John Dos Passos: Manhattan Transfer

Gebt mir Freiheit, sprach Patrick Henry und setze am 1. Mai seinen Strohhut auf, oder gebt mir den Tod. Den hat er dann ja gekriegt.

dos-passos-manhattanBei „Manhattan Transfer“ (1925) handelt es sich um einen der frühen, großen Romane, die unter dem unmittelbaren Einfluss des Joyceschen „Ulysses“ (1922) entstanden sind. Daraus ergibt sich sein Status als einer der Gründungstexte der US-amerikanischen Moderne. „Manhattan Transfer“ hat sich für einen anspruchsvollen Avantgarde-Roman außergewöhnlich gut verkauft, was auch erklärt, dass er bereits zwei Jahre nach seinem Erscheinen auf Deutsch vorlag – auch Georg Goyerts Übersetzung des „Ulysses“ erschien übrigens im Jahr 1927.

Nun haben solche raschen Übersetzungen einerseits den Vorteil, dass sie die deutsche Leserschaft darüber auf dem Laufenden halten, was jenseits der Grenzzäune so getrieben wird, andererseits stellen sie an den Übersetzer hohe Ansprüche, denn nicht nur muss er gerade erst im Entstehen begriffene formale Entwicklungen in seiner Sprache nachbilden, sondern er sieht sich auch oft mit der Schwierigkeit konfrontiert, dass er sprachliche Slang-, Alltags- oder Mode-Wendungen nirgends nachschlagen kann und sich aufs Raten oder – wie Baudisch – aufs Weglassen verlegen muss. Andere Produktionshemmnisse mögen hinzugetreten sein.

Wie dem auch immer gewesen sein mag, es kann nur festgestellt werden, dass die Übersetzung von Paul Baudisch, die bislang „Manhattan Transfer“ im Deutschen vertreten musste, ihren Lesern nur ansatzweise einen Eindruck von der Qualität des Originals vermitteln konnte – und das ist noch freundlich formuliert. Schon Kurt Tucholsky fasste 1931 seinen Eindruck von Paul Baudischs Übersetzungen in dem Satz zusammen: „Merkwürdig, aus welchen Händen unsre Übersetzungen kommen!“

Es ist daher nicht nur sehr löblich, sondern es war auch dringend nötig, dass Rowohlt diesen Text hat neu übersetzen lassen. Von Dirk van Gunsteren, der seine Kunst als Übersetzer auch schon an Thomas Pynchon, Philip Roth und T. C. Boyle unter Beweis gestellt hat, liegt nun eine sehr gut lesbare Neuübersetzung  vor, von der ich insgesamt den Eindruck habe, dass sie sich auf der Höhe des Originals bewegt. Auch van Gunsteren trifft einige befremdliche Entscheidungen  – so lässt er zum Beispiel in den meisten Fällen eine dialektale, soziale oder umgangssprachliche Einfärbung der Dialoge einfach weg und verflacht auf diese Weise den Text –, aber der Gesamteindruck seiner Übersetzung ist der Baudischs so weit überlegen, dass sich ein ernsthafter Vergleich verbietet.

Erzählt wird die Geschichte von ungefähr drei oder vier Hauptfiguren, die in der Hauptsache von 1904 bis in die 20er Jahre des 20. Jahrhunderts verfolgt werden: Ellen, später Elaine und noch später Helena Thatcher, Tochter eines Buchhalters, die früh ihre Mutter verloren hat, wird Schauspielerin, heiratet einen ungeliebten Kollegen, verliebt sich in einen jugendlichen Säufer, dann in einen Journalisten, den sie im Ersten Weltkrieg lieben lernt, und endet als unglückliche Ehefrau eines Staatsanwalts. Jimmy Herf stammt aus besseren Verhältnissen, wird aber früh Waise und schlägt sich als Reporter durch. Er lernt Ellen durch eine ihrer Kolleginnen kennen, verliebt sich in sie, kommt ihr aber erst während des Krieges in Europa näher und kehrt 1918 mit ihr als Ehefrau und mit einem kleinen Sohn nach New York zurück. Jimmy ist der einzige, dem es am Ende des Romans gelingt, aus dem Dunstkreis New Yorks und damit vielleicht auch seinem Unglück zu entkommen. George Baldwin ist ein aufstrebender, junger Anwalt mit einer Schwäche fürs schöne Geschlecht. Er macht berufliche Karriere, endet als Bezirksstaatsanwalt und potenzieller Kandidat für das Amt des Bürgermeisters. Auch er verliebt sich leidenschaftlich in Ellen, verliert zwischenzeitlich sogar einmal die Kontrolle über seine Gefühle so weit, dass er versucht sie zu erschießen, und endet, entgegen jeder Wahrscheinlichkeit aber mit Notwendigkeit als ihr letzter, unglücklicher Ehemann. Stanwood Emery ist ein junger, reicher Taugenichts und Ellens große und wahrscheinlich einzige Liebe. Stan ist ein notorischer Säufer, heiratet im Suff versehentlich die falsche Frau und kommt bei einem von ihm selbst verursachten Brand ums Leben.

Um diese Hauptfabel herum entwickelt Dos Passos ein reiches Panorama von Figuren und Geschichten: Bud Korpenning flieht als Mörder vom Land in die Stadt, fristet dort sein Dasein als Tagelöhner und Bettler und springt von einer der Brücken New Yorks in den Tod. Joe Harland war einst der König der Wall Street, hat sich verspekuliert und versäuft sein restliches Leben. James Merivale, ein Cousin Jimmy Herfs, ist ein opportunistischer Schwachkopf, kommt als Kriegsheld aus dem Ersten Weltkrieg und wird ein erfolgreicher Banker, der seine Schwester an einen Hochstapler verheiratet. Congo Jake ist ein französischer Matrose und Barkeeper, der als Alkoholschmuggler reich wird. John Oglethorpe (Ellens erster Ehemann), Ruth Prynne, Nevada Jones und Tony Hunter sind Schauspieler, die nie so recht den Durchbruch schaffen. Gus McNiel und seine Frau Nellie haben Glück im Unglück und machen aus einem Beinbruch eine Karriere. Joey O’Keefe ist ein Spitzel, der sich später für die Veteranen des Krieges engagiert. Dutch Robertson ist einer dieser Veteranen und macht Karriere als Räuber. Anna Cohen ist eine lebenslustige Jüdin, die gern tanzt und sich als Näherin durchschlägt; auch ihr Leben ist letztlich schicksalhaft mit dem Ellens verbandelt. Rosie und Jake Silverman sind ein Betrügerpärchen, dem kein Erfolg beschieden ist. Man könnte diese Aufzählung problemlos weiter treiben.

Alle diese Geschichten, Kleinsterzählungen und Anekdoten werden in kurzen Abschnitten – von einer halben Seite bis zu einigen Seiten Länge – vorangetrieben, die einander nach einem nur scheinbar zufälligen Muster ablösen. Dazwischen finden sich immer wieder rein impressionistische Abschnitte, aber auch kurze Blitzlichter der sozialen und politischen Verhältnisse New Yorks im frühen 20. Jahrhundert. Das korrupte Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften wird thematisiert, das Elend der Arbeitslosen, die Not der ungewollt Schwangeren, die Abschiebung politisch Unerwünschter, all dies und vieles mehr kommt oft nur wie nebenbei, aber dennoch unübersehbar in dem Gesamtbild vor, das der Roman zeichnet.

Der Roman ist mit seinem inhaltlichen und motivischen Reichtum sowie seiner musivischen Form eines der wichtigen Vorbilder für die Entwicklung des Romans im 20. Jahrhundert. Es ist sehr erfreulich, dass dieses wichtige, historische Musterbuch für deutsche Leser endlich in einer angemessenen Übersetzung vorliegt. Jeder und jedem, die an der Entwicklung der literarischen Moderne interessiert sind, sei die Lektüre dieser Neuübersetzung dringend empfohlen.

John Dos Passos: Manhattan Transfer. Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren. Reinbek: Rowohlt, 2016. Pappband, Lesebändchen, 540 Seiten. 24,95 €.

Alfred Andersch: Der Vater eines Mörders

Andersch-Vater

Alfred Andersch ist einer meiner kleineren Hausheiligen. Einige seiner frühen Texte sind ideologisch unnötig deutlich, aber die positive Unbestimmtheit seiner Texte nimmt mit der Zeit erfreulich zu, und mit „Winterspelt“ hat er einen der wichtigen deutschsprachigen Romane des 20. Jahrhunderts geschrieben.

Bei „Der Vater eines Mörders“ handelt es sich um die letzte von sechs Erzählungen, die um den Protagonisten Franz Kien herum erfunden wurden. Bei Franz Kien handelt es sich gemäß dem Bekenntnis des Autors um sein literarisches Alter ego, und die Erzählungen verarbeiten daher direkt autobiographisches Material, persönliche Erinnerungen. In diesem speziellen Fall handelt es sich wesentlich um eine Schulstunde im Jahre 1928, genauer eine Griechisch-Stunde, in der Franz Kien vom Rektor des Wittelsbacher Gymnasiums in München geprüft und für zu faul befunden wird. Diese Stunde bildet deshalb einen Wendepunkt in der Lebensgeschichte Franz Kiens, weil aus ihr sein Verweis vom Gymnasium resultiert, er in eine kaufmännische Lehre wechseln und einer ungewissen Zukunft entgegen gehen muss. Er teilt dies Geschick mit seinem Bruder.

Die eigentliche Ursache der Schulverweise aber liegt woanders: Franz’ Vater, ein Offizier des Ersten Weltkriegs, ist erkrankt und ohne Arbeit und kann daher das Schulgeld für seine Söhne nicht aufbringen. Der Rektor lässt die beiden Brüder aus Einsicht in die Notlage ihres Vaters dennoch das Gymnasium weiterhin besuchen, doch kann eine solche Subvention der Knaben nur durch entsprechende schulische Leistungen gerechtfertigt werden. Da sich beide aber mehr oder weniger durch den Schulbetrieb durchmogeln, erbringt der Rex in der geschilderten Schulstunde den öffentlichen Beweis, dass Franz Kien als Schüler nicht zu halten ist. Insoweit ist die gesamte Stunde eine Inszenierung, eine Vorführung, in der der Schüler Kien seine Rolle zu spielen hat, und er schlägt sich, sieht man von seinen mangelhaften Griechisch-Kenntnissen einmal ab, dabei ganz respektabel.

Ihren für den oben geschilderten Inhalt eher merkwürdigen Titel bezieht die Erzählung aus der Tatsache, dass im Jahr 1928 der Rektor des Wittelbacher Gymnasiums Gebhard (der Vorname kommt bei Andersch nirgends vor) Himmler war, der Vater des späteren Anführers der SS und Massenmörders Heinrich Himmler. In diesem Detail ragt die Erzählung sozusagen in eine Wirklichkeit hinein, deren Fürchterlichkeit in ihr selbst nicht realisiert ist und nicht realisiert werden kann. Das Interessanteste an dem historischen Faktum, dass es Gebhard Himmler war, der entscheidend in Alfred Anderschs Lebenslauf eingegriffen hat, ist aber, dass Andersch sich selbst nicht darüber klar ist, ob und was das eigentlich zu bedeuten hat.

Die Erzählung hat – wie gute Literatur das immer tut – zahlreiche, oft nicht oder nur unzureichend vom Text gedeckte Reaktionen hervorgebracht: Den Anlass dafür, dass ich das Buch nach vielen Jahren wieder zur Hand genommen habe, bilden zwei solche Rezeptionszeugnisse. Das erste entstammt einer kurzen Geschichte der SS:

Dass [Heinrich] Himmler keineswegs – wie Alfred Andersch in seiner bekannten Erzählung Der Vater eines Mörders von 1980 behauptet hat – aus protofaschistischen Verhältnissen kam, hat spätestens Peter Longerich in seiner Biographie von 2008 belegt. Vielmehr war Himmlers Münchner Elternhaus zwar konservativ und streng katholisch, aber bildungs- und nicht kleinbürgerlich.

Bastian Hein: Die SS. Geschichte und Verbrechen. München: C. H. Beck, 2015. S. 15.

Nun ist es einerseits etwas schwierig, dass Andersch in einer Erzählung etwas behauptet haben soll, denn es handelt sich ja eben nicht um einen unmittelbar autobiographischen Text, dem man eventuell mit einigem Recht einen historischen Wahrheitsanspruch unterstellen könnte, sondern um eine Fiktion, die vorerst einmal gar nichts über die Wirklichkeit behauptet, sondern eine Wirklichkeit erfindet. Andererseits verführen uns natürlich der Titel und die von Andersch betonte autobiographische Unterfütterung der sechs Franz-Kien-Erzählungen, diese erfundene Wirklichkeit mit der historischen abzugleichen und sie auf Übereinstimmungen hin zu kontrollieren.

Problematischer aber an dem Zitat von Hein ist, dass selbst wenn man Anderschs Erzählung als autobiographisches Dokument liest, dort nirgends zu finden ist, Heinrich Himmler stamme aus „protofaschistischen Verhältnissen“, was immer das auch sein mag.

Andersch hat die Befürchtung gehabt, dass gerade diese Erzählung eine außergewöhnlich hohe Rate an Missverständnissen hervorbringen würde, und ihr deshalb einen reflektierenden Text mitgegeben, der „Nachwort für Leser“ überschrieben ist. Dort findet sich eine Stelle, in der er explizit über die soziologische Einordnung des Elternhauses von Heinrich Himmler spricht:

Angemerkt sei nur noch, wie des Nachdenkens würdig es doch ist, daß Heinrich Himmler – und dafür liefert meine Erinnerung den Beweis – nicht, wie der Mensch, dessen Hypnose er erlag, im Lumpenproletariat aufgewachsen ist, sondern in einer Familie aus altem, humanistisch fein gebildetem Bürgertum. Schützt Humanismus denn vor gar nichts? Die Frage ist geeignet, einen in Verzweiflung zu stürzen.

Alfred Andersch: Der Vater eines Mörders. Eine Schulgeschichte. detebe 23608. Zürich: Diogenes, 2006. S. 86.

Heins Zitat verweist aber auf eine weitere Auseinandersetzung mit Anderschs Erzählung in der Himmler-Biographie Peter Longerichs. Dabei sollte man Hein nicht dahingehend missverstehen, dass bereits Longerich die Auffassung vertritt, Anderschs Erzählung behaupte, Himmler entstamme „protofaschichstischen Verhältnissen“. Longerichs Biographie liefert Hein bloß die Widerlegung dieser von Andersch nie gemachten Behauptung. Doch Longerich verfügt ersatzweise über ein ganz eigenes Missverständnis. Er fasst die Fabel der Erzählung in gut zehn Zeilen zusammen und beschließt diese Synopse mit folgenden Sätzen:

Nun befiehlt der Rex den Helden der Geschichte, den Andersch Franz Kien genannt hat, an die Tafel und führt nicht nur geradezu genussvoll dessen miserable Griechischkenntnisse vor, sondern macht Kien-Andersch nach allen Regeln der Kunst – zynisch, hämisch, gemein – fertig. […] er muss die Anstalt verlassen.

Peter Longerich: Heinrich Himmler. Biographie. München: Siedler, 2008. S. 17.

Der nicht durch seine eigene Schulerfahrung traumatisierte Leser der Erzählung wundert sich wahrscheinlich über diese Einschätzung des Rex, denn von Zynismus, Häme oder Gemeinheit lässt sich in der Erzählung nichts entdecken. Im Gegenteil lobt der Rektor gleich mehrfach und ohne jegliche Ironie die Intelligenz und Auffassungsgabe Kiens; wenn in dieser Unterrichtsstunde überhaupt jemand fertig gemacht wird, ist es der die Klasse unterrichtende Kandidat Dr. Kandlbinder, den der Rex vor der Klasse scharf dafür zurechtweist, dass es seiner Aufmerksamkeit entgangen ist, dass Franz Kien seit sechs Wochen in seinem Unterricht nicht mehr als gerade einmal das griechische Alphabet gelernt hat. Sicherlich wird Franz’ Unwissen vorgeführt, doch der Grund hierfür ist nicht Zynismus oder Gemeinheit; der Rektor verschafft sich, wie oben bereits gesagt, durch die Inszenierung der Stunde einen Anlass dafür, Franz Kien von der Schule verweisen zu können. Im Widerspruch zu Longerichs Lektüre zeigt der Rex eine außergewöhnliche Sympathie für den Schüler Kien: Er hält ihn für klüger als die meisten seiner Mitschüler, nur eben zu Recht für faul und verwildert. Er nimmt Kiens Antwort, er wolle später Schriftsteller werden, ganz ernst und statt sich über die Ambitionen des Schulversagers lustig zu machen, fragt er ihn, was er denn für Bücher schreiben wolle. Und als Franz antwortet, dass er das noch nicht wisse, hält der Rex das für eine „ganz gescheite Antwort – ich hätte sie dir gar nicht zugetraut“. Natürlich handelt es sich nicht um ein Gespräch auf Augenhöhe, aber das ist bei einer Unterhaltung zwischen einem 14-jährigen Schüler und seinem Rektor und schon gar im Jahr 1928 auch nicht zu erwarten. Doch fertig gemacht wird Franz Kien in der Erzählung keineswegs.

Longerich hätte besser auf eine seiner Quellen hören und den Text Anderschs daraufhin noch einmal lesen sollen:

[Otto] Gritschneder hatte […] als Klassenkamerad neben Andersch gesessen; dieser sei, so seine Auskunft, einfach ein schlechter Schüler gewesen, und seine Schulkarriere am Wittelsbacher Gymnasium sei auf ganz normale Weise beendet worden.

Ebd. S. 18.

Genau das und nichts anderes steht in Anderschs Erzählung.

Die Kunst des genauen Lesens ist zumindest ebenso selten zu finden wie die des guten Schreibens.

Alfred Andersch: Der Vater eines Mörders. Eine Schulgeschichte. detebe 23608. Zürich: Diogenes, 2006. Broschur, 89 Seiten. 8,90 €.

Alois Brandstetter: Altenehrung

Der Zahn der Zeit nagt freilich auch am Denkmalschützer selbst.

Brandstetter AltenehrungDer Österreicher Alois Brandstetter wurde mir im letzten Jahr in Wien empfohlen, als wir dort unter anderem über Schriftsteller wie Thomas Bernhard und Herbert Rosendorfer sprachen. Ich wurde auch gleich mit zwei Romanen Brandstetters ausgestattet, darunter „Altenehrung“ von 1983. Brandstetter war im Hauptberuf Professor für ältere deutsche Literatur an der Universität Klagenfurt, hat aber dennoch ein umfangreiches belletristisches Œuvre vorgelegt. Mir selbst war er bis im letzten Jahr vollkommen unbekannt, woraus ich aber nicht auf seine tatsächliche Bekanntheit schließen möchte; manchmal verpasst man auch einfach etwas. Andererseits könnte Brandstetter auch auf diese Weise ganz gut mit Herbert Rosendorfer zusammenpassen, der bis auf sein One-hit-wonder der „Briefe in die chinesische Vergangenheit“ ebenfalls weitgehend ein Geheimtipp geblieben ist.

„Altenehrung“ (Betonung auf der ersten Silbe) ist die Ich-Erzählung eines alternden Kunsthistorikers, der in Klagenfurt als Denkmalschützer verbeamtet ist. Der Erzählanlass kommt im Buch erst relativ spät zur Sprache: Der Erzähler hat seine berufliche Karriere mit einem anarchischen Akt der öffentlichen Beleidigung seines Vorgesetzten beendet; dies wurde offensichtlich auch von seiner Frau dazu benutzt, ihn zu verlassen, so dass die Erzählung mehr und mehr als der Monolog eines grantelnden Alten erscheint, bis sie ganz zum Schluss eine merkwürdige Wendung ins Offene nimmt. Der Hauptgrund jener Beleidigung ist das Gefühl des Erzählers, bei der Beförderung ungerechterweise übergangen worden zu sein und einen zwar dienstälteren, aber inkompetenten und ungebildeten Kollegen vor die Nase gesetzt bekommen zu haben. Der Erzähler protzt durch den ganzen Text hindurch mit seiner umfangreichen Kenntnis lateinischer Spruchweisheiten – die er in den meisten Fällen aber freundlicherweise für die Leser gleich ins Deutsche übersetzt – und zeigt sich stolz auf seine bedeutendste wissenschaftliche Leistung: eine Sammlung von Inschriften vom Frühmittelalter bis zum 30-jährigen Krieg im Bundesland Kärnten. Schon darin hatte er in einer hinzuerfundenen lateinischen Inschrift eine Schmähung seines Vorgesetzten versteckt, was aber erst in Laufe seines Disziplinarverfahrens zutage gekommen ist.

Außer diesem Hauptstrang der Erzählung finden sich zahlreiche weitere Anlässe zur Unzufriedenheit: andere Denkmalschützer, die Jugend von heute (darunter sein eigener Sohn), die anderen Mitarbeiter im Amt, universitäre Gepflogenheiten, die allgemeine Unbildung, die alten Nazis (in den frühen 80ern noch nicht die neuen!) usw. In diesen Passagen klingt in Brandstetters Text zum Teil zu deutlich der Ton von Bernhards Prosa an, auch wenn die Bernhardsche Penetranz offenbar bewusst vermieden wird. Merkwürdig immerhin bleibt die Schlusswendung des Textes, die hier unerörtert bleiben mag.

Alles in allem ist Brandstetter eine positive Entdeckung: Unter den zahlreichen Bernhard-Epigonen der deutschsprachigen Literatur sticht er mit einer außergewöhnlich gepflegten Sprache und einer ungewöhnlichen literarischen Bildung hervor. Seine Sprache ist nur auf den ersten Blick unauffällig, erweist sich bei genauerem Hinsehen als exakt und differenziert; auch dadurch passt er gut mit Rosendorfer zusammen. Bei Gelegenheit werde ich eine Besprechung von „Die Burg“ (1986) nachliefern.

Alois Brandstetter: Altenehrung. Salzburg/Wien: Residenz, 1983. Leinenband, 140 Seiten. (Zuletzt im dtv-Taschenbuch; derzeit nicht lieferbar.)

Theodor W. Adorno: Minima Moralia

Keiner glaubt keinem, alle wissen Bescheid.

Adorno-Digitale-BibliothekBei der Kleinen Ethik Adornos, die in der Hauptsache zwischen 1944 und 1947 entstanden ist, handelt es sich wahrscheinlich um sein meistgelesenes Buch überhaupt. Die Auflage liegt inzwischen bei über 120.000 Exemplaren, was für ein deutschsprachiges, ernsthaft philosophisches Buch des 20. Jahrhunderts beachtlich ist. Dabei ist zu betonen, dass es Adorno seinen Lesern durchaus nicht einfach macht: Seine Sprache befindet sich überall auf der Höhe der Reflexion, die behandelten Themen werden vor dem Hintergrund einer nirgends ausführlich ausgeführten Gesellschaftstheorie analysiert und viele dieser Analysen sind sehr knapp gehalten; einzig die Gliederung des Materials in 153 Abschnitte, die selten mehr als drei Seiten umfassen, kommt der Lektüre des philosophischen Laien entgegen.

Adorno Minima MoraliaJe nach Lektüre lassen sich unterschiedliche Zentren des Buches ausmachen. Adorno selbst hat später die Handreichung gegeben, die „Minima Moralia“ seien ein Buch über das falsche Leben; genau so könnte man behaupten, dass sie ein Buch über die Unmöglichkeit einer Ethik in einer auf den Tauschwert aller Erscheinung geeichten Gesellschaft ist. Man kann es auch als eine differenzierende Fortsetzung der „Dialektik der Aufklärung“ lesen. Neben spezifisch ethischen Themen behandelt Adorno auch Fragen der Ästhetik, insbesondere der Erscheinungen der Massenkultur – sein Lieblingsbeispiel ist der Hollywood-Film, wobei hier zu bedenken ist, dass er die volle Entwicklung dieser Form des Kunstgewerbes zum Zeitpunkt der Niederschrift nicht einmal erahnen konnte.

Die bedeutendste Schwierigkeit, die sich einer angemessenen Auseinandersetzung mit Adornos Ethik entgegenstellen dürfte, ist sein eigentümliches Menschenbild, das den Individualismus nahezu vollständig als fehlerhaftes begriffliches Konzept behandelt und mit Ausnahme weniger widerständiger Intellektueller und Künstler nurmehr den bis auf verschwindende Reste mit seiner gesellschaftlichen Funktion identischen Massenmenschen kennt. Man wird unter diesen Massenmenschen auf Anhieb wahrscheinlich nur wenig Bereitschaft finden, diesem anthropologischen Entwurf beizutreten. Die Lebensform der Menschheit ist – wie bereits gesagt – die grundsätzliche Reduzierbarkeit aller Erscheinungen auf ihren Tauschwert, sprich der Kapitalismus, als dessen konsequenteste Form sich der Faschismus erwiesen hat. Angesichts solcher Verhältnisse ist an eine Ethik im emphatischen Sinn nicht zu denken. Was bleibt ist die dialektische Kritik, die stets fortzuentwickeln ist, da das falsche Weltverhältnis die prinzipielle Tendenz hat, jegliche Kritik in sich zu vereinnahmen und aufzuheben. Es wäre für Adorno ein verzweifelter Genuss gewesen, hätte er erleben dürfen, wie sehr er mit seiner Analyse Recht behalten sollte.

Unabhängig davon, ob man dem zugrunde liegenden Weltbild zustimmt oder nicht, bietet das Buch eine Überfülle von präzisen und auf den Punkt formulierten Details. Ich selbst habe Adorno zuletzt in meiner Studienzeit gelesen und bei der erneuten Lektüre einen nicht erinnerten Reichtum an Einzelbeobachtungen und -formulierungen gefunden, die für sich bestehen uneingedenk der konkreten dialektischen Bewegung, der sie entstammen.

Das Leben hat sich in eine zeitlose Folge von Schocks verwandelt, zwischen denen Löcher, paralysierte Zwischenräume klaffen. Nichts aber ist vielleicht verhängnisvoller für die Zukunft, als daß im wörtlichen Sinn bald keiner mehr wird daran denken können, denn jedes Trauma, jeder unbewältigte Schock der Zurückkehrenden ist ein Ferment kommender Destruktion. – Karl Kraus tat recht daran, sein Stück »Die letzten Tage der Menschheit« zu nennen. Was heute geschieht, müßte »Nach Weltuntergang« heißen.

Theodor W. Adorno: Minima Moralia. In: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann. Digitale Bibliothek Band 97 (CD-ROM). Berlin: Directmedia Publishing, 2004. Digitale Lizenzausgabe der Gesammelten Schriften in 20 Bänden des Suhrkamp Verlages.

Anthony Burgess: Earthly Powers

Toomey offers this bulky but overpriced novel as an elected swansong.

Burgess Earthly PowersDieser Roman stand seit Mitte der 80er Jahre ungelesen in meinem Bücherschrank. Ich hatte damals – angeregt durch einen Kommilitonen – eine kurze Phase der Burgess-Begeisterung, konnte mich dann aber doch nicht dazu aufraffen, mich durch die 650 Seiten dieses Romans zu beißen. Wahrscheinlich hätte er mir damals auch nicht so viel Vergnügen gemacht wie heute, einfach deshalb, weil mir viele der Anspielungen entgangen wären.

Ich-Erzähler ist der über 80-jährige britische Schriftsteller Kenneth M. Toomey, der zur Jetzt-Zeit des Romans – Anfang der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts – in Malta lebt, um der Besteuerung in England zu entgehen. Toomey war über die Ehe seiner Schwester verwandt mit Carlo Campanati, Papst Gregor XVII., der in der fiktiven Welt des Romans 1958 als Nachfolger Pius’ XII. gewählt wird. An seinem 81. Geburtstag erhält Toomey einen Besuch des Erzbischofs von Malta, der ihn bittet, im Heiligspechungsverfahren Gregors als Zeuge aufzutreten, da er eine vorgebliche Wunderheilung durch den damals noch als Exorzisten wirkenden Carlo miterlebt habe. Dies liefert den Anstoß dazu, dass Toomey sein Leben ab dem Jahr 1916 erzählt, was die Hauptmasse des Romans bildet. Auftakt der pseudoautobiographischen Erzählung bildet Toomeys innere Lossagung von der katholischen Kirche, die seine Homosexualität nur als Sünde begreifen kann. Toomey ist eines von drei Kindern aus einer britisch-französichen Ehe und im Glauben seiner Mutter erzogen worden. Er ist bereits zu Anfang der Autobiographie als Schriftsteller tätig. Sein erster Roman ist zwar kein großer Erfolg, doch gelingt ihm der Durchbruch als Bühnenautor mit einigen leichten Komödien. Als eine Affäre mit einem verheirateten Schauspieler publik wird, flieht Toomey vor einer drohenden Strafverfolgung aus England; in Italien lernt er wenig später zufällig die Brüder Carlo und Domenico Camapanati kennen. Carlo ist damals bereits ein ambitionierter Geistlicher, während Domenico ein mittelmäßig begabter Musiker ist, der mit einer Oper Erfolg zu haben hofft. Toomey soll ihm das Libretto dazu schreiben; die Oper wird zwar kein Erfolg, doch Domenico und Kenneth’ Schwester Hortense werden ein Paar und heiraten.

Der weitere Roman verfolgt nun in der Hauptsache die Karrieren dieser vier Familienmitglieder des Toomey-Campanati-Clans sowie der beiden Kinder von Hortense und Domenico. Ihre gewöhnlich ungewöhnliche Familiengeschichte liefert Anlass für eine Auseinandersetzung mit der Kultur der USA, insbesondere Hollywoods, dem Nationalsozialismus – Toomey durchleidet mehrfach unfreiwillige Verwicklungen –, der katholischen Kirche und der Schriftstellerei als Beruf und Geschäft. All das ist witzig und intelligent gemacht, liefert aber trotz Ausflügen nach Asien und Afrika durchaus nicht das große, umfassende Bild der Welt des 20. Jahrhunderts, das dem Buch manchenorts zugeschrieben wird. Es ist viel eher als eine vielfach gebrochene, in weiten Teilen uneitle Selbstbespiegelung des alten Burgess’ zu lesen, woran auch die dem Protagonisten zusätzlich aufgepfropfte Homosexualität nichts ändert.

Ich habe mich anlässlich dieser Lektüre gefragt, ob Burgess in Deutschland noch gelesen wird. Soweit der Buchmarkt einen Hinweis gibt, scheint das nicht so zu sein: Zwar sind die Übersetzungen von “A Clockwork Orange” (dies sogar in zwei Übersetzungen) und “Earthly Powers” („Der Fürst der Phantome“) sowie der lesenswerten Einführung in das Werk von James Joyce – der naturgemäß auch in “Earthly Powers” prominent vertreten ist – “Here Comes Everybody” (zuletzt 2004 als „Joyce für Jedermann“ im Suhrkamp Taschenbuch) noch lieferbar, aber alles andere scheint vergessen zu sein und das, obwohl Burgess in bedeutender Breite ins Deutsche übertragen wurde.

Da mir “Earthly Powers” einiges Vergnügen bereitet hat, wird hier sicherlich in Zukunft noch der eine und andere Hinweis auf Bücher von Burgess folgen.

Anthony Burgess: Earthly Powers. New York u.a.: Penguin, 51983. Broschur, 649 Seiten. Lieferbar als Vintage Classic für ca. 27,– €.

Uwe Timm: Rot

Bald […] werden die Herbstbilder Pegasus, Fische und Walfisch gut zu sehen sein. Und in dem Walfisch ist der [τ] Cet, der unserer Sonne so ähnlich sein soll, weil auch er Planeten hat. Vielleicht das wahre Utopia, ohne angemaßte Herrschaft, ohne unnötiges Leid, das würde schon reichen.

timm-rotEin außergewöhnlich gut konstruierter und detailreicher Roman über den Abschied von den Idealen der 68er-Studentbewegung; für die eine oder den anderen dürfte er vielleicht sogar ein wenig zu konstruiert sein. Der Ich-Erzähler Thomas, ein Alt-68er, der im bürgerlichen Leben nie recht Fuß gefasst hat, liegt buchstäblich auf der Straße, die er bei Rot überquert hatte, weshalb er angefahren wurde. Wahrscheinlich stirbt er während des Erzählens und färbt mit seinem Blut die Straße unter sich; neben ihm liegt ein Päckchen Sprengstoff, das gerade aus seiner Aktentasche gefallen ist.

Beruflich ist Thomas Grabredner, einer jener, die gebeten werden, in den Fällen über dem Toten zu sprechen, wenn keine der Konfessionen sich als zuständig betrachtet oder vom Toten gern gesehen würde. Und so hält Thomas in seinen letzten Minuten auf Erden eine Grabrede auf sich und seine ehemaligen Freunde aus der Studentenbewegung: Zum Beispiel Edmond und Vera, die aus der Frankophilie Edmonds einen lukrativen Weinimport gemacht und sich als neureiche Alkoholiker in einer Neubau-Villa niedergelassen haben. Die Ehe kriselt, Vera ist im Entzug, Edmond sitzt im von seiner Frau leergeräumten Haus, säuft Wein aus dem Suppenteller und schlägt seinen Kopf vor die Wand. Oder Krause, der mit Lisa, einer Norwegerin, in Mecklenburg-Vorpommern in ländlicher Idylle mit Streuselkuchen und Schlagsahne lebt. Beide sind Lehrer, und Krause betreibt nebenbei ein Antiquariat, das auf die Theorie der Studentenrevolution spezialisiert ist.

Am wichtigsten aber ist Aschenberger, der gerade verstorben ist und Thomas testamentarisch als seinen Grabredner verpflichtet hat. Auch Aschenberger scheint sich bürgerlich etabliert zu haben – er hat bei seiner Heirat den Namen seiner Frau angenommen und heißt nun Lüders. Er verdient sein Geld mit alternativen Stadtführungen durch Berlin, lebt in einer mit Büchern vollgestopften Wohnung und plant einen letzten großen Coup: Er will die Berliner Siegessäule als Symbol der missratenen deutschen Geschichte in die Luft sprengen und sich anschließend der Polizei stellen. Aus seinem Nachlass stammt der Sprengstoff, der Thomas bei seinem Unfall aus der Tasche gefallen ist.

Die Wiederbegegnung mit Aschenberger setzt Thomas sichtlich zu, der selbst sich vor einigen Jahren nach einer Midlife-Crisis radikal von der eigenen Vergangenheit getrennt hat, in dem er allen persönlich Besitz verkauft oder weggeworfen hat und seitdem in einer kargen Wohnung sein Leben von Tag zu Tag verbringt. Doch sein unreligiöses Mönchstum wird derzeit heftig gestört: Thomas hat eine Affäre mit der verheirateten Iris, die eine Generation jünger ist als er. Iris ist Bühnenbildnerin und Lichtgestalterin, sie lebt also davon, ästhetische Illusionen zu verkaufen. Die Affäre spitzt sich kurz vor Thomas Unfall zu, als Iris schwanger wird, ihren Mann Ben verlässt und mit Thomas eine Familie gründen will. Ihre offene Emotionalität überwältigt Thomas immer mehr, der kurz davor steht, sich auf Iris Pläne einzulassen, als der Unfall all dem ein Ende setzt.

Außer dieser Hauptlinie der Erzählung glänzt der Roman mit zahlreichen weiteren Nebenfiguren und Kleinsterzählungen, etwa der depressiven Animateurin Tessy, der politisch engagierten Türkin Nilgün oder dem Maler Horch – wahrscheinlich der spannendsten Figur im ganzen Roman. Man findet heute nur wenige Erzähler, die tatsächlich soviel zu erzählen haben und denen es gelingt, ihre divergierenden Stoffe dennoch auf die großen literarischen Themen – Tod, Liebe, Geburt – zu fokussieren, ohne dass es peinlich wird. Ein wirklich gelungenes Stück!

Uwe Timm. Rot. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2001/2005. Bedruckter Pappband, 428 Seiten. 15,– Euro. (Auch als dtv-Taschenbuch lieferbar.)

100 Jahre Dada

Alles in unserer Zeit ist Dada, nur die Dadaisten nicht. Wenn die Dadaisten Dadaisten wären, dann wären die Dadaisten keine Dadaisten.
Theo van Doesburg

In diesem Jahr wäre Dada 100 Jahre alt geworden, wenn es nicht bereits unmittelbar vor seiner Zeugung verstorben wäre:

Dada ist tot, bevor es überhaupt angefangen hat. Zum ersten Mal stirbt Dada, als Tzara aus einer Laune eine Kunstrichtung machen will. Dada stirbt seinen Heldentod, als Ball im Juni 1916 Zürich verlässt. Dada dreht sich im Grabe um, als Huelsenbeck, Tzara und Arp versuchen, es in anderen Städten zu etablieren. In der Auseinandersetzung zwischen Picabia, Breton, Tzara und ihren Gesellen stirbt Dada tausend Tode. Aber so darf Dada nicht vertröpfeln, es muss auch einmal ordentlich symbolisch zu Grabe getragen werden.

Banalerweise leben Totgesagte immer länger, besonders dann, wenn zu bezweifeln ist, dass sie überhaupt jemals von selbst geatmet haben. Das alles stört aber Dada und die meisten seiner Vorkämpfer überhaupt nicht. Sich um solch offenbare Widersprüche zu kümmern, hieße die Macht des Paradoxen zu verschwenden. Dada setzt tiefer an, nämlich dort wo sich Vernunft und Unvernunft gute Nacht sagen – an der kargen Oberfläche der bürgerlichen Kultur.

dada-almanachNatürlich ist der Manesse Verlag mit Sitz in Zürich prädestiniert, Dada zum Jubiläum mit einer Anthologie zu würdigen. Die Textauswahl ist beeindruckend umfassend; sogar Clément Pansaers (1885–1922) und Paul von Ostaijen (1896–1928), zwei belgische Dadaisten, von denen ich bis dato noch nie gehört oder gelesen hatte, sind vertreten. Ansonsten ist alles anwesend, was noch keinen Rang hatte und sich einen Namen machte: Tristan Tzara, Hans Arp, Georg Grosz, Walter Serner, Richard Huelsenbeck, Hugo Ball und Emmy Hennings, Walter Mehring (den ich besonders schätze), Raoul Hausmann, Francis Picabia, André Breton, Paul Éluard und und und. Die Auswahl der Texte ist ebenso gelungen: Weder fehlen die bekannten Klassiker (etwa Balls „Karawane“ oder Schwitters „An Anna Blume“), noch die Überraschungen, wegen derer man einen solchen Almanach kaufen sollte. Auch die Auswahl aus der unendlichen Flut dadaistischer Manifeste, die bekanntlich nichts sagen, dass aber in einer Ausführlichkeit, mit der sich nur politische Reden messen können, ist exzellent. Begleitet werden die Texte durch einen Anhang, der die wichtigsten Dadaisten in biographischen Kurzporträts vorstellt und die wichtigsten Orte der Aufführung präsentiert. Das zusätzliche Spiel mit Schwarz und Rot im Druckbild rundet den Band perfekt ab. Das einzige, was man vermissen könnte, ist, dass Dada nicht ausschließlich eine textbasierte Strömung war, sondern insbesondere auch Graphik, Collage und Musik mit einbezog.

mittelmeier-dadaWer darüber mehr erfahren  und Dada im allgemeineren Kontext der Moderne dargestellt haben möchte, kann zu Martin Mittelmeiers Buch greifen (aus dem auch das längere Zitat oben stammt). Mittelmeier versucht, einen Weg zu finden, dem chronologischen, persönlichen, formalen und inhaltlichen Chaos Dadas gerecht zu werden. Wer sich nicht schon ein wenig in der Kulturgeschichte des frühen 20. Jahrhunderts auskennt, könnte im Stakkato einiger Passagen des Buches verlorengehen. Alles in allem und im Großen und Ganzen muss man Mittelmeier zugestehen, dass er diese schwierige Aufgabe gut bewältigt, sind doch zahllose biographische Details, parallele Entwicklungen, Verwerfungen, Verfeindungen und Zweckbündnisse, Widersprüche und Gegensätze darzustellen, deren Anlässe für einen, der nicht tief in den Verwicklungen dieser Zeit steckt, nur schwer nachzuvollziehen sind.

Sehr loben muss man Mittelmeier dafür, dass er den bequemen Ansatz, Dada sei die Reaktion einiger Intellektueller auf den Wahnsinn des Ersten Weltkrieges, als unzureichend begreift und Dada stattdessen in die künstlerischen Umbrüche zu Beginn des 20. Jahrhunderts einstellt: Das Aufgeben der Zentralperspektive in der Malerei, der Harmonik in der Musik – wenn auch seine Rede davon, Schönberg befreie „den einzelnen Ton aus dem Korsett der klassischen Tonalität“ (S. 51) dummes Geschwätz ist –, die Faszination der Geschwindigkeit und die Empfindung der Simultanität sind andere Aspekte desselben grundsätzlichen Zweifels an den tradierten Formsprachen, der sich auch in Dada manifestiert. Auch lässt Mittelmeier keinen Zweifel daran, dass Mangel an konkretem Inhalt, Wiederholung und der Dada notwendig innewohnende Selbstwiderspruch zu nichts anderem als zur baldigen Auflösung von Dada führen konnten, und jede neue Stadt, in die Dada getragen wird, die Agonie nur überdeckt und herauszögert. Ergänzt wird diese sehr klarsichtige Darstellung durch einige dadaistische Zwischenspiele, auf die man sich – wie auf Dada überhaupt – schlicht einlassen sollte.

Ob Mittelmeier aber tatsächlich der Auffassung ist, der Eiffelturm sei 1000 Meter hoch (S. 48), Erich Mühsam habe den Vornamen Ernst geführt (S. 66), moderne Kunst verfüge über „Autonomie“ (S. 102) oder Schwitters Bilder seien „funktional gesehen gotische Dome“ (S. 184), kann man angesichts dessen, was hier gelungen ist, auf sich beruhen lassen.

Dada-Almanach. Vom Aberwitz ästhetischer Kontradiktion. Hg. v. Andreas Puff-Trojan und H. M. Compagnon. Zürich: Manesse, 2016. Bedruckter Pappband, Fadenheftung, 176 Seiten. 39,95 €.

Martin Mittelmeier: Dada. Eine Jahrhundertgeschichte. München: Siedler, 2016. Pappband, 272 Seiten. 22,99 €.

Lila Azam Zanganeh: Der Zauberer

Zanganeh-ZaubererEine merkwürdige Mischung aus biographischer Studie, literarischem Essay und Fan-Prosa über Vladimir Nabokov und einige von seinen Büchern. Merkwürdig ist das Buch vor allem deshalb, weil es von einer Art naiver Begeisterung getragen ist, die normalerweise nicht lang genug überlebt, um in einem Buch dokumentiert zu werden. Für jemanden, der von Nabokov nur das Übliche oder gar kein Buch gelesen hat, mag das ganz nett sein, doch diejenigen, die sich nur ein wenig besser auskennen, werden schwerlich mit dem Buch zufrieden sein.

In der Hauptsache geht es um drei Bücher Nabokovs: die beiden Romane „Lolita“ und „Ada“ sowie seine Autobiographie „Erinnerung, sprich“; das ein oder andere wird zwar en passant zusätzlich zitiert, doch bleibt es bei marginalen Zitaten. Weder Nabokovs frühe Versuche im Kriminal- oder Unterhaltungsgenre werden erwähnt, noch seine Bücher, die sich in der Hauptsache um staatliche Gewalt, Gefangenschaft und Tod drehen. Denn Zanganeh geht es bei Nabokov wesentlich um eine Sache: um – ach! – die Liebe! Und die wahre Liebe gibt es natürlich immer nur in der Erinnerung, sei es Nabokovs sentimentaler Blick zurück auf seine russische Jugend oder Humbert Humberts erste und einzige pubertäre Verliebtheit an der Riviera.

Man muss fair sein und zugeben, dass Zanganeh sich wie Nabokov selbst darüber im Klaren ist, dass das Sentimentale nur eine Seite der Medaille darstellt und stets verquickt ist mit zerstörerischen Umständen: politischem Umsturz, Pädophilie oder Inzest. Doch diese Seite stört bei Zanganehs Neigung zur Sentimentalität, weshalb der unbelehrte Leser einen eher schiefen Eindruck von der Welt der Nabokovschen Fiktionen erhält. So ist Humbert Humbert zwar immer noch der egozentrische, verantwortungslose Asoziale des Romans, doch ist in Zanganehs Blick seine narzisstische Fixierung auf Dolly Haze trotz allem Liebe. Nabokov würde es wahrscheinlich mit einem schiefen Lächeln quittieren.

Neben der Auseinandersetzung mit einigen von Nabokovs Texten, wird er als Lepidopterologe gewürdigt (seine Fähigkeiten als Schachkomponist bleiben unerwähnt), sein Sohn Dmitri tritt auf und wir erfahren dies und das über die Autorin, die sich als Leserin Nabokovs immer wieder mit ins Spiel bringt. Zumindest dieser letzte Aspekt des Buches ist originell und trägt der Einsicht Rechnung, dass Lektüre im Idealfall immer die Verflechtung zweier – im Fall dieses Buches sogar dreier – Individualitäten darstellt.

Insgesamt für all jene (und das werden wohl die meisten sein), die Nabokov nicht oder nur aus dem einzigen Buch „Lolita“ kennen, wahrscheinlich eine anregende und informierende Lektüre, für einen Achtel-Kenner wie mich zu selektiv und enthusiastisch.

Lila Azam Zanganeh: Der Zauberer. Nabokov und das Glück. Aus dem Englischen von Susann Urban. Frankfurt/M.: Büchergilde Gutenberg, 2015. Pappband, Fadenheftung, Lesebändchen, 240 Seiten. 19,95 € (Preis für Mitglieder) / 22,95 €.

Ödön von Horváth: Der ewige Spießer

Überhaupt entwickle sich die Technik kolossal, erst neulich habe ein Amerikaner den künstlichen Menschen erfunden, das sei wirklich großartig, daß der menschliche Geist solche Höhen erklimme, und sie werde es ja auch noch erleben, daß, wenn das so weitergehe, alle echten Menschen zugrund gehen würden.

Horvath-Prosa

Horváths kleiner Roman „Der ewige Spießer“ ist wahrscheinlich aufgrund des griffigen Titels sein bekanntester erzählender Text. Horváth war seinen Zeitgenossen in erster Linie als Bühnenautor bekannt; „Der ewige Spießer“ ist seine erste längere Erzählung. Sie enthält drei locker miteinander verknüpfte, anekdotisch angelegte Teile:

Der erste und umfangreichste enthält die Geschichte einer Barcelona-Reise des Münchner Gebrauchtwagenhändlers Alfons Kobler (und der Leser mag alle negativen Geschäftspraktiken, die sich im populären Vorurteil mit diesem Berufsstand verbinden, auf Kobler projizieren), der seinen Gewinn aus dem betrügerischen Verkauf eines Sportwagens in seine Zukunft zu investieren versucht, indem er sich auf der Weltausstellung in Barcelona (1929) eine reiche Erbin oder Witwe angeln will. Die Reise per Eisenbahn über Österreich, Norditalien, Südfrankreich nach Spanien bringt zahlreiche Bekanntschaften, unter anderem auch die zu dem Schriftsteller und Journalisten Rudolf Schmitz, mit dem er zusammen in Marseilles frisst, säuft und ein Bordell besucht. Noch auf der Fahrt lernt Kobler die Frau seiner Träume, die Tochter eines Industriellen aus dem Ruhrgebiet, kennen, die sich, in Barcelona angekommen, auch planmäßig von ihm verführen lässt, nur um ihm am nächsten Morgen ihren überraschend angereisten Verlobten vorzustellen, einen reichen Amerikaner, auf dessen Geld das Geschäft ihres Vater angewiesen ist. Nach dieser enttäuschenden Fehlinvestition reist Kobler ohne Zögern zurück nach München.

Im zweiten und dritten Teil steht eine der ehemaligen Geliebten Koblers im Mittelpunkt: Anna Pollinger wird aufgrund eines Firmenbankrotts arbeitslos und gerät aus Zufall und ein wenig gegen ihren Willen in die Prostitution. Sie macht dann die Bekanntschaft des ebenfalls arbeitslosen Josef Reithofer, der ihren Status als Prostituierte nicht erkennt und von dem sie sich – quasi unter falschen Voraussetzungen – ins Kino einladen lässt. Als Reithofer endlich begreift, dass für eine nähere Bekanntschaft die Aufnahme einer geschäftlichen Beziehung die Voraussetzung bildet, ist er zu Recht erbost, dass sich Anna eine Einladung ins Kino erschwindelt hat. Dennoch vermittelt Reithofer Anna noch in derselben Nacht eine Stelle als Näherin, von der er durch eine zufällige Bekanntschaft in einer Kneipe erfahren hat; dies ist die einzige selbstlose Handlung im ganzen Roman.

Den ewigen Spießer des Titels findet man mit wenigen Ausnahmen in allen Figuren des Buchs (ein einzelner Fahrgast im Zug, Anna und Reithofer sind vielleicht ausgenommen), er zeigt sich in allen Facetten vom nationalistischen Grantler bis zum rückgratlosen Opportunisten, vom betrügerischen Geschäftsmann bis zum aalglatten Sohn eines Kriegsgewinnlers. Menschlichkeit und Mitleid existieren, aber sie sind Ausnahmen in einer Welt, in der jede und jeder ob freiwillig oder erzwungen an seinen Vorteil denkt beziehungsweise denken muss.

Sprachlich erscheint der Text auf den ersten Blick leger und nahe der Umgangssprache, aber hier und da blitzen sehr präzise Spitzen auf, die deutlich machen, wie exakt Horváth gearbeitet hat:

»›Ihr junge Generation habt keine Seele‹, hat er gesagt. Quatsch! Was ist das schon, Seele?« Er knöpfte sich die Hosen zu.

Bei aller Schwäche in der Form ein kleines inhaltliches und sprachliches Meisterstück.

Ödön von Horváth: Der ewige Spießer. In: Prosa und Stücke. Suhrkamp Quarto. S. 124–230. Frankfurt: Suhrkamp, 2008. Broschur, 1514 Seiten. 25,– €.

Carl Einstein: Die schlimme Botschaft

Das Dichterische wirkt meist wie der Hintern der „Wirklichkeit“.
Carl Einstein

Einstein-Schlimme-BotschaftCarl Einstein (nicht verwandt oder verschwägert) ist einer von einer ganzen Anzahl deutscher Schriftsteller der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die nach der Kulturkatastrophe des Nationalsozialismus nur noch am Rande wahrgenommen wurden und heute an der Grenze zum Vergessenwerden stehen. Sein einziger sogenannter Roman „Bebuquin“ (1912) – der Text umfasst nur etwa 13.000 Wörter und trägt die Gattungsbezeichnung ausschließlich, um klarzustellen, welche literarische Form hier konterkariert werden soll – war bis vor einiger Zeit noch bei Reclam lieferbar, wurde dort aber mittlerweile durch eine der kunsthistorischen Schriften Einsteins ersetzt.

Jetzt hat der junge homunculus verlag Einsteins „Die schlimme Botschaft“ (1921) wieder aufgelegt. Der Titel ist eine bewusste Umkehrung des Evangeliums und das schmale Büchlein enthält 20 Szenen, in denen Jesus von Nazareth sich mit seinen Jüngern, Bürgern, Soldaten, einem Schriftsteller, zwei Juden, Pilatus und anderen mehr unterhält, wobei die Zeit, zu der diese Szenen spielen zwischen dem 1. und dem 20. Jahrhundert verschwimmt. Am Ende wird er natürlich wieder ans Kreuz geschlagen, wobei diesmal ein Manager seinem letzten Atem noch die Rechte an seinen Memoiren abgewinnen möchte, sich aber angesichts der geforderten 100 % vom Ladenpreis nur mit dem Wort „Blöd geworden“ von ihm abwenden kann. Einsteins Jesus kritisiert scharf die sogenannten Christen des 20. Jahrhunderts, sowohl die Religionsverwerter als auch die Taufchristen, deren Lebens- und Geschäftsgebaren mit der Lehre des Mannes, nach dem sie sich immerhin Christen nennen, nichts mehr zu tun hat. Der ethische Gehalt der Szenen ist dabei nicht leicht auf den Punkt zu bringen: Einsteins Jesus ist ein Leidender unter den Leidenden, ein Armer auf Seiten der Armen, ein Geschlagener und Rechtloser in einer Welt von Rechthabern, Beutelschneidern und Besserwissern.

Bekannt wurde „Die schlimme Botschaft“ aber nicht durch die 200 bis zu ihrem Verbot verkauften Exemplare, sondern durch den Gotteslästerungsprozess, der 1922 gegen den Autor und seinen Verleger Ernst Rowohlt geführt wurde und der mit der Verurteilung beider zu einer Gesamtgeldstrafe von 15.000 Mark (immerhin als Ersatz für eine eigentlich fällige Gefängnisstrafe) endete. Anzeige erstattet hatten ein schwäbischer Fabrikant und ein Thüringer Superintendent; die Staatsanwaltschaft Berlin erhob daraufhin Anklage, und obwohl die Verteidigung einiges Vernünftige dagegen vorbringen konnte, dass  „Die schlimme Botschaft“ den Tatbestand der Gotteslästerung erfülle, folgte das Gericht den sogenannten Sachverständigen der Staatsanwaltschaft und verurteilte Buch, Autor und Verleger.

Der Prozess und sein Urteil wurden in der deutschen Presse durchaus kontrovers diskutiert; auch bildete er den Anlass für eine Umfrage unter Künstlern und Gelehrten, ob denn einerseits Einsteins Buch gotteslästerlich und andererseits der Gotteslästerungsparagraph im Strafgesetzbuch überhaupt noch zeitgemäß sei. All das ist ganz wundervoll vollständig dokumentiert in dem Artikel „Einstein, Carl“ im ersten Band von Heinrich Hubert Houbens – der wahrscheinlich noch ein Stück näher der Grenze zum Vergessen west als Einstein – „Verbotene Literatur“, der 1923 (vordatiert auf 1924) ebenfalls bei Rowohlt erschienen ist und sich also zur Zeit des Prozesses gerade im Entstehen befand. Houben konnte das im Archiv von Rowohlt gesammelte Material benutzen und so ein umfassendes Bild des Prozesses und der Reaktionen auf ihn liefern.

Für Einstein bedeutete dieser Prozess aber natürlich zuerst  einmal einen schriftstellerischen Maulkorb, auf lange Sicht Exil in Frankreich (ab 1928) und in letzter Instanz den Freitod vor den heranrückenden Nationalsozialisten. Der ein oder andere versprengte Kunsthistoriker denkt heute noch an ihn, und eine kleine Schar von Germanisten versucht sein Werk im Bewusstsein der Lebenden zu halten. Das Bändchen im homunculus verlag liefert neben dem Text der „Schlimmen Botschaft“ auch den – soweit ich sehe kompletten – Artikel Houbens. Das kurze Vorwort ist leider anonym; auch erfährt der Leser nicht, welche Textgrundlage dieser Neudruck hat, was das Buch für die germanistische Arbeit ein wenig entwertet. Wollen wir hoffen, dass es wenigstens diesmal diejenigen in größerer Menge erreicht, die es 1921 schon hätte erreichen sollen: die Leser.

Carl Einstein: Die schlimme Botschaft. 20 Szenen. Erlangen: homunculus, 2015. Broschur, 167 Seiten. 17,90 €.