Friedhelm Rathjen: Arno Schmidt 1914–1979

BB-375-377Nachdem nun wohl die seit vielen Jahren angekündigte Biographie Arno Schmidts aus der Feder von Bernd Rauschenbach auf unbestimmte Zeit vertagt worden ist, liefert Friedhelm Rathjen, der Herausgeber des Zentralorgans der Arno-Schmidt-Forschung, des Bargfelder Botens, in einer Dreifach-Nummer eine 90 Seiten starke „Chronik von Leben und Werk“ des berühmten Bargfelder Autors. Es handelt sich, soweit ich sehe, um die bislang umfassendste Sammlung von Daten zu Leben und Werk Schmidts, wobei Rathjen bis auf die unumgängliche Fundierung interpretierende Zugriffe weitgehend vermeidet. Da die kurze Rowohlt-Bildmonographie von Wolfgang Martynkewicz (1992) inzwischen nicht mehr im Druck ist, wird Rathjens Chronik wohl für längere Zeit die einzige Grundlage für eine biographische Annäherungen an Schmidt sein.

En passant beerdigt Rathjen durch Nichterwähnung den von Schmidt selbst in die Nachkriegswelt gesetzten Mythos seines Studiums (wahlweise der Mathematik und/oder der Astronomie), den Schmidt einerseits dazu benutzte, seine autodidaktisch erworbene Kompetenz in ein bürgerlicheres Licht zu setzen, andererseits benötigte, um eine biographische Lücke zu füllen, die entstanden war, als er sich in englischer Kriegsgefangenschaft vier Jahre älter machte, wahrscheinlich um dem Einsatz als Zwangsarbeiter zu entgehen. Zudem verwendete Schmidt diesen Mythos dazu, sich zu einem Opfer des Nationalsozialismus zu stilisieren:

Da seine Schwester einen jüdischen Kaufmann geheiratet hatte, brach er 33 – ganz bewußt, um vor pseudoheroischen Komplikationen in selbstgewählte Unscheinbarkeit auszuweichen – sein Studium ab. [BA, Suppl. 1, S. 329]

Diese Fiktion hält er auch 1957, als eine Korrektur des Geburtsjahres in seinen Papieren längst erfolgt ist, weiterhin aufrecht:

Versuch des Mathematikstudiums vereitelt durch Zusammenstoß mit Hitlerei. [BA, Suppl. 1, S. 336]

Offenbar hat sich Schmidt keine ausreichenden Gedanken darüber gemacht, was die Aneignung einer solchen Opferrolle bedeutet. Dieser dunkle Teil der autobiographischen Selbststilisierung Schmidts bleibt bei Rathjen leider unerwähnt. Zudem ordnet Rathjen die Postkarte Schmidts vom 25.11.1933 an seinen Freund Heinz Jerofsky, auf der er behauptet, er habe sich zur SS melden wollen und an einem entsprechenden Schulungsabend teilgenommen, ausdrücklich als Scherz ein. Dies ist wohl nicht die einzige Einschätzung, die sich anbietet. Womit nicht gemeint ist, Schmidt sei zu irgendeinem Zeitpunkt ein Anhänger des Nationalsozialismus gewesen, doch hätte ihn 1933 sein naives, weitgehend apolitisches oder auch antipolitisches Weltbild, wie es uns aus den Frühschriften entgegentritt, wohl kaum vor einem solch fatalen Schritt nach dem Motto „wenn schon Militär, dann wenigstens Elite“ bewahrt. Es steht zu befürchten, dass diese und ähnliche Fragen noch lange, wenn nicht für immer ein Desiderat bleiben werden.

Ansonsten trägt Rathjens Chronik nicht nur lückenlos die bereits bekannten Daten zusammenzutragen, sondern hier und da blitzen einzelne Neuigkeiten und zumindest von mir so noch nicht realisierte Zusammenhänge auf. Für alle enthusiastischen Schmidt-Leser ein Muss, für alle Interessierten die derzeit umfangreichste Grundlage für einen biographischen Überblick. Bleibt zu hoffen, dass sich in absehbarer Zeit doch einmal eine oder einer der undankbaren Aufgabe unterzieht, eine umfangreiche, geschlossene Biographie Arno Schmidts vorzulegen.

Friedhelm Rathjen: Arno Schmidt 1914–1979. Chronik von Leben und Werk. Bargfelder Bote Lfg. 375–377. München: edition text und kritik, 2014. Broschur, 97 Seiten. Bei Einzelbezug: 15,– €.

Uwe Johnson: Jahrestage (1)

Wenn ich gewußt hätte wie gut die Toten reden haben. Die Toten sollen das Maul halten.

Johnson-Jahrestage-1Zum ersten Mal wahrgenommen habe ich Uwe Johnsons „Jahrestage“ in meinem ersten Semester an der Universität Tübingen. Da kam der Autor zu seiner allerletzten öffentlichen Lesung, denn zur Buchmesse war endlich der vierte und abschließende Band des Romans erschienen, und Johnson las in einem der großen Hörsäle im Tübinger Brechtbau vor einem übervollen Haus aus den Abschnitten, in denen Gesine Cresspahl von ihrem Deutschunterricht und Theodor Fontanes „Schach von Wuthenow“ erzählt. Anschließend wollte oder konnte kein einziger der Zuhörer auch nur eine einzige Frage stellen – mir ist bis heute nicht so ganz genau klar, warum nicht –, so dass sich Johnson selbst was fragte und es beantwortete. Ich vermute fast, es ist ihm im Leben oft so ergangen.

Danach habe ich mir die vier Bände, die es damals noch nur im Leineneinband gab, peu à peu zugelegt und mich hineingelesen in die Welt und die Tage der Gesine Cresspahl und ihrer Tochter Marie, die – darauf bestand ihr Autor bei allen Gelegenheiten – keine Figuren sind, sondern Personen waren und mit denen man demgemäß Umgang zu pflegen hatte. Jetzt, 30 Jahre später, sind die vier Bände nicht nur erneut im Taschenbuch aufgelegt worden, sondern auch als eBook; allerdings auch hier immer noch in vier Teilen anstatt als der eine große Roman, als den Johnson den Text gelesen haben wollte. Wahrscheinlich will man bei Suhrkamp Rücksicht auf die Leser nehmen, sich nicht um den Gewinnst bringen von vier Verkäufen statt einem, und wer bei Suhrkamp mag sich überhaupt noch auskennen mit dem, was ein alter Sturkopf ehemals so alles gewollt haben mag. Ich jedenfalls habe die Dateien zum Geburtstag geschenkt bekommen, und die zweiten Lektüre denke ich mehr oder weniger in einem Zug zu vollenden, falls sich bei über 1.800 Seiten von einem solchen Zug überhaupt sprechen lässt.

Zur Entstehung ist anzumerken, dass es wohl ursprünglich eine Trilogie werden sollte, dreimal vier Monate, dass dann aber das dazwischen gekommen ist, was in den Kurzbiographien des Autors „eine Krise“ heißt und eine Zeit der Depression, der Paranoia und des Alkoholismus war. Und so erschien 1973 ein kurzer dritter Band und erst zehn Jahre später dann der abschließende vierte. Manche Kritiker wollten in dem stilistische Brüche entdeckt haben, als hätten sie zur Kritik des letzten die vorherigen tatsächlich noch einmal gelesen oder könnten sich an sie noch erinnern oder was. Es wird sich zeigen, was davon zu halten ist.

Das Roman hat mindestens vier Erzählebenen: Seine Jetztzeit bilden die 367 Tage vom 20. August 1967 bis zum 20. August 1968. Die hauptsächliche Erzählerin ist Gesine Cresspahl, am 3. März 1933 im fiktiven Jerichow in Mecklenburg geboren als Tochter des Tischlers Heinrich Cresspahl und seiner Frau Lisbeth, einer geborenen Papenbrock. Gesine lebt mit ihrer anfangs neunjährigen Tochter Marie seit sechs Jahren in New York. Sie arbeitet als Auslandskorrespondentin bei einer Bank und steht wohl vor einem Karrieresprung, der im Zusammenhang mit den politischen Reformen der Tschechoslowakei zu stehen scheint. Maries Vater ist jener Jakob, über den der Autor zuvor schon einige Mutmassungen niedergeschrieben hatte; überhaupt ist hervorzuheben, dass die Gesamtheit der sogenannten fiktionalen Texte Uwe Johnsons einen einzigen großen Zusammenhang bildet, den im Gedächtnis zu behalten nicht immer einfach ist. Jedenfalls bilden Gesines Leben und das ihrer Tochter die umfassende Erzählung des Romans.

Die zweite Ebene liefert die Erzählung Gesines von der Geschichte ihrer Eltern, die sie ihrer Tochter Marie erzählt, teils direkt, teils auf Tonband, „für wenn sie tot ist“. Gesines Vater Heinrich, Jahrgang 1888, hatte sich im August 1931, bereits wieder auf dem Weg nach England, wo er als Tischlermeister einen Betrieb leitete, in ein junges Mädchen verguckt: Lisbeth Papenbrock, 18 Jahre jünger als er, der er nach Jerichow folgt und mit der er rasch einig wird, dass sie sich heiraten. Sie gehen dann gemeinsam fort aus Deutschland, in dem der Aufstieg der Nazis schon zu begonnen hat, denen der halbe Sozialdemokrat Cresspahl den Willen nicht nur zur Abschaffung der Republik, sondern auch den zum Krieg schon anmerkt. Doch Lisbeth hat Heimweh, nicht nur nach ihrer Familie, sondern auch nach ihrer Mecklenburgischen Landeskirche, und so nutzt sie die bevorstehende Geburt ihres ersten (und letztlich einzigen) Kindes zur Flucht zurück nach Deutschland. Und Cresspahl folgt ihr, widerwillig, aber er folgt ihr und bleibt dort, wo er nur um ihretwillen lebt. Doch auch damit wird Lisbeth nicht glücklich.

Die dritte Ebene bildet die tägliche Zeitungslektüre Gesines: Jeden Tag erwirbt sie die New York Times, aus der heraus die jeweils aktuelle politische und gesellschaftliche Wirklichkeit in den Roman gelangen: der Rassenkonflikt, politische Umtriebe und Skandale, der Krieg in Viet Nam und die Proteste gegen ihn, die Mafia und die alltägliche Kriminalität schlechthin etc. pp. Diese Ebene bietet zum einen Anlass zur Auseinandersetzung zwischen Gesine und Marie, wobei Marie – die erstaunlich klug und redegewandt für ihr Alter ist – im Vergleich zu ihrer Mutter nicht nur einen amerikanischeren Standpunkt einnimmt, sondern aufgrund ihres Alters natürlich auch eine opportunistischere Grundhaltung zeigt.

Die vierte Ebene besteht aus zumeist kurzen Gedankendialogen Gesines mit Lebenden und Toten, in denen sich Gesine oft selbst in ein kritisches Licht setzt. Hier werden die Kompromisse deutlich, die sie eingeht, oft um ihrer Tochter willen, aber sie kritisiert auch ihre eigene Bequemlichkeit, ihre Furcht, als Ausländerin in den USA negativ aufzufallen, ihre Bindungsängste und vieles mehr.

Sowohl das New York des Jahres 1967 als auch das Mecklenburg der 30er Jahre zeichnen sich durch einen großen Reichtum an handelnden Personen aus, wobei es Johnson oft gelingt, eine Person auf wenigen Seiten markant zu charakterisieren. Wer sich einen kurzen Eindruck von Johnsons Erzählkunst verschaffen will, lese zum Beispiel die Charakterisierung des Jerichower Rechtsanwaltes Dr. Avenarius Kollmorgen auf den Seiten 305 ff. (17. November 1967).

Johnson reduziert das Erzählte zumeist auf das Notwendigste, liefert auch häufig zum Verständnis wesentliche Details erst später in anderen Zusammenhängen nach, so dass vom Leser ein gehöriges Maß an Aufmerksamkeit gefordert wird, um den komplexen Beziehungen der Figuren untereinander zu folgen. Dies wird ein wenig dadurch gemildert, dass ab und zu kurze Zusammenfassungen eingeschoben werden, die die Orientierung erleichtern. Auch sprachlich setzt der Text dem Leser einigen Widerstand entgegen: Neben vereinzelten Dialogen im Mecklenburger Platt, fallen heute besonders jene Stellen auf, an denen Johnson englische Wendungen ins Deutsche übersetzt, die heute als Amerikanismen geläufig sind; interessanterweise merkt man gerade an diesen Stellen dem Text am deutlichsten sein Alter an. Und auch sonst ist Johnsons Deutsch eher kantig als eingängig, was wohl als Abbildung eines Deutsch gelesen werden muss, das nicht nur mecklenburgische Wurzeln hat, sondern auch durch den jahrelangen Gebrauch des Englischen verändert wurde.

Der Roman liefert ein außergewöhnlich reiches und differenziertes Bild sowohl des Lebens im Deutschland der ersten Hälfte der 30er Jahre als auch im New York der 60er Jahre. Johnsons prinzipielles Misstrauen gegen Ideologien und eindimensionale Erklärungen sowie seine klare Haltung gegen Rassismus, Diktaturen und Unfreiheit bilden das Fundament der Erzählung, ohne dass der Autor seine Figuren, pardon, Personen mit dieser Grundhaltung überfrachtet. Johnson erzählt, soweit das überhaupt möglich ist, das Leben selbst. Es ist daher nicht verwunderlich, dass im vierten Band Theodor Fontane als Schirmherr dieses Romans herbeizitiert wird.

Was die derzeit verkaufte Kindle-Edition des Romans angeht, so sollte vielleicht nicht unerwähnt bleiben, dass Suhrkamp das Erstellen der betreffenden Dateien noch ein wenig üben muss: Bei Verwendung der sogenannten Verleger-Schriftart zeigt mein Kindle Paperwhite nur graphischen Müll an; bei Wahl einer anderen Schriftart wird auf dem Paperwhite nur Flattersatz angezeigt, während bei Anzeige über die App auf dem iPad die kursive Textauszeichnung komplett verloren geht. Zudem werden die meisten Gedankenstriche nur als Bindestriche dargestellt. Da Suhrkamp derzeit für eBooks nur 1 Cent weniger verlangt als für das entsprechende Taschenbuch, darf man als Käufer wohl ein wenig mehr Sorgfalt bei Herstellung und der Prüfung der Dateien erwarten.

Uwe Johnson: Jahrestage. Aus dem Leben der Gesine Cresspahl. August 1967 – Dezember 1967. Frankfurt: Suhrkamp, 1970. Leinen, Fadenheftung, 478 Seiten. Kindle-Edition. Berlin: Suhrkamp, 2013. 732 KB. 11,99 €.

Wird fortgesetzt …

David Foster Wallace: Der bleiche König

Das ist wie diese Kiste in der Physik: Wenn du das Experiment beobachtest, wird das Ergebnis vermasselt.

Wallace-Koenig„Der bleiche König“ ist der Roman, an dem David Forster Wallace bereits seit einigen Jahren gearbeitet hatte, als er sich umbrachte. Wallaces Agentin und sein Lektor haben aus dem umfangreichen Nachlassmaterial einen fragmentarischen Roman zusammengestellt, dessen im Original gut 530 Seiten einen unbekannten, aber kaum zu großen Bruchteil des Umfangs darstellen, den das Buch nach dem Willen des Autors hätte schließlich haben sollen. Das Fragment erschien 2011, drei Jahre nach dem Tod Wallaces; es wurde in diesem Jahr zur Frankfurter Buchmesse auf Deutsch vorgelegt, übersetzt von Ulrich Blumenbach, der auch schon Wallaces „Infinite Jest“ übersetzt hat.

Das Thema des Romans ist so ungewöhnlich, wie man es von Wallace erwarten darf: Der Hauptteil der Handlung spielt Mitte der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts in einem Prüfzentrum der US-amerikanischen Steuerbehörde IRS in Peoria, Illinois. Zahlreiche Figuren, darunter auch ein Alter ego des Autors, werden jeweils mit ihren Vorgeschichten vorgeführt und interagieren miteinander. Anders kann man die rudimentäre Handlung kaum beschreiben, denn eine Fabel im klassischen Sinne hat der Roman nur sehr hintergründig: Man kann als Leser den Verdacht entwickeln, dass der treibende Konflikt einer eventuell beabsichtigten oder noch geplanten Handlung der zunehmende Einsatz elektronischer Datenverarbeitung – in der Hauptsache unter Verwendung von Lochkarten – bei Vorbereitung und Durchführung von Steuerprüfungen ist. Doch liefert diese Fabel kaum eine Struktur für den vorliegenden Text.

Das eigentliche Thema des Buches scheint aber Langeweile zu sein: Wallace ist fasziniert von der tagtäglichen Existenz des normalen Steuerprüfers, die darin besteht, sich acht Stunden lang mit der trockensten, langweiligsten Materie der Welt, sprich: Steuererklärungen zu befassen. Er scheint zu glauben, dass die Voraussetzung für das Ausüben einer so eintönigen Tätigkeit in bestimmten Charaktereigenschaften liegt, die wiederum in den Vorgeschichten der Figuren entwickelt werden sollen. Das alles kann man schön und gut finden; auch dem artistisch durchaus anspruchsvollen Plan, Langeweile erzählen zu wollen, kann man Sympathie entgegenbringen. Das Problem aber ist die konkrete Umsetzung des Projekts: Zwar sind die skurrilen Vorgeschichten der meisten Figuren gerade noch interessant, doch das aus ihnen resultierende, einander ununterbrochen totquatschende Personal des Prüfzentrums hat immer nur für wenige Seiten meine Aufmerksamkeit fesseln können. Eine Ausnahme bildet vielleicht der nur in einem späten Kapitel eine Rolle spielende Shane Drinion, eine blasse Kopie des Vulkaniers Spock, der mit seiner emotionalen Isolation und seinem umfassenden Desinteresse die einzige positive Identifikationsfigur des Romans darstellt. Er ist es denn auch, der den Lektüreeindruck in einem Satz zusammenfasst:

»Hört sich anstrengend an«, sagt Drinion.

David Foster Wallace: Der bleiche König. Ein unvollendeter Roman. Aus dem amerikansichen Englisch von Ulrich Blumenbach. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2013. Kindle-Edition, 1702 KB, 640 Seiten (gedruckte Ausgabe). 23,99 €.

Altes und Neues aus Bargfeld

Schriftsteller sollte man nie persönlich kennenlernen!

Arno Schmidt hat das große Glück gehabt, dass sich – zwar spät, aber immerhin – mit Jan Philipp Reemtsma ein potenter Mäzen eingefunden hat, der dafür gesorgt hat, dass Werk und Nachlass dieses außergewöhnlichen Autors nach seinem Tod von einer Stiftung betreut und sorgfältig ediert zum Druck gebracht wird. So sind in diesem Herbst im Vorfeld des 100. Geburtstages am 18. Januar 2014 vier Neuveröffentlichungen vorgelegt worden, die auf ganz unterschiedliche Lesergruppen abzielen.

Arno-Schmidt-PostautoMit »Und nun auf, zum Postauto!« erscheint zum ersten Mal eine umfangreiche Anthologie von Briefen Arno Schmidts außerhalb der Briefedition der Bargfelder Ausgabe. Wie die Herausgeberin Susanne Fischer, die unter anderem Geschäftsführerin der Bargfelder Arno Schmidt Stiftung ist, in ihrem kurzen Vorwort herausstellt, dokumentieren alle ausgewählten Briefe „Schmidts Selbstverständnis als Schriftsteller“. Von den in der Sammlung enthaltenen 160 Briefen sind einige bereits in den bislang erschienenen Briefwechseln enthalten, allerdings findet sich auch eine erkleckliche Anzahl bislang unveröffentlichter, von denen die an Schmidts langjährigen Verleger Ernst Krawehl und an Hans Wollschläger wohl zu den interessantesten gehören.

Für den Fachmann stellt sich über weite Strecken das gewohnte Bild der Selbstinszenierung des Autors als autodidaktisch errichtete Festung der Hochliteratur ein, das auch heute noch einen Teil der Rezeption Schmidts unangenehm prägt. Hier und da und besonders in den späteren Briefen finden sich aber erfreuliche Momente des Nachlassens jenes unentwegten, offiziellen Strammstehens im Dienste der Literatur.

Was ZETTELS TRAUM anbelangt, so sind 2.000 Seiten fertig, (dh im Rohentwurf; der aber notfalls auch schon einen recht leidlichen Begriff gäbe, (ich hab ihn ziemlich sorgfältig durchgeackert)); da er jedoch im Ganzen 5.000 bekommen wird, sind noch weitere 2 Jahre nötig. (Und dann noch womöglich eine ›Reinschrift‹!). Überdem werden unlängst (fürcht ich!) auch wieder Brotarbeiten einzuschalten sein; (war’s doch ohnehin wunders genug, daß ich anderthalb Jahre so pausenlos daran schuften durfte) – man schwâfelt so gern & viel von buddhistischer Ascese oder Acta Sanctorum plus Thebaischer Wüste: ich glaube immer ›zwei Jahre Bargfeld & Arbeit an ZT‹ würden selbst dem rindsledernsten Heiligen zu denken geben. (Zumal ich im – krassen Gegensatz zu Ihrer wohlwollenden Prognose – mit nichten der Hoffnung lebe, ich würde nun, mit diesem Werk in der Hand, endgültig den Gipfel des Parnaß usw.; (was allein rein technisch unmöglich ist; wird mein Büchlein doch, (wie Krawehl jüngst, besorgt, errechnete), 25 Pfund wiegen: wir haben vor, es mit Trageriemen binden zu lassen, und den größten Teil der Auflage unserer Bundeswehr, für Gepäckmärsche, zu offerieren); immerhin, Sie sehen, eine gewisse Einzigartigkeit ist fast schon garantiert).

an Hans Wollschläger, 20. 1. 67

Wie gesagt: Momente!

Die Briefe sind spärlich mit dem Notwendigsten kommentiert, was ich durchweg als angenehm empfunden habe; dem nicht so sehr bewanderten Leser dürfte aber wohl die eine oder andere Stelle etwas kryptisch bleiben, und ihm wird dann auch der Verweis des Kommentars auf die entsprechende Stelle der Bargfelder Ausgabe eher nur mäßig helfen, so er die nicht gerade zufällig zur Hand hat. Aber wahrscheinlich wird es ohnehin nicht so sehr viele Leser dieser Art geben.

Insgesamt eine vergnügliche Passage durch Leben und Werk, die mich an so manichäerleye (sorry!) erinnert und gemahnt hat.

»Und nun auf, zum Postauto!«. Briefe von Arno Schmidt. Hg. v. Susanne Fischer. Berlin: Suhrkamp, 2013. Pappband mit Leinenrücken, Fadenheftung, 296 Seiten. 29,– €.

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In der Universalbibliothek von Reclam sind gleich zwei Bändchen erschienen:

Arno-Schmidt-zum-VergnügenZum einen ist in der inzwischen sehr ansehnlichen Reihe „… zum Vergnügen“ (mit den feinen Umschlagbildern von Nikolaus Heidelbach) nun auch ein Arno-Schmidt-Band erschienen. Die Reihe versammelt Kurz- und Kürzesttexte des jeweiligen Autors, macht also selbst Kant zu einem potenziellen Aphoristiker. Schmidt ist für das Konzept ein sehr geeigneter Kandidat, da beinahe alle seine Text mit pointiert formulierten Gedanken und Schlagsätzen geradezu durchwirkt sind:

›Oh diese Deutsch’n!‹): »Die halbe Nazion iss irre; (& die andre Hälfte nich ganz bei Groschn!): Ich mag sie nicht.« (S. 83)

Das Leben des Menschen ist kurz; wer sich betrinken will, hat keine Zeit zu verlieren! (S. 133)

Ein Irrenhaus nimmt mich gar nicht mehr auf, ich habe mich erkundigt, ich machte ihnen bloß die Leute verrückt, hieß es. (S. 171)

Dabei beschränkt die Herausgeberin Susanne Fischer die Auswahl durchaus nicht nur auf solche aphoristischen Bonmots, sondern sie mischt zuweilen auch eine komplette Erzählung etwa aus Schmidts Stürenburg-Reihe, eines seiner Prosagedichte oder auch ein langes Briefzitat unter die Fragmente.

Für alle, die sich vor Schmidt aufgrund der gängigen Vorurteile über den Autor, ein wenig fürchten, ist dieses hübsch gemachte Bändchen eine Gelegenheit zum Schnuppern, für die anderen ein Vademecum zum Entdecken und Wiedererinnern.

Arno Schmidt zum Vergnügen. Hg. v. Susanne Fischer. RUB 18931. Stuttgart: Reclam, 2013. Broschur, 191 Seiten. 5,– €.

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Arno-Schmidt-WeimarZum anderen hat der Wieland-Kenner und -Herausgeber Jan Philipp Reemtsma die umfangreicheren Texte Arno Schmidts zum Weimar der Wieland- bzw. Goethezeit in einem Band versammelt: »Na, Sie hätten mal in Weimar leben sollen!« Der Weimarische Musenhof bildet ein für Schmidts Denken nicht unerhebliches Modell, das er ebenso zustimmend wie kennerisch ablehnend direkt und indirekt immer wieder an- und ausspielt.

Es ist ohne Zweifel so, dass trotz der an vielen Stellen formulierten kritischen, oft polemischen Haltung, Goethe derjenige Schriftsteller ist, den Arno Schmidt in seinem Werk am häufigsten zitiert und assoziiert. Diese Zitate belegen eine umfassende Kenntnis der Goetheschen Schriften. Auch für Wieland muss Schmidt als guter Kenner angesehen werden. Im Vergleich dazu spielt Johann Gottfried Herder, der Dritte im Bunde des Reclam-Bändchens, bei Schmidt nur eine nebensächliche Rolle. Zwar existiert ein umfangreicher Radio-Essay zu Herder, doch darüber hinaus scheint er nur wenig Einfluss auf Schmidt gehabt zu haben. Es ist auch unwahrscheinlich, dass Schmidt über eine etwa seiner Wieland- oder Goethe-Lektüre vergleichbare umfangreiche Kenntnis der Schriften Herders verfügte. Dabei ist der Radio-Essay über ihn durchaus quellen- und kenntnisreich, doch merkt man zum Beispiel dort, wo Schmidt die „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ anhand der Kapitelüberschriften bespricht, dass seine Einsicht zumindest in die theoretischen Schriften Herders doch wohl eher kursorisch geblieben ist.

Als eigentliche Lücke in der Darstellung des klassischen Weimar stellt auch Reemtsma zu Recht Schmidts unterbliebene Auseinandersetzung mit Leben und Werk Friedrich Schillers fest. Schiller, der in den frühen „Dichtergesprächen im Elysium“ als christlicher Eiferer und Gegenstück zum heidnischen Goethe vom Dichter-Paradies ausgeschlossen bleibt, findet auch später keine Gnade mehr vor den Augen des Bargfelder Meisters. Auch hier gilt, dass Schmidt Schiller durchaus pointiert und richtig zu zitieren weiß, doch findet er für ihn keinen Platz in seinem Pantheon, ein Schicksal, das natürlich noch andere Autoren dieser und der nachfolgenden  Zeit teilen: Hölderlin, Kleist und später dann Heine – um nur die mir wichtigsten zu nennen – bleiben Schmidt auch alle wesentlich fremd.

Vielleicht hätte man dem Band noch den kleinen Aufsatz „DIE GROSSEN SPINNEN.“ – ich zitiere den Titel absichtlich in der Schreibweise der Bargfelder Ausgabe (III/3, 228) – beigeben können, der sich zwar nur in der ersten Hälfte mit Weimar beschäftigt, aber eben in dieser Kürze ein Bild von den ungeselligen Dichtern zeichnet, das Schmidts Modell Weimar nahtlos an die Welt seiner „Gelehrtenrepublik“ anknüpft.

Arno Schmidt: »Na, Sie hätten mal in Weimar leben sollen!« Über Wieland – Goethe – Herder. Hg. v. Jan Philipp Reemtsma. RUB 18979. Stuttgart: Reclam, 2013. Broschur, 234 Seiten. 6,40 €.

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Arno-Schmidt-LesebuchBleibt abschließend noch „Das große Lesebuch“ zu würdigen, das im Fischer Taschenbuch Verlag den ehemaligen Hausautor Arno Schmidt an die Reihe anderer Großer Lesebücher anfügt. Als Herausgeber fungiert in diesem Fall Bernd Rauschenbach, der Geschäftsführende Vorstand der Arno Schmidt Stiftung.

Wem das reclamsche „Arno Schmidt zum Vergnügen“ dann doch zu fragmentiert und sprunghaft ist, findet im „Großen Lesebuch“ auf über 430 Seiten eine Fülle kurzer und längerer erzählerischer und essayistischer Texte vom erst posthum gedruckten Frühwerk bis zu den „Ländlichen Erzählungen“ aus der ersten Hälfte 60er Jahre, die in Erzählweise und Sprache schon deutlich auf „Zettel’s Traum“ verweisen. Dabei lässt sich Rauschenbach nicht von der Chronologie des Schmidtschen Werks leiten, sondern mischt Texte aller Werkphasen, wobei im Großen und Ganzen Länge und Komplexität der Stücke im Laufe einer kontinuierlichen Lektüre immer weiter zunehmen. Natürlich ist eine kontinuierliche Komplettlektüre von der ersten zur letzten Seite bei einem solchen Lesebuch wohl ohnehin eher die Ausnahme, was durch das Aufbrechen der Chronologie noch gefördert werden dürfte.

Es muss allerdings kritisch angemerkt werden, dass es bei einer solch chaotischen Ordnung dann eher misslich ist, wenn die spärlichen Angaben zur Entstehungszeit der einzelnen Stücke im Anhang des Bandes fehlerhaft sind: So ist „Enthymesis oder W.I.E.H.“ nicht im Februar 1956, sondern im Februar 1946 entstanden, ist also die allererste Nachkriegsprosa Schmidts, was für das Verständnis nicht ganz unerheblich ist. Aber hier hört die negative Kritik an dem Band auch schon wieder auf.

Eine gelungene Auswahl, die nicht nur für jeden an der deutschen Nachkriegsliteratur interessierten Leser etwas bringt, sondern sich auch uneingeschränkt als Einstieg in die literarische Welt Arno Schmidts empfehlen lässt.

Arno Schmidt: Das große Lesebuch. Hg. v. Bernd Rauschenbach. Fischer Tb. 90555. Broschur, 445 Seiten. 9,99 €.

Friedhelm Rathjen: Rejoyce!

Rathjen-RejoyceSamuel Beckett soll auf die Frage, wie es komme, dass das kleine Irland eine so beeindruckende Zahl guter Schriftsteller hervorgebracht habe und hervorbringe, geantwortet haben:

Wenn man im hinterletzten Graben liegt, was bleibt einem da anderes übrig, als zu singen.1

Friedhelm Rathjen, der zuletzt auf der Buchmesse den Paul-Celan-Preis für herausragende Übersetzung verliehen bekommen hat, arbeitet nicht nur als Sprachferge, sondern ist auch Rezensent, Literaturwissenschaftler (Fachmann unter anderem für James Joyce, Samuel Beckett und Arno Schmidt) und belletristischer Autor. Er hat zudem bereits vor zehn Jahren den wahrscheinlich weisen Beschluss gefasst, sich zumindest für die Veröffentlichung seiner eigenen Bücher aus der Abhängigkeit von anderen Verleger zu lösen und sich als Autor nunmehr selbst auszubeuten. Entstanden ist damals die Ǝdition RejoycE, in der Anfang 2004 als erster Band „Rejoyce!“ erschienen ist, ein „kleiner Leitfaden durch die irische Literatur“. Zur Feier des 10-jährigen Bestehens des Verlages ist nun eine stark erweiterte Neuauflage des Bandes erschienen, der jetzt 108 Bücher von 48 irischen Autoren der letzten 120 Jahre bespricht.

Die Spannbreite der Rezensionen reicht von der klassischen Föjetong-Kritik über das Übersetzungs-Bashing (so habe ich mit großem Genuss Rathjens Demontage von Dieter H. Stündels sogenannter „Finnegans Wake“-Übersetzung wiedergelesen) bis zu Autoren-Porträts, in denen Rathjen einzelne Autoren konsequent von Buch zu Buch begleitet. Wer nicht selbst ein guter Kenner der irischen Literatur ist, findet hier nicht nur eine irische Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts en détail, sondern auch eine reiche Fundgrube kompetenter Lektüre-Hinweise. Ein Kompendium fürs Leseleben!

Friedhelm Rathjen: Rejoyce! Kleiner Leitfaden durch die irische Literatur. Südwesthörn: Ǝdition RejoycE, 2013. Bedruckter Pappband, 305 Seiten. 40,– €. Bestellungen per E-Mail direkt an den Verlag.

1. Deirdre Bair: Samuel Beckett. rororo 12850. Reinbek: Rowohlt, 1994. S. 622.

Oswald Wiener: die verbesserung von mitteleuropa, roman

mein ideal.
ich schreibe für die kommenden klugscheisser; um das milieu dieser ära komplett zu machen.
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Die 60er Jahre des letzten Jahrhunderts waren eine fruchtbare Zeit für das, was man damals „experimentelle Literatur“ nannte. Dieses formal und stofflich recht uneinheitliche Genre hatte seine deutschsprachige Gründungsschrift wahrscheinlich in Peter Weiss’ „Der Schatten des Körpers des Kutschers“ (1960) und sah – pars pro toto – Merkwürdigkeiten wie Thomas Bernhards Romane („Frost“ (1962)), Peter Bichsels „Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen“ (1964), Max Frischs „Mein Name sei Gantenbein“ (1964), Wolfgang Hildesheimers „Tynset“ (1964), Günter Eichs „Maulwürfe“ (1968), Helmut Heißenbüttels „Projekt Nr. 1. D’Alemberts Ende“ (1970), Paul Wührs „Gegenmünchen“ (1970) und nicht zuletzt natürlich Arno Schmidts Mythos „Zettel’s Traum“ (1970).  Alle diese und zahlreiche andere Texte dieser Zeit galten und gelten zum Teil heute noch als schwer oder gar unlesbar  oder -verständlich und hätten bei dem heutigen Buchmarkt nur geringe Chancen, es an den Controllern und Finanzfachkräften in Lektorat und Vertrieb vorbei bis in die Druckerei zu schaffen.

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Einer dieser Texte war Oswald Wieners Buch „die verbesserung von mitteleuropa, roman“ (1969), das im Erscheinungsjahr erstaunliche drei Auflagen (achttausend Exemplare) erlebte, 1972 als Taschenbuch aufgelegt wurde (Abb. rechts) und 1985 nochmals erschien. Ob es sich 1985 auch verkauft hat, wage ich nicht zu mutmaßen. Weswegen das alles aber hier zur Sprache kommt, ist die überaus erstaunliche Tatsache, dass in den letzten Wochen im österreichischen Verlag Jung und Jung eine weitere Neuausgabe dieses Textes erschienen ist, von dem ich vermutet hätte, dass er inzwischen – sieht man von einigen wenigen eingepuppten Germanisten ab – komplett vergessen ist.

Oswald Wiener (geb. 1935) war einer der theoretischeren Köpfe der sogenannten Wiener Gruppe um H. C. Artmann. Er hatte sich schon früh mit Kybernetik beschäftigt, ist außergewöhnlich breit belesen und hatte schon damals mehr Seiten Prosa weggeworfen, als mancher in seinem Leben überhaupt geschrieben hat. „die verbesserung von mitteleuropa, roman“ – es wäre aufgrund der dem Titel ironisch angeklebten Gattungsbezeichnung mit Sicherheit eines der am häufigsten falsch zitierten und bibliographisch erfassten deutschsprachigen Bücher, wenn es denn zitiert würde – ist ein Konglomerat kürzerer und längerer Texte, die sich im Wesentlichen mit allem beschäftigen, was dem Autor während der 60er Jahre durch den Kopf gegangen sein dürfte. Es finden sich philosophische und linguistische Reflexionen über Sprache, poetologische und literarische Aphorismen, Tagebucheinträge, ein langer Essay „zum konzept des bio-adapters“, „zwei studien über das sitzen“, die en passant allen Peter-Handke-Enthusiasten zur Lektüre empfohlen seien, (zumindest mir) völlig unverständliche Ein-, Zwei- und Mehrzeiler, Schimpfereien  und Ressentiments, alles hinter- und untereinander gesetzt wohl in der Hoffnung, jene Authentizität der Literatur wiederzugewinnen, die durch die ewige Reproduktion derselben Formen verloren gegangen zu sein schien.

Der Leser muss für dieses Buch viel Geduld aufbringen und sich einlassen auf die sehr spezifische und unvermittelte Welt des Autors. Alternativ dazu kann er das Buch auch einfach nur durchblätternd anstaunen und lernen, was auf dem deutschsprachigen Buchmarkt einmal möglich war. Jene Freiheit, die uns in den vergangenen 30 Jahren abhanden gekommen ist, scheint hier für einen Augenblick auf. Aber natürlich ist es zum Ausgleich heutzutage viel sicherer als damals. Wovor also fürchten wir uns?

Oswald Wiener: die verbesserung von mitteleuropa, roman. Salzburg: Jung und Jung, 2013. Pappband, 220 Seiten (davon 205 römisch nummeriert). 25,– €.

Gerhard Henschel: Alle vier Martin-Schlosser-Romane

Auf dem anderen Ufer grasten ein paar Schafe. Die hatten’s gut: Die wußten nicht, wie schlecht sie’s hatten.

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Den ersten der bis dato vier Martin-Schlosser-Romane, »Kindheitsroman«, hatte ich auf eine Empfehlung hin im Oktober 2012 als Taschenbuch gekauft und so ziemlich in einem Zug ausgelesen. Anschließend habe ich die kurz zuvor erschienene Kindle-Ausgabe aller vier Romane gekauft und mich seitdem peu à peu und so, wie es gerade kam, durch das Leben Martin Schlossers bis in sein 21. Lebensjahr gelesen. Martin steht am Ende des vierten Romans vor der Aufnahme eines Studiums, nachdem er Abitur, ein paar Monate Wehr- und ein paar Monate Zivildienst hinter sich gebracht hat. Zuvor erlebt Martin die Freuden der Schule, der Freundschaft, des Fußballspielens, der Pubertät, der Lektüre, erste Erfolge als Schülerzeitungsredakteur, erste Liebe, ersten Sex, Urlaube und viel Familiengeschichte; nur wenig, das sich nicht im Leben vieler seiner bundesdeutschen Zeitgenossen so oder ähnlich wiederfinden ließe.

Formal lässt sich über die drei Fortsetzungen – »Jugendroman«, »Liebesroman«, »Abenteuerroman« – kaum mehr sagen als über den ersten Teil: Entlang der Kette der biographischen Entwicklung des Protagonisten wird eine Fülle von authentischen und zeittypischen Alltagsdetails und exakten sprachlichen Wendungen aufgereiht, die wohl besonders bei Lesern, die diese Zeit selbst durchlebt haben – ich selbst bin nur wenige Monate älter als Martin Schlosser (und der Autor) –, ein erstaunlich reichhaltiges Bild von der damaligen Alltagswelt Westdeutschlands erzeugt. Die dem Ganzen zugrunde liegende Recherchearbeit dürfte von beeindruckendem Umfang sein, selbst wenn man annimmt, dass zumindest für die späteren Bände persönliche Tagebuchaufzeichnungen Henschels das Rückgrat der Erzählung liefern. Man darf gespannt sein, wie lange Henschel die Reihe der Romane fortsetzen wird. Am »Universitätsroman« – oder wie immer er heißen wird – arbeitet der Autor sicherlich längst.

Gerhard Henschel: Alle vier Martin-Schlosser -Romane. Kindle-Edition. Hamburg: Hoffmann und Campe, 2012. 2076 Seiten (gedruckte Ausgabe). 21,99 €.

Frank-Lothar Kroll: Geburt der Moderne

Nirgends lagen modernitätsbejahender Optimismus und modernitätskritischer Eskapismus im wilhelminischen Deutschland der Vorkriegszeit wohl so dicht nebeneinander wie im akademischen Milieu.

Kroll-Geburt-der-ModerneEine kurze, dennoch alle wesentlichen politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Aspekte ansprechende Geschichte des deutschen Kaiserreichs zwischen etwa 1900 und dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Die erkenntnisleitende These lautet, dass sich die Rede von einem deutschen Sonderweg, die in einem prominenten Teil der historischen Literatur zum deutschen Kaiserreich vorherrscht, angesichts der vielfältigen, zu einem bedeutenden Teil widersprüchlichen Tendenzen dieser Epoche, die sich in vergleichbarer Ausprägung immer auch in anderen westeuropäischen  Staaten finden lassen, kaum aufrecht erhalten lässt. Zum Glück für den Leser orientiert sich Krolls Darstellung aber nicht an dieser ideologischen Leitlinie, sondern konzentriert sich weitgehend auf konkrete Daten und Fakten.

Der Fachmann wird wahrscheinlich die Darstellung in seinem jeweiligen Spezialgebiet notwendig verkürzt und daher ein wenig schief finden, aber das gezeichnete Gesamtbild scheint durchaus stimmig und gibt wohl im Großen und Ganzen einen zutreffenden Eindruck von der sehr dynamischen Entwicklung Deutschlands in den ersten 15 Jahren des 20. Jahrhunderts. Dabei ist es sicherlich so, dass Krolls Darstellung für den historischen Laien oft zu knapp ausfällt, so dass sich das Buch für einen ersten Überblick nur bedingt eignet. Doch sowohl als Propädeutik zu weiterer Lektüre als auch zur konzisen Auffrischung des Gedächtnisses kann das informative Büchlein nur empfohlen werden.

Frank-Lothar Kroll: Geburt der Moderne. Politik, Gesellschaft und Kultur vor dem Ersten Weltkrieg. Lizenzausgabe. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, 2013. Broschur, 216 Seiten. 4,50 €.

Bitte beachten Sie, dass die Lizenzausgaben der Bundeszentrale für politische Bildung immer nur für kurze Zeit lieferbar sind.

Paul Feyerabend: Briefe an einen Freund

Sinn hat dieses verrückte Leben keinen und scheinbar einen konstruieren kann man nur dann, wenn man eine Unmenge neuen Unsinns dem alten Unsinn hinzufügt. Alles was man tun kann, ist Märchen erzählen und sich und andere so vorübergehend zu unterhalten.

Feyerabend_Duerr_BriefeDer Band präsentiert wohl etwa die Hälfte oder auch etwas mehr des Briefwechsels zwischen Paul Feyerabend und Hans Peter Duerr, der den Band herausgegeben hat. Das heißt, es handelt sich in der Hauptsache um Briefe Feyerabends an Duerr, denn die Briefe Duerrs in umgekehrter Richtung haben sich leider nur in Einzelfällen erhalten, da Feyerabend mit ihnen gänzlich sorglos umgegangen ist.

Es ist natürlich hübsch, Briefe gerade von diesen beiden kreativen Außenseitern des akademischen Wissenschaftsbetriebs lesen zu können. Während Duerr eher durch seine Inhalten und Interpretationen verstört, nimmt Feyerabend den gesamten Betrieb nicht mehr ernst und nur noch im Sinne einer Lebensweise an ihm teil. Was die meisten Fachkollegen und Kritiker an Feyerabends Schriften am meisten irritiert haben dürfte, ist ihre prinzipiell skeptische Grundposition, die nicht versucht, dem Allmachtsanspruch des Rationalismus einen anderen entgegenzusetzen, sondern sich mit der Haltung des Kindes begnügt, das die Nacktheit aller Herrscher ausschreit.

Außer um das Elend des Wissenschaftsbetriebs im persönlichen und allgemeinen Sinne geht es in der Hauptsache ums Schreiben und Lesen, hier und da auch um Frauen, Familie und Essen. Am Rande fallen einige hübsche Kurzporträts ab – am reizvollsten ist vielleicht das Siegfried Unselds geraten.

Für mich persönlich war es hübsch zu lesen, dass Feyerabend als ehemaliger popperscher Rationalist seine Wandlung der Wittgensteinschen Gehirnwäsche verdanke.

Ein sehr menschliches Buch, aus dem vielleicht kommende Jahrhunderte ersehen könnten, dass nicht alle Menschen der sogenannten westlichen Kultursphäre des 20. Jahrhunderts dem Wahnwitz verfallen waren.

Paul Feyerabend: Briefe an einen Freund. Hg. v. Hans Peter Duerr. edition suhrkamp 1946. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1995. Broschur, 291 Seiten. 11,50 €.

David Markson: Wittgensteins Mätresse

Weswegen vielleicht jetzt alles leicht in die Länge gezogen erscheint, oder sogar astigmatisch.

Markson_MätresseEin in vielerlei Hinsicht seltsames Buch: Es beginnt vielleicht damit, dass es, obwohl bereits 1988 in den USA erschienen und dort rasch als eines der Muster postmoderner Literatur gehandelt, erst jetzt auf Deutsch erscheint und das wohl auch nur, weil sich die Übersetzerin aus echter Begeisterung ohne Auftrag ans Übersetzen und sich persönlich für sein Erscheinen stark gemacht hat. David Marksons frühere Bücher (Krimis und Western) waren wohl auf Deutsch erschienen, aber in dem Moment, in dem Markson damit begann, Literatur ohne klares Genre zu schreiben, schien das Interesse auf deutscher Seite eingeschlafen zu sein.

Das Buch ist eine Variation der Endzeit-Robinsonade: Die Erzählerin Kate scheint der letzte Mensch auf Erden zu sein. Wie und weshalb es zum Aussterben der Menschheit, ja wahrscheinlich allen tierischen Lebens auf Erden gekommen ist, wird vernünftiger Weise verschwiegen. Kate hat von den USA aus, die Beringstraße querend, sich durch Asien nach Europa durchgeschlagen und ist auf demselben Weg auch wieder dorthin zurückgekehrt. Sie glaubt, vielleicht ein einziges Mal einen anderen Menschen, einmal eine Katze gesehen zu haben, bezweifelt aber wenigstens zeitweilig, dass ihrer Wahrnehmung auch eine Realität entsprach. Sie lebt nun an der Pazifikküste der USA in einem Strandhaus. Sie war einst Malerin (und hat deshalb in den großen Städten Europas in den berühmten Museen gelebt), verbringt aber ihre Tage nun offensichtlich hauptsächlich vor der Schreibmaschine, in die sie den vorliegenden Text tippt. Kate selbst geht davon aus, dass sie während ihrer Zeit in Europa eine Phase des Wahnsinns durchlebt hat, die sie aber jetzt hinter sich glaubt.

Es hat offenbar wenig Zweck, nach der Wahrscheinlichkeit einer solchen Konstruktion zu fragen. Ein Verschwinden allen tierischen Lebens auf Erden, zumindest an Land, würde auch den Untergang wenigstens der Blütenpflanzen unmittelbar nach sich ziehen. Da aber die Erzählerin auch weiterhin Rosen schneidet und Gemüse erntet, müssen wenigstens Insekten überlebt haben, die aber ohne ihre Fressfeinde unter den Wirbeltieren in wenigen Generationen zu einer solchen Plage geworden sein müssten, dass die Erzählerin sicherlich davon zu berichten wüsste. Die Realität der Fiktion ist also schon am Ursprungspunkt ihrer Erfindung äußerst brüchig. Dies mag auch der Grund dafür sein, dass der Verlag im Waschzettel suggeriert, dass es sich bei der beschriebenen Wirklichkeit auch um ein Wahngebilde der Erzählerin handeln könnte. Eine solche Deutung scheint mir der Text aber eher nicht zu stützen.

Der gesamte Roman lebt einzig von dem einen Grundeinfall, eine Erzählerin zu erfinden, die niemanden mehr hat, dem sie erzählt, ja, die nicht einmal mehr selbst die von ihr erzeugte Erzählung nachliest, sondern ausschließlich noch erzählt, um die Zeit zu füllen. Es handelt sich um die letzte Zuspitzung des literaturtheoretischen Konzepts vom Erzählen als Mittel zum Überleben. Da die Essenz der Erzählung aber vollständig auf den Akt des Erzählens reduziert ist, gerät alles andere weitgehend beliebig: Formal könnte der Text statt 300 auch ebenso gut 3.000 oder 30 Seiten umfassen, inhaltlich ergibt sich aus dem ehemaligen Beruf der Erzählerin gerade noch ein Schwerpunkt bei Künstler-Anekdoten, aber ansonsten kreist das Buch ausschließlich um sich selbst. Da niemandem mehr erzählt wird, ist es auch völlig gleichgültig, ob das Erzählte irgend einer Realität entspricht, und da das Gedächtnis der Erzählerin nicht das beste zu sein scheint, geht alles wild durcheinander: Personennamen und Anekdoten werden frei miteinander kombiniert, Ereignisse aus dem Leben der Erzählerin immer wieder neu variiert, Tatsachen nach Laune erfunden, korrigiert, erneut verändert und widerrufen. Der Text ist nur noch Text und verfügt über keinerlei objektivierende Referenz mehr. Er ist daher auch gänzlich inhaltslos, reine Fiktion ohne jede weitere Funktion.

Da das Fundament dieses selbstverliebten Karussells alles in allem und trotz dem exzessiven Namedropping doch recht dünn ist, hat sich zumindest bei mir nach 100 Seiten zunehmend Langeweile eingestellt: Hat man einmal das Prinzip des erzählerischen Fleischwolfs durchschaut, wird es rasch fade, da es immer und immer wieder dasselbe Fleisch ist, das durchgedreht wird. Nicht besser wird es dadurch, dass der Autor eine recht eigentümliche Art akademischen Humors pflegt:

Was ich weiß, ist, dass Martin Heidegger einmal ein Paar Schuhe besaß, die in Wirklichkeit Vincent van Gogh gehört hatten, und die er anzuziehen pflegte, wenn er im Wald spazieren ging.

Ich habe übrigens keinen Zweifel, dass auch das eine Tatsache ist.

Da lacht der Philosophieprofessor!

Das Buch wäre in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts in Europa unter das Schlagwort »experimentelle Literatur« gefallen, und es bleibt ebenso äußerlich und weitgehend beliebig wie ein Großteil der damaligen Produkte. Wie meinte Arno Schmidt so richtig:

Wer ein Buch schreiben will, muß viel zu sagen haben: meistens mehr, als er hat.

In diesem Sinne.

David Markson: Wittgensteins Mätresse. Aus dem Englischen von Sissi Tax. Berlin: Berlin Verlag, 2013. Pappband, Lesebändchen, 336 Seiten. 22,99 €.