumindest ich mir eine etwas andere Gewichtung gewünscht; aber man darf nicht alles, von einem einzigen Buch erwarten.

Hinzuzufügen ist, dass Münklers Buch auffallend angenehm zu lesen ist. Seine Erzählung ist in allen Teilen klar strukturiert, und ihm gelingt es, auch komplexe Vorgänge systematisch aufzuarbeiten und in den Zusammenhängen deutlich zu machen. Das Buch schöpft aus einer beeindruckenden Quellenkenntnis, die weit über den Rahmen dieses konkreten Buches hinausgeht. Alles in allem eine beeindruckende Geschichte des Ersten Weltkrieges vom Attentat in Sarajevo bis zum Waffenstillstand vom 11. November 1918, wenn ihre Lektüre allein auch nicht ausreicht, die komplexen Umbrüche in der europäischen Kultur, die er hervorbringt, auch nur annähernd zu begreifen. Sie bietet aber ein solides Rückgrat für jede weiterführende Lektüre.

Herfried Münkler: Der Große Krieg. Die Welt 1914–1918. Berlin: Rowohlt Berlin, 2013. Pappband, Lesebändchen, 924 Seiten. 29,95 €.

Vladimir Nabokov: Die Gabe

Er war blind wie Milton, taub wie Beethoven und obendrein dumm wie Beton.

Nabokov-Gabe„Die Gabe“, entstanden in den Jahren 1933 bis 1938 in Berlin und an der Côte d’Azur, ist der letzte Roman, den Nabokov auf Russisch schrieb. Er ist auch so etwas wie ein erster Abschluss seiner Aus­ein­an­der­set­zung mit der russischen Immigranten-Szene Berlins, in der Nabokov von 1922 bis 1937 gelebt hatte. Zudem ist es der bis dahin literarischste Roman Nabokovs, da sein Protagonist ein junger russischer Schriftsteller ist und die russische Literatur seit dem 19. Jahrhundert eine der thematischen Ebenen des Romans bildet.

Erzählt wird die Geschichte des jungen Grafen Fjodor Godunow-Tscherdynzew, der zu Anfang des Romans gerade seinen ersten Gedichtband veröffentlicht hat. Er lebt in der zweiten Hälfte der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts als russischer Exilant in Berlin; seine Mutter und Schwester sind in Paris, sein Vater, ein berühmter For­schungs­rei­sen­der, ist auf seiner letzten Expedition verschollen und muss für tot gehalten werden. Seine sozialen Kontakte sind auf einen kleinen Kreis von Immigranten beschränkt, darunter auch einige Schriftsteller, die wie er selbst mit der kärglichen Bedingungen des Exils zurechtkommen müssen. Handlung hat das Buch nur wenig: Nach einer Zeit der Untätigkeit beginnt Godunow-Tscherdynzew die Biographie seines Vaters zu verfassen, gibt dieses Projekt aber nach einigen Monaten wieder auf, um stattdessen die Biographie Nikolai Gawrilowitsch Tschernyschewskis (1828–1889) zu schreiben. Nabokov lässt es sich nicht nehmen, diese Biographie im 4. Kapitel des Romans auf knapp 150 Seiten vollständig wiederzugeben. Das Buch wird ent­ge­gen der Intention ihres Verfassers weithin als Parodie oder sogar als Satire auf das Leben des frühen russischen Revolutionärs verstanden, weshalb Godunow-Tscherdynzew zuerst einige Schwierigkeiten hat, einen Verlag für das Buch zu finden; als es dann doch erscheint, wird es rasch zum Zentrum eines Sturms im Wasserglas der russischen Exil-Literatur.

Unterdessen hat sich der Protagonist verliebt: Sina, die Stieftochter seines neuen Vermieters, trifft sich täglich mit ihm zu Spaziergängen durch das abendliche Berlin. Sie unterstützt ihn bei der Arbeit an der Biographie, wahrscheinlich aber auch finanziell – sie arbeitet als Schreib­kraft bei einem Rechtsanwalt und gibt Fjodor zumindest ein­mal eine hohe Summe, damit er die ausstehende Miete bei ihren Eltern bezahlen kann. Dass das Paar füreinander bestimmt ist, macht Nabokov im letzten Kapitel klar, als er die Eltern Sinas nach Kopenhagen ziehen lässt; auf den letzten Seiten gehen die beiden Liebenden zur nun leeren Wohnung zurück, um ihre erste Liebesnacht miteinander zu ver­brin­gen. Nabokov wäre allerdings nicht Nabokov, wenn er für die beiden nicht noch eine kleine, böse Überraschung vorbereitet hätte, die am Ende aber unerzählt bleibt.

Das Buch ist sicherlich für Kenner der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts vergnüglicher zu lesen als für den gewöhnlichen deutschen Leser. Besonders die frühen Passagen der Tscher­ny­schew­ski-Bio­gra­phie in Kapitel 4 sind etwas zäh; dagegen ist die von Na­bo­kov detailliert vorgeführte Rezeption des Buches eine hübsche Parodie auf Gepflogenheiten des Literaturbetriebs, die sich bis heute nicht groß geändert haben. Erwähnt werden sollte wohl noch, dass Nabokov auch in diesem Buch mit den Grenzen zwischen Phantasie und Realität spielt: An zahlreichen Stellen des Buches geht die Wahrnehmung des Helden nahtlos in eine seiner Phantasien über; auch Träume spielen wieder eine bedeutende Rolle im Text.

Alles in allem ein routinierter Künstlerroman, der viel von der li­te­ra­ri­schen Kultur der russischen Exilanten in Berlin widerspiegelt; zugleich handelt es sich um eine satirische Auseinandersetzung mit der rus­si­schen Literaturszene, sowohl der des 19. Jahrhunderts als auch der Opposition zwischen den revolutionär orientierten und den kon­ser­va­ti­ven Kräften des Exils. Die deutsche Übersetzung beeindruckt be­son­ders durch die Übersetzungen der Gedichte des Protagonisten, bei denen der Übersetzerin das nicht kleine Kunststück gelingt, einen halb originellen, halb eklektizistischen Tonfall zu erzeugen.

Vladimir Nabokov: Die Gabe. Deutsch von Annelore Engel-Braunschmidt. Gesammelte Werke V. Reinbek: Rowohlt, 42001. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 795 Seiten. 30,– €.

Vladimir Nabokov: Einladung zur Enthauptung

Ich brauche wenigstens die theoretische Möglichkeit, daß ich einen Leser habe, sonst könnte ich das eben­so­gut alles zerreißen.

Nabokov_Enthauptung

„Einladung zur Enthauptung“ ist ein kurzer Roman, den Nabokov 1934 in Berlin sozusagen zwischendurch geschrieben hat: Seine Niederschrift unterbrach die des deutlich umfangreicheren Romans „Die Gabe“. Erzählt werden die letzten Tage des Gefangenen Cin­cin­na­tus, der zu Anfang des Buches als soeben zum Tode Verurteilter in seine Zelle zurückkehrt. Cin­cin­na­tus ist offenbar Opfer eines totalitären Regimes, das ihn wegen eines Persönlichkeitsverbrechens verurteilt hat: Im Gegensatz zu seinen Mitbürgern erscheint Cincinnatus als eine opake Person, die sich an den unter seinen Mitmenschen verbreiteten Aktivitäten und Ver­gnü­gun­gen nur ungern beteiligt.

Die erzählte Zeit umfasst etwas mehr als vierzehn Tage, in denen Cincinnatus auf seinen Hinrichtung wartet. Der Roman enthält ein selbst für die Grundkonstellation sehr reduziertes Personal: Ein Wächter, der Gefängnisdirektor, dessen Tochter Emmi, ein Rechts­an­walt, ein vorgeblicher Mitgefangener, der sich aber bald als der Henker herausstellt, eine Spinne sowie Cincinnatus vorgebliche Mutter und seine Ehefrau bilden im Wesentlichen das Personal. Der Text ufert hier und da ins Phantastische aus und lässt die Grenze zwischen einer ohnehin nur pseudorealistischen und einer Traumwelt immer wieder verschwimmen.

Es ist verführerisch einfach, den Roman als eine Kritik an der Ideologie und am Menschenbild der jungen Sowjetunion zu lesen, die, wie wohl alle totalitären Staaten, grundsätzlich ein stärkeres Interesse an gut funktionierenden Bürgern hatte, die sich ohne Rest in die Ansprüche und Bedürfnisse des Staatswesens eingliedern lassen, als an in­di­vi­du­el­len Charakteren. Dass Nabokov einen Einzelgänger und Eigenbrötler imaginiert, der allein aufgrund seines Charakters gleich zum Tode verurteilt wird, ist eine verständliche Zuspitzung dieses staatlichen Anspruches. Es mag auch sein, dass er vergleichbare Züge auch im Deutschland des Jahres 1934 erkannt hat, doch fehlen im Text jegliche Hinweise auf nichtrussische Verhältnisse.

Ein solche Deutung wäre nicht falsch, würde die Reichhaltigkeit des Textes aber klar un­ter­lau­fen. Wie immer interessieren Nabokov weit mehr Formen der Ge­fan­gen­schaft als diese eine: Die Gefangenschaft in Ehe und Familie, im Körper, in der Zeit und die der Sexualität spielen eine zumindest ebenso große Rolle wie die durch Staat und Gesellschaft.

Insgesamt ist der Roman etwas abstrakt geraten und erinnert – auch wenn sich Nabokov im Vorwort der späteren englischen Ausgabe dagegen verwehrt – unweigerlich an Kafkas Welten. Die be­schrie­be­ne Wirklichkeit bleibt eher undeutlich und kann allein von daher sehr vielfältig ausgedeutet werden. Das Ende wiederum, das die ab­schlie­ßen­de Hinrichtung eher auflöst als durchführt, erinnert stark an „Die Mutprobe“, so dass dieser kleine Roman am Ende als eine Variation bereits bekannter Themen Nabokovs erscheint: der gefangene Autor und sein Entkommen ins Reich der Phantastik.

Vladimir Nabokov: Einladung zur Enthauptung. Deutsch von Dieter E. Zimmer. Gesammelte Werke IV. Reinbek: Rowohlt, 22003. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 267 Seiten. 22,– €.

Bill Bryson: Sommer 1927

Charles Lindberghs Tournee war immer noch nicht beendet.

Bryson-1927Nachdem nun schon eine Zeitlang Jahreszahlen-Bücher beliebt zu sein scheinen, legt der erfolgreiche Sachbuchautor Bill Bryson mit „Sommer 1927“ ein erstes Jahreszeiten-Buch vor, wenn er auch dabei etwas mogelt und seinen Sommer auf fünf Monate streckt. Ich erwarte nun binnen Jahresfrist einen Tausendseiter von Peter Ackroyd, etwa über den 23. April 1616, also circa 500 Seiten für jeden der beiden Tage.

Nach den beiden materialreichen Bänden zur Wissenschafts- bzw. zur Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts – „Eine kurze Geschichte von fast allem“ und „At Home“ –  liefert Bryson mit „Sommer 1927“ eine US-amerikanische Kulturgeschichte des frühen 20. Jahrhunderts. Der Sommer 1927 bildet dabei in der Hauptsache aus zwei Gründen den Schwerpunkt: zum einen dem Lindbergh-Flug über den Atlantik, zum anderen dem bis heute bestehenden Rekord des Baseball-Spielers Babe Ruth.

Ich muss gestehen, dass ich an diesem sehr auf ein US-Publikum zugeschnittenen Buch nur mäßig interessiert war, was aber gut an mir und nicht am Buch liegen kann. Weder interessiert mich eine aus­führ­li­che Darstellung der Geschichte des Baseballs, noch habe ich mein kind­li­ches Interesse an der Fliegerei über mehr als dreißig Jahre hinweg konservieren können. Auch der Boxsport, die Vita Al Capones oder Henry Fords konnten mich nicht gefangennehmen. Hinzukommt, dass die Übersetzung des Buches offenbar unter großem Zeitdruck ent­stan­den und stilistisch nicht immer rund geraten ist. Auch das un­durch­schau­ba­re Nebeneinander von metrischen und nichtmetrischen Längenangaben, die häufig nicht oder nur schlecht erklärten Be­grif­fe aus der Welt des Baseballs und nicht zuletzt die, auch was den Zeitrahmen angeht, umfangreichen Abschweifungen haben meine Unzufriedenheit wohl noch erhöht.

Alles in allem kein wirklich schlechtes Buch, aber verglichen mit seinen beiden Vorgängern für mich eine Enttäuschung.

Bill Bryson: Sommer 1927. Übersetzt von Thomas Bauer. München: Goldmann, 2014. Pappband, Lesebändchen, 639 Seiten. 24,99 €.

Jaroslav Hašek: Die Abenteuer des guten Soldaten Švejk im Weltkrieg

Das menschliche Leben ist, melde gehorsamst, Herr Oberleutnatnt, so kompliziert, dass das Leben des einzelnen Menschen dagegen ein Witz ist.

Hasek-SvejkEinhundert Jahre nach Beginn des Ersten Weltkriegs und neunzig Jahre nach der bis dahin ersten und einzigen Übersetzung von Hašeks weltberühmten Roman legt Reclam eine lange überfällige Neu­über­set­zung des „Švejk“ vor. Die frühe Übersetzung durch Grete Reiner, die bis dato die deutsche Rezeption des Romans geprägt hat, war bereits von Kurt Tucholsky unter den Verdacht gestellt worden, das Original zu verfälschen.

Die neue Übersetzung durch Antonín Brousek räumt den deutschen Text jedenfalls umfassend auf: Das Böhmakeln Švejks wird komplett beseitigt (mit dem berechtigten Hinweis, dass sich im Original nichts findet, was diesem Dialekt entsprechend würde), Austriazismen und veraltete Wendungen werden ersetzt, die deutsche Umschrift tsche­chi­scher Eigennamen rückgängig gemacht, einige antideutsche Passagen wieder hergestellt und der Text insgesamt für den heutigen Leser zugänglicher gemacht. Eine tatsächliche Beurteilung der Übersetzung muss ich aber jenen überlassen, die sie mit dem Original vergleichen können.

Unabhängig von der Frage nach der Übersetzung wurde mir die er­neu­te Lektüre des „Švejk“ aber an einigen Stellen lang. Es wird doch sehr deutlich, dass Hašek eigentliches Talent bei den kurzen literarischen Formen lag, und er einen Roman im Wesentlichen dadurch erzeugte, dass er anekdotische Stücke schlicht aneinanderklebte. Zwar gibt es den großen Plan, das Buch mit der Ermordung des Erzherzogs Franz-Ferdinand beginnen und „nach dem Krieg um sechs Uhr abends“ enden zu lassen, aber bis auf diesen großen Rahmen (der tausende von Seiten hätte füllen müssen, hätte Hašek ihn jemals ausführen können) sind nur Rudimente einer erzählerischen Struktur erkennbar. Mehr als verzeihlich ist dies nur wegen des die formlose Geschwätzigkeit des Textes widerspiegelnden Protagonisten, der dem Leser in einer nicht anders als genial zu nennenden Weise zugleich auf die Nerven geht und ihn in seinen Bann schlägt. Švejk ist eine einzige, sich per­pe­tu­ie­ren­de Variation des Unfug sprechenden Menschen. Der spezifische Unfug Švejks ist eine unendliche Folge von Anekdoten, die alle mit dem Ereignis, das sie auslöst, nichts, aber auch rein gar nichts zu tun haben. Ich habe mich am Ende gewundert, dass ich es tat­säch­lich geschafft habe, die knapp 900 Seiten des Romans zu lesen, ja, dass es gegen Ende sogar wieder mit zunehmendem Vergnügen war.

Abgesehen von diesem beherrschenden Mangel an Struktur enthält der Roman eine scharfe Kritik sowohl der k.u.k. Monarchie als auch ihres Militärs und des Krieges. Der überall vorherrschende Grundtypus ist der des Idioten, wobei das Bild durch einige wenige halbwegs der Vernunft gehorchende Figuren abgemildert wird: der Oberleutnant Lukaš, der Einjährigfreiwillige Marek, vielleicht gerade noch der Hauptmann Ságner – alle anderen Figuren scheinen mehr oder weniger vom wilden Affen gebissen zu sein. Insofern sind „Die Abenteuer des guten Sol­da­­ten Švejk im Weltkrieg“ eines der großen pessimistischen und mis­­an­thro­pi­schen Bücher des 20. Jahrhunderts.

Ergänzt wird der Text in der Reclam-Ausgabe um ein sehr informatives Nachwort des Übersetzers und einen lesenswerten Essay von Jaroslav Rudiš. Ich kann daher nur jedem die Anschaffung und Lektüre dieses Buches empfehlen: Es ist hier ein bedeutender literarischer Klassiker des letzten Jahrhunderts zu entdecken und wieder zu entdecken.

Jaroslav Hašek: Die Abenteuer des guten Soldaten Švejk im Weltkrieg. Aus dem Tschechichen übersetzt von Antonín Brousek. Stuttgart: Reclam, 2014. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 1008 Seiten. 29,95 €.

Dominik Riedo: Wolf von Niebelschütz

Riedo-NiebelschützWolf von Niebelschütz ist, wie bereits an anderer Stelle gesagt, einer der bemerkenswerten Autoren der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur: Ei­ner­seits von einer kleinen, aber stetig wachsenden Guppe von Lesern geschätzt, andererseits beinahe nie aus dem Schatten eines Geheimtipp-Daseins herausgetreten, dennoch mit seinen beiden Ro­ma­nen beinahe ununterbrochen lieferbar (sein Biograph Dominik Riedo schätzt die Gesamtauflage der beiden Bücher auf immerhin je 100.000 Exemplare) führt er eine jener langlebigen Randexistenzen der Li­te­ra­tur, die zeigen, dass der Literaturbetrieb doch noch nicht gänzlich auf das Geschäft der Controller heruntergekommen ist. Oder, um es mit einem anderen, wenn auch inzwischen deutlich bekannteren Au­ßen­sei­ter der deutschsprachigen Literatur zu sagen:

Und die eigentlichen ›Pfade‹ in der Literatur sind die Sackgassen, (auch die der Büchersucher und =finder)

Dominik Riedo hat nun im vergangenen Jahr die erste umfassende Biographie über Wolf von Niebelschütz herausgebracht. Das Buch zeugt mit seinen über 900 großformatigen Seiten nicht nur vom Fleiß des Autors, sondern vermittelt ein tatsächlich so vollständiges Bild von Leben und Werk, wie es sich derzeit erstellen lässt. Niebelschütz war zwar adeliger Herkunft, wuchs aber in bürgerlichen Verhältnissen auf, besuchte Schulpforta, begann anschließend in Wien Geschichte zu stu­die­ren, brach das Studium aber schon bald ab und wurde Journalist in Magdeburg bei jener Zeitung, für die auch sein Vater arbeitet. Neben der journalistischen Arbeit schrieb er Gedichte. Vom aufkommenden Nationalsozialismus hält er sich fern, wenn es auch wohl übertrieben wäre, ihn einen Gegner zu nennen (Riedo verschweigt dabei durchaus nicht die antisemitischen Tendenzen, denen Niebelschütz in dieser Zeit anhängt). Dann wird er zur Wehrmacht eingezogen, wobei er dazu neigt, das Soldatentum einerseits in Gedichten heldisch zu überhöhen, andererseits aber persönlich ziemlich unerträglich zu finden.

Noch während des Krieges beginnt Niebelschütz, angeregt durch die Lektüre eines Hofmannthal-Fragments, mit der Arbeit an seinem ersten großen Roman – zwei Romanversuche zuvor sind nicht zur Druckreife gelangt –, einem im 18. Jahrhundert im fiktiven Mit­tel­meer­in­sel­reich Myrrha spielenden Haupt- und Staatsroman, der nicht nur das Zeitalter des Barock mit seinen Umgangsformen und seinem Lebensgefühl feiert, sondern sich zugleich auch über genau diese Fas­zi­na­tion lustig zu machen versteht. „Der blaue Kammerherr“ erschien 1949 im jungen Suhrkamp Verlag, und es sah zuerst nach dem von Autor und Verleger erhofften Erfolg aus. Doch nach anfangs guten Verkäufen ließ das Interesse rasch und deutlich nach, so dass sich Niebelschütz in den Folgejahren als Vortragsredner und Auftragsautor für die deutsche Industrie verdingen musste. So erschien erst zehn Jahre nach seinem Debüt sein zweiter Roman „Die Kinder der Finsternis“, dem beim Publikum ein nahezu identisches Schicksal beschieden war. Dennoch sind beide Romane nie vollständig vom Buchmarkt verschwunden, und mit den Jahren ist Niebelschütz langsam zu dem Status eines wohlbekannten Geheimtipps gekommen, ein Schicksal, dass er zum Beispiel mit Albert Vigoleis Thelen teilt, was zeigen mag, dass es sich um kein so ganz einmaliges Phänomen in der deutschen Nachkriegsliteratur handelt.

Dominik Riedos Biographie ist eine wissenschaftlich orientierte Gesamtdarstellung, die nicht nur Leben und Werk, sondern auch die Rezeption besonders der beiden Romane umfassend würdigt, sowohl was das Feuilleton als auch was die germanistische Forschung angeht. Da das Buch übersichtlich und der Sache nach klar gegliedert ist, erlaubt es aber auch eine eher biographisch als li­te­ra­tur­wis­sen­­schaft­lich gewichtete Lektüre. Überhaupt muss man Riedo einen sprachlich stets klaren und nahezu immer beispielhaft objektiven Zugriff auf die dargestellte Sache bescheinigen; nur einige wenige im Ton schwär­me­ri­sche Stellen lassen hier und da den Fan durchschimmern.

Zu wünschen wäre eine von diesem Buch ausgehende, kürzere und preiswertere, an ein breiteres Publikum gerichtete Biographie Wolf von Niebelschütz’, die vielleicht eine Chance böte, diesen sprachlich ori­gi­nel­len und inhaltlich spannenden Autor, der sich dem Strom der zeit­ge­nös­si­schen Literatur nur wenig angepasst hat, einer noch größeren Leserschaft bekannt zu machen. Man darf jedenfalls gespannt sein, ob und wie sich die Wahrnehmung von Autor und Werk durch Riedos Biographie verändern wird.

Dominik Riedo: Wolf von Niebelschütz. Leben und Werk. Eine Biographie. Bern u.a.: Peter Lang, 2013. Bedruckter Pappband, Fadenheftung, 919 Seiten. 133,80 €.

Isaak Babel: Mein Taubenschlag

Und  das ungeheuerliche Russland, unwahrscheinlich wie eine Herde bekleideter Läuse, stapfte in Bast­schu­hen zu beiden Seiten des Waggons.

Babel-Taubenschlag

Zum schönsten in einem langen und kon­ti­nu­ier­li­chen Leseleben gehören jene Momente, in denen man unvorbereitet auf einen Autor stößt, der einem ganz neu und ursprünglich ein Vergnügen bereitet, mit dem man schon lange nicht mehr gerechnet hatte. Meine Lektüre von Isaak Babels Erzählungen ist ein solcher Glücksfall. Natürlich kannte ich Babel dem Namen nach, wusste auch, dass er in der DDR viel gelesen wurde, aber ich war nie zufällig so an einem seiner Bücher vorbeigekommen, dass es mich im Augenblick gereizt hätte, ihn kennenzulernen. Erst die jetzt erschienene Neuausgabe seiner sämtlichen Erzählungen bei Hanser hat mich verführt.

Im Zentrum des Bandes steht Babels Erzählzyklus „Die Reiterarmee“ in der Übersetzung Peter Urbans, die – mit wenigen Änderungen – aus der Ausgabe der Friedenauer Presse von 1994 übernommen wurde. „Die Reiterarmee“ enthält Babels Erzählungen aus dem Polnisch-Sowjetischen Krieg von 1920, an dem er als Kriegsjournalist teilnahm, nachdem er zuvor schon im Ersten Weltkrieg und dem nachfolgenden russischen Bürgerkrieg als Soldat und Reporter gedient hatte. Babels Erzählweise ist zumeist denkbar knapp und unemotional, dann aber immer wieder durchsetzt mit kurzen, nahezu lyrischen Na­tur­be­schrei­bun­gen, ohne dass die Texte dadurch ihre Stimmigkeit verlieren würden. Babel versucht an keiner Stelle ein historisches oder auch nur geschlossenes Bild des Krieges zu liefern; er konzentriert sich im Gegenteil auf Anekdoten, von denen durchaus nicht jedesmal klar wird, wo sie in der Chronologie der Ereignisse zu verorten sind. Kriegselend, Euphorie der Attacke und Streitereien unter den Soldaten, hohe Kriegsziele und Orien­tie­rungs­lo­sig­keit, Geistliche, Künstler, Bettler und Generale, Juden und Christen, Polen und Russen treffen unvermittelt auf­ein­an­der, Verständnis, Missverständnis und Tod wechseln sich un­vor­her­seh­bar ab und der Erzähler Ljutov – Babels eigener Nom de guerre – scheint kaum hinterherzukommen mit seinen Notizen.

Um diesen Kern herum finden sich in vier Teilen alle anderen Erzählungen Babels in der Übersetzung von Bettina Kaibach. Man muss ihr das Kompliment machen, dass es ihr tatsächlich gelungen ist, einen Ton für ihre Übersetzung zu finden, der kaum eine Diskrepanz zu dem Urbans erkennen lässt. Natürlich sind Babels Erzählungen aus Odessa stofflich oft leichter und in weiten Teilen humoristischer als die der „Reiterarmee“, aber Kaibach trifft wie Urban die lakonisch-lyrische Spannung der Texte vortrefflich. Der „Reiterarmee“ voran gehen die beiden Sammlungen „Die Geschichte meines Tau­ben­schlags“ und die „Geschichten aus Odessa“, wobei dieser Zyklus und die Sammlung „Die Reiterarmee“ um einige zugehörige Texte ergänzt werden. Nachgestellt sind zwei Gruppen von Erzählungen, die Babel nicht selbst gesammelt hat und die der Chronologie der Entstehung nach geordnet wurden. Besonders die frühen, noch recht konventionellen Erzählungen machen deutlich, wie Babel schließlich zu seinem eigenen, knappen und lakonischen Ton gefunden hat.

Wie bereits oben gesagt, hat mich seit Langem kein Erzähler mehr so auf Anhieb überrascht und überzeugt. Babels Erzählungen prä­sen­tie­ren eine ganz und gar eigenständige und originelle Sicht auf die Welt, sie zeigen eine Wirklichkeit, die sich in dieser Präzision wohl schwer­lich anderswo wird finden lassen, wenn sie sich überhaupt finden lässt. Eines jener wenigen Bücher, die tatsächlich ein Stück Welt bewahren!

Isaak Babel: Mein Taubenschlag. Sämtliche Erzählungen. Übersetzt von Bettina Kaibach und Peter Urban. München: Hanser, 2014. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 863 Seiten. 39,90 €.

Arnold Zweig: Einsetzung eines Königs

Solche Verkettungen, aus mehreren Zufällen geboren, erscheinen dem Menschen leicht als Fügungen, ver­an­stal­tet von einem zielvollen Wissen.

Zweig-EinsetzungMit diesem in der Chronologie der Handlung sechsten und letzten Band von Zweigs Zyklus „Der große Krieg der weißen Männer“ (erschienen 1937, als Zweig bereits in Palästina im Exil war) habe ich mich ähnlich schwer getan wie mit dem nachträglich in die Handlung eingeschobenen Band „Die Feuerpause“. Auch diesmal gelingt es Zweig nicht, eine wirklich überzeugende Handlung zu konstruieren, die seine beabsichtigte Intention trägt. So dreht sich die erste Hälfte des Romans immer wieder um die Auseinandersetzung, welcher der deutschen Anwärter auf den litauischen Königsthron gehievt werden soll, ohne dass dabei irgendeine Art von Fortschritt in der historischen Entwicklung oder der Einsicht des Lesers in den Prozess erzielt wird.

Im Zentrum des Romans steht diesmal Hauptmann Paul Winfried, der bereits in „Der Streit um den Sergeanten Grischa“ eine führende Rolle gespielt hatte. Er ist inzwischen nicht mehr Adjutant seines Onkels, des Genrals von Lychow, der nun in der Ukraine stationiert ist und dort für Ordnung sorgen soll, sondern fungiert in der Mi­li­tär­ver­wal­tung Ober-Ost in Wilna als dessen Verbindungsoffizier. Der Leser bekommt Winfried zuerst als eingermaßen angepassten, etwas naiven Offizier vorgeführt, der rasch in die Nähe und das Vertrauen des obersten Befehlshabers an der Ostfront General Clauss gerät. Al­ler­dings wandelt sich Winfried in der Königsfrage unter dem Einfluss seiner Freundin Bärbe und deren Familie von Saulus zum Paulus und gerät so in Opposition zum allmächtigen General, der ihn diesen Fehltritt mit einem etwas groben Soldatenscherz (Verhaftung als Spion und einige Tage Zwangsarbeit) vergelten lässt. Da unglücklicherweise zur selben Zeit auch Winfrieds Onkel in der Ukraine einem Attentat zum Opfer fällt und der Autor zudem auch noch Winfrieds schwangere Freundin Bärbe an der Grippe sterben lässt, darf unser Held am Ende des Romans als einsichtiger und geläuterter Phoenix aus der Asche dieses Elends emporsteigen.

Das alles ist sehr konstruiert und daher auch trivial. Die his­to­ri­schen Ereignisse bleiben an und für sich bedeutungslos und dienen Zweig nur als Hintergrund für die Wandlung seines Protagonisten. Zwar gelingen hier und da einige wenige Seiten, etwa die auf denen das Elend der litauischen Juden unter der deutschen Besatzung knapp und bewegend geschildert wird, aber alles in allem dümpelt das Buch in weiten Teilen vor sich hin, auf jeder neuen Seite in wieder einem Gespräch das altbekannte Stroh noch einmal dreschend, vor­an­ge­trie­ben allein vom seitenschindenen Willen seines Autor.

Es ist ein wenig schade, dass der Zyklus mit seinen beiden letzten Bänden so deutlich abfällt, wobei „Einsetzung eines Königs“ noch der bessere von beiden ist. Auch muss man wohl dem allgemeinen Urteil beitreten, dass der zuerst entstandene „Streit um den Sergeanten Grischa“  zugleich auch schon den Höhepunkt des ge­sam­ten Zyklus darstellt. Zweig ist es besonders mit den beiden nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen Bänden nicht gelungen, den Zyklus noch einmal zu beleben.

Arnold Zweig: Einsetzung eines Königs. Berlin: Aufbau-Verlag, 2004. Kindle-Edition. 596 Seiten (gedruckte Ausgabe). 7,99 €.

Reiner Stach: Ist das Kafka?

Stach-Ist-das-KafkaReiner Stach, der gerade seine gr0ße Kafka-Biographie mit dem dritten Band abgeschlossen hat, liefert mit „Ist das Kafka?“ ein Seitenstück, in dem Kafkas Person und Leben anhand von 99 Fundstücken anekdotisch dargestellt werden. Biographisch umfassen die im Großen und Ganzen chronologisch angeordneten, kurzen Kapitel die Zeit von Kafkas Schulzeit bis zu seinem Tod. Dabei legt Stach ein besonderes Augenmerk darauf, weit verbreiteteten Vorurteilen über Kafka und sein Leben entgegenzutreten. Daher erfährt man einiges über das Sexualleben des jungen Franz, aber auch über Familie, Freunde und Bekannte, seine Berufstätigkeit und nicht zuletzt auch sein Leben als Schriftsteller.

Die Fundstücke bestehen aus Texten Kafkas, sowohl aus dem zu Lebzeiten veröffentlichten Werk als auch aus dem Nachlass, Briefen und Tagebucheinträgen, Erinnerungen von Freuden und Bekannten sowie Fotos. Nahezu alle Kapitel sind mit einem erläuternden Kommentar Stachs versehen, doch stellt sich nirgendwo der Eindruck ein, dass Stach die jeweilige Quelle überschreibt, sondern er liefert nur den jeweiligen Kontext und gibt sparsame Hinweise zum Verständnis.

Ergänzt werden die Fundstücke im Anhang durch ausführliche biographische Notizen zu den Autoren der Quellen; daneben findet sich ein tabellarischer Lebenslauf Kafkas, der den großen Zusammenhang herstellt, den ein mit Kafkas Biographie eher unvertrauter Leser beim Durchgang durch die Fundstücke durchaus vermissen könnte.

Ein guter Einstieg in die Beschäftigung mit Kafka und eine praktische Vorschule zur großen Kafka-Biographie Stachs, sowohl für Kafka-Anfänger als auch für jene geeignet, die sich schon intensiver mit Kafka auseinandergesetzt haben.

Reiner Stach: Ist das Kafka? 99 Fundstücke. Frankfurt/M.: S. Fischer, 2012. Kindle-Edition, 336 Seiten (gedruckte Ausgabe). 9,99 €,

Drei Liebesromane

Beisserbuch

Frank Duwald von dandelion fragt Blogger-Kollegen nach den drei schönsten Liebesgeschichten. Auf Anhieb würde ich mich für den denkbar Ungeeignetsten zur Beantwortung dieser Frage halten, und das aus gleich zwei Gründen: Zum einen ist der Liebesroman eines der klischeebehaftetsten Genres überhaupt. In meiner Zeit als Buchhändler nannten wir eine bestimmte Sorte von Romanen, die sich durch Variation des immer selben Cover-Motivs auszeichneten, aus offensichtlichen Gründen „Beißerbücher“. Wenig lässt daran zweifeln, dass der Inhalt dieser Romane den Bildern auf den Umschlägen gleicht wie eine Boulevard-Komödie der anderen.

Zum anderen hege ich arge Zweifel daran, dass eine schöne Lie­bes­ge­schich­te eine schöne Liebesgeschichte sein kann. Schon 1764 bemerkt Christoph Martin Wieland in seinem „Don Sylvio von Rosalva“:

Die Moralisten habens uns schon oft gesagt, und werdens noch oft genug sagen, daß es nur ein einziges bewährtes Mittel gegen die Liebe gebe; nehmlich, so bald man sich angeschossen fühle, so schnell davon zu laufen als nur immer möglich sey. Dieses Mittel ist ohne Zweifel vortrefflich; wir bedauern nur, daß es unsern moralischen Ärzten nicht auch gefallen hat, das Geheimnis zu entdecken, wie man es dem Pazienten beybringen solle. Denn man will bemerkt haben, daß ein Liebhaber natürlicher Weise eben so wenig fähig sey, vor dem Gegenstande seiner Lei­den­schaft davon zu laufen, als er es könnte, wenn er an Händen und Füßen gebunden oder an allen Nerven gelähmt wäre; ja man behauptet sogar, vermöge einer unendlichen Menge Erfahrungen worauf man sich beruft, daß es in solchen Umständen nicht einmal möglich sey, zu wünschen daß man möchte fliehen können.

Literarische Liebe ist daher wahrscheinlich dann am besten, wenn ihre Protagonisten sich als jene Patienten erweisen, von denen Wieland spricht. Aus diesen beiden Gründen fällt die Auswahl meiner „schönsten Liebesgeschichten“ für die eine oder den anderen vielleicht etwas zu defätistisch aus.

Johann Wolfgang Goethe: Die Leiden des jungen Werthers (1774)

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Wäre der Protagonist nicht ein Mann, so ließe sich bei diesem Buch von der Mutter aller unglücklich Liebenden sprechen. Das Buch war nicht nur ein internationaler Erfolg, der Goethe binnen kurzem zu einer Berühmtheit machte, es löste auch eine Propaganda aus, die zum Teil bis heute nachwirkt, so etwa die immer wiederholte, aber gänzlich unbelegte Behauptung, das Buch habe eine Welle von Selbstmorden ausgelöst, ein Gerücht, dem offenbar sogar Goethe teilweise Glauben geschenkt hat. Erzählt wird die Geschichte des jungen Werther, der sich in die bereits anderweitig verlobte Lotte verliebt, sich loszureißen versucht, in die Welt flieht, trotz allem zurückkehrt und am Ende keinen besseren Ausweg findet, als sich eine Kugel vor den Kopf zu schießen und es anderswo zu versuchen, da er in der sublunaren Welt seinen Platz nicht hat finden können. Goethe achtet schon in der ersten Fassung des Textes sorgfältig darauf, Werthers Leiden als eine Art sich steigernden Wahn der Leidenschaft darzustellen, als eine Art von Geisteskrankheit, der sich der an ihr Leidende ab einem gewissen Punkt nicht mehr selbst entziehen kann. Noch Hunderte von unglücklich liebenden Romanfiguren des 19. Jahrhunderts sollten auf diesem Wege aus ihrem papiernen Leben scheiden.

Vladimir Nabokov: Lolita (1955)

nabokov lolita 1955

Wohl seufzend hat Nabokov einmal festgestellt, nicht er sei berühmt, „Lolita“ sei es. Und ebenso seufzend könnte man anmerken, dass diese Berühmtheit wie so viele andere auf einem Missverständnis beruht, nämlich auf dem, bei „Lolita“ handele es sich um einen erotischen Roman. Dabei ist „Lolita“ die Geschichte einer tiefen Wunde, die der Protagonist und Erzähler Humbert Humbert in seiner Jugend empfangen hat, als er sich zum ersten Mal und für immer unglücklich verliebte. Seit jenen frühen Jugendtagen wiederholt er das Muster dieser Liebe immer und immer wieder, um ebenso selbstverständlich wie notwendig zu scheitern. Jetzt, während er uns die Geschichte seiner letzten verzweifelten Liebe zu Lolita erzählt, sitzt er im Gefängnis und erwartet die Todesstrafe, nicht, weil er ein minderjähriges Mädchen verführt und missbraucht hat, sondern weil er einen seiner Rivalen um die Liebe Lolitas erschossen hat. „Lolita“ ist ein in jeglicher Hinsicht tief trauriges Buch, das nur Verlierer und Unglück kennt und eine treffliche Antwort zu jener Frage bei E.T.A. Hoffmann ist: „Was ist der Mensch, und was kann aus ihm werden?“

Arno Schmidt: Seelandschaft mit Pocahontas (1955)

Schmidt-Seelandschaft-Handzeichnung

Vielleicht in den Augen manch eines Lesers kein Roman, sondern nur eine Erzählung (Schmidt selbst nannte es einen Kurzroman), aber eben auch eine unglückliche Liebesgeschichte, vielleicht eine der schönsten der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts: Erzählt wird von zwei Kriegs­ka­me­ra­den, Erwin und Joachim, die sich in den 50er Jahren wiedertreffen und am Dümmer in Niedersachsen Urlaub machen. Erwin ist ein erfolgreicher Anstreicher, Joachim ein erfolgloser Schriftsteller, und so zahlt der Handwerker für das Kopftier. Und weil er zahlt, kann er sich, als die beiden am Urlaubsort auf ein sympathisierendes Pärchen von Damen treffen, seine aussuchen – Annemarie, rund und handfest – und Joachim muss sich um die andere kümmern – Selma, dürr, lang und hässlich wie eine UKW-Antenne (das Bild stammt von Schmidt, nicht von mir). Doch was als Verpflichtung beginnt, wird rasch zu einer Liebesgeschichte, einer, in der beide Liebenden nicht an eine gemeinsame Zukunft glauben: Selma ist schon einem groben Menschen versprochen, der sie wegen eines zu erwartenden Erbes genommen hat, und Joachim weiß nicht einmal von einer Gegenwart, geschweige denn könnte er eine Zukunft versprechen. Und so endet auch diese Liebe nach wenigen Tagen, als der Urlaub der Damen zu Ende geht:

Das Trauerkleid der letzten Nacht. / […] »Ach Du.« Kam inbrünstig und drückte sich an; seufzte galgenhumorig: »Na dann atterdag.«; zog auch die Füße an und gab schnelle Tritte auf einen unsichtbaren Hintern (des Schicksals?). / »Knips Du bitte aus.« Noch einmal sah ich so eine lange Indianerin. Am Schalter. Dann ging die Unsichtbare still um mich herum. (Gleich darauf Wadenkrampf, etwa auch souvenir d’amour, und ich ächzte und zischte und massierte: teuflischer Einfall: vielleicht hält sies für Schluchzen!). / Gleich darauf raste der Wecker schon; wir erhoben uns geduldig. Sie reichte sich stumm zum letzten Biß: – »In Beide«: »Schärfer!«; prägte auch ihre Zahnreihen mächtig ein. (Schon klopfte Annemie vorsichtshalber: ?: »Ja wir sind wach!«. Und hastende Stille). / »Sieh mich nich mehr an, damit ich abreisen kann!« / Erich, unverwüstlich, rühmte schon wieder die Autobusschaffnerin: »Haste die gesehn?!«: Kaffeebrauner Mantel, gelber Schal, die schräge schwarze Zahltasche, eine Talmiperle im rechten Ohr, blasses lustiges Gesicht; ich gab Alles zu. / Wolkenmaden, gelbbeuligen Leibes, krochen langsam auf die blutige Sonnenkirsche zu. Erich räusperte sich athletisch: »Na, da wolln wer erssma …..« und wir marschierten zurück, »weiter penn’: verdammte Fützen!«. Mein Kopf hing noch voll von ihren Kleidern und ich antwortete nicht.

(geschrieben für dandelion)