Shel Silverstein: Lafcadio

978-3-596-85140-9Ein Kinderbuch, das beinahe so alt ist wie ich und das es bereits 1987 einmal auf Deutsch gab. Dann wurde es 2004 von Fischer in seiner »Schatzinsel« noch einmal aufgelegt und hätte es verdient, viel bekannter zu sein. Shel Silverstein erzählt die Geschichte eines jungen Löwen, der nicht wie alle seine Artgenossen vor den Jägern wegläuft, sondern einem von ihnen kurzerhand das Gewehr abnimmt und ihn frisst. Mit dem Gewehr bildet er sich selbst zum Scharfschützen aus und wird daraufhin von einem Zirkusdirektor angeworben und mit dem Versprechen, ihn mit Marshmallows zu füttern, in die Stadt gelockt.

Dort bekommt der Löwe den Namen »Der große Lafcadio« und wird berühmt und ein echter Salonlöwe. Seine Einführung in die gute Gesellschaft verdankt er der zufälligen Begegnung mit dem Erzähler Onkel Shelby, der sein erster und bester Freund wird. Natürlich erweist es sich, dass das Leben in menschlicher Gesellschaft auch einen Löwen auf Dauer nicht glücklich macht. Da kommt es gerade recht, dass der Direktor einen Jagdausflug nach Afrika vorschlägt …

Shel Silverstein: Lafcadio. Ein Löwe schießt zurück. Aus dem Amerikanischen von Harry Rowohlt. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verlag, 2004. Bedruckter Pappband, Fadenheftung, 112 Seiten (unnummeriert) mit zahlreichen, schwarz-weißen Illustrationen. 11,90 €.

Philip Roth: The Humbling

978-0-224-08793-3 Erzählung vom alternden Schauspieler Simon Axler, der in eine tiefe persönliche Krise gerät, als ihm seine Fähigkeit der intuitiven Darstellung seiner Rollen abhanden kommt. Seine Ehefrau trennt sich von ihm, und Axler lässt sich in eine psychiatrische Klinik einweisen, da er sich für akut suizidgefährdet hält. Allerdings lehnt er alle konkreten Hilfsangebote ab: Weder versucht er, ernstlich von den Therapieangeboten der Klinik zu profitieren, noch geht er auf den Vorschlag seines Agenten ein, mit einem auf solche Krisen spezialisierten Schauspiellehrer zu arbeiten. Statt dessen zieht er sich von seinem Beruf und seinen Mitmenschen komplett zurück.

Nach mehreren Monaten Einsamkeit bekommt Axler Besuch von der Tochter zweier Schauspielkollegen, Pegeen Stapleford, 25 Jahre jünger als er und eigentlich lesbisch. Sie verführt Axler und beginnt mit ihm eine Affäre, in der es Axler großes Vergnügen bereitet, in Pegeen das zu wecken, was man gemeinhin wohl die feminine Seite nennt: Er kauft ihr Kleider, überredet sie zu einer neuen Frisur usw. Pegeens Eltern reagieren auf die Affäre besorgt: Sie warnen ihre Tochter davor, dass sie sich bald in einer Beziehung zu einem Siebzigjährigen wiederfinden wird, der sie mehr als Pflegerin denn als Partnerin nötig haben wird.

In die Brüche geht die Beziehung zwischen Pegeen und Simon wegen eines sexuellen Experiments unter Beteiligung einer weiteren Frau. Pegeen verlässt Simon nur wenig später Knall auf Fall, so wie sie es auch zuvor schon einmal in einer anderen Beziehung getan hat. In seine alte Krise und Einsamkeit zurückgeworfen, findet Axler aber noch einmal die Kraft, sich selbst mit einer Rolle zu überzeugen, der des Konstantin Gavrilowitsch Treplev aus Tschechows »Die Möwe«.

Die Erzählung ist besonders in der Gestaltung der Hauptfigur überzeugend. Axlers Verweigerung jeglichen Nachdenkens über seine Arbeit und sein Leben, seine Verweigerung gegenüber jeglicher Hilfe, sein ebenso unreflektierter Versuch, seine Krise durch eine Beziehung zu überwinden, die von Anfang an statt einer Entlastung nur noch mehr Schwierigkeiten zu bringen droht, werden konsequent dem einzigen möglichen Ende zugeführt. Die Erzählung kann gut als ein Seitenstück zu Roth’ Roman »Sabbaths Theater« gelesen werden.

Philip Roth: The Humbling. London: Jonathan Cape, 2009. Pappband, 143 Seiten. Ca. 15,– €.

Michael Chabon: Die Vereinigung jiddischer Polizisten

Nur auf den allerersten Blick handelt es sich um einen gewöhnlichen Kriminalroman. Meyer Landsman, ein heruntergekommener Inspektor der Mordkommission, wird in dem nicht weniger heruntergekommenen Hotel Zamenhof, in dem er seit seiner Scheidung wohnt, vom Portier gebeten, sich einen Toten anzuschauen: Der Gast, der anscheinend von einem professionellen Killer erschossen wurde, nannte sich Emanuel Lasker. Er war drogenabhängig und offenbar tatsächlich, wie schon sein Deckname vermuten lässt, Schachspieler, denn unter seinen wenigen Habseligkeiten findet sich auch ein Schachbrett, auf dem Meyer Landsman eine komplizierte Stellung aufgebaut findet, die später noch eine entscheidende Rolle spielen wird.

Während Landsman mit seiner Untersuchung beginnt, entfaltet sich zugleich vor dem Leser eine eigentümliche Alternativwelt, die die Geschichte seit dem Zweiten Weltkrieg neu erfindet. Noch im Zweiten Weltkrieg beginnen die USA europäischen Juden Asyl zu gewähren. Sie werden in einem eigenen District an der Südküste Alaskas, in Sitka, untergebracht. Umschlossen von den indianischen Tlingit bildet die Enklave Sitka das einzige zusammenhängende jüdische Siedlungsgebiet der Welt. Der Staat Israel ist in Michael Chabons Fassung der Weltgeschichte nur wenige Monate nach seiner Gründung im Krieg gegen die Araber wieder untergegangen. Aber auch der jüdische District Sitka steht unmittelbar vor seiner Auflösung: Seine Existenz wurde nur für 60 Jahre garantiert, und die US-Behörden bereiten die Rückgabe des Gebietes an die einheimischen Tlingit vor.

Auch die Mordkommission wird – unter Leitung von Meyer Landmans Ex-Frau Bina Gelbfish – abgewickelt. Noch gibt es einige ungelöste Fälle, und Bina möchte so viele wie möglich abschließen, bevor die Amerikaner übernehmen. Und obwohl Bina den neuen Fall des Toten im Zamenhof umgehend als abgeschlossen kennzeichnet, ermittelt Landsman mit seinem Partner Berko Shemets in der Sache weiter. Die Spur führt ihn  über den lokalen Schachtreff Sitkas zu den Verbover Juden. Emanuel Lasker erweist sich als Sohn des mächtigsten Verbover Rabbis Shpilman. Aufgewachsen als ein echtes Wunderkind, besonders auch fürs Schachspiel begabt, wurde Mendel Shpilman von vielen für den Messias seiner Generation gehalten. Und während Landsman zu verstehen versucht, wie es dazu gekommen ist, dass Mendel Shpilman tot in einer Absteige geendet ist, kommt er zugleich Schritt für Schritt einer weitreichenden politischen Verschwörung auf die Spur …

Chabons Kriminalroman ist gleich in mehrfacher Hinsicht ungewöhnlich: Auf der einen Seite handelt es sich um ein offensichtliches und souverän geführtes Spiel mit den überlieferten Formen und Klischees des klassischen Detektivromans. Auf der anderen Seite erschafft Chabon überzeugend eine alternative Weltgeschichte, um seine jüdische Enklave mit ihrer eigenen Kultur und Sprache real erscheinen zu lassen. Dieser Reichtum an erfundener Welt hat zu einem ungewöhnlichen Umfang für einen Detektivroman geführt. Der Leser muss aber nicht befürchten, von Chabon eine Geschichtslektion übergestülpt zu bekommen, sondern die Details dieser Welt fließen peu à peu in den Erzähltext ein. Nur einem sorgfältigen Leser wird sich der ganze Reichtum dieses Buchs erschließen.

Die Schachspieler schließlich wird freuen, hier einmal einen Roman zu finden, in dem das Schachspiel nicht von einem weitgehend ahnungslosen Autor als dekorativer Zierrat missbraucht wird, sondern seine Darstellung aus genauen Kenntnissen des Autors entspringt. Die Darstellung sowohl der Patzer im Hotel Einstein als auch des Wunderkinds Mendel Shpilman, ja des Schachspiels insgesamt als integralem Bestandteil jüdischer Kultur überzeugt aufgrund der offensichtlich engen Vertrautheit Chabons mit dem Spiel und seiner Geschichte. Und nicht zuletzt steht ein Schachproblem im Zentrum des Buches, das von einem der bedeutendsten Romanciers des 20. Jahrhunderts stammt:

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Matt in 2

Dieses Problem wurde von Vladimir Nabokov im Jahr 1940 in Paris komponiert, kurz bevor er Frankreich in Richtung USA verließ (vgl. Nabokovs Memoiren »Speak, Memory«, Ende des 14. Kapitels). Die Lösung wird hier natürlich nicht verraten.

Wer im Übrigen zu faul ist, den fast 500-seitigen Roman zu lesen, darf sich auf seine Verfilmung durch die Coen-Brothers freuen. Man kann sich für dieses Buch wohl keine besseren Drehbuch-Autoren und Regisseure wünschen.

Und da wir gerade beim Kino sind: Ab dem 7. Januar 2010 soll die Verfilmung der Schachschmonzette »Die Schachspielerin« (Joueuse) in die deutschen Kinos kommen. Das Buch von Bertina Henrichs hatte es 2006 auf die Bestsellerlisten geschafft und erzählt von der wundersamen Selbstfindung eines in die Jahre gekommenen griechischen Zimmermädchens, das durch das Erlernen des Schachspiels zu einer gänzlich neuen Weltsicht findet. Wollen wir hoffen, dass sich Regisseurin Caroline Bottaro einen ordentlichen Berater in Sachen Schach besorgt hat, denn die Buchvorlage zeugte ausschließlich von der schachlichen Ahnungslosigkeit ihrer Autorin.

Michael Chabon: Die Vereinigung jiddischer Polizisten. Aus dem Englischen von Andrea Fischer. dtv 13793. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2009. 496 Seiten. 9,90 €.

(geschrieben für den Schachkalender 2010)

Vladimir Nabokov: Das Modell für Laura

978-3-498-04691-0 Entgegen dem Anschein, den der Verlag offensichtlich erwecken möchte, dass es sich bei diesem Buch um einen Roman handelt, ist festzustellen, dass es sich nicht einmal um einen Romanentwurf handelt, sondern nur um Fragmente eines solchen Entwurfs. Es ist die Wiedergabe von 138 Karteikarten, die Nabokov für sein letztes Romanprojekt benutzt hat. Auf diesen Karten finden sich der Entwurf zu einigen Kapiteln, unverbundene Fragmente und Notizen sowie einzelne Wörter. Nabokov hatte verfügt, dass die Karteikarten nach seinem Tode vernichtet werden sollten, und seit dem 2. Juli 1977 gab es einen teils öffentlich teils im Verborgenen geführten Streit darum, ob dieser Verfügung nachzukommen sei oder nicht. Nabokovs Frau jedenfalls ist dem Wunsch nicht nachgekommen, so dass die Karten nach deren Tod in den Besitz des Sohns Dmitri gelangten, der sich nun also endlich entschlossen hat, das Material auch einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Die Distanz zwischen dem Vorgelegten und dem daraus zu extrapolierenden Werk ist für den Nicht-Fachmann, geschweige denn für einen normalen Leser in keiner Weise abzuschätzen. Da wir auch bei anderen Werke Nabokovs keine Anhaltspunkte dafür haben, wie weit ein erster Entwurf und das spätere Werk auseinanderlagen, ist eine Beurteilung des Materials, die über die Dokumentation der reinen Kenntnisnahme hinausgeht, kaum möglich. Eine Zusammenfassung des Inhalts des Romanprojekts hat Nabokov selbst geliefert:

Bei Das Modell für Laura handelt sich um die vertrackt komplexe Geschichte eines weltberühmten Neurologen namens Philip Wild – fett, gelehrt, um seine Füße besorgt und mit der jungen Flora verheiratet, die Gegenstand eines meisterlichen Schlüsselromans (‹kiss-and-tell› – küsse sie und rede darüber) mit dem Titel Meine Laura geworden war. Da er nicht nur Wissenschaftler, sondern auch Schriftsteller ist, arbeitet Wild insgeheim an einem Werk, in dem er seine ekstatischen Experimente mit dem Tod beschreibt, nur um von einem gewissen Dr. Aupert – jung, sonnengebräunt und aufgeräumt – zu erfahren, dass er ernstlich krank ist.

Die Präsentation des Materials durch den Rowohlt Verlag ist prätentiös und seitenschindend: Auf jeder Doppelseite stehen sich links die Reproduktion einer Karteikarte und rechts die Übersetzung dieser Karte gegenüber. Nicht nur hätte man ohne Verlust zwei Karten pro Seite wiedergeben, sondern auch die Übersetzung zumindest der ersten Hälfte der Karten als Fließtext präsentieren können. Von der manieristischen Idee, dem Leser die Karteikarten zusätzlich als Kartenset zum Selbstmischen zu liefern, wollen wir hier ganz schweigen.

Insgesamt eine enttäuschende Publikation angesichts der Erwartungen, die seit Jahrzehnten von den Nabokov-Forschern, die Einsicht in das Manuskript hatten, geschürt wurden. Nicht, dass ich dafür plädieren würde, dass man doch besser dem Wunsch Nabokovs nachgekommen wäre, aber den Zirkus, der seit Jahren um diesen Nachlass gemacht wurde, hätte man den Lesern Nabokovs ohne weiteres ersparen können. Parturient montes, nascetur ridiculus mus.

Valdimir Nabokov: Das Modell für Laura. Aus dem Englischen von Dieter E. Zimmer und Ludger Tolksdorf. Reinbek: Rowohlt, 2009. Pappband, Lesebändchen, 319 Seiten. 19,90 €.

Michael Chabon: Wonder Boys

978-3-462-04027-2Ein weiterer Pittsburgh-Roman von Michael Chabon, diesmal aus der Perspektive eines Creative-Writing-Professors erzählt, der an einem Wochenende die Zuspitzung und Lösung seiner Lebenskrise durchlebt. Hintergrund bildet ein Literaturfestival des Colleges, an dem der Ich-Erzähler Grady Tripp arbeitet. Er hat vor einigen Jahren eine Reihe erfolgreicher Romane geschrieben, sitzt aber nun schon seit sieben Jahren an seinem nächsten Buch mit dem Titel Wonder Boys. Er ist ihm etwas aus den Fugen geraten, denn obwohl sein Ende noch in weiter Ferne zu liegen scheint, hat Tripp bereits mehr als 2.600 Seiten geschrieben.

Für das Wochenende des Literaturfestivals hat sich nun Tripps Lektor angesagt, der auf Tripps Roman zur Rettung seiner Karriere hofft. Am selben Tag, an dem Tripp seinem Lektor also wahrscheinlich gestehen muss, dass es vom Ende seines Romans weiter entfernt zu sein scheint als je zuvor, verlässt ihn außerdem noch seine Frau und seine Geliebte, die Rektorin seines Colleges, teilt ihm mit, dass sie schwanger von ihm ist. Und als sei dies nicht genug, muss er sich der Annäherungsversuche einer seiner Studentinnen erwehren und sich um einen seiner begabtesten Studenten kümmern, der suizidgefährdet zu sein scheint oder wenigstens so tut, als sei er es, und auch sonst ein Talent dafür hat, sich in Schwierigkeiten zu bringen.

Trotz des etwas abgegriffenen Themas – Krise eines alternden Autors – ist Chabon ein humorvoller und gut lesbarer Roman gelungen. Das Figurenensemble ist reichhaltig – beinahe zu reichhaltig; so lässt Chabon etwa einen zu Anfang eingeführten Transvestiten bald wieder verschwinden, da er offenbar nichts weiter mit ihm anzufangen weiß –, die Situationskomik gelungen und das Ende erträglich, wenn auch, nach dem vorangegangenen Chaos, ein wenig zu harmonisch. Aber Komödien müssen eben mit der Rettung des Protagonisten enden.

Michael Chabon: Wonder Boys. Deutsch von Hans Hermann. KiWi 1064. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2008. 384 Seiten. 8,95 €.

P. S.: Die Verfilmung des Romans mit Michael Douglas und Tobey Maguire in den Hauptrollen ist durchaus sehenswert, wenn sie sich auch einige Eingriffe ins Buch erlaubt.

Michael Chabon: Die Geheimnisse von Pittsburgh

978-3-462-03946-7 Erstlingsroman nach dem bewährten Strickmuster »der letzte Sommer der Jugend«. Ich-Erzähler ist der Student der Volkswirtschaft Art Bechstein, dessen Vater ein hochrangiges Mitglied einer nicht näher bezeichneten jüdischen Verbrecher-Organisation ist. Erzählanlass ist die Begegnung Arts mit dem homosexuellen Arthur Lecomte, der es offensichtlich auf eine Liebesbeziehung mit Art abgesehen hat, und der Bibliothekarin Phlox Lombardi, die dieselben Absichten verfolgt. Als weitere wichtige Figur tritt der Alkoholiker und Rocker Cleveland Arning hinzu, der für Arts Onkel Lenny Wucherzinsen eintreibt, aber gern ein richtiger Krimineller wäre.

Im Zentrum der locker gestrickten Handlung steht die emotionale Verwirrung Arts, der sich sowohl in Arthur als auch in Phlox verliebt und mit beiden eine Zeitlang eine Liebesbeziehung führt. Beide Beziehungen scheinen weitgehend von der Sexualität bestimmt zu sein, jedenfalls konnte ich – auch entgegen den Beteuerungen des Ich-Erzählers – keine andere Motivation entdecken. Immerhin gelingt dem Autor ein eher unerwartetes Ende de Romans.

Das Buch hat alles, was solch ein Buch braucht: Ein bisschen abseitigen Sex, ein paar albern unbeschwerte Szenen einer verklingenden Jugend, ein paar Besäufnisse, ein wenig Eifersucht, eine überwältigende Schönheit – Jane Bellwether –, die mit einem anderen liiert ist, und nicht zuletzt den morbid gefährlichen Hintergrund einer jüdischen Mafia. Einzig Drogen spielen – abgesehen vom Alkohol – erfreulicherweise keine bedeutende Rolle im Buch. Wenn man als Leser das Strickmuster erkennt und nicht mehr selbst in dem Alter des Erzählers ist, hat das Buch einige Längen, die aber tolerabel sind. Eine nette Lektüre, doch sollte man nicht zu viel erwarten.

Michael Chabon: Die Geheimnisse von Pittsburgh. Aus dem amerikanischen Englisch von Denis Scheck. KiWi 1011. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2008. 302 Seiten. 8,95 €.

Unendlicher Spaß? Deutscher Humor!

Der Verlag Kiepenheuer & Witsch hat zur Veröffentlichung der deutschen Übersetzung von Infinite Jest von David Foster Wallace für 100 Tage ein Leserblog aufgemacht. Hier darf eine handverlesene Auswahl von Autoren seine Leseeindrücke des Buches niederschreiben. Im Grunde eine richtige Idee: Warum sollen solche Initiativen nicht von den Verlagen ausgehen? Und warum sollen nicht einige gute Leser (und viele Autoren sind gute Leser) den Ton vorgeben, in dem über ein Buch gesprochen wird?

Auf den ersten Blick ist das alles auch eine Bereicherung, die Beiträge sind bunt gemischt vom Erlebnisbericht bis zur theoretischen Auseinandersetzung. Leider ist das alles aber auch einmal mehr sehr deutsch geraten. In ihrem heutigen Beitrag schreibt die Berliner Schriftstellerin Annett Gröschner das folgende:

Doofe Sportarten

Ich mag amerikanische Autoren, seitdem ich lesen kann, aber ich habe ihrer Vorliebe für Baseball nie irgendetwas abgewinnen können und mir auch nie die Mühe gemacht, die Regeln zu verstehen. Mit Football und Tennis geht es mir ähnlich. In der Hochzeit der deutschen Tennisleidenschaften der Achtziger mit ganzen Nächten voller Grand-Slam-Turniere und Wimbledon-Wettbewerbe im Fernsehen, bin ich lieber zum Fußball gegangen. Tennis ist immer irgendwie mit Boris Becker verbunden und das spricht nicht gerade für diesen Sport.

Ich schwächele etwas mit meinem Spaß, weil das Tennisturnier im Roman nicht aufhören will. Ich habe vor lauter Langeweile vorgeblättert, das geht noch 40 Seiten so weiter und dann kommt Orin mit Football. Auch nicht gerade meine Lieblingssportart. Ich sehne mich nach einem blutigen Boxkampf oder einer grundsoliden 100-m-Freistil-Staffel, aber leider wäre Hal sowohl als Boxer als auch als Schwimmer eher unglaubhaft. O.K., ich muss da jetzt durch.

Das ist nun nichts als Doofes Gemaule; soll sie doch was anderes lesen oder weiterblättern, wenn ihr die verständliche Vorliebe des Autors für bestimmte nationale Sportarten nicht passt.

Ich habe also spontan einen Kommentar abgesetzt:

Wenn einem ein Buch so gar nicht passt, sollte man sich vielleicht einfach ein eigenes schreiben. Es ist aber zu befürchten, dass Figuren wie Lothar Matthäus oder Lukas Podolski ebenso wenig für den Fußball sprechen wie Boris Becker für das Tennis.

Es mag nicht ganz genau dieser Wortlaut gewesen sein, aber es ist ziemlich nahe dran. Der Kommentar wurde einfach gelöscht. Es ist das gute Recht eines Bloginhabers, so etwas zu tun. Habe ich also einen zweiten Kommentar geschrieben:

Darf ich fragen, warum mein Kommentar gelöscht wurde?

Durfte ich offensichtlich auch nicht, denn auch dieser Kommentar verschwand im digitalen Orkus. Also eine Mail an den Verantwortlichen Guido Graf geschrieben:

Sehr geehrter Herr Graf,

ich habe heute versucht, einen Kommentar auf http://www.unendlicherspass.de/2009/09/07/doofe-sportarten/ abzugeben. Er ist gelöscht worden, obwohl er – meiner unmaßgeblichen Meinung nach – keinen anstößigen Inhalt hatte. Auch meine Nachfrage, warum der Kommentar gelöscht worden sei, wurde kommentarlos gelöscht.

Ist das die Art, wie KiWi mit seinen Lesern umzugehen wünscht? Ich bin ein wenig vor den Kopf gestoßen.

Mit bestem Gruß, Marius Fränzel

Und gleich bekam ich eine zackige Antwort:

Sehr geehrter Herr Fränzel,

wo der Spaß endet – darüber kann man sicher streiten, aber in diesem Fall schien meiner – leider maßgeblichen – Meinung nach die Grenze überschritten.

Ich möchte Sie nicht davon abhalten, das mit Helge Malchow zu diskutieren. Meine – s.o. – Meinung ist nicht automatisch identisch mit der des Verlags.

Beste Grüße,

Guido Graf

Tja, selbst der Unendliche Spaß endet an den Grenzen des deutschen Humors!

Herman Melville: Israel Potter

978-3-458-34536-7 Bei der gerade zurückliegenden erneuten Beschäftigung mit Melville für einen Vortrag über ihn und seinen Moby-Dick, ist mir in meinem Bücherschrank auch dieses Bändchen wieder begegnet. Es handelt sich um die erste der wenigen Übersetzungen aus der Feder Uwe Johnsons. Sie wurde zuerst 1961 in der DDR veröffentlicht, und wir dürfen getrost davon ausgehen, dass sie eine reine Brotarbeit darstellt. Nach nur wenigen Seiten habe ich begonnen, Johnsons Text mit dem Original abzugleichen, und nach etwa 50 Seiten die trostlose Lektüre abgebrochen.

Ein Beispiel von vielen Möglichen: Auf seiner Flucht als amerikanischer Kriegsgefangener auf dem Weg nach London begegnet Israel Potter zwei Gestalten, die er nach dem Weg fragt:

But conquering this fit, he marched on, and presently passed nigh a field, where two figures were working. They had rosy cheeks, short sturdy legs, showing the blue stocking nearly to the knee, and were clad in long, coarse, white frocks, and had on coarse, broad-brimmed straw hats. Their faces were partly averted.
„Please, ladies,“ half roguishly says Israel, taking off his hat, „does this road go to London?“
At this salutation, the two figures turned in a sort of stupid amazement, causing an almost corresponding expression in Israel, who now perceived that they were men, and not women. He had mistaken them, owing to their frocks, and their wearing no pantaloons, only breeches hidden by their frocks.
„Beg pardon, lads, but I thought ye were something else,“ said Israel again.
Once more the two figures stared at the stranger, and with added boorishness of surprise.
„Does this road go to London, gentlemen?“
„Gentlemen—egad!“ cried one of the two.
„Egad!“ echoed the second.
Putting their hoes before them, the two frocked boors now took a good long look at Israel, meantime scratching their heads under their plaited straw hats.
„Does it, gentlemen? Does it go to London? Be kind enough to tell a poor fellow, do.“
„Yees goin‘ to Lunnun, are yees? Weel—all right—go along.“
And without another word, having now satisfied their rustic curiosity, the two human steers, with wonderful phlegm, applied themselves to their hoes; supposing, no doubt, that they had given all requisite information.

Diese Miniatur englischen Landlebens übersetzt Johnson wie folgt:

Aber er bezwang diese Anwandlung und marschierte weiter. Bald kam er an einem Feld vorbei, auf dem zwei Gestalten arbeiteten. Sie waren rotbackig, klein von Wuchs, mit kräfti- gen Beinen, an denen die blauen Strümpfe bis zum Knie zu sehen waren, und trugen grobe weiße Kittel und plumpe breitrandige Strohhüte. Ihre Gesichter waren halb abge- wandt.
»Bitte, meine Damen«, sagte Israel halb schalkhaft und nimmt seinen Hut ab, »geht diese Straße nach London?«
Bei dieser Anrede drehten die Gestalten sich einfältig erstaunt um und verursachten in Israel ein nahezu ähnliches Gefühl, denn nun merkte er, daß es nicht Frauen waren, sondern Männer. Er hatte sie verwechselt, weil sie Kittel und statt der langen Hosen Breeches trugen, die der Rock aber verdeckte.
»Entschuldigen Sie, meine Damen, aber ich habe Sie verwechselt«, sagte Israel.
Sie starrten ihn weiter an. Ihre Verwunderung wuchs.
»Führt diese Straße nach London, meine Herren?«
»Herren! Meiner Treu!« rief der eine aus.
»Meiner Treu!« wiederholte der andere.
Die beiden bekitteken Landleute stellten ihre Hacken vor sich auf, kratzten sich am Kopf unter ihren geflochtenen Strohhüten und betrachteten Israel eingehend.
»Ja, meine Herren? Geht sie nach London? Seien Sie doch nett zu einem armen Kerl, sagen Sie es mir doch.«
»Sie wolln nach London, nich? Jaja – stimmt schon. Gehn Sie nur weiter.«
Und ohne ein weiteres Wort beugten diese beiden menschli- chen Stiere in ihrer erstaunlichen Gemütsruhe sich wieder über ihre Hacken, als sie ihre bäurische Neugier befriedigt hatten. Ohne Zweifel glaubten sie, sie hätten alle erforderliche Auskunft gegeben.

Es gibt nicht so sehr viel in dieser Passage, was wirklich gut übersetzt wäre; mindestens zwei der Pointen versaut der Übersetzer offenbar aufgrund seines mangelhaften Textverständnisses: Die zweite Anrede der beiden Bauern mit »Damen« ist eine grobe Fehlübersetzung des englischen »lads«, wofür in diesem Zusammenhang das deutsche »Kumpels« oder »Kameraden« eingesetzt werden müsste, je nachdem wie ungeschickt man Israel Potter im Deutschen sprechen lassen möchte. Aufgrund der Tatsache, dass auch diese joviale Ansprache keine Reaktion hervorbringt, wechselt Potter nun die Tonart und versucht es mit der Anrede »Gentlemen«, was die beiden Bauern zu dem Ausruf »Egad« veranlasst, was in keinem Zusammenhang »Meiner Treu« bedeutet, sondern ein verschliffenes »O God« darstellt und also vielleicht mit »Ojott« wiederzugeben wäre.

Die abschließende Auskunft der beiden – “Yees goin’ to Lunnun, are yees? Weel—all right—go along.” – versteht Johnson auch wieder nicht. Abgesehen von dem Problem, dass er den schweren Akzent der Bauern auf ein paar Verschleifungen reduziert, lautet die Antwort eben nicht »stimmt schon«, sondern vielmehr: »Se wolln na Londen, nich? Na jut, meins wejen, jehnse.« Daraus ergibt sich dann nämlich auch zwanglos die abschließende Feststellung, die beiden glaubten, »alle erforderliche Auskunft« gegeben zu haben, was sie in Johnsons Fassung auch tatsächlich getan haben, bei Melville aber gerade eben nicht.

Das hier demonstrierte Niveau ist typisch für Johnsons Übersetzung. Deutsche Leser sollten besser die Finger von dem Buch lassen. Die anderen Übersetzungen, etwa von Richard Mummendey, Walter Weber oder Gunter Böhnke, habe ich bislang nicht angeschaut. Aber vielleicht liefert ja auch Hanser innerhalb seiner Melville-Auswahl noch eine Neuübersetzung dieses Textes.

Herman Melville: Israel Potter. Aus dem Amerikanischen von Uwe Johnson. Insel Taschenbuch 2836. Frankfurt/M.: Insel, 2002. 248 Seiten. 9,00 €.

Denis Johnson: Tree of Smoke

978-0-330-44921-2Merkwürdiger Agenten-Roman um eine Gruppe von etwa einem halben Dutzend Figuren, deren Geschichten mehr oder weniger eng miteinander verbunden sind. Heimliches Zentrum des Buches ist Colonel Francis Xavier Sands, ein Kriegsheld des Zweiten Weltkriegs, der inzwischen für die CIA arbeitet. Was genau er tut, bleibt eher schleierhaft; überhaupt scheint die gesamte Agententätigkeit des Buches unter dem Motto zu stehen: »Unsere Tätigkeit ist so geheim, dass nicht einmal wir wissen, was wir eigentlich tun.« Jedenfalls scheitert das einzige konkrete Projekt des Colonels, die Anwerbung eines Doppelagenten in Vietnam, mustergültig am Widerstand einer anderen US-Geheimdienst-Fraktion. Das dem Buch den Titel gebende Projekt »Tree of Smoke«, womit letzten Endes nichts anderes gemeint ist als die Feuer- bzw. Rauchsäule, die den Israeliten bei ihrem Zug durch die Wüste vorausgezogen sein soll, bleibt jedenfalls vollständig nebulös, ja scheint zeitweise nichts anderes zu sein als ein Hoax, mit dem sich Colonel Sands Geld und Einfluss verschafft.

Das Buch handelt im Wesentlichen in den Jahren 1963 bis 1970 auf den Philippinen und in Vietnam; beschlossen wird es mit einem Sprung in das Jahr 1983, womit der Autor versucht, wenigstens einige seiner Erzählstränge abzuschließen. Das Schicksal des Colonels bleibt auch am Ende des Buches ungeklärt: vielleicht ist er in Vietnam ermordet worden, vielleicht hat er seinen Tod auch nur vorgetäuscht und lebt als Waffenschieber in Thailand. Sein Enkel William »Skip« Sands jedenfalls wird im benachbarten Malaysia als Waffenhändler verurteilt und hingerichtet.

Das Buch hat einen relativ simplen Plot und erscheint ausschließlich aufgrund der einander abwechselnden Erzählstränge komplex. Nachdem man sich einmal daran gewöhnt hat, wird das Buch bald ein wenig langweilig, da sich der Autor über Seiten hinweg weigert, seine Geschichte voranzubringen. Man kann sich dem Eindruck kaum entziehen, dass das Buch für das, was es zu erzählen hat, deutlich zu lang geraten ist. Es kommt hinzu, dass der Autor konsequent jeden Versuch unterlässt, auch nur eine seiner Hauptfiguren mit einer einigermaßen anspruchsvollen Psyche auszustatten. Ersatzweise beschäftigt sich Skip mit der Hinterlassenschaft eines französischen Arztes und stochert in der Anthropologie Georges Batailles herum. Bei anderen Figuren muss statt einer psychischen Ausstattung die Religion oder der Anti-Kommunismus herhalten. Auch was die Geschichte des Vietnam-Krieges oder die Kultur Vietnams angeht, hat das Buch nur wenig anzubieten.

Angesichts eines solchen Befundes bleibt es mir unverständlich, warum ein solcher Hype um das Buch gemacht wurde und warum es den National Book Award 2007 gewonnen hat. Den auf dem Umschlag zitierten Vergleich mit Joseph Hellers Catch-22 hält das Buch jedenfalls nicht aus.

Denis Johnson: Tree of Smoke. London: Picador, 2008. Paperback, 616 Seiten. Ca. 10,– €.

John Updike: Gertrude und Claudius

978-3-570-19528-4 Erzählung der Vorgeschichte des Hamlet Shakespeares von der Hochzeit von Hamlets Eltern bis zum Anschluss an die zweite Szene des ersten Aktes bei Shakespeare. Reizvoll ist die Entscheidung Updikes, kenntlich zu machen, dass er aus drei verschiedenen Quellen schöpft, in dem er in den drei Teilen des Buches die Figuren unter verschiedenen  Namen (Amleth, Hamblet, Hamlet / Gerutha, Geruthe, Gertrude / Horwendil, Horvendile, Hamlet)  auftreten lässt. Damit hört aber die Treue zu den Quellen auch fast schon wieder auf. Wahrscheinlich soll es ein Ausdruck von Ironie gelten, dass alle Handelnden durchweg als Figuren modernen Zuschnitts auftreten. Was im Text allerdings daraus entsteht, ist und war zu allen Zeit Schwulst:

Gerutha erfuhr in diesem Augenblick ein Frauengeheimnis: zu lieben ist ein Vergnügen, das jenem, geliebt zu werden, entspricht, ihm antwortet, wie die Kamine zu beiden Seiten eines Saales einander ihre Wärme entgegenstrahlen. Die Liebe einer Frau ist ein Strömen, das, einmal ausgelöst, nur unter großen Schmerzen zum Versiegen gebracht werden kann. Die des Mannes ist im Vergleich dazu ein jähes Sprudeln. Sie eilte in ihrer schimmernden Nacktheit zum Bett, neben dem, auf einem kleinen Tisch, eine einzelne Kerze brannte, fand auf dem Kopfpolster ihre Nachtmütze, zusammengefaltet wie ein dicker rauher Liebesbrief, und in den Schatten von Horwendils dann und wann donnernden Schlummer geschmiegt, schlief sie ein.
[…]
Horwendil ließ es seither nicht an Tatenlust fehlen, wahrlich nicht, viele Ausrufe des Lobs und des Entzückens kamen ihm über die kundigen Lippen, wenn sie über ihren Leib hinglitten, und seine Stoßkraft entlud sich jedesmal so reichlich, daß er eine Kumme hätte füllen können, aber empfindsame Prinzessin, die sie war, spürte sie etwas Abstraktes in seiner Leidenschaft: sie war ein Ausdruck seiner allgemeinen Vitalität, nicht mehr. Er wäre mit jeder Frau wollüstig gewesen, und natürlich hatte seine Lust einer ganzen Reihe von Frauen gegolten, bevor sie da war.

Dies ist nur ein Beispiel aus dem ersten Teil; der geduldige Leser kann aber in allen Teilen solche missratenen Passagen finden.

Darüber hinaus macht Updikes Buch nur noch eines deutlich: Dass Shakespeares Entscheidung, Hamlet in das Zentrum seines Stücks zu stellen, statt seine Mutter und seinen Onkel, einmal mehr sein Genie unter Beweis stellt. Sowohl die »unglückliche« erste Ehe Gertrudes als auch ihre sexuell erfüllte zweite sind ödes Klischee, von Updike breitgetreten und bis ins Detail ausgeschwätzt. All das kennt man aus hundert anderen Büchern in gleicher Weise und in mehr als einem Dutzend origineller, konziser und präziser. Updike dagegen bleibt in Erfindung und Ausführung trivial.

John Updike: Gertrude und Claudius. Aus dem Amerikanischen von Maria Carlsson. Lizenzausgabe. Hamburg: Gruner + Jahr, 2006. Leinenrücken, Lesebändchen, 269 Seiten. 10,– €.