Keiner glaubt keinem, alle wissen Bescheid.
Bei der Kleinen Ethik Adornos, die in der Hauptsache zwischen 1944 und 1947 entstanden ist, handelt es sich wahrscheinlich um sein meistgelesenes Buch überhaupt. Die Auflage liegt inzwischen bei über 120.000 Exemplaren, was für ein deutschsprachiges, ernsthaft philosophisches Buch des 20. Jahrhunderts beachtlich ist. Dabei ist zu betonen, dass es Adorno seinen Lesern durchaus nicht einfach macht: Seine Sprache befindet sich überall auf der Höhe der Reflexion, die behandelten Themen werden vor dem Hintergrund einer nirgends ausführlich ausgeführten Gesellschaftstheorie analysiert und viele dieser Analysen sind sehr knapp gehalten; einzig die Gliederung des Materials in 153 Abschnitte, die selten mehr als drei Seiten umfassen, kommt der Lektüre des philosophischen Laien entgegen.
Je nach Lektüre lassen sich unterschiedliche Zentren des Buches ausmachen. Adorno selbst hat später die Handreichung gegeben, die „Minima Moralia“ seien ein Buch über das falsche Leben; genau so könnte man behaupten, dass sie ein Buch über die Unmöglichkeit einer Ethik in einer auf den Tauschwert aller Erscheinung geeichten Gesellschaft ist. Man kann es auch als eine differenzierende Fortsetzung der „Dialektik der Aufklärung“ lesen. Neben spezifisch ethischen Themen behandelt Adorno auch Fragen der Ästhetik, insbesondere der Erscheinungen der Massenkultur – sein Lieblingsbeispiel ist der Hollywood-Film, wobei hier zu bedenken ist, dass er die volle Entwicklung dieser Form des Kunstgewerbes zum Zeitpunkt der Niederschrift nicht einmal erahnen konnte.
Die bedeutendste Schwierigkeit, die sich einer angemessenen Auseinandersetzung mit Adornos Ethik entgegenstellen dürfte, ist sein eigentümliches Menschenbild, das den Individualismus nahezu vollständig als fehlerhaftes begriffliches Konzept behandelt und mit Ausnahme weniger widerständiger Intellektueller und Künstler nurmehr den bis auf verschwindende Reste mit seiner gesellschaftlichen Funktion identischen Massenmenschen kennt. Man wird unter diesen Massenmenschen auf Anhieb wahrscheinlich nur wenig Bereitschaft finden, diesem anthropologischen Entwurf beizutreten. Die Lebensform der Menschheit ist – wie bereits gesagt – die grundsätzliche Reduzierbarkeit aller Erscheinungen auf ihren Tauschwert, sprich der Kapitalismus, als dessen konsequenteste Form sich der Faschismus erwiesen hat. Angesichts solcher Verhältnisse ist an eine Ethik im emphatischen Sinn nicht zu denken. Was bleibt ist die dialektische Kritik, die stets fortzuentwickeln ist, da das falsche Weltverhältnis die prinzipielle Tendenz hat, jegliche Kritik in sich zu vereinnahmen und aufzuheben. Es wäre für Adorno ein verzweifelter Genuss gewesen, hätte er erleben dürfen, wie sehr er mit seiner Analyse Recht behalten sollte.
Unabhängig davon, ob man dem zugrunde liegenden Weltbild zustimmt oder nicht, bietet das Buch eine Überfülle von präzisen und auf den Punkt formulierten Details. Ich selbst habe Adorno zuletzt in meiner Studienzeit gelesen und bei der erneuten Lektüre einen nicht erinnerten Reichtum an Einzelbeobachtungen und -formulierungen gefunden, die für sich bestehen uneingedenk der konkreten dialektischen Bewegung, der sie entstammen.
Das Leben hat sich in eine zeitlose Folge von Schocks verwandelt, zwischen denen Löcher, paralysierte Zwischenräume klaffen. Nichts aber ist vielleicht verhängnisvoller für die Zukunft, als daß im wörtlichen Sinn bald keiner mehr wird daran denken können, denn jedes Trauma, jeder unbewältigte Schock der Zurückkehrenden ist ein Ferment kommender Destruktion. – Karl Kraus tat recht daran, sein Stück »Die letzten Tage der Menschheit« zu nennen. Was heute geschieht, müßte »Nach Weltuntergang« heißen.
Theodor W. Adorno: Minima Moralia. In: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann. Digitale Bibliothek Band 97 (CD-ROM). Berlin: Directmedia Publishing, 2004. Digitale Lizenzausgabe der Gesammelten Schriften in 20 Bänden des Suhrkamp Verlages.