Aravind Adiga: Amnestie

Dhanajaya Rajaratnam, genannt Danny, ist ein Tamile, der ohne Aufenthaltsgenehmigung in Sydney lebt. Er stammt aus Sri Lanka, war auch schon einmal in Dubai beschäftigt und ist als Student nach Australien gekommen. Das College, an dem er studieren sollte, erwies sich aber als eine schlecht getarnte Schleuser-Organisation, die sich an den Studiengebühren der Ausländer bereichert und ihnen im Gegenzug nur fragwürdige Diplome anbieten konnte. Danny hat dieses Studium bald aufgegeben und sich als Putzmann selbstständig gemacht. Er lebt nun seit vier Jahren in Australien, und die meiste Zeit gelingt es ihm, in aller Öffentlichkeit unsichtbar zu bleiben. Doch an dem Tag, von dem Amnestie erzählt, läuft Danny beinahe in eine Morduntersuchung hinein. Eine der Bewohnerinnen im Haus gegenüber dem, in dem er die Wohnung eines Anwaltes putzt, ist ermordet worden. Danny ahnt nicht nur sofort, dass er die Ermordete kennt, er hat auch einen starken Verdacht, wer der Mörder sein könnte.

Das Mordopfer Radha und ihr mutmaßlicher Mörder Prakash waren ein Liebespaar, zusammengehalten durch die gemeinsame Spielsucht und überhaupt ihre Sehnsucht, sich selbst zu spüren. Danny putzte bei Rahda, die versprach sich für ihn einzusetzen und ihm eine Auf­ent­halts­ge­neh­mi­gung oder wenigstens einen Straferlass zu verschaffen. Danny wurde zum regelmäßigen Begleiter bei den Ausflügen des Paares in Kneipen und Spielhallen. Und Danny erfährt auch, dass der Mord an einer Stelle geschehen ist, die das Paar schon des Öfteren aufgesucht hatte. Danny begeht nun den Fehler – und das ist die einzige wirkliche Crux der Fabel – diesen mutmaßlichen Mörder anzurufen, der sofort ahnt, dass Danny ihn verdächtigt. Von diesem Moment an liefern sich beide eine Art von Katz-und-Maus-Spiel, dessen Verlauf und Ausgang hier nicht verraten werden müssen.

Parallel zu diesem einen Tag wird uns nicht nur die Geschichte Dannys in den vier Jahren in Australien erzählt, sondern wenigstens in Teilen seine übrige Lebensgeschichte seit seiner Kindheit in Batticaloa in Sri Lanka. Danny ist ein überdurchschnittlich intelligenter, sogar gebildeter junger Mann, der in Europa wahrscheinlich eine gute akademische Ausbildung bekommen und eine erfolgreiche Karriere angestrebt hätte. Doch in Sydney ist er nur Opfer all jener, die seine Furcht vor Internierung und Deportation ausnutzen.

Der Roman braucht eine Weile, um das richtige Tempo zu finden. Lange Zeit kann man den Verdacht hegen, das alles sei zwar präzise recherchiert, aber kaum originell und unterscheide sich nicht wesentlich von etlichen Dokumentationen, die es inzwischen zu sogenannten Illegalen in der westlichen Welt gibt. Erst die Zuspitzung des psychologischen Duells zwischen Danny und Prakash hilft der etwas zu berechenbaren politischen Ebene des Romans auf.

Alles in allem ein passables Buch zwischen politischer Botschaft und Psycho-Krimi, aber man sollte keinen zweiten Weißen Tiger erwarten.

Aravind Adiga: Amnestie. Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. München: Beck, 2020. Pappband, 286 Seiten. 24,– €.

Salman Rushdie: Quichotte

Solche Geschichten gehen alles in allem nicht gut aus.

Georg Christoph Lichtenberg hat einmal gemeint:

Ob ich gleich weiß, daß sehr viele Rezensenten die Bücher nicht lesen die sie so musterhaft rezensieren, so sehe ich doch nicht ein was es schaden kann, wenn man das Buch lieset, das man rezensieren soll.

Georg Christoph Lichtenberg: Schriften und Briefe I. München: Hanser, 1968. S. 659. [J 46]

Woran allein man gut erkennen kann, dass Lichtenberg mit der Literatur unserer Zeit nicht hinreichend bekannt war. Denn die meisten Rezensionen zu Salman Rushdies neuem Roman, in die ich hineingeschaut habe, werden mit dem Buch spielend fertig, weil ihre Verfasser das Buch offenbar nicht oder wenigstens nur flüchtig gelesen haben. Hat man dagegen den Roman und halbwegs gründlich gelesen, sieht man sich vor die herkulische Aufgabe gestellt, das Buch in aller Kürze vorzustellen zu sollen, ohne es entweder in einem vollständig falschen Licht erscheinen zu lassen oder sich komplett in kryptisches Raunen zu verlieren. Versuchen wir es dennoch:

Erzählt wird diese Geschichte auf mindestens zwei fiktionalen Ebenen – Arno Schmidt hätte von einem Längeren Gedankenspiel gesprochen –, erstens der des fiktiven Schriftstellers Sam DuChamp (das ist nur sein Pseudonym, seinen wahren Namen erfahren wir nicht), eines mäßig erfolgreichen Verfassers von Agenten-Thrillern, der gerade dabei ist, die Geschichte eines Quichottes des 21. Jahrhunderts zu schreiben, die die besagte zweite Ebene bildet. Dieser Schriftsteller, der wie die meisten Figuren dieser Ebene nur nach seiner verwandtschaftlichen Beziehung benannt wird, Bruder also, lebt in New York und ist seit vielen Jahren mit seiner Schwester, Schwester genannt, zerstritten, nachdem er ihr vorgeworfen hatte, sich am väterlichen Erbe betrügerisch bereichert zu haben. Schwester ist Rechtsanwältin und lebt, verheiratet mit einem Richter, mit dem sie die Tochter Tochter hat, in London. Sie steht kurz vor dem Gipfel der gesellschaftlichen Anerkennung, da sie Sprecherin des englischen Oberhauses werden soll. Aber auch hier ist nicht alles Gold, was glänzt.

Weder Bruder noch Schwester sind ihre Karrieren an der Wiege gesungen worden: Beide stammen – wie der sie erfindende Autor Salman Rushdie – aus Bombay. Auch der von Bruder erfundene Quichotte stammt aus dieser Stadt, lebt aber ebenfalls schon lange in den USA; er ist etwa 70 Jahre alt, wird zu Anfang des Buches von seinem Cousin zwangspensioniert – er hat zuletzt als Pharmavertreter gearbeitet. An seine Vergangenheit kann er sich nur lückenhaft erinnern, da er früher einmal einen Schlaganfall erlitten hat; seitdem ist er etwas wunderlich geworden, verbringt seine Freizeit hauptsächlich vor dem Fernseher (das sind seine Ritterromane!) und ist verliebt in die ebenfalls aus Indien stammende Talkshow-Moderatorin Salma R. (!) In die Freiheit des Ruhestandes entlassen, begibt er sich auf eine Quest, Salmas Liebe zu erlangen. Um den langen Weg nach New York nicht alleine zurücklegen zu müssen, erfindet er sich einen Sohn, Sancho, der auf gewisse Weise eine dritte fiktionale Ebene in das Buch einzieht. Dieser erfundene Sohn, obwohl zuerst eindeutig ein Gedankenprodukt Quichottes, gewinnt rasch an Selbstständigkeit und wird zur dritten Hauptfigur des Romans. Er erweist sich dabei weniger als ein Abbild des Sancho Pansa des Cervantes, sondern ist offenbar an Collodis Pinocchio entlang erfunden.

Das Buch erzählt in alternierenden Abschnitten die Geschichten Quichottes, Bruders und schließlich auch Sanchos. Dabei nutzt Rushdie alle Freiheiten des traditionellen pikarischen Romans: Immer wieder finden sich Nebengeschichten und unvorbereitete Abschweifungen, Pfade der Erzählung, die letztlich nirgends hin führen, fantastische Einschübe, albtraumhafte Sequenzen und was der Tricks mehr sind. Die Flut der Anspielungen auf Literatur, aber besonders auch auf Film und Fernsehen ist überwältigend – allein mit der Aufzählung der Offensichtlichsten ließen sich Seiten füllen –; ganz nebenbei wird ein Agententhriller eigebaut, in den Bruders Sohn Sohn verwickelt ist; es wird die Opioid-Sucht in der amerikanischen Gesellschaft thematisiert; der alltägliche Rassismus in den USA kommt ebenso vor wie das Problem des Kindesmissbrauchs in Familien; und nicht zuletzt sind auch Verschwörungstheoretiker prominent vertreten und ein wirtschaftlich erfolgreiches Genie, das den Weltuntergang prophezeit und die Menschheit auf die Erde eines Paralleluniversums hinüber retten will. Und bei all diesen Wendungen und Themen findet Rushdie immer erneut einen Weg, sie auf den Ritter von der traurigen Gestalt und seinen verzweifelten Kampf gegen die Realität zu­rück­zu­be­zie­hen.

Ich weiß wohl, dass Rushdies Bücher immer so sind, wenn ich auch von seinen Romanen zu wenige gelesen habe, um dieses Vorurteil tatsächlich inhaltlich füllen zu können, aber es hat mich überwältigt. Dieses Buch ist von einem Reichtum an Erfindung, einer Freiheit der Phantasie, einer Stringenz des Gedankens und nicht zuletzt einem so souveränen Humor, dass ihm eine Besprechung wohl nicht gerecht werden kann. Um auch mit Lichtenberg zu schließen, sei einmal mehr gesagt:

Wer zwei Paar Hosen hat, mache eins zu Geld und schaffe sich dieses Buch an.

Ebd. S. 359. [E 79]

Salman Rushdie: Quichotte. Aus dem Englischen von Sabine Herting. München: C. Bertelsmann, 2019. Pappband, 461 Seiten. 25,– €.

Ian Kershaw: Roller-Coaster

And despite his personal magnetism, Rudi Dutschke’s visits to activists in East Berlin and Prague did not result in a meeting of minds. ‘The love lasted, but the problem with Dutschke was that he only talked nonsense, leftist, stupid 68er nonsense,’ a GDR dissident, arrested in 1968 for protesting against the Soviet invasion of Czechoslovakia in August that year, later wrote.

Roller-Coaster ist die Fortsetzung von To Hell and Back, also der zweite Teil von Kershaws Geschichte Europas im 20. Jahrhundert und damit zugleich der Abschluss der Penguin History of Europe. Die Darstellung setzt im Jahr 1950 ein und wird bis ins Jahr 2017 fortgeführt. Wie bei aller Geschichtsschreibung, die sich der Gegenwart annähert, besteht das erste Problem in der Auswahl und Gewichtung des überreich vorhandenen Materials. Kershaw bewährt sich einmal mehr als einer der besten historischen Erzähler unserer Zeit: Nicht nur gelingt es ihm, die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts in Europa umfassend und klar gegliedert darzustellen, auch die Ereignisse, die zum Zusammenbruch des Ostblocks und damit zur deutschen Vereinigung und der Osterweiterung der EU geführt haben, werden in musterhafter Klarheit nacherzählt.

Bei der Geschichtsschreibung der Gegenwart lässt sich noch weniger als ohnehin der Einfluss persönlicher Ansichten und politischer Überzeugungen auf die Darstellung neutralisierend. Kershaw ist ein liberaler Befürworter der europäischen Einigung und sieht die Geschichte der EU alles in allem als eine Erfolgsgeschichte: Die weitgehende Bewahrung des Friedens (er erkennt das Gewicht der Ausnahme der Jugoslawienkriege durchaus), die weitgehende Demokratisierung Europas (auch hier ist ihm bewusst, dass nicht überall dieselben demokratischen und freiheitlichen Standards eingehalten werden), die Bewährung der europäischen Gemeinschaft in den Krisen der letzten Jahrzehnte, all dies sind unbestreitbare Gewinne, die sich die Länder Europas im 20 Jahrhundert erarbeitet haben.

Dabei ist Kershaw nicht blind für die grundsätzlichen Schwierigkeiten, denen sich die EU in der Gegenwart und unmittelbaren Zukunft gegenübersieht. In seinem Nachwort, das für sich allein als ein brillanter Essay gelesen werden kann, zeichnet er ein präzises Bild von den Problemen, denen sich die Gemeinschaft stellen muss, darunter nicht zuletzt die Folgen des Klimawandels, die sich kaum mehr werden vermeiden lassen. Den nicht-britischen Lesern wird vielleicht ein leichtes Übergewicht bei der Darstellung der englischen Verhältnisse auffallen, aber besonders deutsche Leser werden dafür Kershaws genaue Kenntniss und gerechte Beurteilung der deutschen Nachkriegsgeschichte dankbar sein (mir hat einzig ein ausdrücklicher Hinweis auf den rechtsradikalen Terror im vereinten Deutschland gefehlt).

Mit den beiden Bänden ist Kershaw eine exzellente und umfassende Geschichte Europas im 20. Jahrhundert gelungen, die eine – soweit ich es sehe – ganz einmalige Gesamtschau liefert. Die deutsche Übersetzung des zweiten Bandes ist für März 2019 bei DVA angekündigt.

Ian Kershaw: Roller-Coaster. Europe, 1950–2017. London: Allen Lane, 2018. Kindle-Edition, 584 Seiten. 18,69 €.

Richard Ford: Frank

»Ich frage mich, wenn man ein Buch schreibt, woher weiß man, wann es vollendet ist? Weiß man das im Voraus? Ist das immer klar? Mir ist das ein Rätsel. Nichts, was ich je gemacht habe, lief auf ein Ende zu.«

Ford-FrankRichard Ford hat die nach seinen eigenen Worten abgeschlossene Frank-Bascombe-Trilogie um ein weiteres Buch ergänzt. Der deutsche Verlag hat klugerweise darauf verzichtet, das Buch mit einer Gattungsbezeichnung zu versehen, denn weder handelt es sich im eigentlichen Sinn um einen Roman, noch sind es vier voneinander unabhängige Erzählungen, die Ford hier präsentiert: Erzählt wird von knapp zwei Wochen Ende 2012. In New Jersey hat vor ein paar Wochen der Hurrikan Sandy gerade da Trümmer hinterlassen, wo Frank Bascombe noch zehn Jahre zuvor gewohnt hat. An seinem jetzigen (und frühere) Wohnort Haddam ist nicht viel passiert, aber das erste Kapitel bringt ihn zurück zu seinem Haus in Sea-Clift, nordöstlich von Atlantic City, um zusammen mit dem Käufer die Überreste seines ehemaligen Hauses zu inspizieren. Das zweite Kapitel schildert eine Begegnung Franks mit einer ehemaligen Bewohnerin seines jetzigen Hauses, die als junges Mädchen nur durch Zufall der Ermordung durch ihren eigenen Vater entgangen ist, der in dem Haus, das jetzt Frank gehört, erst seine Frau und seinen Sohn und schließlich auch sich selbst erschossen hat. Im dritten Teil besucht Frank seine Ex-Frau Ann, die inzwischen auch wieder in Haddam lebt, an Parkinson leidet und sich mit ihrem Mann immer noch nicht wieder versteht. Und schließlich besucht Frank einen todkranken alten Freund, den er seit Jahren nicht mehr gesehen hat und der glaubt, Frank kurz vor dem Tod noch beichten zu müssen, dass er mit Ann geschlafen habe, als sie und Frank noch verheiratet waren.

Das Thema aller dieser Episoden sind Sterben und Tod. Frank Bascombe ist inzwischen 67 Jahre alt (auch wenn er behauptet, er sei 68), er macht sich Sorgen, er könne an Alzheimer leiden, verweigert aber den entsprechenden Test (ein wenig vergesslich ist er auf jeden Fall, aber das muss ja nichts schlimmes bedeuten). Auch ist er körperlich nicht mehr der Fitteste, hat dann und wann Schwindelanfälle und fürchtet sich davor, zu stürzen und sich etwas zu brechen. War der Tenor der früheren Bücher die kontinuierliche Verwandlung Franks, so ist es diesmal das Nachlassen und langsame Verschwinden aus der Welt. Doch bleibt Frank wie schon früher alles in allem ziemlich gelassen:

Der alte Henry James hielt den Tod für ein »bedeutsames« Ereignis. Ich bin mir sicher, das ist er nicht.

Sehr hübsch ist die Wendung, die das Buch noch auf den letzten Seiten nimmt, aber das sollen die Leser ruhig selbst entdecken.

Das Buch ist trotz seiner Kürze (es hat nur ein gutes Drittel des Umfangs der Vorläufer-Romane) nicht ohne Längen (insbesondere das dritte Kapitel fand ich zäh), und Frank schafft es auch auf der kurzen Strecke wieder, seinen Mitmenschen und dem Leser auf die Nerven zu gehen. Oder, um es mit den Worten seiner Tochter Clarisse zu sagen:

»Sei zur Abwechslung mal kein Arschloch, Frank. Sie stirbt.«

Wer sich mit Frank Bascombe trotz allem irgendwann einmal angefreundet hat, sollte dieses Buch auf keinen Fall verpassen. Was ich nicht recht einzuschätzen vermag, ist der Eindruck auf Leser, die Frank mit diesem Buch zum ersten Mal begegnen. Aber das muss ich ja vielleicht auch gar nicht können.

Richard Ford: Frank. Aus dem Englischen von Frank Heibert. Berlin: Hanser Berlin, 2015. Pappband, 223 Seiten. 19,90 €.

Friedrich von Borries: RLF

Alle Wege führen unweigerlich
in die Perversität
und in die Absurdität
Wir können die Welt nur verbessern
wenn wir sie abschaffen
Thomas Bernhard
Der Weltverbesserer (1978)

Borries-RLFBücher, nach deren Lektüre man sich nicht sicher ist, ob es sich beim Autor um einen Volldeppen handelt, sind vielleicht nicht die schlechtesten. Die besten sind es aber sicherlich nicht.

„RLF“ – die drei Buchstaben stehen für „das richtige Leben im falschen“, einer Negation eines zum Schlagwort verkommenen Satzes von Adorno; der Anklang an die RAF ist beabsichtigt und fast noch das Netteste am ganzen Buch – erzählt die Geschichte von Jan, einem ganz normalen, notgeilen Arschloch aus der Werbebranche, der von ein paar Möchtegern-Revolutionären dazu benutzt wird, um an Geld zu kommen. Um ihn wieder loszuwerden, lässt ihn der Autor am Ende besoffen vom Balkon eines Luxushotels in Venedig fallen. Ist nicht schade drum.

Jan wird auf den grandiosen Einfall gestoßen, die Revolution als kapitalistisches Kunstwerk zu vermarkten. Zu diesem Zweck tut er, was er am besten kann: voller Pathos dummes Zeug quatschen. Das ganze Buch bewegt sich mit seinen Pappkameraden knapp unterhalb des Reflexionsniveaus von „Narziß und Goldmund“. Auch nur für einen Moment zu versuchen, sein substanzloses Gewäsche mit Adorno in Beziehung zu setzen, hieße, es maßlos zu überschätzen. So wie die Welt.

Unterbrochen wird die Fiktion durch Auszüge aus Interviews mit tatsächlichen Revolutionären der heutigen Zeit zur Frage nach der Möglichkeit des richtigen Lebens im falschen (das Falsche ist bei Adorno übrigens die Inneneinrichtung). Ein paar von ihnen haben auch etwas zu sagen. Zwei scheinen sogar irgendwann einmal Adorno gelesen zu haben.

Wohlgemerkt: Es könnte sich bei alle dem auch um eine Satire handeln; wirklich zu erkennen ist das nicht. Ich fürchte aber, dass der Autor irgend etwas ernst meint; nur was er ernst meint, steht nicht im Buch. Ist auch nicht nötig, verkauft sich auch so, wenn nur richtig Werbung gemacht wird. Bei Suhrkamp. Um 13,99 €.

Friedrich von Borries: RLF. Das richtige Leben im falschen. Berlin: Suhrkamp, 2013. Klappenbroschur, 252 Seiten. 13,99 €.

Jonathan Safran Foer: Extremely Loud & Incredibly Close

Nine out of ten significant people have to do with money or war!

Foer_ExtremlyEin weiteres Buch in meiner kleinen Lesereihe zum Thema Nine-Eleven, und bislang das literarisch weitaus überzeugendste. Foer gehört zu den erfindungsreichsten, phantasievollsten der ernstzunehmenden US-amerikanischen Autoren. »Extremely Loud & Incredibly Close« erschien 2005, also noch vor »Terrorist« (2006) und »Falling Man« (2007), und es ist zugleich indirekter und motivisch differenzierter als diese Nachfolger, bei denen man zumindest für Don DeLillo annehmen darf, dass er Foers Buch während der Niederschrift gekannt hat.

Erzählt wird die Geschichte vom neunjährigen Oskar Schell, der seinen Vater vor etwa einem Jahr beim Anschlag auf das World Trade Center verloren hat und immer noch heftig um ihn trauert. Oskar wurde von seinem Vater offenbar nie als Kind, sondern immer als junger Erwachsener behandelt. So ist Oskar zu einem etwas altklugen und zugleich ängstlichen Jungen geworden, der einen  stark naturwissenschaftlich geprägten Blick auf die Welt hat. Wahrscheinlich ist dies auch ein Grund dafür, warum es Oskar so schwer fällt, mit dem Gefühl der Trauer umgehen zu können. Der eigentliche Erzählanlass ist, dass er den Kleiderschrank seines Vaters durchstöbert und er dabei eine blaue Vase zerbricht, in der sich ein kleiner Umschlag mit einem Schlüssel findet. Auf dem Umschlag steht der Name Black, was Oskar, dessen Vater für ihn Forschungsexpeditionen erfunden hat, um seine Menschenscheu zu überwinden, dazu veranlasst, alle Blacks New Yorks zu recherchieren und einen nach dem anderen aufzusuchen, um das Geheimnis des Schlüssels zu entdecken.

Gleichzeitig wird die Geschichte der Großeltern Oskars erzählt, die aus Dresden stammen: Thomas Schell sen. hatte sich als junger Bildhauer in Anna verliebt und ein Kind mit ihr gezeugt. Bevor die beiden heiraten können oder das Kind geboren wird, kommt Anna bei der amerikanischen Bombardierung Dresdens (eine bewusste historische Spiegelung der Anschläge vom 11. September) ums Leben. Thomas wandert in die USA aus, wo er langsam verstummt und sich nur noch schreibend verständig. Als er bereits völlig verstummt ist, trifft er zufällig Annas Schwester, die den kontaktscheuen Mann zu einer Ehe drängt. Als sie gegen die ausdrücklich Verabredung der beiden schwanger wird, flieht Thomas Schell zurück nach Deutschland. Erst als er dort aus der Zeitung vom Tod seines Sohns erfährt, kehrt er nach New York zurück. Eine wichtigere Rolle als dieser Großvater, der überhaupt erst im letzten Teil des Buches leibhaftig in Oskars Leben auftaucht, spielt die Großmutter, die offenbar all ihre Liebe für den toten Sohn auf ihren Enkel übertragen hat und seine wichtigste Bezugsperson ist.

Die Suche nach dem Schlüssel erweist sich schließlich als kompletter MacGuffin, ausschließlich erfunden um Oskar in die Welt und unter seine Mitmenschen zu bringen. Das Buch folgt locker dem Muster des Entwicklungsromans; ob der Name Oskar für den etwas altklugen Jungen eine Anspielung auf »Die Blechtrommel« darstellt, ist zumindest bei einem ersten Durchgang nicht zu entscheiden.

Das Buch ist motivisch sehr reich aufgrund der zahlreichen Begegnungen Oskars mit den verschiedenen Blacks, deren Geschichten das stets wechselnde Widerlager zu Oskars Verlust bilden. Die parallel erzählte Leidensgeschichte der Großeltern fügt eine weitere Ebene hinzu, die dazu dient, die Singularität des Geschehens und des Schicksals der Opfer des 11. Septembers zu relativieren. Foers Blick auf den Anschlag ist nicht tagespolitisch, sondern historisch, auch wenn er letztlich absichtlich kindlich-naiv bleibt. Erwähnt werden sollte wohl noch der für einen Roman ungewöhnlich breite Einsatz von Fotomaterial, das Oskars Sicht auf seine Welt direkt visualisiert.

Jonathan Safran Foer: Extremely Loud & Incredibly Close. London: Hamisch Hamilton, 2005. Softcover, Fadenheftung, 355 Seiten.

John Updike: Terrorist

Da ich aus didaktischem Anlass gerade aufs Thema gestoßen bin, werde ich einige weitere, unsystematisch ausgewählte Erzählungen anhängen, die sich – mehr oder minder direkt – mit den Anschlägen vom 11. September 2011 beschäftigen. Darunter ist Updikes »Terrorist« wahrscheinlich eine der bekanntesten. Sie erschien bereits ein Jahr vor Don DeLillos »Falling Man« und ist inhaltlich weit geradliniger und erzählerisch schlichter und richtet sich deutlich an ein breiteres Lesepublikum.

Erzählt wird die Geschichte des zu Anfang kurz vor seinem High-School-Abschluss stehenden, knapp 18-jährigen Ahmed Mulloy, Sohn einer irischstämmigen US-Amerikanerinnen und eines Ägypters, der bald nach Ahmeds Geburt aus dem Leben der Mutter verschwunden ist. Ahmed ist ein etwas schüchterner, unsicherer junger Mann von einigem Stolz, ans einer Schule zugleich ein guter Schüler und ein Außenseiter. Seine Identität definiert er hauptsächlich über seine Zugehörigkeit zu einer muslimischen Gemeinde, deren Imam Ahmeds Isolation und seine Verachtung der moralischen Laxheit seiner Schulkameraden, ja der US-amerikanischen Gesellschaft überhaupt systematisch fördert und verschärft. Der Imam ist es auch, der Ahmeds Berufswahl nach dem Schulabschluss entscheidend beeinflusst; so wird er LKW-Fahrer in einer der Moschee nahe verbundenen Möbelspedition.

Natürlich kommt es, wie es kommen muss: Ahmed soll einige Tage nach dem 11. September 2004 einen mit Sprengstoff beladenen Laster in einem der Tunnel von New Jersey nach New York zur Explosion bringen. Doch greift kurz zuvor Ahmeds ehemaliger Beratungslehrer, ein atheistischer, desillusionierter Jude, der auf dem originellen Namen Jack Levy hört und der, um ihn während des Romans zu beschäftigen und auch nach dem Schulabschluss mit Ahmed zu verbandeln, vom Autor durch ein Verhältnis mit Ahmeds Mutter geschleift wird, bedeutend in die Handlung ein. Wie es am Ende ausgeht, soll nicht verraten werden, denn immerhin bilden die letzten 70 Seiten die einzige gelungene Passage des Buches.

Ansonsten leidet das Buch sehr darunter, dass es sich bei praktisch allen Figuren des Buches um Idioten handelt. Der Leser ist daher gezwungen, sich seitenweise durch mit Plattitüden und Klischees angefüllte, stilistisch unerhebliche Dialoge zu arbeiten, in denen Updike nicht nur das letztlich recht schlichte Gemüt Ahmeds, sondern auch die Gehaltlosigkeit der US-amerikanischen Alltagskultur widerspiegelt. Zumindest das muss man dem Autor zugestehen, dass er Ahmeds Verachtung der ihn umgebenden Realität über weite Strecken teilt, wenn er auch weder seine Alternative schätzt, geschweige denn die Konsequenzen billigt, die sein junger, naiver Protagonist aus dieser kritischen Haltung zieht.

Alles im allem ist das Buch trivial und über weite Strecken langatmig. Es ist die Behandlung des Themas islamistischer Terrorismus, wie man sie von einem routinierten US-Autor erwarten würde, könnte aber auch sowohl inhaltlich als auch formal ebenso gut zum Beispiel von Stephen King stammen. Ich werde bei Gelegenheit meine alte Einschätzung John Updikes durch eine erneute Lektüre der Rabbit-Romane noch einmal justieren müssen.

John Updike: Terrorist. Deutsch von Angelika Praesent. rororo 24473. Reinbek: Rowohlt, 2008. Broschur, 397 Seiten. 9,95 €.

Don DeLillo: Falling Man

There was the fact that they would all be dead one day.

Wieder einmal eine Lektüre aus didaktischem Anlass. Vor vielen Jahren hatte ich es einmal mit DeLillos »Unterwelt« versucht, war aber nicht bis zu dem Punkt vorgedrungen, an dem mir der Text eingeleuchtet hätte. Danach hatte sich bis dato kein weiterer Anknüpfungspunkt ergeben, bis ich nun mit einiger Überraschung feststellen durfte, dass es »Falling Man« offenbar in den Lektürekanon der deutschen Oberstufe geschafft hat.

Erzählt wird die Geschichte des Ehepaars Neudecker. Keith Neudecker, 39 Jahre alt, arbeitet als Jurist im World Trade Center als es am 11. September 2001 zum bekannten islamistischen Anschlag kommt. Neudecker entkommt der Katastrophe knapp und nur leicht verletzt und lässt sich, noch ganz unter dem Schock des Anschlags stehend, zum Appartment seiner Frau bringen, von der er seit einiger Zeit getrennt lebt. Lianne Neudecker ist freie Lektorin und kümmert sich außer um den gemeinsamen, 7-jährigen Sohn Justin auch um ihre kränkelnde Mutter. Sie leitet zudem eine Gruppe für therapeutisches Schreiben von Alzheimer-Patienten. Das einzige Interesse, das Keith neben seiner Arbeit gepflegt zu haben scheint, sind regelmäßige Pokerrunden mit einigen Freunden, von denen allerdings drei im Anschlag auf das World Trade Center getötet worden sind. Mit Keith’ Erscheinen bei Lianne nach dem Anschlag ist die Phase der Trennung des Ehepaars offenbar vorüber.

DeLillo treibt die Handlung in zwei weitgehend voneinander unabhängigen Erzählsträngen vorwärts: Während Lianne in der Hauptsache der Vergangenheit und ihren und fremden Erinnerungen verhaftet scheint, entwickelt Keith eine etwas beemdliche Beziehung zu einer Frau, deren Aktenkoffer er eher zufällig aus dem WTC mitgenommen hatte. Ansonsten holt er Justin von der Schule ab und verbringt einige Zeit mit ihm; Justin entwickelt in der Zeit nach den Anschlägen einige etwas seltsame Verhaltensweisen. Letztlich bleibt Keith aber intellektuell und emotional isoliert. Lianne dagegen erlebt, wie sich ihre Mutter und deren Geliebter Martin über die Deutung und Bedeutung des Anschlages streiten. Martin soll dabei wohl eine eher europäische Perspektive repräsentieren, denn er stammt offenbar aus Deutschland und war in der 68er-Bewegung auf eher undeutliche Weise in den politischen Widerstand verstrickt. In einem dritten, deutlich kürzeren Teil zeigt DeLillo das Ehepaar dann etwa drei Jahre nach dem Anschlag: Sie sind immer noch miteinander verheiratet, wenn auch Keith die meiste Zeit unterwegs ist, da er sein Geld inzwischen als professioneller Pokerspieler verdient.

Durchbrochen und gekontert wird diese Erzählung von drei kurzen Passagen, die einen der Attentäter des Anschlags in verschiedenen Phasen schildert: Während der Hamburger Zeit in der Marienstraße, während der Flugausbildung in Florida und schließlich kurz bevor sein Flugzeug im Turm des WTC einschlägt. Ob man die in aller Kürze dargestellte Entwicklung eines eher unsicheren Menschen zum Massenmörder überzeugend findet, muss, angesichts des unzureichenden empirischen Vergleichsmaterials, jeder Leser für sich entscheiden.

Seinen Titel bezieht das Buch von einer Randfigur, einem New Yorker Performance-Künstler, der sich, gesichert mit einer Sicherheitsweste und gehalten von einem Kabel, an öffentlichen Plätzen als Falling Man aufführt. Er ahmt dabei mit seiner Körperhaltung eines der berühmtesten Fotos von den aus den Türmen des WTC springenden Menschen nach. Im dritten Teil widmet DeLillo ihm einen ausführlichen Nachruf.

Alles in allem eine eher durchschnittliche Lektüre. Wirklich überzeugend scheint nur eine einzige längere Passage im dritten Teil zu sein, die Keith’ Welt als Pokerspieler beschreibt; alles andere erzeugt den Eindruck einer weitgehenden Beliebigkeit, als könnte all dies gut so, aber eben genauso gut auch ganz anders sein. Weder was die Analyse der Anschläge, noch was die existenziellen Folgen für das Opfer Keith Neudecker angeht, hat DeLillo etwas wirklich Überraschendes oder Originelles zu erzählen.

Don DeLillo: Falling Man. New York u.a.: Scribner, 32008. Broschur, 319 Seiten. Ca. 6,– €.

Benjamin Stein: Replay

Alles weitere geschieht im Hauptquartier …

978-3-406-63005-7Benjamin Stein beweist sich, wie bereits zuvor mit »Die Leinwand«, einmal mehr als Autor außergewöhnlicher Erzählperspektiven. Und wie dort, so ist es auch hier wieder schwierig, das Buch ohne Spoiler zu rezensieren. Die Handlung spielt in einer nicht so weit entfernten Zukunft, in der zumindest in den USA das Goldene Informationszeitalter Wirklichkeit geworden ist. Im Zentrum der Entwicklung dorthin stand der Ich-Erzähler Ed Rosen, der mit einer körperlichen Behinderung geboren wurde: Er ist auf einem Auge blind, wodurch ihm eine Dimension des Sehens fehlt. Während seiner religiösen Ausbildung von kabbalistischer Zahlenmystik fasziniert, studiert er Informatik und spezialisiert sich auf das Proben der digitalen Repräsentation der Wirklichkeit. Nach dem Studium beginnt er bei der kleinen, aber feinen Silicon-Valley-Firma Juan Matanas, eines Exil-Chilenen, der sich für das Problem der Schnittstelle zwischen biologischen und elektronischen Systemen interessiert. Ed Rosen wird für ihn nicht nur zu einem wertvollen Mitarbeiter, sondern aufgrund seiner Behinderung auch zur ersten Versuchsperson bei dem Experiment, die Daten einer elektronischen Prothese direkt ins menschliche Gehirn einzuspeisen.

Wie man sich leicht denken kann, löst das Gelingen dieses Projekts eine technische und kulturelle Revolution aus: Die Lösung des prinzipiellen Problems der digitalen/biologischen Schnittstelle eröffnet nur zu sehr geahnte Möglichkeiten der heraufziehenden Informationsgesellschaft. Alles weitere muss man selbst nachlesen.

Der Text ist ein kleines Meisterwerk: Nicht nur ist er motivisch beeindruckend dicht gearbeitet, er ist mit seinem naiven Erzähler und seinem harmlos optimistischen Auftakt auch von einer ebenso luziden wie boshaften Ironie, wie sie sich in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nur sehr selten finden lässt. In diesem Sinne sei allen Lesern unbedingt angeraten, sich von der scheinbar ziellos dahintreibenden Geschichte der ersten Hälfte des Buches nicht täuschen zu lassen; sie ist die notwendige Folie für das letztendlich sich ergebende Gesamtbild. Überhaupt kann man die erste Hälfte des Buches erst richtig würdigen, wenn man sie mit dem Wissen um das Ganze zum zweiten Mal liest.

Benjamin Stein ist es mit »Replay« nicht nur gelungen, einen würdigen Nachfolger für »Die Leinwand« zu schreiben, sondern auch ein zeitgemäßes und notwendiges Gegenstück zu Orwells »1984«.

Benjamin Stein: Replay. München: Beck, 2012. Pappband, 173 Seiten. 17,95 €.

 

P.S.: Inzwischen gibt es auch einen Filmtrailer zum Buch: