Amélie Nothomb: Im Namen des Lexikons

Wer sein Kind Tanguy oder Joëlle nennen will, schickt es in eine Welt des Mittelmaßes hinein, versperrt ihm von vornherein den Horizont.

nothomb_lexikonsDiese Erzählung Amélie Nothombs zeigt wieder einmal, dass ihre direkt aus der eigenen Biographie gespeisten Texte (»Liebessabotage« oder »Biographie des Hungers«) deutlich stärker sind als ihre eher fiktionalen. Hier wie dort bleibt sie allerdings ihrem Interesse für bestimmte Motive – Gewalt, gestörtes Verhältnis zum eigenen Körper, Bulimie – treu.

»Im Namen des Lexikons« (im Original »Robert de noms propre«) erzählt die Geschichte der jungen Plectrude, die bereits vor ihrer Geburt zur Halbwaisen wird, als ihre Mutter den Kindsvater erschießt, da sie glaubt, das Kind vor dessen banaler Namenswahl beschützen zu müssen. Nachdem die Mutter dann dafür gesorgt hat, dass Plectrude auf ihren raren Namen getauft wird, erhängt sie sich in ihrer Zelle.

Nach diesem etwas merkwürdig aus Camus’ »Der Fremde« und Jonny Cashs »A Boy named Sue« zusammengestrickten Auftakt wächst Plectrude im Haushalt ihrer Tante zu einem gänzlich außergewöhnlichen Mädchen heran: Hoch intelligent – wenn man dem mit traumwandlerischer Unbewusstheit bestandenen Test glauben darf –, aber an allem außer dem Tanz desinteressiert, verlässt sie die Schule mit knapp dreizehn Jahren und tritt ins Internat der Ballettschule der Pariser Oper ein. Hier ruiniert sie sich durch eine konsequente Fehlernährung ihren Knochenbau und muss, zur maßlosen Enttäuschung ihrer Tante, den Traum aufgeben, Tänzerin zu werden. Als sie schließlich die wahre Geschichte ihrer Herkunft erfährt, identifiziert sie sich mit dem Schicksal ihrer Mutter, lässt sich schwängern, gebiert den Knaben Robert und macht sich auf den Weg, Selbstmord zu verüben. Vom Ende soll nur soviel verraten werden, dass Nothomb versucht, den Text dadurch zu retten, dass sie sich von ihrer eigenen Figur ermorden lässt, um sie dann ratlos vor ihrer Leiche zurückzulassen.

Das Buch ist ganz nett, mehr aber auch nicht. Insbesondere die Passagen der Kritik an der Institution der Ballettschule und des Zerwürfnisses zwischen Plectrude und ihrer Ziehmutter überzeugen nicht – zu viel für eine so kurze Erzählung, der auch durch den abschließenden Schwenk ins Absurde nicht aufgeholfen wird.

Amélie Nothomb: Im Namen des Lexikons. Aus dem Französischen von Wolfgang Krege. detebe 23455. Zürich: Diogenes, 2004. Broschur, 148 Seiten. 7,90 €. (Derzeit anscheinend nicht lieferbar.)

Daniil Charms: Werke

978-3-86971-025-9Normalerweise werden hier nur Bücher vorgestellt, die bereits gelesen wurden, aber in diesem Fall soll und muss eine Ausnahme gemacht werden, da dieser Werkausgabe soviele Käufer und Leser wie möglich zu wünschen sind. Im Verlag Galiani, Berlin, einem Imprint von Kiepenheuer & Witsch, erscheint in vier Bänden die erste deutsche Werkausgabe der Schriften von Daniil Charms. Die ersten beiden Bände sind bereits erschienen, die beiden fehlenden sollen im kommenden Jahr folgen. Die Bände sind wie folgt aufgeteilt:

  1. Prosa
  2. Gedichte
  3. Theaterstücke
  4. Autobiografisches, Briefe, Essays

978-3-86971-029-7Bei Charms handelt es sich um einen der erstaunlichsten und humorvollsten absurden Autoren des 20. Jahrhunderts. Er hat zu Lebzeiten beinahe ausschließlich seine Geschichten und Gedichte für Kinder veröffentlichen können. Der Großteil seines Werkes lag nur in handschriftlichen Notizbüchern vor, die wie durch ein Wunder von staatlicher Beschlagnahme und Vernichtung im Zweiten Weltkrieg verschont geblieben sind. Charms hat seine Werke unter größten Schwierigkeiten produziert und einen bedeutenden Teil seines kurzen Lebens unter politischer Verfolgung gelitten. Er ist in der Gefängnispsychiatrie während der Belagerung Leningrads durch die Deutsche Wehrmacht verhungert.

978-3-86971-023-5Trotz der staatlichen Versuche, Charms Werke zu unterdrücken, erschienen Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre deutsche und englische Übersetzungen. In der Sowjetunion konnten Charms Schriften aber auch weiterhin nur in einzelnen Abschriften kursieren, und es kam erst ab 1997 zu einer Werkausgabe, die eine solide Textgrundlage lieferte.

Wie bereits gesagt, erscheint nun erstmals eine deutsche Werkausgabe, herausgegeben von Vladimir Glozer, einem Charms-Kenner, der leider bereits 2009 verstarb, und Alexander Nitzberg. Alle Texte werden in Neuübersetzungen vorgelegt. Begleitet wird die Werkausgabe mit einer Biografie, die Glozer aus Gesprächen mit Charms Lebensgefährtin Marina Durnowo zusammengestellt hat.

Wer zwei Paar Hosen hat, mache eins zu Geld und schaffe sich diese Bücher an!

Daniil Charms: Trinken Sie Essig, meine Herren! Werke 1: Prosa. Aus dem Russischen übersetzt von Beate Rausch. Hg. v. Vladimir Glozer und Alexander Nitzberg. Berlin: Galiani, 2010. Bedruckter Pappband, Fadenheftung. 271 Seiten. 24,95 €.

Ders.: Sieben Zehntel eines Kopfs. Werke 2: Gedichte. Übersetzt und hg. von Alexander Nitzberg. Berlin: Galiani, 2010. Bedruckter Pappband, Fadenheftung, Lesebändchen. 313 Seiten. 24,95 €.

Marina Durnowo: Mein Leben mit Daniil Charms. Aus Gesprächen zusammengestellt von Vladimir Glozer. Aus dem Russischen von Andreas Tretner. Berlin: Galiani, 2010. Pappband. 151 Seiten. 16,95 €.