Anthony Burgess: Betten im Orient

Plötzlich, während er mit einem Streichholz nach den aufgequollenen Zigarettenkippen im Wasser des Aschenbecher stocherte, erschien ihm all dies als romantisch – der letzte Legionär, seine Einsamkeit, die aussichtslose Sache wirklich aussichtslos –, und instinktiv zog er den Bauch ein, strich sich, um den nackten Teil der Kopfhaut zu bedecken, übers Haar und wischte sich den Schweiß von den Wangen.

Der abschließende Teil der Malayan Trilogy erschien nur ein Jahr nach Der Feind in der Decke und schließt ohne präzise Zeitangabe an die Handlung des vorherigen Teils an. Die Handlung erstreckt sich nur wenig über den Unabhängigkeitstag der Föderation Malaya, den 31. August 1957 hinaus. Von einer konkreten, zusammenhängenden Handlung lässt sich in diesem Buch noch weniger sprechen als in den beiden vorhergehenden Teilen, das Figurenensemble ist noch lockerer miteinander verknüpft und der Protagonist Victor Crabbe erscheint nur noch als eine Figur unter anderen. Er ist nominell immer noch Leiter der staatlichen Schulbehörde des fiktiven Kleinstaates Negeri Dahaga, doch besteht seine Hauptaufgabe darin, seinen malaysischen Nachfolger einzuarbeiten und von diesem als Trouble Shooter benutzt zu werden. Als privates Projekt versucht er, dem jungen chinesischen Komponisten Robert Loo zum Durchbruch zu verhelfen, der allerdings parallel dazu eine erhebliche Wandlung durchläuft und schließlich ganz anders endet, als Crabbe sich das gewünscht hätte.

Parallel dazu werden die Geschichten einer außergewöhnlich gut aussehenden Lehrerin erzählt, die verzweifelt einen Traumprinzen zum Heiraten sucht, eines Polizei-Schreibers, der aus seinem Job gedrängt wird und den dafür verantwortlichen Kollegen mehrfach verprügelt, seines Sohns, der mit drei Freunden an einer versuchten Erpressung nur knapp vorbeischliddert, eines muslimischen Tierarztes, der versucht die Lehrerin zu heiraten, um den Heiratsplänen seiner Mutter zu ergehen, der gesamten malaysischen Gesellschaft, die von tiefen Vorurteilen der ethnischen Gruppen untereinander geprägt ist und schließlich auch der abziehenden Engländer, die durch US-Amerikaner ersetzt werden, um Malaya nicht den kommunistischen Revolutionären zu überlassen; viel Stoff für knapp 240 Seiten. Das Buch klingt aus mit einer milden Parodie auf Heart of Darkness, die die finale Bedeutungslosigkeit Victor Crabbes manifestiert.

Der Titel ist natürlich eine Anspielung auf Shakespeares Antony and Cleopatra, wobei das Zitat selbst mehrfach in Der Feind in der Decke vorkam, hier aber bis auf den Titel wohl absichtlich komplett fehlt. Man kann in dieser Trilogie bereits Burgess’ spätere, sehr souveräne Erzähler vorausahnen, ja es gibt bereits eine Stelle, wo sich der Autor erlaubt, die Leser direkt anzusprechen.

Ein in seiner gewollt musivischen Form sehr gelungener Ausklang dieses erstaunlich welthaltigen Erstlings.

Anthony Burgess: Betten im Orient. Aus dem Englischen von Ludger Tolksdorf. Coesfeld: Elsinor, 2022. Pappband, Fadenheftung, Lesebändchen,  241 Seiten. 34,– €.

Sven Hanuschek: Arno Schmidt

„er habe […] aber nicht alles verstanden“1

ich verlange, gesetzgeberisch festzulegen, daß spätestens 50 Jahre nach dem Tode eines Schriftstellers seine Biografie nicht nur erscheinen darf, sondern muß !

BA III/4, S. 80
cover

Solch einen Satz lassen sich Autor und Verlag natürlich nicht entgehen, wenn sie noch vor der geforderten Zeitspanne die erste umfangreiche Lebensbeschreibung gerade dieses Schriftstellers vorlegen können. Dass es dagegen nicht gelungen ist, diesen Satz fehlerfrei aus dem Original auf den Buchumschlag zu bringen,2 ist leider nicht nur eine Kleinigkeit, sondern ein Symptom.

Es dürfte unter jenen, die sich intensiver mit Arno Schmidt und seinem Werk beschäftigen, gleichgültig ob nur als Leserinnen3 oder auch als Forscherinnen, Einigkeit darüber bestanden haben, dass eine umfangreiche und detaillierte Biografie ein dringendes Erfordernis war. Jahrelang hatte man auf die Ankündigung Bernd Rauschenbachs hin auf ein sozusagen offizielles Lebensbild von Seiten der Stiftung gewartet; nachdem Rauschenbach sein Projekt schließlich auch öffentlich aufgegeben hatte, wurde hier und da die dadurch verlorene Zeit bedauert, aber nun liegt endlich ein Buch vor, das auf knapp 880 Seiten den Versuch unternimmt, Leben und Werk Arno Schmidts in einem einzigen großen Durchgang darzustellen.

Eine solche erste große Biografie wendet sich in der Hauptsache an gleich zwei Gruppen von Rezipientinnen, was seine Konzeption nicht eben einfacher macht. Da sind zum einen interessierte Leserinnen, die ihr Wissen um den Autor erweitern und Verständnis der Texte vertiefen möchten; zum anderen handelt es sich um aktuelle und zukünftige Forscherinnen, denen eine solche Biografie zur Grundlage der Forschung wird als eine Zusammenführung früherer Arbeiten und Erkenntnisse, die nun nicht mehr an zum Teil entlegenen Orten gesucht, sondern an einem zentralen Locus gefunden werden können.

Um dem Anspruch der ersten Gruppe zu genügen, ist es wichtig, aus den zum Teil disparaten Elementen der Lebensgeschichte eine wenigstens einigermaßen kohärente Erzählung zu entwickeln. Beim Verbiografieren von Schriftstellerinnen ergibt sich oft als Vorteil, dass diese in ihren Schriften schon eine Selbstdeutung vorgeben und ihr eigenes Leben und Denken mit mehr oder weniger Notwendigkeit ins Werk eingegangen ist und sie so ihren Leserinnen bereits ein Lebensbild mitgegeben haben, auf das die Biografie dann aufbauen kann. Nun ist es eine wichtige Maxime beim Verfassen von Biografien, zu diesen Selbstdeutungen der Autorinnen bewusst einen kritischen Abstand einzunehmen, um aus der Distanz heraus die Selbstdeutungen nicht nur hinterfragen, sondern auch in ein umfassenderes Bild der Zeit und der Zeitgenossen einordnen zu können. Darüber hinaus hat die Verfasserin einer Lebensbeschreibung mit den allgemeinen Zweifeln am Gelingen eines solches Vorhabens aufgrund der systematischen Beschränkungen des Genres zu kämpfen, steht sie doch unter dem Verdacht, sowohl aus psychischen als auch aus erzählerischen Gründen ihren Gegenstand notorisch zu verfälschen und zu beschönigen. Man ahnt die Schwierigkeit.

Doch solche eher allgemeinen Bedenken haben keinen wirklich tiefgreifenden Einfluss auf das Genre der Biografie genommen. Eher im Gegenteil werden ungebrochen Lebensbeschreibungen verfasst, die ein Bewusstsein der genrebedingten Schwierigkeiten zwar vor sich hertragen, sich aber im Vollzug von derartigen Zweifeln beim Vordringen in das Feld der Untersuchung nicht hemmen lassen. So auch wir.

Betrachten wir das Buch zuerst aus der Perspektive der Laienlektüre (der Ausdruck möge mir verziehen werden): Schmidt selbst hat seinen Leserinnen ein sowohl breites als auch vielfältiges Selbstbild in seinen Schriften hinterlassen, das einen nicht unwesentlichen Anteil der Faszination seiner Schriften ausmacht: Der autodidaktische, bibliophile Universalbelehrende, der sicheren Urteils die Bücherwelt durchpflügt, Gutes von Minderwertigem zu scheiden weiß, ein hohes aufklärerisches Pathos verkörpert, sowohl für den Fortschritt in der Literatur als auch für die Wertschätzung der Tradition steht, der letzte Vertreter der Französischen Revolution im Geiste Marats und der Erste an der Spitze der literarischen Avantgarde, der als „Topograph der horizontalen Höllenstürze […] nebenher stürzt, und aus seinen Adern mitstenographiert“ [BA Bfe. II, S. 8] und zugleich „ein Bild der Zeit“ [BA II/2, S. 63] hinterlässt, in dem sich die Zeit mit Scham wiedererkennen muss. All das erwächst aus einer unglücklichen Kindheit, aus dem erzwungenen Schweigen des Schriftstellers unter den Nationalsozialisten, im Widerstand gegen den Geschmack des breiten Publikums der Nachkriegszeit, die boshafte Verfolgung durch politisch Andersdenkende und die beständigen Störungen der Arbeit durch die, die glauben, es gut mit dem Autor zu meinen. Ein Einzelkämpfer gegen eine Welt von Plagen, wie er im Buche steht.

Selbst wenn hiervon der offensichtlichste pathetische Unfug abgezogen wird, bleibt immer noch das Bild einer erstaunlichen Persönlichkeit, die den Beruf des Schriftstellers auf sich genommen hat, weil er die beste Möglichkeit zu bieten schien, sich von der Gesellschaft der Mitmenschen weitgehend zurückzuziehen und in einer symbiotischen Partnerschaft mit einer Frau soweit es geht nur den Gesetzen gehorchen zu müssen, die sie selbst anerkannte oder sogar setzen konnte. Schmidt war ein Misanthrop, und er hat sich insoweit mit dieser Haltung durchgesetzt, als es ihm durch seine Berufswahl gelungen ist, Bedingungen zu schaffen, die eine weitgehende Isolation erlaubten. Dafür haben seine Frau und er für lange Jahre ein ärmliches und erbärmliches Leben auf sich genommen, im Dienst der Kunst, wie er behauptete, wohl eher aber, weil ihm ein Leben unter den „groben Leute[n]“ [BA I/1, S. 434] nicht möglich gewesen wäre.

Wie man hier leicht sieht, kann bei der Lebensbeschreibung Schmidts grundsätzlich eine von zwei Richtungen eingeschlagen werden: Es kann der Heldenerzählung gefolgt werden, die Schmidt als Selbstinszenierung in seinem Werk hinterlegt hat, oder es kann der Versuch unternommen werden, sich tatsächlich einmal den „defekten Rest“ [BA I/1, S. 395] anzuschauen, der übrig bleiben soll, falls der Künstler die Wahl trifft, „als Werk“ [BA I/1, S. 395] zu existieren.

Hanuschek ist im Wesentlichen der ersten Linie gefolgt und hat damit eine Biografie vorgelegt, die dem Bedürfnis der meisten Leserinnen Arno Schmidts entgegenkommen dürfte. Das bedeutet nicht, dass er blind wäre für den „defekten Rest“, nur ist er nirgends bereit, sich auch nur für einen Augenblick der Frage zu stellen, ob das Opfer, das Schmidt nicht nur sich, sondern auch seiner Frau abverlangt hat, tatsächlich eine notwendige Bedingung war für das Werk, das für all das über die Jahre und mit den Jahren immer mehr als Rechtfertigung herhalten muss. Die Heldenerzählung überstrahlt alles.

Dabei ist es Hanuschek als Verdienst anzurechnen, dass seine Darstellung die zentrale Rolle von Alice Schmidt bei der Herstellung dieser Lebensbedingungen herausarbeitet: Immer wieder ist es Alice, die die schwere soziale Behinderung ihres Mannes – seine Wut und Überheblichkeit, seinen Größenwahn – im Zaum und im Haus halten kann, die die zerstörerischen Tendenzen ihres Mannes abfängt, ihm zwar zugleich zustimmt, dass man ihn ungerecht und schlecht behandelt, aber dennoch einen Weg findet, mit Verlagen und Verlegern einen professionellen Umgang zu pflegen und so Schmidt zu ermöglichen, wenigstens zu Zeiten das Schneckenhausleben zu führen, das seinen Neurosen entspricht. Und bei aller Bewunderung für den Autor ist es für ihn nur zu verständlich, dass Alice in späteren Jahren gern so eine Art von Dichtergattin geworden wäre, ein wenig vom sich nun doch einstellenden Erfolg und Ruhm genossen hätte, anstatt auf einem Dorf in der Heide zu sitzen und langsam aber sicher von ihrem monomanischen Gatten als Letzte auch noch aus seinem Leben herausgedrängt zu werden. Den Absprung hat sie verpasst; aber das muss ihre Biografie thematisieren, nicht seine.

Am Ende ist es natürlich eine Frage des Geschmacks, aber ich hätte mir für eine erste Biografie Arno Schmidts ein wenig von dem kritischen Abstand gewünscht, den Hanuschek auf den wenigen Seiten (714–717) aufbringt, in denen er ein kurzes Porträt Hans Wollschlägers liefert. Anlass hätte es genug gegeben, so etwa xeno- und homophobische Äußerungen Schmidts, die zwar dokumentiert, nicht aber kommentiert werden. Es hätte dem Buch und auch den Leserinnen Schmidts gutgetan.

Kommen wir zum Forschungsaspekt des Buchs: Eine Arno-Schmidt-Forscherin stellt, wie schon gesagt, andere Ansprüche an eine Biografie. Für sie müssen neue Fakten und Interpretationen geliefert werden, es müssen offene und kontrovers diskutierte Fragen der Forschung entschieden oder wenigstens einer Klärung nähergebracht werden, es muss Relevantes von Obsoletem und Abstrusem geschieden werden.

Auch hier ist zuerst festzustellen, dass Hanuschek durchaus Neues bringt: Besonders was die Familiengeschichte Schmidts angeht, ist seine Darstellung detailreich und geht – soweit ich sehe – über die bisherige Forschung hinaus. Auch folgt er zwar weitgehend der Selberlebensbeschreibung Schmidts, formuliert aber immer wieder berechtigte Zweifel an den Selbstdeutungen des Autors. Wir bekommen etwa kein wirklich geschlossenes Bild von Schmidts Vater geliefert, aber wir bleiben auch nicht bei der extrem negativen Beurteilung durch den Sohn stehen. Hier liefert Hanuschek einen deutlichen Fortschritt.

Was die Einschätzung des Werks und seine Interpretation angeht, schwächelt das Buch auf weiten Strecken. Hanuschek scheint, bei aller Bewusstheit für die romantischen Wurzeln Schmidts, grundsätzlich davon auszugehen, dass es sich bei Schmidt um einen realistischen Autor gehandelt habe. Hanuschek begreift darunter das Ziel, die sogenannte Wirklichkeit im Text abzubilden, hat aber an zahlreichen Stellen Schwierigkeiten mit diesem Textzugriff – er greift dann zum Terminus „Wirklichkeitskonstitution“ (S. 152, 402 u. ö.). So wird ihm etwa der Gärtner Auen in Brand’s Haide zu einem Problem:

Natürlich kann man sagen, alle diese ›phantastischen Stellen‹ seien so codiert, dass sie eine naturwissenschaftliche Lesart hergeben: Der gute ›Schmidt‹ [die Erzählerfigur von Brand’s Haide] spinnt, er hat zuviel Fouqué gelesen und sieht überall Elementargeister, die es nicht gibt, wie wir wissen. – Das wäre mir eine zu platte Auflösung; für mich stecken hier zwei Möglichkeiten. Zum einen: Brand’s Haide erzählt eine Schriftstellerwerdung, eine Initiationsgeschichte, die gerade durch die Mythologie- und Elementargeister-Schicht wieder geöffnet wird.

S.350

Das „zum anderen“ wird uns nicht geliefert! Die hier ausinterpretierte Spannung kennt der Text aber gar nicht. Zum einen (!) ist die Geisterexistenz dieser Figur mit voller Absicht im Text so versteckt, dass nur eine sehr exakte Lektüre sie überhaupt als wirklichkeitskonstituierendes Element an den Tag bringt, zum anderen (!) behauptet Schmidt zwar in seiner Poetologie, ein Realist zu sein, die Praxis seiner Texte weiß aber überhaupt nichts von einem solchen Dogma. Wenn sich etwas an Schmidts Texten begreifen lässt, dann dies, dass sie weitgehend autonom konstituiert sind und sich an keinerlei vorgegebene Konzepte, seien sie realistisch oder romantisch, halten. Schmidt ist nur insoweit ein Realist, als ihm Realien wichtig sind (warum das so ist, hätte Hanuschek diskutieren müssen, er nimmt es aber als selbstverständlich hin), aber er ist in keiner Weise durch sie verpflichtet oder beschränkt. Schmidt ist weder ein Epigone der Romantik (wovon das Frühwerk noch geprägt ist) noch ein Autor des Realismus. Künstlerisch souverän ist sein zu Lebzeiten veröffentlichtes Werk mit Sicherheit gerade darin, den scheinbaren Gegensatz von „Wirklichkeitskonstitution“ und Phantastik mit leichter Hand einzuebnen.

Neben diesem grundsätzlichen Missverständnis weist das Buch als Forschungsbeitrag zahlreiche Mängel auf, die hier nicht im Einzelnen dargestellt werden können. Pars pro toto sei die Entstehungszeit von Pharos genannt:

  • Eine erste Datierung wird auf Seite 136 vorgenommen: „(ca. 1945)“.
  • S. 174 wird es nach dem Achamoth-Fragment terminiert, das von Schmidt selbst in die Zeit nach Weihnachten 1944 gesetzt wurde.
  • Die hauptsächliche Behandlung des Pharos findet dann zu Anfang des Abschnitts über den Zeitraum 1946–1948 (S. 215 ff.) statt.
  • S. 225 wird der Zeitraum der Entstehung zwischen März 1942 und Januar 1944 verortet,
  • was S. 226 noch einmal auf den Zeitraum zwischen November 1943 und Januar 1944 eingegrenzt wird.4

So etwas muss selbstverständlich vermieden werden, und es lässt sich auch durch Autor oder Lektorat problemlos vermeiden, wenn man denn sein eigenes Buch mit jener Gründlichkeit gelesen hätte, mit der man vorgibt, das Werk Arno Schmidts gelesen zu haben.

Es bleibt mir nur noch eine einzige Stelle zu zitieren, die mir die Lektüre dieses Buches letztendlich durch und durch verdorben hat. Auf S. 844 heißt es über Ann’Ev’ – deren Name im Buch übrigens gleich drei Mal falsch geschrieben wird –: „trotz ihrer Herzkrankheit ist sie offensichtlich nicht ganz von dieser Welt“. Wer so etwas schreiben kann, hat bei Schmidt etwas ganz Grundlegendes nicht verstanden. Ann’Ev’ ist nicht „trotz“ ihrer Herzkrankheit nicht ganz von dieser Welt, sondern weil sie immer auch von dieser Welt sein muss, ist sie herzkrank. Und wer dabei nicht an Line Hübner denken muss, der gehört, so leid es mir tut, auch unter die „groben Leute“.

Sven Hanuschek: Arno Schmidt. München: Hanser, 2022. Pappband, Lesebändchen, 990 Seiten. 45,– €.

geschrieben für den Bargfelder Boten
Nr. 479–480, S. 30–34


1 – Sven Hanuschek: Arno Schmidt. S. 124

2 – Die Fassung des Hanser-Verlags liest sich so: „Ich verlange, gesetzgeberisch festzulegen, daß spätestens 50 Jahre nach dem Tod eines Schriftstellers seine Biographie nicht nur erscheinen darf, sondern muß!“

3 – Dieser Text benutzt ausschließlich zum Zwecke der Provokation das sogenannte generische Femininum.

4 – Mit Dank an Günter Jürgensmeier, der auf diese kleine Bonanza auf Twitter hingewiesen hat: https://twitter.com/Arnotationen/status/1522094272350146562.

Anthony Burgess: Der Feind in der Decke

Bei Allah, seine Gläubiger waren hinter ihm her, oder ein Beilschläger, oder vielleicht seine Ehefrau. Im Orient ist die Auswahl begrenzt.

Der zweite Teil der Malayan Trilogy erschien 1958, zwei Jahre nach Jetzt ein Tiger. Die Handlung beginnt am 12. Februar 1956 als der Protagonist Victor Crabbe zusammen mit seiner Frau Fenella noch weiter in den Norden Malayas fliegt, um dort eine Stelle als Schulrektor anzutreten. Fenella ist etwas angekratzt, da sie am selben Tag erfahren hat, dass Victor eine Affäre mit einer Malaiin hatte, was ihren Drang, nach England zurück zu wollen, nicht gerade reduziert.

In Kenching, der Hauptstadt des fiktiven Staates Negeri Dahaga, erwartet sie niemand am Flughafen. So schlagen sich die Crabbes allein zur Stadt durch, wobei sie unterwegs zufällig auf Rupert Hardman treffen, einen alten Studienkollegen Victors, der sich in Kenching mehr schlecht als recht als Anwalt durchschlägt und der die zweite Hauptfigur des Romans werden wird. Hardman setzt sie am Haus von Victors Vorgesetztem Talbot ab, wo sie zuerst dessen Frau Anne kennenlernen, die ebenfalls eine wichtige Rolle im weiteren Verlauf der Handlung spielen wird.

Wie bereits im ersten Band werden auch diesmal mehrere Erzählstränge parallel erzählt: Victor Crabbe hat mit seinem Vizerektor zu kämpfen und steht außerdem im Zentrum des lokalen Klatsches. Er beginnt eine Affäre mit Anne Talbot, die ihn als einen von zwei möglichen Kandidaten für einen Ausstieg aus ihrer Ehe betrachtet. Fenella wird von einem malaiischen hohen Beamten umworben, was sie zu ganz ungekannten Höhen des Selbstbewusstseins führt. Rupert Hardman heiratet die reiche Witwe Normah, um seine finanziellen Probleme überwinden und sich endlich selbstständig machen zu können. Dass er zu diesem Zweck Muslim werden muss, nimmt er vorerst billigend in Kauf, es wird aber eine ärgere Belastung für ihn, als er erwartet hatte. Schließlich plant er seine Flucht aus Malaya und vor seiner Ehefrau auf einer Pilgerreise gen Mekka. Und noch einige andere Nebenstränge werden verfolgt.

Burgess, der zu diesem Zeitpunkt sicherlich schon die komplette Trilogie konzipiert hatte, bekommt zum Ende des zweiten Bandes gerade noch ein etwas vages Gleichgewicht als Abschluss hin: Victor steigt als Nachfolger Talbots zum Chef des Schulamtes auf; es gelingt ihm zudem durch einen unfreiwilligen Akt des Heldentums die Gerüchte um seine kommunistische Gesinnung zu widerlegen. Zwar hat ihn Fenella verlassen, aber nach einem Durchgang durch Depression und Krankheit scheint er auch diesen Schlag überwunden zu haben. Derweil geht Malaya immer rascher seiner Unabhängigkeit und damit Victor seiner Überflüssigkeit entgegen.

Anthony Burgess: Der Feind in der Decke. Aus dem Englischen von Ludger Tolksdorf. Coesfeld: Elsinor, 2022. Pappband, Fadenheftung, Lesebändchen,  216 Seiten. 32,– €.

Wird fortgesetzt …

Joseph Roth: Die Kapuzinergruft

Diesmal habe ich – wieder einmal aus didaktischem Anlass – zusammen mit Der Radetzkymarsch auch diesen späten Nachtext Josephs Roths gelesen. Er ist der Versuch, an den Erfolg des großen Romans anzuknüpfen und zugleich Themen abzuarbeiten, die dort nicht oder nur am Rande behandelt wurden. Die Kapuzinergruft ist deutlich kürzer geraten (etwa ein Drittel des Vorgängers), ja reicht an die damalige Länge für einen Roman (die berühmt-berüchtigten 50.000 Wörter E. M. Forsters) nicht heran. Er ist zudem weit anekdotischer gearbeitet als Der Radetzkymarsch und hat einen Ich-Erzähler. Dagegen sichern zahlreiche motivische Korrespondenzen die Zusammengehörigkeit der Texte, nicht nur das verwandtschaftliche Verhältnis des Ich-Erzählers und Carl Josephs von Trotta.

Beim Ich-Erzähler handelt es sich um Franz Ferdinand Trotta, einen entfernten, bürgerlichen Vetter des Protagonisten von Der Radetzkymarsch. Er studiert nur zum Schein in Wien Jura, als ihn sein Vetter Joseph Branco in Wien besucht, der wiederum die Bekanntschaft zum Kutscher Manes Reisiger vermittelt. Mit diesen beiden neuen Freunden zusammen verlebt er dann noch vor dem Ersten Weltkrieg in Galizien einige glückliche Tage. Bei Kriegsausbruch heiratet er noch rasch seine heimliche Liebe Elisabeth, rückt dann ein, lässt sich als Leutnant zum Regiment seiner Freunde versetzen und gerät in der Schlacht, in der der Leutnant von Trotta fällt, zusammen mit ihnen in russische Gefangenschaft. Die Freunde werden nach Sibirien deportiert und der Erzähler kehrt nach diversen Flucht-Abenteuern nach Wien zurück.

Dort findet er seine Frau entfremdet und in einer lesbischen Liebesbeziehung vor. Sein Schwiegervater erweist sich als windiger Geschäftsmann, der ihn in seiner Firma zum Vertrieb von Kunstgewerbe anstellt, ohne dass es eine wirkliche Arbeit für den Schwiegersohn gäbe. Nachdem der Schwiegervater sein eigenes Geld durchgebracht hat, überredet er die Mutter Trottas, ihr Haus, das ihren einzigen Besitz bildet, mit mehreren Hypotheken zu belasten. Schließlich endet der Erzähler als Betreiber einer Pension im Haus seiner verstorbenen Mutter und versinkt in Apathie und Depression. Der Roman endet mit dem sogenannten Anschluss Österreichs an das deutsche Reich.

Diese Handlung bildet aber nur das Rückgrat für eine Schilderung der atmosphärischen und kulturellen Entwicklung von den Vorkriegsjahren bis zum vorläufigen staatlichen Ende Österreichs. Es geht Roth offensichtlich um eine Schilderung der Ziellosigkeit der österreichischen Intellektuellen, eine Kritik der Kultur der Moderne und nicht zuletzt der Gleichgültigkeit, mit der Österreich auf seine Vereinnahmung durch das faschistische Deutschland reagiert. Es ist eine scharfe Abwendung von seiner Heimat und eine sentimentale Rückwendung zum Vielvölkerstaat der Vorkriegszeit, der angesichts des aktuellen Desasters als schlechte, aber immerhin eigenständige Alternative erscheint. Für ihn steht symbolisch der Leichnam des letzten Kaisers in der Kapuzinergruft.

Man merkt dem Buch sehr an, dass ihm die umfassende, geschlossene Komposition mangelt, die Der Radetzkymarsch ausgezeichnet. Die Handlung bleibt anekdotisch und mehr als eine der Wendungen der Handlung erscheint eher als willkürlich erfunden denn als organisch hergeleitet. Das Buch ist nicht ohne Reiz, aber es ist ironischerweise ein typisches Produkt jener Moderne, die es zu kritisieren versucht.

Joseph Roth: Die Kapuzinergruft. dtv 13100. München: dtv, 112020. Broschur, 187 Seiten. 9,90 €.

Thomas Mann: Der Erwählte

Sehr oft ist das Erzählen nur ein Substitut für Genüsse, die wir selbst oder der Himmel uns versagen.

Im Jahr 1951 erschien nach einer für Thomas Mann recht kurzen Entstehungszeit von nur etwas mehr als drei Jahren sein kürzester und zugleich sein letzter abgeschlossener Roman Der Erwählte. Es handelte sich um eine modernisierte, sanft parodistische Nacherzählung des Gregorius des Hartmann von Aue, den Mann schon in seinem Münchner Studium kennengelernt hatte. Der Stoff hatte in der Fassung der Gesta Ro­ma­no­rum im Doktor Faustus eine kleine Rolle gespielt, was dann eine intensive Beschäftigung mit dem kleinen Epos Hartmanns auslöste. Dabei hatte Mann durchaus Schwierigkeiten, sich das mittelhochdeutsche Original anzueignen, konnte auch in den USA eine vage von ihm erinnerte Übersetzung im Reclam Verlag nicht finden, doch erhielt er Hilfe vom Schweizer Mediävisten Samuel Singer, der ihn schon bei der Arbeit am Doktor Faustus unterstützt hatte und der seine Mitarbeiterin Marga Bauer den Text Hartmanns ins Hochdeutsche übertragen ließ. (Dan­kens­wer­ter­wei­se liefert der Kommentarband dieser Ausgabe die Übersetzung voll­stän­dig mit!) Auf dieser Grundlage entstand ab Anfang 1948 der kleine Roman.

Den Inhalt habe ich schon an anderer Stelle kurz skizziert. Der le­gen­den­haf­te Stoff und die Freiheit, die ein weitgehend unbestimmt und ironisch geschildertes Mittelalter dem Autor ließ, sowie die Engführung der Parodie an der Vorlage haben Thomas Mann eine erzählerische Leichtigkeit erlaubt, wie sie in seinem Werk sonst nur in einigen seiner Erzählungen zu finden ist. Der Roman ist scheinbar mit leichter Hand wie nebenbei erzählt und weist die für Mann typische tonale Einheitlichkeit des Erzählens in einem besonderen Maße auf. Es liegt wahrscheinlich an dem etwas entlegenen Sujet, dass dieses Buch zu den eher unbekannten Thomas Manns gehört.

Die Neuedition innerhalb der Großen Frankfurter Ausgabe bringt im Textteil keine echten Verbesserungen, da die letzten Korrekturfassungen des Romans komplett verloren gegangen sind; es wird deshalb der im März 1951 innerhalb der Stockholmer Werkausgabe erschienene Text nachgedruckt. Dafür glänzt aber auch dieser Teil der aktuellen Werkausgabe mit einem umfangreichen Kommentarband, der neben einem Ein­zel­stel­len­kom­men­tar nicht nur Entstehungsgeschichte und Rezeption minutiös dokumentiert, sondern, wie oben schon angedeutet, unter anderem auch die beide wichtigen Quellentexte reproduziert, die Mann benutzt hat. Für alle Freunde des Romans eine reiche biographische und stoffliche Fundgrube.

Thomas Mann: Der Erwählte. Große kommentierte Frankfurter Ausgabe Bd. 11. Frankfurt/M.: S. Fischer, 2021 (erschienen 2022!). Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 302 (Text) + 559 (Kommentar) Seiten. 139,– €. Beide Bände sind auch einzeln lieferbar.

Katja Leuchtenberger: Uwe Johnson

Kurzbiographie Johnsons in seinem Hausverlag von einer ausgewiesenen Kennerin des Autors. Das Buch ist in drei Abschnitte geteilt: Leben (ca. die Hälfte des Textes), Werk (ein weiteres Drittel) und Wirkung. Es folgt ein Anhang mit Zeittafel, Bibliographie und Personen- sowie Werkregister.

Inhaltlich ist das Buch unter Berücksichtigung des geringen Umfangs tadellos, wenn auch das Leben etwas weichgezeichnet erscheint; Johnsons Fremdheit in Gesellschaft, seine rigorose, auf andere oft verstörend wirkende Rechthaberei oder sein Alkoholismus kommen zwar vor, aber wohl dosiert und abgemildert. Von daher ist das vermittelte Bild nicht ganz richtig, ganz falsch ist es aber eben auch nicht.

Was die Darstellung des Werks angeht, so gibt es kaum etwas einzuwenden; eine bessere Kurzdarstellung aller Aspekte von Johnsons Schreiben kenne ich einfach nicht. Im Abschnitt Wirkung gibt es das zu erwartende Maß von allgemeinem Geschwätz des Sowohl-Als-auch gemischt mit einigen wenigen handfesten Informationen; da ist ein Querlesen vollständig ausreichend.

Die Seiten des Bandes sind recht angenehm gestaltet: Fotos werden in Maßen eigesetzt, die Darstellung des Haupttextes unterstützende Zitate aus Primär- und Sekundärtexten sind in grau hinterlegten Kästen in den Fließtext eingefügt. Auf Fuß- oder Endnoten wird komplett verzichtet.

Insgesamt ersetzt oder ergänzt der Band die inzwischen in die Tage gekommene Rowohlt-Monographie von Jürgen Grambow (1997). Für eine rasche und überblickende Information gut geeignet.

Katja Leuchtenberger: Uwe Johnson. sb 47. Berlin: Suhrkamp, 2010. Broschur, 158 Seiten. 8,90 €.

John Kennedy Toole: A Confederacy of Dunces

You could tell by the way that he talked, though, that he had gone to school a long time. That was probably what was wrong with him.

Ich muss gestehen, dass mich dieses Buch sehr spät erreicht hat. Geschrieben in den 1960er-Jahren, erschienen nach langem Widerstand diverser Verlage erst 1980, erhielt es 1981 den Pulitzer-Preis für Fiction und wurde schon 1982 zum ersten Mal und dann 2011 ein weiteres Mal ins Deutsch übersetzt. Dennoch ist mir das Buch bewusst erst letztes Jahr über den Weg gelaufen. In den USA wird es als wegweisendes Buch der sogenannten Southern literature gelesen und steht auf zahlreichen Must-read-Listen. In Deutschland scheint es mir immer noch ein Geheimtipp zu sein; aber da kann ich mich irren.

Erzählt werden einige Wochen aus dem Leben des Ignatius J. Reilly, eines übergewichtigen 30-Jährigen, der in New Orleans im Haus seiner Mutter Irene wohnt, den Kontakt zur Außenwelt so gut wie möglich meidet und sich in exzessiver Kritik des Kinos und Fernsehprogramms übt. Ignatius hat Mediävistik studiert und auch einige Zeit an der Universität unterrichtet, konnte sich aber nicht ins Hochschulsystem einpassen und wurde entlassen. Seitdem liegt er seiner Mutter auf der Tasche.

Erzählanlass ist ein Autounfall, bei dem Ignatius’ entnervte Mutter versehentlich beim Ausparken in ein Gebäude fährt und einen Balkon beschädigt. Der Hauseigentümer verlangt, dass die Reillys ihm den Schaden, gut 1.000 $, ersetzen, und um eine juristische Auseinandersetzung zu vermeiden, stimmt Irene dieser Forderung auch zu. Da aber völlig unklar ist, wie die beiden das Geld auftreiben sollen, bleibt als einziger Ausweg, dass Ignatius in die von ihm gehasste Welt zieht und sich Arbeit sucht. Er nimmt zuerst eine Stellung im Büro einer Hosen-Fabrik an, wobei er seinen Vorgesetzten über seine wahre Archivierungs-Methode hinwegtäuscht, die schlicht im Wegwerfen der ihm zur Ablage übergebenen Akten besteht, um schließlich unter den Arbeitern der Fabrik eine Art von Aufstand in Szene zu setzen. Nach seiner Entlassung beginnt er als Hotdog-Verkäufer zu arbeiten, dies aber auch nur, weil er dabei als sein bester Kunde nahezu unbegrenzten Zugriff auf die Würsten hat.

Neben dieser scheinbaren Haupthandlung entwickeln sich zahlreiche Nebenhandlungen, die nicht im Einzelnen erzählt zu werden brauchen. Es ist genug zu sagen, dass sich die Konsequenzen der einzelnen Handlungsstränge zu einem immer bedrohlicheren Szenarium für den Protagonisten aufzubauen scheinen, wobei die drohenden Schicksalsschläge Ignatius immer wieder auf wundersame Weise verfehlen.

Ein etwas überdrehter, aber intelligenter und witziger Roman von einer überraschenden Welthaltigkeit. Er steht klar in der Tradition des modernen Schelmenromans und erweist sich trotz seiner anekdotischen Struktur als gut konstruiert. Ein Tipp für ein verregnetes Wochenende.

John Kennedy Toole: A Confederacy of Dunces. Kindle-Edition. Penguin / Random House, 2016. 338 Seiten (Druck-Ausgabe). 8,99 €.

Brendan Simms / Charlie Laderman: Fünf Tage im Dezember

In dieser Atmosphäre war es nicht überraschend, dass die Nachfrage nach der Reparatur von Radioapparaten, die durch ständiges Drehen an den Knöpfen auf der Suche nach einem besseren Empfang beschädigt worden waren, deutlich zunahm.

Nach dem Erfolg von Simms Hitler-Biographie liefert DVA nun auch sein neues Buch über die kurze Zeitspanne zwischen dem japanischen Angriff auf Pearl Harbour und Hitlers Kriegserklärung an die USA nach. Zusammen mit seinem Kollegen Charlie Laderman vollzieht er in minutiöser Darstellung auf knapp 550 Seiten die Entwicklung nach, die letztendlich zum Kriegseintritt der USA auch in Europa führte. Auch Vor- und Nachgeschichte werden kurz umrissen, aber im Großen und Ganzen konzentriert sich das Buch auf das, was der deutsche Titel nahelegt (in diesem Fall ist es einmal zu begrüßen, dass der Verlag auf die Übernahme des amerikanischen Titel Hitler’s American Gamble verzichtet hat).

Bei der kleinteiligen Darstellung des Buches, die sich von den Entscheidungen und Strategien der Führungsspitzen bis hin zur Meinung der Frau und des Mannes auf der Straße erstreckt und sich, wenn auch nicht in gleichem Umfang, allen Kriegsschauplätzen und beteiligten Nationen widmet, sind Redundanzen selbstverständlich unvermeidbar. So erfahren wir zum Beispiel immer und immer wieder, dass sich neben anderen Winston Churchill, Roosevelt, Stalin, Hitler, zahlreiche Diplomaten und Beamte sowie befragte US-Amerikaner Gedanken darüber machen, welche Auswirkungen der Angriff der Japaner und der Krieg im Pazifik auf die Hilfslieferungen der USA für Großbritannien und die Sowjetunion im Rahmen des Lend-Lease-Programms haben werden. Und da dies Roosevelt, Churchill und ihre Berater sowie zahlreiche andere Protagonisten über die ganzen fünf Tage hinweg kontinuierlich beschäftigt, lesen wir es auch unzählige Male. Andererseits halten sich die Autoren mit summarischen Urteilen und Zusammenfassungen eher zurück, die nur im ersten und letzten Kapitel ein größere Rolle spielen, was ein sehr an den historischen Ereignissen und ihrer unmittelbaren Einschätzung entlanggeführtes Bild ergibt.

Wer sich in der Geschichte des Zweiten Weltkrieges einigermaßen auskennt, kann getrost auf die Lektüre der ersten beiden (der Angriff auf Pearl Harbour beginnt auf Seite 169!) und des letzten Kapitels verzichten. Für alle, die interessiert sind, mit welcher Genauigkeit sich historische Abläufe des 20. Jahrhunderts rekonstruieren lassen, sicherlich eine nicht nur inhaltlich spannende Lektüre.

Brendan Simms / Charlie Laderman: Fünf Tage im Dezember. Von Pearl Harbour bis zur Kriegserklärung an die USA – Wie sich 1941 das Schicksal der Welt entschied. Aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt. München: DVA, 2021. Pappband, Lesebändchen, 638 Seiten. 32,– €.

Stefan Heym: Flammender Frieden

Außerdem war er in sie verliebt, und diese Liebe war sein Untergang.

Anlässlich des heutigen 20. Todestags Stefan Heyms ist bei Bertelsmann sein zweiter Roman erstmals in deutscher Übersetzung durch Bernhard Robben erschienen. Of Smiling Peace wurde zuerst 1944 auf Englisch verlegt und konnte, obwohl offensichtlich auch diesmal auf eine Hollywood-Verfilmung hingeschrieben, an den Erfolg von Heyms Erstling Hostages (1942; auf Deutsch später: Der Fall Glasenapp) nicht anknüpfen. Als sein dritter Roman Crusaders (1948; deutsch jetzt Kreuzfahrer von heute, auch unter dem Titel Der Bittere Lorbeer) ein internationaler Erfolg wurde, ließ Heym die „Vorstudie“ von 1944 auf sich beruhen und unterband jede Neuausgabe oder Über­set­zung. So erscheint der Roman erst jetzt auf Deutsch und noch dazu in einer Über­set­zung von zweiter Hand. Aber zumindest dies letzte scheint ihm nicht geschadet zu haben.

Erzählt wird im Wesentlichen die Geschichte zweier Männer, deren Leben – leider – schicksalhaft miteinander verflochten sind: Einerseits der Wehrmachts-Major Ludwig von Liszt, andererseits der deutschstämmige Lieutenant Bert Wolff, der zusammen mit seinen Kameraden am 8. November 1942 an der Küste unweit von Algier anlandet. Die Einnahme von Algier und die Gefangennahme der deutschen Waf­fen­still­stands­kon­trol­leu­re, wie sich die deutschen Besatzer euphemistisch nennen, gelingt weitgehend problemlos, aber Liszt und sein Hauptmann Tarnowsky schlüpfen den Amerikanern durch die Finger. Liszt macht sich auf Richtung Osten, um zu den von Sizilien nach Tunesien verlegten Wehrmachtstruppen zu stoßen, was ihm unter abenteuerlichen Umständen auch gelingt, und auf diesem Weg zugleich einen großen Gegenschlag zu organisieren, der die US-amerikanischen Landungstruppen in einer Zangenbewegung aufreiben soll.

Natürlich lieben Liszt und Wolff dieselbe Frau (die im Schnellschuss-Verfahren zusammengezimmerte Beziehung zwischen Marguerite und Wolff gehört zu den peinlichsten Details des Romans), aber wenigstens im Roman bekommt sie keiner der beiden (das hätte man fürs Drehbuch ändern müssen), sondern sie heiratet am Schluss denjenigen von all den ihr zu Füßen herumkriechenden Männern, den sie am meisten verachtet.

Schon an diesem Detail merkt man, dass der Roman an einigen Klischees nicht vorbeikommt. Auch die weite Strecken des Buches bestimmenden Dialoge der zahlreichen Akteure untereinander sind zum Teil von einer Plattheit, die ihresgleichen sucht. Dafür ist die erzählerische Konstruktion, die die Geschichte bis zum Ende parallel in mehreren Strängen vorwärts treibt, durchaus souverän gehandhabt und zeigt eine gut geplante Struktur. Für ein schnell und auf ein breites Publikum hin geschriebenes Buch, das zudem erst den zweiten Roman des Autors darstellt, verdient es durchaus Respekt, auch wenn sich Begeisterung wohl nur bei echten Heym-Fans einstellen wird. Das Nachwort fasst es so zusammen:

In bester amerikanischer Erzähltradition gleichermaßen spannend wie unterhaltsam komponiert, legt Heym mit seinem Flammenden Frieden den Finger in eine Wunde, die bis heute nicht verheilt ist.

S. 477

Ein wenig besser ist es schon, aber nicht viel.

Stefan Heym: Flammender Frieden. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. München: Bertelsmann, 2021. Pappband, 477 Seiten. 24,– €.

Thomas Bernhard: Die Autobiographie

… aber hier wird auf das Kopfschütteln, gleich auf welcher Seite und mag sie sich als die kompetenteste ansehen, keinerlei Rücksicht genommen.

Zwischen 1975 und 1982 sind fünf au­to­bio­gra­phisch unterfütterte Erzählungen von Thomas Bernhard erschienen, die 2004 innerhalb der Werkausgabe bei Suhrkamp erstmals in einem Band, dem Band 10 unter dem herausgeberischen Titel Die Autobiographie zusammengefasst wurden. Die Herausgeber dieses Bandes stellen selbst fest, dass der gewählte Titel nicht durch irgend eine Äußerung des Autors gestützt werden kann. Es soll hier nicht diskutiert werden, inwieweit dieser neue Titel und die neue Form die Wahrnehmung und das Verständnis dieser Erzählungen beeinflussen, denn dazu wäre als Vergleichsgröße eine Dokumentation des Verständnisses eines Lesers vonnöten, der die Erzählungen etwa kontinuierlich mit ihrem Erscheinen gelesen hätte; allein schon das wäre wohl weit von jeder Realisierbarkeit entfernt. Doch genug des Nominalstils.

Die Reihe der Erzählungen beginnt mit der Internatszeit Bernhards in den letzten Kriegs- und ersten Nachkriegsmonaten in Salzburg. Der Ich-Erzähler leidet sowohl unter dem Regiment des faschistischen Direktors Grünkranz als auch seines katholischen Nachfolgers „Onkel Franz“. Dieser erste Band, Die Ursache. Eine Andeutung (1975) endet mit dem Entschluss des Erzählers das Gymnasium zu verlassen und eine Lehre bei einem Lebensmittel-Händler zu beginnen. Der Keller. Eine Entziehung (1976) knüpft direkt an dieses Ende an und verfolgt die Lebensgeschichte weiter bis zum Abbruch der Lehre durch eine Lungenerkrankung, die sich der Erzähler beim Abladen einen Fuhre Kartoffeln im Regen zugezogen hat. Der Atem. Eine Entscheidung (1978) berichtet vom sich anschließenden Klinikaufenthalt, Die Kälte. Eine Isolation (1981) von der nachfolgenden Kur. Der letzte Band Ein Kind (1982) springt chronologisch in die Zeit vor Die Ursache und beginnt mit einer Radtour, die der Erzähler als Achtjähriger ohne die Erlaubnis seiner Mutter nach Salzburg unternommen hat, auf der er aber verunglückt, ohne sein Ziel zu erreichen. Nimmt man den erzählerischen Anspruch für einen Moment ernst, so erzählt Bernhard hier sein Leben einigermaßen kontinuierlich zwischen dem achten und dem neunzehnten Lebensjahr nach.

Dabei sind alle fünf Erzählungen beherrscht vom Ton und der Geisteshaltung des erwachsenen Erzählers, seinem durchgehenden Ressentiment eines Außenseiters gegen die Gesellschaft, den Menschen schlechthin, die Österreicher und die Salzburger im speziellen, dem unvergessenen und unverziehenen Leid des von einem ambitionierten Großvater durch diverse Künste (Geigenspiel, Gesang, Malerei) getrieben Kindes, das zusätzlich unter dem Druck einer ihm in Hass-Liebe zugetanen Mutter leidet und keinen heimischen Ort in der Welt finden kann. Die Texte sind einerseits durchaus bewegend, andererseits in der typischen Bernhardschen Manier nervtötend und penetrant. Bernhard zelebriert in dem Kind und Jugendlichen, von dem er erzählt, seine Verletztheit, Einsamkeit und Misanthropie. Es fehlt diesen Büchern in weiten Teilen der sonst oft bei ihm vorherrschende bissige oder auch zynische Humor, der hier ersetzt wird durch ein eher unverstelltes, aber distanziert geschildertes Mitleid mit sich selbst als Kind. Diese größere Unmittelbarkeit sollte einen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch diese Texte hoch stilisiert sind, dass die permanenten Wiederholungen, Reformulierungen und Variationen (die durchaus auch als musikalisches Element verstanden werden können) eine mehrfache Überschreibung des Erinnerten durch einen dies Erinnern instrumentalisierenden Erzähler darstellen.

Die fünf Erzählungen bilden einen guten Einstieg in den Bernhardschen Kosmos: Wer ausprobieren möchte, ob er mit Bernhards Stil zurecht kommt, kann es mit irgendeinem der Bände probieren; vielleicht ist Die Ursache der beste Prüfstein. Es ist aber nicht notwendig, bei der Lektüre die innere Chronologie oder die der Veröffentlichung einzuhalten.

Thomas Bernhard: Die Autobiographie. Werke Bd. 10. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2004. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen. 582 Seiten. 42,– €.