George Orwell: Farm der Tiere / 1984

George Orwell ist – zumindest in Deutschland – der Autor zweier Bücher oder vielleicht auch nur zweier Sätze: „Alle Tiere sind gleich, aber manche Tiere sind gleicher als andere“ und “Big Brother is Watching You”. Das zeigt sich nun einmal mehr, nachdem am 1. Januar seine Texte gemeinfrei geworden sind: Es sollen allein acht Neu-Übersetzungen von Nineteen Eighty-Four und fünf von Animal Farm erscheinen,* und das obwohl Michael Walters Übersetzungen aus den 80er Jahren sicherlich immer noch tadellos und lesbar sind. Orwell zeigt also zumindest noch wirtschaftliches Potenzial. Ob es über die üblichen Schlagworte hinaus noch eine Auseinandersetzungen mit ihm geben kann, wird sich zeigen müssen.

Farm der Tiere

Wurde er gefragt, ob er seit Jones’ Verschwinden nicht glücklicher sei, sagte er nur: «Esel haben ein langes Leben. Keiner von euch hat je einen toten Esel gesehen», und mit dieser kryptischen Antwort mussten sich die anderen begnügen.

Der Text wurde Ende 1943, Anfang 1944 geschrieben, aber Orwell hatte ein wenig Mühe, einen Verleger dafür zu finden. Orwell machte dafür in einem Essay, der der Erstausgabe als Vorwort beigegeben war und den Manesse zusammen mit Orwells Vorwort zur ukrainischen Übersetzung im Anhang dieser Neu-Übersetzung mitliefert, die freiwillige Selbstzensur der Verlage verantwortlich, die in Kriegszeiten keinen Text drucken wollten, der offensichtlich gegen einen wichtigen Verbündeten und seinen politischen Führer polemisiert. Das ist nicht unwahrscheinlich, bleibt aber natürlich letztendlich Spekulation. Es mag auch sein, dass den Verlegern die Allegorie zu offensichtlich oder auch zu platt gewesen ist.

Erzählt wird von einer Revolution auf der etwas heruntergekommenen „Herrenfarm“, auf der ein sterbender alter Eber die Tiere, insbesondere die anderen Schweine, für die Ungerechtigkeit ihrer Existenz sensibilisiert. Anlässlich eines eher beiläufigen Falls herrschaftlicher Gewalt des stets betrunkenen Farmers Jones entsteht ein Aufstand der Tiere, der zur Vertreibung der Menschen von der Farm führt. Die so befreiten Tiere bilden nach der Lehre des alten Ebers eine sozialistische Kommune, in der die Schweine aufgrund ihrer Intelligenz natürlicherweise die Führungsebene bilden. Die beiden anführenden Eber, Napoleon und Schneeball, leben eine Weile in Konkurrenz zueinander, bis Napoleon, der einen Wurf junger Hunde von den anderen Tieren isoliert und zu seiner Leibgarde ausgebildet hat, in einem Putsch die Macht übernimmt, Schneeball vertreibt und alle demokratischen Strukturen abschafft.

Unter der Diktatur Napoleons treten für die Tiere – außer den Schweinen und der Polizeitruppe der Hunde – bald ärgere Verhältnisse ein als zuvor: Mehr Arbeit – es muss nicht nur die übliche Arbeit erledigt werden, sondern zudem wird noch eine weitgehend sinnlose Windmühle errichtet – und wenigerer Futter, da man statt Jones, seiner Frau und seinen Knechten nun die Oberschicht der Schweine durchfüttern muss, die langsam – und das ist die Endpointe des Buches – immer mehr zu Menschen werden und von ihren Nachbarn nach und nach als Geschäftspartner akzeptiert und auch hofiert werden.

Alles in dieser Erzählung ist offenbar und vorhersehbar, aber es ist auch detailliert und intelligent umgesetzt: Die Katze als Individualistin, der Esel als zynischer Stoiker und der zahme Rabe als Vertreter des Klerus sind schön ausgespielt. Es war Orwells Absicht, seine Allegorie verständlich und durchsichtig zu gestalten:

Nach meiner Rückkehr aus Spanien wollte ich den Sowjetmythos in einer Geschichte entlarven, die jedermann ohne Weiteres verstehen und die unschwer in andere Sprachen übersetzt werden konnte. [S. 159]

Der bis heute anhaltende Erfolg des Buches beweist, wie gut ihm dies gelungen ist. Das Buch eignet sich durchaus nicht nur als Allegorie auf den Stalinismus, sondern kann als Beschreibung zahlreicher Diktaturen des 20. Jahrhunderts gelesen werden. Nur bleibt das „Märchen“ letztendlich fatalistisch; die politische Vision des Sozialisten Orwell kann und sollte auch nicht thematisiert werden. Auch das machte das Buch für ein großes, besserwisserisches Publikum der westlichen Hemisphäre attraktiv.

Die Übersetzung Blumenbachs ist, wie zu erwarten, tadellos und eingängig; auf einen detaillierten Vergleich mit dem Original oder den beiden älteren Übersetzungen habe ich verzichtet.

George Orwell: Farm der Tiere. Ein Märchen. Aus dem Englischen von Ulrich Blumenbach. Zürich: Manesse, 2021. Pappband, Lesebändchen, 190 Seiten. 18,– €.

1984

Die Sache konnte unmöglich glücklich enden; so etwas geschah im wirklichen Leben nicht.

Nur vier Jahre nach dem Erscheinen von Farm der Tiere und dem Ende des Zweiten Weltkriegs folgte Orwells nächste Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus. Diesmal richtet sich der Text nicht nur gegen Stalinismus oder Nationalsozialismus, sondern gegen das System des staatlichen Totalitarismus schlechthin. Zu diesem Zweck entwickelte Orwell die Utopie des absoluten Machtstaates Ozeanien, der sich im Jahr 1984 seit 25 Jahren als eine von drei verbliebenen Supermächten in einem endlosen Krieg befindet. Der Staat wird beherrscht von einer namenlosen Partei, an deren Spitze wiederum der wahrscheinlich fiktive Große Bruder steht, eine absolute Führerfigur, zu der die Mehrheit der Parteigenossen bewundernd aufblickt.

Die Gesellschaft Ozeaniens ist ein Drei-Klassen-System, in dem die Arbeiterschicht – genannt Prolos – 85 % der Bevölkerung ausmachen; sie sind als Individuen vollständig bedeutungslos und dienen nur als Quelle von Arbeitskraft und Reservoir von Soldaten. Die restlichen 15 % bilden Die Partei: Mehr als 13 % gehören zur Äußeren Partei, die die alte Verwaltung abgelöst hat. Die Mitglieder der Äußeren Partei stehen potenziell unter ständiger Überwachung, die sowohl technisch als auch durch gegenseitige Bespitzelung und Indoktrination ihrer Kinder realisiert wird. Die Verwaltung ist in vier riesigen Ministerien organisiert, die als Ministerien der Wahrheit (Propaganda), des Friedens (Krieg), der Liebe (Hass, eigentlich die Geheimpolizei) und Fülle (Produktion) das Stadtbild Londons beherrschen. Die verbleibenden weniger als 2 % (immerhin noch sechs Millionen Menschen) bilden die Innere Partei, die staatliche Führung Ozeaniens im engeren Sinne. Sie leben in Luxus und Reichtum, und ihre Überwachung scheint zwar vorhanden zu sein, ist aber weniger rigoros als die der Äußeren Partei. Es gibt in Ozeanien nicht viele Informationen über die Gesellschaften der beiden anderen Großmächte Eurasien und Ostasien, aber es darf vermutet werden, dass in ihnen ganz ähnliche Verhältnisse herrschen.

Die wirtschaftliche Situation ist durch den permanenten Kriegszustand bestimmt. Die Prolos und, wenn auch in geringerem Maße, die Mitglieder der Äußeren Partei leben in ständigem Mangel. Die Ernährung ist schlecht und von Ersatzstoffen geprägt. Genussmittel existieren zwar für die Mitglieder der Äußeren Partei: Sie haben etwa Gin, Zigaretten und Schokolade, aber von so schlechter Qualität, dass selbst ihr dauerhafter Genuss keine vollständige Gewöhnung herbeiführt. Die ständige Reduzierung der Rationen wird begleitet von einer Propaganda, die deren Erhöhung und überhaupt eine kontinuierliche Steigerung der Lebensqualität verkündet. Es wird von Parteimitgliedern erwartet, dass sie diesen offensichtlichen Widerspruch ignorieren bzw. als positive gegenseitige Verstärkung begreifen können. Ob sich Ozeanien tatsächlich im Krieg befindet, ist zumindest ungewiss. Da die Partei sämtliche Nachrichtenkanäle beherrscht, ist es für ein einfaches Parteimitglied nicht möglich, die Nachrichten über den Krieg zu prüfen. Sicher aber scheint zu sein, dass niemand in der Staatsführung daran interessiert ist, den permanenten Kriegszustand zu beenden.

Konkret erzählt wird die Geschichte des Parteigenossen Winston Smith, der im Ministerium der Wahrheit an der beständigen Umarbeitung der Vergangenheit mitarbeitet. Die Aufgabe seiner Abteilung ist es, die Archive jeweils an den aktuellen Stand der Wirklichkeit anzupassen, wie sie von der Inneren Partei definiert wird. So müssen in alten Zeitungen etwa Statistiken gefälscht werden, um ehemalige Voraussagen an die aktuelle Produktion anzupassen und so die real nicht existierende Überproduktion zu beweisen. Allerdings ist es wahrscheinlich so, dass auch die aktuellen Zahlen keiner Realität entsprechen, was den betriebenen Aufwand ein wenig merkwürdig erscheinen lässt. Auch müssen die Biographien von Personen, die in politische Ungnade gefallen sind oder die ermordet wurden, aus den Archiven getilgt und die entsprechenden Passagen mit anderem Material aufgefüllt werden. Wozu diese Arbeit letztlich dient, wer also mit den gefälschten Archiven getäuscht werden soll, bleibt im gesamten Roman undeutlich. In anderen Abteilung des Ministeriums der Wahrheit werden Romane produziert, die weitgehend maschinell strukturiert und geschrieben werden. Andere wiederum arbeiten an der Ausgestaltung der Parteisprache Neusprech, die irgendwann die Alltagssprache ablösen und das Formulieren ketzerischer Gedanken unmöglich machen soll. (Bertrand Russells Konzept der Idealsprache lässt grüßen.)

Trotz seiner Zugehörigkeit zur Äußeren Partei ist Winston Smith ein heimlicher Ketzer. Er ist der Überzeugung, dass der Lebensstandard in seiner Kindheit – Winston ist 1944 oder 1945 geboren – höher gewesen sei, er glaubt zu wissen, dass das Essen früher besser war, er kann sich an den Geruch von echtem Kaffee erinnern und was der Dinge mehr sind. Außerdem weigert sich sein Gehirn, einander widersprechende Tatsachen einfach zu vergessen, also etwa dass vor wenigen Tagen die Ration an Schokolade gekürzt wurde, während jetzt die Nachricht ausgegeben wird, sie sei erhöht worden. Sein ketzerischster Gedanke aber ist, dass er sich erinnert, dass vier Jahre zuvor Eurasien der Kriegsgegner Ozeaniens war, während die Partei nicht nur behauptet, der Gegner sei Ostasien, sondern es sei auch immer schon Ostasien gewesen.

Der erste der drei Teile des Romans liefert eine Beschreibung der Ozeanischen Gesellschaft und des inneren Widerstandes Winstons. Gleich auf den ersten Seiten des Romans beginnt er, ein Tagebuch zu führen, was allein ein todeswürdiges Verbrechen darstellt. Nicht, dass es verboten wäre, das zu tun; es ist überhaupt nichts wirklich verboten, da es keine geschriebenen Gesetze mehr gibt. Zugespitzt wird Winstons Lage dadurch, dass sich ihm eine junge Frau aufdrängt, die auch im Ministerium für Wahrheit arbeitet. Beide treffen sich, haben Sex – für Genossen geächtet von der Partei, weil sie keine emotionale Bindung zu jemand anderem als dem Großen Bruder erlaubt –, richten sich ein geheimes Liebesnest ein und schließen sich auch noch der wahrscheinlich ebenfalls fiktiven Widerstandsbewegung des Staatsfeindes Emmanuel Goldstein an. Mit ihrer Verhaftung durch die Gedankenpolizei endet der zweite Teil des Romans. Der dritte beschreibt Winstons Umerziehung im Ministerium der Liebe. Die Partei legt großen Wert darauf, Winston von seinem Wahn zu heilen, dass er eine Realität wahrnimmt und erinnert, die den Aussagen der Partei widerspricht. Erst wenn das gelingt, ist Winston reif für seine Exekution.

Der Roman ist außergewöhnlich reich an Erfindungen und ideologischen Konzepten, ist überaus sorgfältig konstruiert, führt eine große Menge präziser Einzelheiten der erfundenen Welt vor, ist psychologisch glaubhaft und nimmt sowohl seinen Figuren als auch seinen Lesern jegliche Hoffnung, dass ein solcher Staat jemals zu besiegen wäre. Wie schon an anderer Stelle gesagt, ist Orwell so konsequent, dass er seinem Protagonisten jeden äußeren oder inneren Fluchtort verweigert. Orwells totalitärer Staat ist tatsächlich total. Dabei betreibt Orwell für die ideologische Seite seiner Fiktion einen ungewöhnlich hohen Aufwand. Ein nicht unerheblicher Abschnitt des zweiten Teils wird mit langen Zitaten aus einer theoretischen Analyse des Systems der Partei gefüllt, die einem Handbuch für den absoluten Staat entnommen sein könnte. Er fügt außerdem einen Anhang hinzu – wahrscheinlich der ungelesenste Teil des Romans –, der die Idee der Parteisprache Neusprech erläutert. All das macht klar, um welche Genauigkeit sich Orwell bemüht hat. Es ist, als solle diese Präzision im Detail der Beliebigkeit der Welt, die die Partei als Wirklichkeit erzeugt, gegenüberstehen.

Es ist nicht ohne Ironie, dass dieser Roman auf breiter Front als Beschreibung eines Überwachungsstaates gelesen wurde und wird. Die Überwachung betrifft bei Orwell überhaupt nur einen kleinen Teil der Bevölkerung und ist dort alles andere als absolut. Viel wichtiger als die tatsächliche Überwachung der Parteimitglieder ist die Drohung, jederzeit beobachtet werden zu können; sie vernichtet jegliches Privatleben eines Parteigenossen. In der Effektivität ihrer Überwachung sind die realen Staaten des 21. Jahrhunderts Ozeanien so weit voraus, dass Orwell wahrscheinlich staunend vor dem Phänomen stünde, dass sich in ihnen überhaupt noch irgendwer als frei empfinden kann. Andererseits ist der permanente Kriegszustand der alle anderen überwältigende Aspekt der Orwellschen Dystopie. Er dient nicht nur der Kontrolle der Bevölkerung, sondern auch dazu, sie in Armut und damit in Unwissenheit – „Unwissen ist Stärke“ ist eines der drei zentralen Schlagworte der Partei – zu halten, indem er die Überproduktion an Konsumgütern, die aufgrund des Einsatzes von Maschinen existiert, im Aufwand des Krieges vernichtet. Dabei ist es, wie Julia scharfsinnig feststellt, völlig unerheblich, ob sich Ozeanien tatsächlich im Krieg befindet oder ob es den Krieg nur inszeniert, indem es seine Raketen auf die eigene Bevölkerung abschießt.

Es mag an der Zeit sein, Orwell historisch zu lesen, um vor dieser Folie zu begreifen, wie sich Machtergreifung und -erhaltung im 21. Jahrhundert entwickelt haben, gerade jetzt, wo ein Elefant im Porzellanladen der Macht gegen seinen Willen und unter Umsturzdrohungen von der Bühne abtreten muss. Dem Totalitarismus orwellscher Ausprägung sind wir anscheinend entgangen, aber wohl um den Preis, dass die Strukturen der Macht heute subtiler geworden sind, als es für Freiheit und Würde der Menschen gut ist.

George Orwell: 1984. Aus dem Englischen von Gisbert Haefs. Zürich: Manesse, 2021. Pappband, Lesebändchen, 446 Seiten. 22,– €.


* Ich habe Ankündigungen gefunden von: Anaconda (beide Titel), dtv (beide), Fischer, Insel, Manesse (beide), Nikol (beide), Reclam (beide) und Rowohlt. Hinzukommen zwei Bearbeitungen von 1984 als Graphic Novel (Knesebeck und Splitter) und noch einige originalsprachliche Ausgaben.

Simon Raven: Fielding Gray

»Ich glaube … dass es mir um Wahrheit geht.«
»Ist das nicht eine Nummer zu groß?«
»Nicht von allem. Nur im Kleinen, nur für mich. In einem kleinen Eckchen werde ich versuchen, Wahrheit zu schaffen.«

Ein weiterer englischer Schulroman, den mir mein Buchhändler nahegelegt hat, als wir über Eine Frage der Erziehung gesprochen haben. Auch Simon Raven, der überhaupt ein äußerst produktiver Autor gewesen ist, liefert gleich einen Romanzyklus – Alms for Oblivion / Almosen fürs Vergessen –, der zehn Bände mit zusammen etwa 2.300 Seiten und die Zeit zwischen 1945 und 1973 umfasst. Im Gegensatz zu A Dance to the Music of Time wurden die Romane nicht entlang der inneren Chro­no­lo­gie geschrieben, so dass der Beginn der Ge­samt­hand­lung erst in dem hier besprochenen, 1967 veröffentlichten vierten Band der Dekalogie gemacht wurde. Die deutsche Übersetzung des gesamten Zyklus soll bis 2024 erscheinen, wobei sich der Verlag insgesamt an die innere Chronologie des Zyklus hält (nur die Bände 2 und 3 bilden eine Ausnahme).

Die Haupthandlung beginnt im Mai 1945, nachdem der Zweite Weltkrieg in Europa zum Ende gekommen ist. Der Ich-Erzähler Fielding Gray, als Offizier der britischen Armee in Griechenland stationiert, blickt aus dem Jahr 1959 zurück auf das letzte Jahr seiner Schulzeit: Er ist der Mus­ter­schü­ler seines Jahrgangs, sowohl akademisch als auch als Sportler (in diesem Roman wird selbstverständlich Kricket gespielt) erfolgreich und bei seinen Mitschülern offenbar beliebt. Gray hat, wenn auch nicht aus­schließ­lich, ho­mo­ero­ti­sche Neigungen, und in diesem Jahr ist er sogar eindeutig verliebt in seinen Mitschüler Christopher Roland, der diese Neigung einerseits zu teilen scheint, andererseits aber dann doch erschrickt und schließlich gänzlich aus der Fassung gerät, als es ein einziges Mal zwischen den beiden zu einer kurzen sexuellen Berührung kommt.

Als Gray in den Ferien nach Hause fährt, muss er erfahren, dass sein Vater, der immer schon gegen Fieldings Plan war, nach der Schule Latein und Griechisch zu studieren, nun konkrete Vorbereitungen trifft, ihn von der Schule zu nehmen und in Indien auf einer Teeplantage in eine kauf­män­ni­sche Ausbildung zu zwingen. Zwar stirbt der Vater ebenso spektakulär wie glücklich an einem Herzinfarkt, doch muss Gray feststellen, dass dies seine Situation wider Erwarten nicht verbessert. Während seine Mutter, solange der Vater am Leben war, ihn stets gegenüber dem Vater verteidigt hat, geht sie nun in das Lager des Feindes über und betreibt ebenfalls die Ver­hin­de­rung von Fieldings akademischer Laufbahn.

Fielding erreicht eine Art von Kompromiss: Während er seiner Mutter vorgeblich nachgibt und seinen Militärdienst antritt, weil ihn seine Schule hinauswirft, da inzwischen gerüchteweise seine Affäre mit Christopher bekannt geworden ist, der sich zwischenzeitlich das Leben genommen hat. Daneben betreibt Gray weiterhin heimlich seine Studienpläne, da einer seiner Lehrer bereit ist, ihm das Studium zu finanzieren. So scheint für einen Moment alles gut auszugehen, bis wenige Tage nach dem Antritt der Grundausbildung Fielding von seinem Freund und Mitschüler Peter Morrison mitgeteilt wird, dass sich auch diese Aussicht zerschlagen hat, da der betreffende Lehrer von dem Streit zwi­schen Fielding und seiner Mutter und dem Versuch Fieldings, seine Mutter über seine wahren Pläne zu täuschen, moralisch so abgestoßen ist, dass er sein Angebot eines Sti­pen­di­ums nicht weiter aufrecht hält. So entscheidet sich Gray für eine Karriere als Berufssoldat; eine letzte Begegnung mit Peter Morrison, den er 14 Jahre nicht gesehen hat und der inzwischen Berufspolitiker geworden ist, be­en­det das Buch und schließt den Rahmen der Erzählung.

Das Buch hat einen deutlich humoristischen Einschlag; sein Protagonist und Erzähler erweist sich immer erneut als im Sinne einer christlichen Moral indifferent, ja weitgehend gefühllos. Weder der Tod seines Vaters noch der Christophers gehen ihm nahe, er schlägt in Wut seiner Mutter ins Gesicht, ohne sich deshalb irgendwelche Vorwürfe zu machen, aber auch die Verhinderung seiner akademischen Karriere scheint ihn eher schul­ter­zu­ckend zurückzulassen. Seinen Nachnamen ererbt er nicht um­sonst von Oscar Wildes Dorian Gray, der auch noch, als sei es nicht auch ohne das deutlich genug, seine einzige moderne Lektüre darstellt. Wenn Fielding überhaupt einer Moral folgt, ist es die seiner Egozentrik; die wohl als Folie gedachte Antike, die sich in Grays Interesse für die antike Literatur widerspiegelt, hätte ihn für seine Indifferenz aber ebenso verurteilt wie seine Zeitgenossen.

Nicht alle Teile des Romans sind gleich gelungen; besonders die Dialoge sind eher schwach und erscheinen gekünstelt. Insbesondere dort, wo direkt über Moral gesprochen wird, sind sie flach und ermangeln der nötigen Reflexion. Aber das mag auch Absicht des Erzählers sein, um seine Verachtung für das moralisierende Geschwätz seiner Mitmenschen auszustellen.

Alles in allem ein Roman, der aus der Dutzendware des Jahrhunderts heraussticht, aber sicherlich nur auf seiner Position im Gesamtzyklus angemessen beurteilt werden kann.

Wird fortgesetzt …

Simon Raven: Fielding Gray. Aus dem Englischen übersetzt von Sabine Franke. Berlin: Elfenbein, 22020. Bedruckter Pappband, Fadenheftung, Lesebändchen, 262 Seiten. 22,– €.

Anthony Powell: A Question of Upbringing / Eine Frage der Erziehung

Human relationships flourish and decay, quickly and silently, so that those concerned scarcely know how brittle, or how inflexible, the ties that bind them have become.

Ein etwas ziellos und anekdotisch erzählter Roman, der den Auftakt eines Zyklus von 12 Romanen bildet, die mit zusammen etwa 3.000 Seiten zwischen 1951 und 1975 erschienen sind. Powell ist in Groß­bri­tan­nien ein bekannter Autor mit einer bedeutenden Leserschaft, konnte sich aber bislang in Deutschland nur als Geheimtipp durchsetzen. Der Zyklus mit dem Gesamttitel A Dance to the Music of Time ist in­zwi­schen aber komplett übersetzt und bis auf den letzten Band inzwischen auch im Taschenbuch erschienen.

Die Handlung beginnt im Jahr 1921, als der Ich-Erzähler Nicolas Jenkins das letzte Jahr seiner Schullaufbahn hinter sich bringt. Erzählt wird von einem kleinen Freundeskreises von Schülern, der sich im Laufe der Zeit langsam auflöst. Stringham und Templer sind etwas älter als der Erzähler und bilden zusammen mit ihm eine eingeschworene Gemeinschaft. Während Templer die Schule früher verlässt, um in der Finanzwelt Londons eine Stelle anzutreten, treffen sich Stringham und Jenkins nach einer Zwischenzeit, in der Stringham seinen Vater in Kenia besucht und Jenkins in einer französischen Pension seine Sprachkenntnisse verbessert, auf der Universität wieder. Aber auch Stringham verschwindet bald aus dem Blick des Erzählers, als er eine Stelle als Privatsekretär eines Industriellen antritt.

Die Erzählung konzentriert sich wesentlich auf einen kleinen Kreis von Figuren und ihre Beziehungen untereinander: Neben Stringham und Templer ist es der Mitschüler Widmerpool, der hier nur als Nebenfigur auftritt, aber offensichtlich auf eine größere Rolle im Zyklus angelegt ist, ein Onkel von Jenkins – der einzige Verwandte des Erzählers, der einigermaßen prominent vorkommt–, daneben ein Universitätsdozent, die Familien Templers und Stringhams, ein Geschäftsfreund der Templers und noch einige andere, bei denen man nicht absehen kann, welche Rolle sie im weiteren spielen werden. Ansonsten ist der Roman merkwürdig weltarm: Weder bekommt man einen wirklichen Eindruck von den Örtlichkeiten, noch spielen im Schul- oder Universitätsleben irgendwelche akademischen Inhalte eine Rolle. Dass Jenkins etwa Geschichte studiert, erfahren wir nur beiläufig in einem Nebensatz, und es hat auch keinerlei Bedeutung für den Roman.

Ich habe das Buch alternierend im Original und der Übersetzung gelesen. Die deutsche Fassung tut sich etwas schwer mit dem lakonischen und ironischen Ton des Originals, der einem deutschen Leser wahrscheinlich auch etwas blasiert erscheint, doch muss man dem Übersetzer zustimmen, dass es schwierig ist, das im Deutschen adäquat nachzubilden. Wer kann, sollte also zum Original greifen. Einige wenige Passagen sind explizit humoristisch angelegt, aber im Großen und Ganzen lebt der Roman von der staunenden, ein wenig naiven Verwunderung des Erzählers, die die ironische Distanz zum Erzählten herstellt.

Wird fortgesetzt …

Anthony Powell: A Question of Upbringing. In: A Dance to the Music of Time. Vol. 1: Spring. London: Arrow Books, 1997. Kindle eBook, 736 Seiten. 7,66 €.

Anthony Powell: Eine Frage der Erziehung. Aus dem Englischen von Heinz Feldmann. dtv 14594. München: dtv, 22018. Klappenbroschur, 258 Seiten. 10,90 €.

Marguerite Duras: Der Liebhaber

Ich habe nie geschrieben, wenn ich zu schreiben glaubte, ich habe nie geliebt, wenn ich zu lieben glaubte, ich habe nie etwas anderes getan, als zu warten vor verschlossener Tür.

Als Duras Un barrage contre le Pacifique schrieb, war sie 35 Jahre alt; Der Liebhaber entsteht 35 Jahre später. Diese Erzählung überschreibt teilweise den Text des früheren Romans, setzt andererseits seine Kenntnis voraus, um die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse der Familie der Erzählerin vollständig verstehen zu können. Auch im Alter von 70 Jahren beschäftigt sich die Autorin noch mit den Jahren ihrer Pubertät, ihrer ersten Erfahrung der Sexualität, den Jahren, als sie ihrer zerrütteten Familie – der psychisch labilen Mutter und dem drogen- und spielsüchtigen Bruder – noch ausgeliefert war. Sie erinnert sich zurück an den frühen Tod ihres geliebten anderen Bruders, an ihre Trennung von dieser Familie, die natürlich nie eine endgültige sein konnte.

Der unglückliche Liebhaber Herr Jo aus Un barrage … wird hier zu einem chinesischen Liebhaber, der die Erzählerin auf ihrem Weg ins Internat bei einer Querung des Mekong auf einer Fähre anspricht. Er kennt ihre Mutter, die eine Schule in der Provinz leitet, und lädt die 15½-Jährige in seinen Wagen ein, um sie nach Saigon zum Internat zu bringen. Die Erzählerin lässt sich im Folgenden ohne jeglichen Widerstand auf eine sexuelle Affäre mit dem Chinesen ein. Beide führen sie anderthalb Jahre mit großer Leidenschaft fort, bis die Erzählerin nach Frankreich geschickt wird, um dort das Abitur zu machen.

Neben diesem zentralen Motiv schildert der Text eine neue Fassung der Familiengeschichte, diesmal mit beiden Brüdern der Autorin, mit einer Mutter, die als Lehrerin etabliert ist, die sich für ihre Tochter einsetzt und deren Freizügigkeit gegen die Institution des Internats verteidigt, wenn sie auch die Beziehung ihrer Tochter zum dem älteren und noch dazu von ihr rassistisch verachteten Mann nicht billigt.

Es kann nicht verwundern, dass sich der Stil der Autorin nach 35 Jahren deutlich verändert hat. Die Unmittelbarkeit der früheren Erzählung wurde abgelöst von einer reflektierten, von zahlreichen Erinnerungen aus verschiedenen Zeit ihres Lebens überschriebenen Erzählweise, die es am Ende aber auch nicht vermeidet, die autobiographische Erinnerung erneut literarisch zu überschreiben.

Eine für ihre Länge (der Text dürfte wohl knapp 100 normale Buchseiten füllen, wird aber vom Verlag in Großdruck-Manier auf das Doppelte aufgeblasen) erstaunlich inhaltsreiche und komplexe Erzählung, die die lebenslange Obsession der Autorin mit den Erfahrungen und Traumata ihrer Pubertätsjahre dokumentiert. Allerdings ist auch hiermit nicht ihr letztes Wort in dieser Sache gesprochen: Unter dem Eindruck der Verfilmung ihrer Erzählung überschreibt sie auch diesen Text sieben Jahre später unter dem Titel Der Liebhaber aus Nordchina. Ich werde auch diese Fassung bei Gelegenheit hier besprechen.

Marguerite Duras: Der Liebhaber. Aus dem Französischen von Ilma Rakusa. st 1629. Berlin: Suhrkamp, 212018. Broschur, 194 Seiten. 8,– €.

Marguerite Duras: Heiße Küste

Seit dem Einsturz der Dämme und seit sie Joseph nicht mehr schlug, schlug die Mutter Suzanne viel öfter als vorher. »Wenn sie niemand mehr hat, dem sie Prügel austeilen kann«, sagte Joseph, »wird sie sich selbst in die Fresse hauen.«

Ich muss gestehen, dass ich erst durch eine ARTE-Dokumentation auf Marguerite Duras gestoßen wurde. Sicherlich war sie mir dem Namen nach bekannt, aber ich hatte kaum eine Vorstellung von ihrer Literatur. Wahr­schein­lich hat auch der deutsche Titel ihres be­rühm­tes­ten Werks, das im Original Un barrage contre le Pacifique (Ein Damm gegen den Pazifik) heißt, dazu beigetragen, der mit Heiße Küste denkbar nichtssagend daherkommt. Erst die Do­ku­men­ta­tion machte mir die Bedeutung dieses Bu­ches in der Diskussion des Kolonialismus in Frankreich deutlich. Duras, so darf man wohl sagen, war allein dafür verantwortlich, dass sich ein bedeutender Teil der französischen Be­völ­ke­rung im Jahr 1950 erstmals kritisch mit den Zuständen in den Kolonien, insbesondere in Französisch-Indochina auseinandergesetzt hat.

Duras wurde 1914 in der Nähe von Saigon geboren; ihr Roman spielt wohl Anfang der 30er-Jahre an der Pazifikküste Kambodschas. Im Zentrum steht eine Familie, die aus einer namenlosen Mutter, dem 20-jährigen Sohn Joseph und der 17-jährigen Tochter Suzanne besteht. Die Mutter ist in Frankreich aufgewachsen und als junge Lehrerin zusammen mit ihrem Mann in die Kolonie ausgewandert. Nachdem ihr Mann gestorben ist, hat sie ihre Familie mit Klavierspielen und -unterricht über Wasser gehalten; sie war sogar in der Lage, soviel zu sparen, dass sie eine Konzession auf eine Farm erwerben konnte, auf der die Familie nun lebt. Leider erweist sich der Großteil des erworbenen Landes als unbebaubar, da es jährlich vom Pazifik überflutet wird. Nachdem sich die Mutter vergeblich beim zuständigen Katasteramt beschwert hat, organisiert sie zusammen mit einheimischen Bauern den Bau eines Dammes gegen den Pazifik, der aber schon im ersten Jahr unterspült wird und zusammenbricht. Seitdem lebt die Familie in ärmlichen Verhältnissen auf der mit Hypotheken belasteten Farm. Die Hoffnung darauf, noch einmal einen kräftigeren Damm errichten und damit doch noch über die überwältigende Natur siegen zu können, ist es, was die offenbar herzkranke Mutter am Leben hält.

Den eigentlichen Erzählanlass bildet eine in diese Verhältnisse einschneidende Änderung: Beim Besuch im nächsten Dorf fällt Suzanne dem Sohn eines reichen Kaufmanns und Kautschuk-Farmers aus dem Norden des Landes auf, dessen Ziel es über die nächsten 100 Seiten ist, mit Suzanne zu schlafen, was nicht nur durch Suzannes Gleichgültigkeit ihm gegenüber verhindert wird, sondern auch durch die Mutter, die ihre Tochter mit diesem Herrn Jo zu verheiraten und damit ihre Familie aus der Krise zu retten gedenkt. Herr Jo ist sich aber darüber im Klaren, dass sein Vater einer Hochzeit mit Suzanne niemals zustimmen würde, doch kann er sich von seiner Begierde nach dem Mädchen nicht losmachen und ist am Ende so von seiner Leidenschaft regiert, dass er Suzanne einen Diamantring seiner Mutter schenkt, der – wenigstens seiner Aussage nach – 20.000 Francs wert sein soll. Kurz nachdem sie diesen Ring geschenkt bekommen hat, teilt Suzanne Herrn Jo denkbar trocken mit, dass seine Besuche nicht weiter erwünscht seien.

Der Anfang des zweiten Teils des Romans spielt in der nächstgelegenen Provinzstadt – vielleicht Kampot –, wo die Mutter versucht, den Ring für den ihr genannten Preis zu verkaufen. Der Diamant weist allerdings einen Einschluss auf, so dass die Händler nur etwa die Hälfte des Preises zu zahlen bereit sind. Für die Mutter aber liegt in den 20.000 Franc die Hoffnung auf die Fortsetzung ihres Damm-Projektes, so dass sie zu keinem niedrigeren Preis verkaufen will. Während sie von Händler zu Händler läuft, beginnt Joseph eine leidenschaftliche Affäre mit einer verheirateten Frau, während Suzanne durch die Oberstadt streift und das Kino besucht. Am Ende gelingt es Joseph nicht nur, den Ring zum Wunschpreis an seine Geliebte zu verkaufen, er findet ihn zu seiner eigenen Überraschung auch in seiner Jackentasche wieder, als er mit Mutter und Schwester zur Farm zurückkehrt. Die Mutter hat das gerade erworbene Geld zur Tilgung eines Teils ihrer Schulden zur Bank getragen, muss dort aber feststellen, dass ein Großteil des Geldes von den aufgelaufenen Zinsen aufgefressen wird und sie von der Bank keinerlei neuerlichen Kredit erwarten darf. Mit der Rückkehr zur Farm beginnt der letzte und destruktivste Teil des Buches; aber das soll jede und jeder selbst lesen.

Das Buch ist tief getränkt von den persönlichen Erfahrungen der Autorin, erschöpft sich aber durchaus nicht in dieser autobiographischen Ebene. Im Gegenteil erweist sich das Projekt der Mutter als zentrale Allegorie des Textes, sie selbst als die eigentlich bestimmenden Figur, wenn auch nahezu gleichgewichtig die Coming-of-age-Geschichte Suzannes erzählt wird. Selbst an den Stellen, an denen die Fiktion nicht wirklich trägt – so etwa wenn Joseph Suzanne von seiner Affäre erzählt – ist der Stoff des Romans immer überzeugend und ursprünglich. Er lebt nicht nur von den zerrütteten Verhältnissen der Familie, sondern auch von der Schilderung der gesellschaftlichen Strukturen der Kolonie sowie der Armut und des Elends der einheimischen Bevölkerung. Ein in hohem Grad authentisches und zugleich literarisches Buch, wie man es nur selten findet.

Marguerite Duras: Heiße Küste. Aus dem Französischen von Georg Goyert. st 1581. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 62009. Broschur, 281 Seiten. 4,95 €.

William Goldman: The Princess Bride / Die Brautprinzessin

“Hello,” he said. “My name is Inigo Montoya. You killed my father. Prepare to die.”

Es war die gekürzte Fassung von Zettel’s Traum die mich wieder an dieses nette Buch von William Goldman hat denken lassen. Goldman war einer der gefeierten Drehbuch-Autoren Hollywoods – Butch Cassidy and the Sundance Kid, The Stepford Wives, Marathon Man, All the Presidents Men und und und –, aber auch ein erfolgreicher Romanautor, wobei The Princess Bride erst so richtig Erfolg hatte, nachdem es 1987 verfilmt worden war (14 Jahre nach seiner Veröffentlichung; wobei auch der Film seine Anlaufschwierigkeiten hatte und erst im Video-Verkauf zu dem Klassiker wurde, der er heute – zumindest in den USA – ist). Wer allerdings nur den Film kennt, dem entgeht wenigstens eine wichtige Pointe des Buchs.

Das Buch enthält im Kern eine in einem tief ironischen Grundton verfasste Geschichte von „wahrer Liebe und edlen Abenteuern“, wie der Untertitel sagt, verfasst von dem fiktiven florinesischen Autor S. Morgenstern. Goldman zieht alle Register des Genres von märchenhafter Liebe zwischen der schönsten Frau der Welt, Buttercup, der Tochter einfacher Bauern und dem heldenhaftesten Stallburschen Westley, der sogar den eignen Tod überwindet, um seine Liebe den Klauen des bösen Prinzen Humperdinck zu entreißen. Goldman selbst tritt nur als Herausgeber und Bearbeiter dieses Textes auf, den er selbst, obwohl er sein Initiationserlebnis in Sachen Literatur war, nie gelesen hat. Sein Vater hatte ihm das Buch vorgelesen als Goldman als Kind krank ans Bett gefesselt war und damit überhaupt erst seine Liebe zur Literatur geweckt. Nun feiert Goldmans Sohn Jason seinen zehnten Geburtstag und soll The Princess Bride unbedingt als Geschenk erhalten. Da sich Goldman aber gerade an der Westküste der USA aufhält, kostet es ihn einige Mühe, ein antiquarisches Exemplar des Buches aufzutreiben und rechtzeitig nach Hause liefern zu lassen. Als er einige Tage später heimkehrt, muss er leider feststellen, dass Jason bereits am zweiten Kapitel des geliebten Buches gescheitert ist.

Daraufhin nimmt Goldman das Buch zum ersten Mal selbst in die Hand und stellt fest, dass es ganz und gar nicht seiner Erinnerung entspricht. Zwar ist der Abenteuerroman, den ihm sein Vater vorgelesen hat, durchaus Teil des Textes, doch ist er überlagert vom einem satirischen Roman, der sich kritisch mit Gegenwart und Vergangenheit Florins auseinandersetzt; Goldmans Vater hatte diese Stellen – immerhin etwa 70 % des Originals – beim Vorlesen einfach weggelassen. Aus dieser Einsicht heraus entsteht nun der Gedanke, den Roman auf die “good parts” (die im Deutschen zu den „spannenden Teilen“ werden) zu­sam­men­zu­strei­chen; die unspannenden Teile werden durch resümierende Texte Goldmans eingeholt.

Die deutsche Übersetzung durch Wolfgang Krege ist gut gelungen – wenn mir persönlich Kreges Deutsch auch oft zu lax ist – und trifft den Humor und den Geist des Buches. Sie ist inzwischen sogar ergänzt worden, nachdem Goldman zum 25. Jahrestag des Buches eine erweiterte Ausgabe herausgebracht hat, die zum einen eine zusätzlich Einführung enthält (die in der Hauptsache anekdotisch die lange Entwicklung bis zur Verfilmung nacherzählt) und ein weiteres Kapitel aus Morgensterns angeblicher Fortsetzung des Romans Buttercup’s Baby. Da der Roman ursprünglich ein offenes Ende hatte, reagierte Goldman hier sicherlich auf zahlreiche Proteste seiner Leser darüber, dass er das Buch mit einem Cliffhanger habe enden lassen. Das zusätzliche Kapitel führt das alte offene Ende mit einer ganzen Reihe aussichtsloser Situationen weiter, womit sich der Autor natürlich nur über den potenziell end- und formlosen Charakter des Genres lustig macht.

Alles in allem ein unterhaltsamer, intelligenter und witziger Roman, der sich selbst nicht ernst nimmt und den man gut an einem verregneten Wochenende konsumieren kann. Es ist nicht unbedingt nötig, die erweiterte Fassung zu lesen; auch die ältere deutsche Übersetzung tut es ganz gut. Von einer zweiten Lektüre würde ich jetzt aber abraten: Dafür ist das Buch dann doch nicht gut genug.

The Princess Bride. S. Morgenstern’s Classic Tale of True Love and High Adventure. The “Good Parts” Version abridged by William Goldman. 25th Anniversary Edition. London / New Delhi / New York / Sydney: Bloomsbury, 1998. Kindle-Edition, 2013. 400 Seiten. 5,13 €.

Die Brautprinzessin. S. Morgensterns klassische Erzählung von wahrer Liebe und edlen Abenteuern. Die Ausgabe der „spannenden Teile“. Gekürzt und bearbeitet von William Goldman. Aus dem Amerikanischen von Wolfgang Krege. Stuttgart: Cotta, 1977. Lizenzausgabe: Frankfurt/M.: Büchergilde Gutenberg, 1995. Pappband, 324 Seiten. Nicht mehr lieferbar.

Die Übersetzung der erweiterten Ausgabe ist als Taschenbuch lieferbar.

Arno Schmidts Zettel’s Traum. Ein Lesebuch

Vor 50 Jahren erschien eines der erstaunlichsten Bücher, die die Welt je gesehen hat: Zettel’s Traum von Arno Schmidt. Das Buch war mit 1335 DIN A3 großen Seiten nicht nur ungewöhnlich umfangreich, sondern der Text war auch nicht gesetzt worden; stattdessen bekam der Leser eine Reproduktion des Typoskripts des Autors inklusive Streichungen und handschriftlichen Korrekturen. Blätterte man in das Buch hinein, machten die meisten Seiten einen recht unordentlichen Eindruck: Der Text sprang von einem Rand der Seite zu anderen, um ihn herum fanden sich zusätzliche kleine Textblöcke, die sich mal besser mal schlechter auf den breiten Haupttext beziehen ließen; hier und da waren offenbar Bildchen gezeichnet oder auch eingeklebt worden. Die erste Textseite war für die allermeisten Leser schlicht unverständlich; danach wurde es zwar ein wenig besser, aber immer wieder wurde der Text von gänzlich unverständlichen Passagen unterbrochen oder von Szenen, die so phantastisch waren, dass sie in einem schroffen Gegensatz zu den realistischeren Teilen des Buches standen.

Trotz alle dem war das Buch am Tag seines Erscheinens mit allen seinen 2000 Exemplaren (alle nummeriert und vom Autor signiert) beim Verlag verkauft und innerhalb von zwei Monaten im Buchhandel vergriffen. Bei einem Preis von 295,– Deutschen Mark – so hieß das Geld damals –, einem unerhörten Betrag für einen Roman – dürfte es nur hier und da tatsächlich für den Zweck der Lektüre gekauft worden sein, sondern viel öfter als Spekulationsobjekt oder als Kuriosum, das man sonntags seinen Gästen zum gemeinsamen Kopfschütteln vorführen konnte. Das Buch war bei seinem Erscheinen ein Gerücht; es ist es bis heute geblieben.

Doch inzwischen hat sich die Lage wenigstens äußerlich geändert. Die Arno Schmidt Stiftung hat die Mammut-Aufgabe bewältigt, das unförmige Typoskript in ein gesetztes Buch zu verwandeln, was ihm ein wenig von seinem Schrecken nimmt. Und nun ist man noch einen Schritt weitergegangen und hat ein Lesebuch zu Zettel’s Traum herausgebracht, das beinahe wie ein normales Buch daherkommt, wenigstens wie ein normales Buch von Arno Schmidt, die ja auch vor Zettel’s Traum schon eine Sache für sich waren. Das Ziel, so Herausgeber Bernd Rauschenbach, sei es „– natürlich – Leser [zu] werben“. Es solle der Grad der Unlesbarkeit des Buches reduziert werden, in dem man die eher traditionellen, erzählenden Teile aus dem Buch extrahiert und – vermittelt durch Zwischentexte von Susanne Fischer – zu einer fortlaufenden Handlung zusammenstellt. Rauschenbach bezieht sich in seinem Vorwort als Vorbild auf Anthony Burgess’ A Shorter Finnegans Wake, das mit einem ähnlichen Ziel die 628 Seiten von Joyces Roman auf zugänglichere 278 Seiten reduziert hatte. Schauen wir, was das Lesebuch aus Zettel’s Traum macht:

Es sind für die Bargfelder Ausgabe und das Lesebuch jeweils die erste Seitenzahl und die Anzahl der Seiten für jedes der acht Bücher von Zettel’s Traum angegeben sowie das prozentuale Verhältnis zwischen der Anzahl der Seiten in beiden Büchern. Es kommt hinzu, dass die Seiten aus Zettel’s Traum ungleich mehr Text enthalten als die des Lesebuchs.

Im i. Buch der acht Bücher von Zettel’s Traum ist noch gut die Hälfte des Textes erhalten geblieben, was daran liegt, dass Schmidt hier die Exposition seines Textes liefern muss und sich die später dann massiv in den Vordergrund schiebenden eher essayistischen Teile noch in Grenzen halten. Im Gegensatz dazu sind aus den umfangreichen letzten drei Büchern nur noch weniger als 10 % ins Lesebuch übernommen worden; alles in allem präsentiert das Lesebuch nur 13 % des Textes von Zettel’s Traum. Vielleicht fragt sich dann doch die eine oder der andere, was denn in den restlichen 87 % des Textes stehen mag und warum man sie weggelassen hat.

Und genau in diesen 87 % findet sich das eigentliche Problem von Zettel’s Traum.

Von den drei langweiligsten Werken der deutschen Literatur ist „Zettels Traum“ unleugbar eines (die anderen sind ja Klopstocks „Messias“ und „Das Glasperlenspiel“ von Hesse); dies mag festgehalten werden, auch wenn ‚Langweiligkeit‘ weit vom Status einer philologischen Kategorie entfernt bleibt. Jene Langeweile, die vielleicht jede Großleistung verbreitet – ein sich Stunden um Stunden hinziehender Marathonlauf etwa –, geht auch von Schmidts kaum zu bewältigendem Opus aus, und die Vermutung, irgendwann einmal könnte irgendwer eine Kurzfassung des Romans zusammenstreichen – à la „Das Schönste aus Zettels Traum“ […] – ist gewiß nicht abenteuerlich.

Das hat Michael Schneider im Juli 1982 im Bargelder Boten prophezeit, dem Zentralorgan der Schmidt-Forschung, und er hat auch gleich den Grund dafür genannt: Zettel’s Traum ist ein ungeheurer langes und ungeheuerlich langweiliges Buch. Jeder, der William Goldmans Die Brautprinzessin kennt, mag unwillkürlich an den den hübschen Untertitel dieses Buches denken: „S. Morgensterns klassische Erzählung von wahrer Liebe und edlen Abenteuern. Die Ausgabe der ‚spannenden Teile‘“. Doch davon soll ein anderes Mal erzählt werden.

Auch Dieter E. Zimmer hatte früh Bedenken:

»Groß« ist das Buch auf jeden Fall. Es könnte schon sein, daß in Zettel’s Traum das literarische Meisterwerk des Jahrhunderts steckt; es könnte sein, daß es sich um eine Art Streichholzeiffelturm in Originalgröße handelt, von einem Hobby-Berserker um den Preis seines Lebens erstellt. Vielleicht ist es auch beides.

Wenn wir ehrlich sind, sind wir über diese Einschätzung bislang nicht wesentlich hinausgekommen. Schließen wir das Bashing mit einem Zitat des Autors selbst ab:

Es ist ein schreckliches Buch. Aber ich mußte es schreiben. Und ein solches Buch mußte einmal geschrieben werden.

Mag sein, das Lesebuch ist tatsächlich eine sich annähernde Teil-Lösung für das Problem Zettel’s Traum: Es liefert einen lesbaren, witzigen und durchaus gelungenen späten Roman Arno Schmidts. Aber es ist zugleich auch ein großer Schritt hin zu dem Eingeständnis, dass Zettel’s Traum ein missglücktes Buch ist, eines, in dem der nun gehobene Roman untergegangen ist, der nur unter Opferung alles übrigen gerettet werden kann. Ich wenigstens mag niemandem, der sich nicht vorgenommen hat, Arno Schmidt ganz und gar kennen zu wollen, wie man einen Autor überhaupt nur kennen kann, raten, seine Zeit mit der Lektüre von Zettel’s Traum zu verschwenden. Es ist schlimm genug, dass der Autor es getan hat.

Zum Lesebuch aber kann ich getrost allen raten, die sich an Zettel’s Traum nicht heranwagen und doch noch einmal einen Roman Arno Schmidts entdecken möchten. An der einen oder anderen Stelle wird man immer noch einfädeln, aber diese Stellen gibt es in allen Büchern Schmidts. Da sollte man es machen wie immer: Einfach weiterlesen!

Arno Schmidts Zettel’s Traum. Ein Lesebuch. Hg. v. Bernd Rauschenbach. Mit Texten von Susanne Fischer. Berlin: Suhrkamp, 2020. Klappenbroschur, Fadenheftung, 254 Seiten. 25,– €.

Michail Bulgakow: Aufzeichnungen eines Toten / Theaterroman

»Ich bin neu«, schrie ich, »ich bin neu! Ich bin unvermeidlich, ich bin angekommen!«

Die Aufzeichnungen eines Toten, die auch unter dem Titel Theaterroman veröffentlicht wurden, sind Bulgakows letzter, unvollendet gebliebener Roman, der in den Jahren 1929 begonnen und 1936/1937 überarbeitet wurde. Bücher, die das Wort Aufzeichnung im Titel tragen, haben in Russland eine lange Tradition der au­to­bio­gra­phi­schen oder wenigstens nah an wirklichen Ereignissen geführten Erzählung. Bulgakow spielt ganz bewusst mit dieser Einordnung, wenn er dem Roman das Vorwort eines fiktiven Herausgebers voranstellt, das nicht nur vom Freitod des Ich-Erzählers Sergej Leontjewitsch Maksudow berichtet, sondern auch betont, dass dessen Darstellung des Theaters in diesen Aufzeichnung vollkommen unrealistisch sei.

Der Roman ist offensichtlich eine satirisch über­spitz­te Verarbeitung von Bulgakows eigenen Erfahrungen als Theaterautor. Der Ich-Erzähler, der seinen Lebensunterhalt als Redakteur einer Dampf­schiff­fahrts-­Zeit­schrift verdient hat, schreibt aus einem plötzlichen Impuls heraus einen Roman, den er dann vergeblich einem Verleger anzubieten sucht. Er kommt durch seine Suche auch in Kontakt mit anderen Moskauer Schriftstellern, die seinen Roman zwar unterschiedlich bewerten, sich aber darüber einig sind, dass er von der Zensur niemals zum Druck zugelassen werden wird. Eines Tages aber wird Maksudow von einem me­phi­sto­phe­lisch erscheinenden Mann aufgesucht, der ihm anbietet, das erste Drittel des Romans in einer Zeitschrift drucken zu lassen. Entgegen aller Wahr­schein­lich­keit kommt es zu dieser Publikation, die wiederum dazu führt, dass Maksudow von einem Regisseur des „Unabhängigen Theaters“ angeschrieben wird, der den Roman als Theaterstück inszenieren will.

Dies alles ist nur das Vorspiel zur eigentlichen Handlung, die in ihrem ersten Teil die Erstellung des Stückes und zugleich dessen Gang durch die diversen Institutionen des Theaters schildert. Der erste Teil endet damit, dass Maksudow als Theaterautor komplett gescheitert zu sein scheint: Sein naives Verhalten gegenüber einem der beiden Direktoren des Theaters, seine Unkenntnis der Machtverhältnisse im Establishment der Schauspieler und seine voreilige Unterschrift unter einen Vertrag mit dem Theater führen dazu, dass sein Stück weder am Unabhängigen Theater noch sonst irgendwo in Moskau gespielt werden soll.

Der zweite Teil des Romans, von dem leider nur ein und ein halbes Kapitel existieren, beginnt mit der wundersamen Nachricht, dass es einem der Regisseure des Theaters trotz allem gelungen ist, dass Stück wieder auf den Spielplan setzen zu lassen. Es beginnt nun eine Farce von Proben unter dem Direktor, der zuvor das Stück verhindert hatte. Leider bricht der Text mitten in der absurden Zuspitzung dieser methodischen Proben ab, die zwar der Theatertheorie des Direktors entsprechen, mit dem Stück aber nur am Rande etwas zu tun haben.

Der Roman nimmt nach einem etwas verhaltenen Anfang deutlich Fahrt auf und kann – auch in seiner fragmentarischen Form – als eine große Satire nicht nur auf den sowjetischen, sondern auf den Theaterbetrieb schlechthin gelesen werden. Ich bin durch den Hinweis Boris Strugatzkis auf ihn gestoßen, der ihn, neben Der Meister und Margarita, als wichtiges Vorbild für Das lahme Schicksal nennt. Es ist nun wirklich an der Zeit, mehr von Bulgakow zu lesen.

Michail Bulgakow: Aufzeichnungen eines Toten. Theaterroman. Aus dem Russischen von Thomas Reschke. München: Luchterhand, 2005. Kindle eBook. 193 Seiten (Buchausgabe). 8,99 €.

Robert Walser: Fritz Kocher’s Aufsätze

Weihnachten? O! Das wird den schlechtesten Aufsatz geben; denn über etwas so Süßes kann man nur schlecht schreiben.

Anlässlich des Erscheinens dieses kleinen Büchleins möchte ich auf die Berner Ausgabe der Werke Robert Walsers hinweisen, die – in weitgehender Stille – vor zwei Jahren mit zwei Briefbänden und einem zugehörigen Kommentarband begonnen wurde und inzwischen bei acht, zumeist schmalen Bändchen angekommen ist. Insgesamt soll sie einmal 31 Bände umfassen; einen vollständigen Editionsplan habe ich allerdings nicht finden können. Heuer sind zwei Bände dazugekommen, darunter eben auch eine Neuausgabe der ersten Buchs von Robert Walser: Fritz Kocher’s Aufsätze (Insel, 1904). Der dünne Band ist für alle, die Robert Walser kennenlernen wollen, ein nahezu idealer Einstieg.

Walser hat mit dem Verlag lange um sein erstes Buch ringen müssen, bis Insel sich dazu entschließen konnte, diesem sehr eigenwilligen Autor eine Chance zu geben. (Der Verlag sollte mit seiner Skepsis vorerst recht behalten: Das Buch verkaufte sich miserabel.) Die titelgebenden Aufsätze sind vorgebliche Schulaufsätze – Walser hatte in seiner Schulzeit tatsächlich einen Mitschüler mit dem Namen Fritz Kocher –, gehalten in einer naiven, jungenhaften Weltsicht und einem manieristischen Stil, der wohl zu Recht Abiturientenprosa genannt werden darf. Themen sind die für die Schulzeit vieler Generationen üblichen: Der Mensch, Der Herbst, Die Schule, Der Beruf, Meine Stadt und was dergleichen mehr ist. Überall findet sich Walsers luzides Spiel mit der Rolle des schreibenden Schülers, der die Dinge aus seiner mangelnden Lebenserfahrung heraus notwendig falsch und doch immer ein wenig richtiger sieht, als es der Lehrer Leser erwartet. Es wundert daher nicht, dass der Lehrer offenbar gleich den ersten Aufsatz mit der Anmerkung „Stil erbärmlich“ versehen hat.

Es ist ein stilles, leicht melancholisches und zugleich sehr witziges Buch, das Walser hier geschrieben hat, und es weist schon auf seine späteren, stilistisch schlichten und zugleich schillernden Meisterwerke voraus. Noch einmal: Wer neugierig auf Walser ist, findet hier eine gute Gelegenheit. Zudem bekommt man noch die Illustrationen der Erstausgabe von Roberts Bruder Karl, ein kluges Nachwort und Erläuterungen mitgeliefert. Und wer daran Spaß gefunden hat, kann in derselben Ausgabe auch gleich noch Der Gehülfe lesen.

Robert Walser: Fritz Kocher’s Aufsätze. Berner Ausgabe. Werke Band 4. Hg. von Dominik Müller und Peter Utz. Berlin: Suhrkamp, 2020. Broschur, 180 Seiten. 22,– €.

Rüdiger Zill: Der absolute Leser

Zwischen Rom und Kairo liegt das Mittelmeer, das langsam durchfahren wird.

Zum 100. Geburtstag des Philosophen Hans Blumenberg legt sein von ihm hass-geliebter Verlag „Ein intellektuelle Biographie“ [sic!] – wie der Untertitel auf dem Titelblatt lautet – vor. Autor ist der ausgewiesene Blumenberg-Kenner und Herausgeber des Nachlasses Rüdiger Zill. Bei den meisten Philosophen, so auch bei Blumenberg, ist das Verfassen einer Biographie eine vertrackte Sache, da sie in der Regel kaum genug äußerliches Leben von Interesse vorweisen können – auch Zill kommt nicht umhin, den bekannten Heidegger-Witz „Aristoteles wurde geboren, arbeitete und starb.“ herbeizuzitieren –, um damit ein Buch von ansehnlichem Umfang zu füllen. Dennoch gelingt Zill das Kunststück, eine umfangreiche, exzellent lesbare und zumindest für jemandem vom Fach interessante und eingängige Lebensbeschreibung zu liefern.

Zills Text ist in drei große Abschnitte eingeteilt: Leben – Schreiben und Publizieren – Entwicklung des Gedankens. Auch im ersten Abschnitt finden sich lange Passagen, die der Analyse einzelner Schriften oder der Genese bestimmter Themenkomplexe in Blumenbergs Denken gewidmet sind; man darf diese Einteilung also nicht zu streng auffassen. So findet sich zum Beispiel eine erstaunliche breite Erörterung von Blumenbergs Abiturrede – die er nicht persönlich halten durfte, da er als Sohn einer Jüdin fortgesetzt Repressionen ausgesetzt war – oder auch eines frühen Aufsatzes über Hans Carossa – der von Zill vollständig richtig als eine Art von Hermann Hesse der 20er und 30er Jahre eingeordnet wird –, die deutlich machen, wie sehr es in jeder Periode von Blumenbergs Leben an Äußerlichkeiten mangelt. So finden sich dann leider auch nach dem Eintritt Blumenbergs in den lehrenden Teil der akademischen Welt weite Teile, die mit der Darstellung von Streitereien und Intrigen, vermeintlichen Beleidigungen und übertriebenen Empfindlichkeiten gefüllt sind, die den nicht akademisch Involvierten einmal mehr von der Albernheit dieses ganzen Betriebes überzeugt, der sich vorgeblich auf der Suche nach der Wahrheit befindet.

Dessen ungeachtet zeigt sich überall Zills Kennerschaft nicht nur der Schriften Blumenbergs, sondern auch der gesamten Geschichte der westdeutschen akademischen Philosophie der Nachkriegszeit. Er weiß alle Akteure mit großer Sicherheit einzuordnen und zu charakterisieren. Bei aller Sympathie für Blumenberg verliert er nicht die Objektivität und kann die Schwierigkeiten im Umgang mit Blumenberg, der immer dazu neigte, divergierende Interessen oder auch nur Nachlässigkeit seines Gegenübers als persönlich gegen ihn gerichteten Affront aufzufassen, durchaus richtig einschätzen.

Der dritte Abschnitt zeichnet Blumenbergs philosophische Entwicklung nach, wofür vier Aufsätze des Philosophen zum Anlass genommen werden, in denen er sich im Abstand von jeweils ungefähr zehn Jahren Gedanken über die Aufgaben und den Sinn von Philosophie überhaupt macht. Auch hier zeigt sich Zills Kennerschaft in der Aufarbeitung der Traditionslinien, in denen Blumenbergs Denken steht. Überhaupt muss man Zills Versuch Respekt zollen, Blumenbergs breites philosophisches Denken in einigen großen Zügen zu ordnen.

Hans Blumenberg ist einerseits einer der zugänglichsten deutschen Philosophen des 20. Jahrhunderts überhaupt, der mit seinen kurzen und kürzesten Texten (zum Beispiel: Schiffbruch mit Zuschauer, Die Sorge geht über den Fluß, Löwen) intelligent und ohne bedeutenden theoretischen Anspruch zu unterhalten weiß, andererseits gehören seine Metaphorologie, Anthropologie, Wissenschafts- und Begriffsgeschichte mit zum anspruchsvollsten, das in der deutschen Nachkriegsphilosophie entstanden ist. Zills Buch kann eine gute Unterstützung dabei sein, sich von einem zum anderen vorzuarbeiten.

Rüdiger Zill: Der absolute Leser. Hans Blumenberg – Ein[e] intellektuelle Biographie. Berlin: Suhrkamp, 2019. Pappband, Lesebändchen, 816 Seiten. 38,– €.