Kressmann Taylor: Adressat unbekannt

taylor_adressatDas schmale Bändchen enthält 19 fiktive Briefe eines Briefwechsels zwischen dem amerikanischen Kunsthändler Max Eisenstein und seinem nach Deutschland zurückgekehrten Freund und ehemaligen Geschäftspartner Martin Schulse. Der Briefwechsel beginnt mit einem Schreiben vom 12. November 1932 und endet mit dem amtlichen Stempel »Adressat unbekannt« vom 18. März 1934. Die Erzählung ist 1938 zum ersten Mal erschienen und war sofort ein Verkaufserfolg, der sich bei der Wiederveröffentlichung im Jahr 1995 wiederholt hat. Auch die deutsche Ausgabe aus dem Jahr 2000 wurde ein Bestseller.

Erzählt wird die Geschichte zweier Freunde, die in San Francisco gemeinsam eine Kunsthandlung betrieben haben. Martin Schulse entschließt sich 1932 nach Deutschland zurückzukehren, besonders um seine Kinder wieder auf eine deutsche Schule schicken zu können. Er wird innerhalb kurzer Zeit von einem Mitläufer der politisch erfolgreichen Nationalsozialisten zu einem bekennenden Anhänger der »Bewegung« und macht Karriere als Bankbeamter. Ganz konsequent bricht er den Kontakt zu seinem jüdischen Freund und Geschäftspartner in Amerika ab und kündigt ihm die Freundschaft auf.

Verwickelt wird die Geschichte dadurch, dass Max Eisensteins Schwester Giselle als Schauspielerin von Österreich nach Deutschland kommt und in Berlin rassistischen Repressionen ausgesetzt wird. Sie flieht aus Berlin nach München, wird offenbar auch dort erkannt und flüchtet sich vor einem Trupp SA-Männer zur Villa ihres ehemaligen Geliebten Martin Schulse. Der lässt sie aus Sorge um seine Reputation und Stellung nicht ins Haus, sondern rät ihr, durch den Garten zu fliehen, wo sie dann von der SA gestellt und ermordet wird. Der Brief, in dem er diese Tatsache seinem ehemaligen Freund mitteilt, beginnt mit den Worten:

Heil Hitler! Ich bedaure sehr, Dir schlechte Nachrichten übermitteln zu müssen. Deine Schwester ist tot.

Nach diesem Brief beginnt Max Eisenstein mit einem Telegramm und Briefen, die er an Martin Schulses Privatadresse richtet und von denen er weiß, dass sie von der nationalsozialistischen Zensur gelesen werden, den deutschen Behörden eine Verwicklung Martin Schulses in eine illegale, gegen den Staat gerichtet Verschwörung zu suggerieren. Er erfindet eine »Gesellschaft Junger Deutscher Maler«, mit der Schulse vorgeblich in Zusammenhang steht und die offensichtlich Waffenlieferungen aus den USA erhält. Außerdem suggeriert er eine in Amerika lebende jüdische Verwandschaft Schulses. Schulse wird – wie wir aus einem letzten, verzweifelten Schreiben an Max Eisenstein erfahren – daraufhin von den Behörden vorgeladen und aufgefordert, den Code für die Briefe zu liefern, was er natürlich nicht kann, da er nie zuvor von einer »Gesellschaft Junger Deutscher Maler« gehört hat und auch sonst nichts zu den erfundenen Vorgängen sagen kann. Max Eisenstein Racheplan funktioniert: Seinen letzten Brief an Martin Schulse vom 3. März 1934 erhält er mit dem amtlichen Stempel »Adressat unbekannt« vom 18. März 1934 zurück. Wie bereits zuvor im Fall von Max’ Schwester Giselle soll dieser Stempel besagen, dass Martin Schulse von den Nationalsozialisten ermordet wurde oder zumindest in einem KZ gelandet ist.

Die Erzählung ist fraglos »gut gemacht«. Sie ist dicht gearbeitet und die dramatische Entwicklung konsequent und ökonomisch vorangetrieben. Große Schwierigkeiten habe ich allerdings mit ihrer Moral: Sicherlich ist es einerseits so, dass die Perversität und Menschenverachtung des nationalsozialistischen Machtstaates sich gerade darin zeigt, dass es einem Außenstehenden mit wenigen Briefen gelingt, einen treuen und begeisterten Nationalsozialisten zu verleumden und der Vernichtungsmachinerie des von ihm verherrlichten Systems auszuliefern. Andererseits handelt es sich bei den Briefen Max Eisensteins um eine Intrige zum Zweck einer privaten Rache, die ihn moralisch beinahe ununterscheidbar werden lässt von dem, den er dem Untergang ausliefert.

Immanuel Kant gibt uns in seiner »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« unter anderen folgende einprägsame Formulierung des kategorischen Imperativs:

Der praktische Imperativ wird also folgender sein: Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest. [BA 66 f.]

Gemessen an diesem Leitsatz handelt Max Eisenstein ebenso verwerflich wie zuvor sein Pendant Martin Schulse, und ich bin durchaus nicht sicher, ob dies von der Autorin auch so intendiert wurde. Auch spielt – soweit ich sehe – dieser Aspekt in den deutschen Besprechungen des Buches keine Rolle.

Immerhin lässt Kant der zitierten Passage den bedenkenswerten Satz folgen: »Wir wollen sehen, ob sich dieses bewerkstelligen lasse.« Im vorliegenden Fall war dem wohl nicht so. – Ein Buch, dessen verstörende Ambivalenz wahrscheinlich nicht von allzu vielen Lesern wahrgenommen wird.

Kressmann Taylor: Adressat unbekannt. Aus dem Amerikanischen von Dorothee Böhm. Hamburg: Hoffmann und Campe, 2000. Pappband, 69 Seiten. 10,– €.

Fred Waitzkin: Searching for Bobby Fischer

Waitzkin_SearchingFred Waitzkin, amerikanischer Journalist, ist Vater des Schachspielers Joshua Waitzkin, der in den 80er Jahren eines der begabtesten Schachtalente in den USA war und 1986 zum ersten Mal die nationale Schulmeisterschaft gewann. »Searching for Bobby Fischer« ist Fred Waitzkins Bericht über die etwa drei Jahre von der Entdeckung von Joshs Begabung bis zum Gewinn der Meisterschaft. Das Buch zeichnet sich nicht nur durch seine gute Lesbarkeit aus, sondern vor allem durch die zahlreichen Perspektiven, die es präsentiert: Nicht nur Joshs Entwicklung wird thematisiert, sondern auch Waitzkins persönliche Ängste und Ambitionen als Vater eines Wunderkindes, die erbärmliche ökonomische Perspektive, der sich ein Profi-Schachspieler für gewöhnlich gegenübersieht, die geringe gesellschaftliche Anerkennung, die Schachspieler genießen, die suchtartigen Zustände, die Spieler dem Schach gegenüber entwickeln und die sie – wie alle Süchte – allem anderen gegenüber gleichgültig werden lassen und vieles andere mehr.

In diese Zeit fällt auch eine Reise von Fred, Josh und Joshs Trainer Bruce Pandolfini nach Moskau zum ersten Weltmeisterschaftskampf zwischen Karpov und Kasparov. Während dieser Reise trifft Fred Waitzkin unter anderem Boris Gulko, der als Geächteter des Sowjetsystems mit seiner Frau und seinem Kind am Rande der Armut vegetiert. Er lernt auch bei zwei kurzen Besuchen in Schachklassen die Ausbildung der sowjetischen Schachschule kennen, die ihre Schüler durch kontinuierlichen und konsequenten Unterricht zu der erstaunlichen Höhe und Breite schachlicher Leistungen befähigt, die bis heute in der Schachwelt nachwirkt. Später macht sich Fred Waitzkin auch tatsächlich auf die Suche nach Bobby Fischer, die der Titel verspricht. Auch ihm gelingt es nicht, Fischer persönlich zu treffen, aber das kurze Portrait dieses wohl zutiefst verstörten Menschen, das er aus Gesprächen mit ehemaligen Freunden und Bekannten Fischers entwickelt, ist prägnant und präzise.

Waitzkins Buch ist auch Grundlage eines gleichnamigen Spielfilms geworden – auch unter dem Titel »Innocent Moves« und in Deutschland als »Das Königsspiel« mit einer grauslichen Synchronisation in die Kinos gekommen –, der aus theatralischen Gründen einiges ändern und straffen musste. Allen, die den Film schätzen, ist auf jeden Fall zu empfehlen, auch das Buch zu lesen, um die Anteile von Fiktion und Realität besser einschätzen zu können.

Fred Waitzkin: Searching for Bobby Fischer. New York: Random House, 1988. Penguin Book, 1989 ff. Broschur, 226 Seiten. Ca. 12,– €.

Anne Fadiman: Ex Libris

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Anne Fadiman dürfte in Deutschland vor diesem Buch nur einigen wenigen Fachleuten, Soziologen und Medizinern, aufgrund ihres Buches »The Spirit Catches You and You Fall Down« bekannt gewesen sein. Sie ist die Tochter des in den Vereinigten Staaten bekannten Autors und Radiomoderators Clifton Fadiman, der unter anderem zahlreiche Anthologien und einen weitverbreiteten Lesekanon herausgegeben hat. Auch ihre Mutter ist Journalistin und Autorin. Anne Fadiman entstammt also einer Familie von Lesern, und sie hat diese Tradition mit ihrer eigenen Familie fortgesetzt: Sie hat einen Leser geheiratet und ihre Kinder zeigen alle Anzeichen dafür, dass sie dieses Erbe fortsetzen werden.

Und genau das ist das Kernthema der meisten der 17 kurzen Essays, die der Band versammelt: Eine Familie von Lesern und ihre Abenteuer mit Bücher, ihre Verhältnisse mit (nicht »zu«!) Büchern, ihre Freuden und Leiden. Für die deutsche Ausgabe hat man den schönen englischen Untertitel »Confessions of a Common Reader«, der sich auf einen Buchtitel Virginia Woolfs stützt, in das etwas reißerische »Bekenntnisse einer Bibliomanin« verwandelt, denn wer will heutzutage schon ein »gewöhnlicher Leser« oder gar ein »gemeiner Leser« sein. Allerdings muss man auch zugestehen, dass Anne Fadiman Selbstbezeichnung höchstens noch als kokett durchgeht, denn ihre Essays machen wenigstens eines deutlich: Sie ist eine obsessive Leserin und eine passionierte Sammlerin antiqarischer Bücher.

Wie schon gesagt, nimmt ein Großteil der Essays bei sehr persönlichen Erfahrungen Fadimans seinen Anfang: Die Vereinigung ihrer eigenen Bibliothek mit der ihres Mannes (nachdem die beiden bereits fünf Jahre lang miteinander verheiratet waren und noch länger zusammen lebten), ihre Freude an ausgefallenen und langen Wörtern, die bereits in ihrer Kindheit angeregt und gefördert wurde, ihre Neigung, alle gelesenen Texte zugleich auch Korrektur zu lesen, ihre Neigung dazu, Kataloge zu lesen, die unterschiedlichen Lesertypen in ihrer Verwandt- und Bekanntschaft usw. usf. Das alles ist unterhaltsam und leicht geschrieben, ohne seicht zu werden. Immer ist Fadimans breiter Lektürehintergrund zu erkennen, ihre lebenslange Auseinandersetzung mit der englischen und nordamerikanischen Literatur.

Nur einmal holt Fadiman richtig aus: Mit »Nichts Neues unter der Sonne« schreibt sie einen Essay zum Thema Plagiat, der voller Zitate und Plagiate steckt, die sie selbst fein säuberlich in Fußnoten nachweist. Das ist sehr virtuos gemacht, denn jede im Essay beschriebene Form des Plagiats findet sich zugleich auch in ihm umgesetzt.

Eine vergnügliche Lektüre für obsessive Bücherfreunde und jene Vielleser, die es werden wollen.

Anne Fadiman: Ex Libris. Bekenntnisse einer Bibliomanin. Aus dem Amerikanischen von Melanie Walz. Diogenes Taschenbuch 23646. Zürich, 2007. 8,90 €.

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P. S.: Bei der in Fußnote 25 auf S. 146 unbekannten Quelle handelt es sich natürlich um Robert Mertons Buch »Auf den Schultern von Riesen«.

P. P. S.: An zwei Stellen (S. 111 u. 113) benutzt die Übersetzerin für das mit Apostroph abgetrennte Genitiv-s (im Volksmund auch »Deppen-Apostroph«) die nicht unpassende Bezeichnung »sächsischer Genitiv«. Hat einer das Original zur Hand und kann sagen, welche englische Phrase dem gegenübersteht?

Shalom Auslander: Vorsicht, bissiger Gott

Auslander_Gott15 »fiese Storys« – so der treffende Untertitel –, die sich alle um Gott, Religion und das Phänomen des Glaubens drehen. Nicht alle halten das Niveau, aber einige haben wirklich Biss. So etwa »Sensationelle Offenbarungen aus dem verschollenen Buch Stan«, das von einer banalen und schlecht erfundenen Voraussetzung aus (Stan Fisher findet 13 Steintafeln mit der ältesten Fassung des Alten Testaments, das »leider« auf der ersten Tafel explizit als fiktionales Werk bezeichnet wird) zu einem kurzen, beinahe absurden Rundumschlag gegen den Wirtschaftszweig Religion ausholt. Oder auch »Sie sind alle gleich«, in dem Gott als Kunde einer Werbeagentur auftritt, um die Präsentation für eine große Kampagne abzunehmen. Von einer brillanten Mischung aus erkünstelter Naivität und ausgesuchter Bosheit sind die »Holocaust-Tipps für Kids«.

Anderes dagegen gerät eher platt, so die pubertäre Seelenqual in »Heimisch weiß alles« oder die fade Mischung aus Terry Pratchett und »Pulp Fiction« in »Die schützende Hand ganz oben«. Eine nette Lektüre für Atheisten und Agnostiker an einem verregneten Nachmittag, aber man sollte nicht zuviel erwarten.

Shalom Auslander: Vorsicht, bissiger Gott. Fiese Storys. Aus dem Amerikanischen von Robin Detje. Berlin Verlag Taschenbuch 459. Berlin, 2007. 157 Seiten. 7,90 €.

Prinz Eisenherz – Die ersten Jahre

Foster_Eisenherz_01Im Jahr 1937 erschienen die ersten Seiten einer Comic-Serie, die sich bis heute in ihrer Besonderheit erhalten hat. Erzählt werden seit nun beinahe 70 Jahren die Abenteuer von Prinz Valiant – in der deutschen Ausgabe Prinz Eisenherz –, einer Figur, die der Zeichner und Autor der Serie, Hal Foster, in den Mythenkreis um den Hof von König Artus in Camelot hineinerfunden hat. Eine neue Gesamtausgabe des Fosterschen »Eisenherz« bei Bocola liefert im ersten Band in ansprechender Druckqualität die farbigen Originale der beiden ersten Jahrgänge zusammen mit einer deutschen Übersetzung.

Was »Prinz Eisenherz« so besonders machte und wahrscheinlich bis heute überleben ließ – die Reihe wird noch immer durch neue Abenteuer ergänzt! – sind wahrscheinlich zwei Eigenschaften: Zum einen die sorgfältigen Zeichnungen Fosters und zum anderen sein Humor.

Da »Prinz Eisenherz« nur einmal in der Woche mit einer kompletten großformatigen Seite erschien, konnte Foster 40 bis 50 Arbeitststunden für jede Seite inverstieren. Das ermöglichte ihm, einen sehr sorgfältigen und detailverliebten Zeichenstil zu pflegen, der die Serie aus der damaligen Comic-Produktion deutlich heraushob. Zum anderen hatte Foster genügend Zeit, sich mit den historischen Hintergründen seiner Geschichte auseinanderzusetzen.

Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen: In Bezug auf das, was man über die Zeit des frühen Mittelalters in England weiß, ist Fosters »Prinz Eisenherz« in etwa so exakt wie jeder beliebige Ritterfilm aus Hollywood. Aber Foster war sich dieser Tatsache durchaus bewusst. Er musste sich den Erwartungen seiner Leser anpassen, die sich König Artus und seinen Hof im hochmittelalterlichen Kostüm vorstellten und einen Artus im Bärenfell, mit den Fragmenten einer römischen Rüstung angetan, einfach abgelehnt hätten. Also wird auch bei Foster Camelot ein idealer Hof des Hochmittelalters, so wie man ihn sich seit eben dieser Zeit immer und immer wieder ausgemalt hat. Aber darin eben hudelt Foster nicht, sondern wendet große Sorgfalt und Detailliebe für seinen Artushof und die Geschichte seines Prinzen auf.

Das andere aber ist Fosters Humor. Da »Prinz Eisenherz« von Anfang an als illustrierter Roman und nicht als Sprechblasen-Comic angelegt war, entwickelte Foster eine ganz eigene, leicht ironische Distanz zu seiner Erfindung. Er nimmt seine Helden in ihren großen Posen nie so ganz ernst, setzt auch die besten Ritter immer wieder einmal außer Gefecht und gibt Dummheit, Ungeschicklichkeit, Übermut und menschlicher Fehlerhaftigkeit ihren Raum. Zudem nutzt Foster die Möglichkeit, Bilder und Text, die ja beide aus seiner Feder stammen, einander spiegeln und widerspiegeln zu lassen. Das macht »Prinz Eisenherz« zu einem besonderen Comic, vielleicht dem frühesten Beispiel für einen Comic, der die Grenze zur ernstzunehmenden Literatur hin überschreitet.

Bocola hat nun den ersten Band einer auf 18 Bände angelegten Gesamtausgabe des Forsterschen »Prinz Eisenherz« vorgelegt. Der Band ist mit großer Sorgfalt zusammengestellt und durchgehend nach den Erstdrucken koloriert. Eröffnet wird er durch ein kluges und kenntnisreiches Vorwort von Wolfgang J. Fuchs. Band 1 umfasst die 98 Blätter der Jahre 1937 und 1938; Band 2 mit den Jahren 1939 und 1940 soll im Februar 2007 folgen.

Hal Foster Gesamtausgabe, Bd. 1: Prinz Eisenherz. Jahrgang 1937/1938. Bocola Verlag, 2006. Pappband, 32 cm hoch, fadengeheftet. 19,90 €.

Capote am Wendepunkt

capoteWenn sich ein Film eines durch und durch literarischen Themas annimmt, so soll er auch in einem Buch-Blog besprochen werden. Bennett Miller hat im Jahr 2005 mit »Capote« einen Welterfolg gedreht, dessen überragender Hauptdarsteller 2006 nicht nur den Golden Globe, sondern auch den Oscar für sein außergewöhnliches Porträt Truman Capotes gewonnen hat. Der Film liegt jetzt auch in Deutschland als DVD vor.

Der Film konzentriert sich auf eine Phase im Leben Capotes, die letztendlich nicht nur seinen Weltruhm begründet hat, sondern auch der Anfgng von seinem Ende als Autor war. Die Geschichte beginnt im November 1959 mit der Ermordung einer vierköpfigen Familie, der Clutters, in Holcomb, Kansas. Die Täter hatten im Haus eine große Summe von Geld vermutet und wollten eigentlich nur einen Raubüberfall vornehmen, der aber eine für die Opfer tödliche Wendung nimmt. Capote, der als Autor von »Frühstück bei Tiffany« schon einen gewissen Ruhm genießt, stößt in der »New York Times« auf eine Meldung dieses ungewöhnlich grausamen Verbrechens, dessen Täter zu diesem Zeitpunkt noch unbekannt sind. Er entschließt sich, für das Magazin »The New Yorker« als Reporter nach Kansas zu fahren. Er wird begleitet von seiner langjährigen Bekannten Harper Lee, die zu dieser Zeit für ihr Buch »Wer die Nachtigall stört« einen Verleger zu finden.

Die Begegnung Capotes mit den Menschen von Holcomb, den den Fall untersuchenden Beamten und schließlich auch den Tätern läßt in ihm die Idee zu einem neuen Buch entstehen, einer Mischung aus Dokumentation und Fiktion, die das Verbrechen in seiner Vorgeschichte, seiner Durchführung und seinen Folgen sowohl für die Freunde und Nachbarn der Opfer als auch für die Täter darstellt. Das Buch wird nicht nur Truman Capote zu einem weltberühmten und reichen Autor machen, die Erfahrungen, die Capote in den sechs Jahren der Auseinandersetzung mit dem Verbrechen und den Verbrechern macht, werden ihn so verändern, dass er in eine ernste Lebenskrise stürzte, von der er sich nie wieder wirklich erholen sollte.

»Capote« ist einer der Glücksfälle im Filmgeschäft, bei dem ein exzellentes Drehbuch (von Dan Futterman) auf einen inspirierten Regisseur trifft und in den Hauptrollen hervorragend besetzt werden kann. Überragend Philip Seymour Hoffman, der nicht nur das auffällige Gebaren Truman Capotes – das für deutsche Zuschauer sicherlich gewöhnungsbedürftiger ist als für die Amerikaner, die in vielen Fällen Truman Capote noch von seinen zahlreichen Fernsehauftritten in Erinnerung haben dürften – in unglaublich genauer Manier reproduziert, sondern der auch verständlich werden lässt, was an diesem Menschen so faszinierend war und weshalb so viele Menschen sich ihm anvertraut haben. Capote muss ein wirklich außergewöhnliches Individuum gewesen sein, und Hoffman gelingt es, diese Ausnahmeerscheinung lebendig werden zu lassen. Dabei liegt dem Film jede Glorifizierung seines Protagonisten fern: Capote wird auch als berechnender, eigennütziger und feiger Nutznießer des Vertrauens eines der Mörder vorgeführt; dass er sich selbst diese Rolle später sehr übel nehmen wird, deutet der Film mehr an, als er es vorführt. Die persönliche Katastrophe, die für Capote dem Ruhm folgte, bleibt im Film ausgeblendet.

Auch die anderen Rollen sind hervorragend besetzt: Catherine Keener als Nelle Harper Lee, Chris Cooper als Alvin Dewey, einer der Beamten, die den Fall untersucht haben, und nicht zuletzt Clifton Collins jr. als Perry Smith, einer der beiden Mörder, um nur einige wichtige Rollen des Films zu nennen. Ein solch harmonisches Ensemble auch bis in kleinere Rollen hinein, ist tatsächlich selten. Ein ruhiger und unaufgeregter Film, der unter die Haut geht; ein beeindruckendes und schonungsloses Autorenporträt. Wenn irgend möglich sollte man den Film im englischen Original anschauen, um die Leistung Hoffmans möglichst unverfälscht genießen zu können. Kino für Leser at it’s best!

Capote. Kanada, 2005. Sony Pictures Classic. DVD. Länge ca. 110 Minuten. Sprachen: Englisch und Deutsch. Extras: Zwei Kommentar-Tracks (Regisseur und Hauptdarsteller, Regisseur und Kameramann), eine Dokumentation und ein mehrteiliges »Making of«. Ca. 18,– €.

Die Meuterei auf der Bounty

34908Am 28. April 1789 kam es auf der HMAV Bounty unweit der Küste der Südseeinsel Tofua zu einer Meuterei, in deren Folge der Kapitän des Schiffes, Leutnant William Bligh, zusammen mit 18 weiteren Mitgliedern der Besatzung im Longboat der Bounty auf See ausgesetzt wurde. Das Schiff übernahm einer seiner Unteroffiziere, Fletcher Christian, der sich mit diesem Akt der Auflehnung einen ewigen Platz in der Geschichte der britischen Navy sicherte. Der Fall erregte in England viel Aufsehen, sowohl nach der Rückkehr Blighs und seiner Leute, die dieser beinahe vollzählig in einem seemännischen Bravourstück über eine Strecke von 5.800 Meilen in einen sicheren Hafen brachte, als auch bei dem Prozess gegen eine Gruppe von Meuterern, die 1791/92 ebenfalls auf abenteuerlichste Weise nach England zurückgebracht wurden.

Zahlreiche Beteiligte an den Vorgängen um die Meuterei auf der Bounty haben ihre Version der Ereignisse zu Papier gebracht und veröffentlicht, allen voran Kapitän William Bligh, der immer neue Varianten seines Berichtes drucken ließ, die alle reißenden Absatz fanden. Bereits 1791 übersetze Georg Forster, der ebenso wie Bligh, wenn auch nicht auf derselben Reise, mit Cook die Südsee bereist hatte, einen ersten Bericht Blighs ins Deutsche. Auch sonst sorgte die Meuterei in ganz Europa lange Zeit für Gesprächsstoff.

Im 20. Jahrhundert wurde der Stoff in der Hauptsache durch drei Verfilmungen prominent: 1935 unter der Regie von Frank Lloyd – bereits die dritte Verfilmung des Stoffs, aber die erste bleibende – mit Charles Laughton in der Rolle William Blighs und Clark Gable als Fletcher Christian, 1962 ein operettenhaftes Remake von Lewis Milestone mit Trevor Howard (hat sich stets bemüht) und einem dandyhaften Marlon Brando und schließlich 1984 von Roger Donaldson mit Anthony Hopkins und Mel Gibson in den Hauptrollen.

Den ersten beiden der angeführten Verfilmungen liegt ein Buch zugrunde, das 1932 zu ersten Mal erschien. Geschrieben hat es das amerikanische Autorenteam Charles B. Nordhoff (1887–1947) und James N. Hall (1887–1951), die Anfang der 20er Jahre zusammen nach Tahiti ausgewandert waren. Dem ersten Band »Meuterei auf der Bounty« folgten im Jahresabstand zwei weitere, die die Nachgeschichte der eigentlichen Meuterei noch einmal ausführlich erzählten: »Meer ohne Grenzen«, das die Fahrt des ausgesetzen Bligh nach Kupang thematisiert, und – in Deutschland selten gedruckt – »Die Insel Pitcairn«, das die weiteren Schicksale Fletcher Christians und seiner Meuterer in der Südsee beschreibt.

Der Insel Verlag hat nun den ersten Band dieser Trilogie wieder einmal im Taschenbuch nachgedruckt, und es ist sehr zu hoffen, dass auch die beiden anderen Bände dort in einer preiswerten und leicht erreichbaren Ausgabe aufgelegt werden. »Die Meuterei auf der Bounty. Schiff ohne Hafen« wird von einem von den Autoren zur Besatzung der Bounty hinzuerfundenen sechsten Midshipman (Seekadetten) erzählt und umfasst die gesamte Geschichte der Meuterei von der Ausfahrt der Bounty über die Erlebnisse auf Tahiti, die eigentliche Meuterei, das Schicksal Blighs und den späteren Prozess gegen die Meuterer, ja es holt in einem Epilog sogar die Nachgeschichte Fletcher Christians noch ein. Es ist offensichtlich, dass Nordhoff und Hall sich nicht sicher waren, ob das Buch überhaupt ein Erfolg werden würde und sie dazu in der Lage wären, für die beiden Nachfolgebände einen Verleger zu interessieren.

Sie konnten nicht ahnen, wie sehr dieser erste Band und die auf ihm basierenden Verfilmung von 1935 den Stoff für das 20. Jahrhundert ausprägen sollten. Dabei versuchten Nordhoff und Hall durchaus keinen reißerischen Abenteuerroman zu schreiben, sondern sie näherten sich im Ton und der Art der Darstellung ganz bewusst den Reiseberichten des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts an. Sicherlich waren sie hier und da etwas deutlicher und direkter als Bligh und seine Zeitgenossen, doch insgesamt ist der Roman von einer seltenen Dezenz. Aber die beiden Autoren prägen in diesem Buch das Bild von der Meuterei als Akt des Widerstands gegen einen ungerechten und tyrannischen Kapitän, für den der Stoff bis heute einen Archetypus bildet, obwohl inzwischen ein weit differenzierteres Bild von den tatsächlichen Vorgänge vorliegt.

Wer also einmal zur Quelle des Mythos von der Bounty zurückgehen will, der greife zu diesem Buch.

Charles B. Nordhoff und James N. Hall: Die Meuterei auf der Bounty. Schiff ohne Hafen. Aus dem Amerikanischen von Ernst Simon. Insel Taschenbuch 3208 (2006). 370 Seiten. 11,00 €.

Die Britannica lesen …

britannicaIn der westlichen Welt, dem Gebiet der sogenannten christlich-abendländischen Kultur wird man heute schon als Ausnahme-Erscheinung angesehen, wenn man die Bibel, das Buch der Bücher, komplett gelesen hat. Aber es gibt ein Buch, bei dem es noch weitaus ungewöhnlicher ist, es komplett gelesen zu haben: Die Enzyclopædia Britannica! Die Britannica oder die EB, wie Ihre Benutzer sie liebevoll abkürzen, ist das umfangreichste moderne Lexikon der westlichen Welt. Und sie ist nicht nur umfangreich, sie ist auch gut! Der amerikanische Journalist A. J. Jacobs hat es unternommen, die rund 33.000 Seiten der Britannica zu lesen. Und er hat ein Buch darüber geschrieben! Nun wird manch einer denken, was soll schon dabei herauskommen, wenn einer über eine so langweilige Sache wie das Lesen eines Lexikons ein Buch schreibt. Sie werden sich wundern, was für ein erstaunlich lebendiges und witziges Buch dabei herausgekommen ist!

Die Geschichte, die Jacobs von seiner Lektüre erzählt, ist von Anfang an eine sehr persönliche: Er versucht nämlich mit seiner Lektüre der Britannica seinen Vater zu übertreffen, einen erfolgreichen Anwalt, der auch einmal damit begonnen hatte, die EB zu lesen, aber früh schon stecken geblieben war. Außerdem versuchen Jacobs und seine Frau seit einiger Zeit ein Kind zu bekommen und angesichts der von seinem Sprößling zukünftig zu erwartenden Fragen will Jacobs dringend etwas für seine Bildung tun. Er arbeitet als Journalist beim New Yorker Magazin »Esquire«, und wie viele Menschen fürchtet er, langsam zu verblöden, nachdem er mit dem aktiven Lernen aufgehört hat. Und last not least will er mit seinem neu erworbenen Wissen auch ein wenig angeben und auftrumpfen – aber das legt sich mit der Zeit.

All dies führt dazu, dass er sich die aktuelle Ausgabe der EB (2002) bestellt und einfach bei A mit dem Lesen beginnt. Dazu muss man denjenigen, die nie in die EB hineingeschaut haben, erklären, dass die EB grob gesprochen in zwei Teile gegliedert ist (eigentlich sind es mehr, aber das soll uns hier nicht interessieren): Von den 29 Lexikon-Bänden sind nur die ersten zwölf so aufgebaut, wie man es von einem »normalen« Lexikon kennt: Viele Stichwörter und zu jedem eine mehr oder weniger kurze Erklärung, eventuell einige Hinweise zur weiteren Lektüre – fertig, nächstes Stichwort. Diese Bände 1–12 heißen Micropædia, durchlaufen das gesamte Alphabet und umfassen gut 13.000 Seiten. Auf sie folgen 17 weitere Bände (13–29), die Macropædia, etwa 20.000 Seiten (jede Seite der Britannica umfasst dabei den Text von mehr als vier (!) Schreibmaschinenseiten), die nur durch etwa 600 Stichwörter gegliedert sind. Zu jedem dieser Stichwörter bietet die Macropædia einen umfassenden Einführungstext. Um das in diesen umfangreichen Texten enthaltene Wissen sinnvoll aufzuschlüsseln, verfügt die EB über zwei zusätzliche Indexbände.

Durch diesen Aufbau ist die EB wie kein anderes Lexikon für eine vollständige Lektüre geeignet, denn die Nutzer bekommen in der Macropædia große Wissensgebiete in systematischer Darstellung präsentiert. Und so liest Jacobs sich durch beide Teile der EB zugleich, immer dem Alphabet folgend. Das Glück für die Leser des Buches ist nun, dass Jacobs ein witziger Kopf ist, der uns nicht nur an ausgewählten Stichwörtern seiner 15 Monate dauernden Wissens-Odysee teilnehmen lässt, sondern der uns auch erzählt, wie seine Frau, seine Verwandten und Bekannten, nicht zuletzt seine Kollegen auf sein Projekt reagieren, wie ihn das Wissen verändert, was ihn betroffen macht, was ihm merkwürdig vorkommt usw. usf. Jacobs kümmert sich überhaupt um die Kultur und den Kult der Information: Er interviewed den Moderator von »Jeopardy!« und wird Kandidat beim amerikanischen »Wer wird Millionär?«, nur um an der 32.000-$-Frage zu scheitern, weil sein Gedächtnis und sein »allwissender« Telefonjoker versagen. Und schließlich besucht er die Redaktion der Britannica in Chicago und macht unmittelbare Bekanntschaft mit der mühsamen Arbeit der Lexikon-Recherche.

Und nebenher versöhnt er sich mit seinem Vater, zeugt mit seiner Frau endlich ein Kind, lernt lauter Sachen, die er vorher nicht wusste, erinnert sich an Dinge und Zusammenhänge, die er schon einmal vergessen hatte, und behält zugleich seine Distanz zu all dem, was er da liest. Mit der Zeit kennt er den Jargon der Britannica und benennt ihn auch, er lernt ihre Vorlieben und Idiosynkrasien (gleich mal im Lexikon nachschlagen, was das nun wieder bedeutet!) erkennen, schärft seinen Blick für Skuriles, Absurdes und Erschreckendes. Und das wichtigste: Er hält durch! Nach 15 Monaten kommt er tatsächlich beim Stichwort »Żywiec« an und hat es geschafft. Er gibt zu, nicht jedes Wort und nicht jede Seite stets mit der gleichen Aufmerksamkeit studiert zu haben, aber er hat alle Seiten gelesen. Was er tatsächlich davon behalten hat und wird, wird keiner – auch er selbst nicht – jemals wirklich wissen.

Das Buch ist vom Verlag List sorgfältig und liebevoll ausgestattet worden: Es hat einen Goldschnitt (sogar an allen drei Schnitten, wo sich die EB mit einem vergoldeten Kopfschnitt begnügt), ein Lesebändchen, trägt das Markenzeichen der EB, die schottische Distel, auf dem Umschlag und am Fuß jeder Seite, hat lebende Kolumnentitel, die das jeweilige Stichwort, bei dem man sich gerade befindet, anführen und – natürlich! – ein Register. Einzig Kunstledereinband und Fadenheftung fehlen, aber die hätten das Buch nur unvernünftig teuer gemacht. Ein Reiseabenteuer durch die Wissenskreise, eine äußerst vergnügliche und intelligente Unterhaltung zwischen Sachbuch und Autobiographie. Ich habe mich lange nicht mehr so vergnügt mit einem Buch unterhalten!

A. J. Jacobs: Britannica & ich. Von einem, der auszog, der klügste Mensch der Welt zu werden. Aus dem Amerikanischen von Thomas Mohr. List, 2006. Pappband mit Schutzumschlag und Lesebändchen. 427 Seiten. 19,95 €.

Das Unheil, das in den Kulissen wartet

everymanSpätestens seit dem Erfolg von »Der menschliche Makel« sind Neuveröffentlichungen von Philip Roth auch in Deutschland ein Ereignis. In den USA ist Roth inzwischen fraglos ein Klassiker geworden: Die »Library of America« hat mit einer Roth-Werkausgabe begonnen. Und es gibt weltweit eine wachsende Schar von Roth-Lesern, die jedes Jahr darauf warten, dass das Nobelpreis-Komitee endlich ein Einsehen hat und Roth ehrt, solange es noch möglich ist. Nun hat der große alte Mann der amerikanischen Literatur ein Buch über den Tod geschrieben, seine Auseinandersetzung mit dem Unausweichlichen.

Das Buch beginnt mit der Beerdigung des namenlosen Protagonisten, um auch nicht einen Moment lang einen Zweifel daran zu lassen, wie die Geschichte ausgehen wird. Am Grab von Roth’ Jedermann versammelt sich eine kleine Schar Verwandter und Bekannter: Seine Tochter Nancy – die einzige Personen, zu der er zuletzt noch eine engere Beziehung gehabt hatte –, die mittlere seiner drei Ex-Frauen, sein Bruder, die beiden Söhne aus erster Ehe, die ihn gehasst haben, ein paar ehemalige Kollegen und einige Mitbewohner des Seniorendorfs, in dem er zuletzt gelebt hatte. Der Friedhof ist trist und heruntergekommen, aber ›Jedermanns‹ Eltern liegen dort begraben und seine Tochter hatte sich gedacht, er würde vielleicht gern dort liegen, wo er nicht so gänzlich alleine sei.

Nachdem die Trauergemeinde auseinander gegangen ist, setzt die Erzählung vom lebenslangen Sterben des Toten ein: von seiner ersten Operation eines Leistenbruchs in seinen Kinderjahren über einen Blinddarm-Durchbruch, der ihn beinahe das Leben gekostet hätte über eine schwere Herz-Operation, in der im fünf Bypässe gelegt werden bis hin zur Verstopfung einer Nierenarterie, mit der im eigentlichen Sinne das Alter des Protagonisten beginnt.

Roth erzählt in kurzen Abschnitten, und beinahe alles, was er erzählt, handelt von Verlust, Scheitern und Tod im Leben seines Helden. Selbst dort, wo für einige Zeit etwas zu gelingen scheint, ist es nur Vorspiel für eine weiteren Niederlage, den nächsten Schritt zum Untergang hin. Roth’ Protagonist nimmt nicht leicht Abschied, er blickt mit Trauer und Reue auf sein Leben zurück; nur seine Tochter Nancy scheint ohne Abstriche auf der Haben-Seite seiner Lebensbilanz zu stehen, alles andere erscheint gemischt aus Lust und Leid: Seine drei Ehen, die aus ganz unterschiedlichen Gründen gescheitert sind, seine Leidenschaft für die Malerei, die sich nicht als die späte Erfüllung seines Lebens erwiesen hat, auf die er gehofft hatte, seine innige Beziehung zu seinem Bruder, die er aus Neid und Eifersucht auf dessen anscheinend unerschütterliche Gesundheit langsam in die Brüche gehen lässt.

Roth erspart seinem Helden nicht die Einsamkeit des Sterbens und die Härten des Abschieds: Kurz nachdem sein Jedermann noch einmal aus einer Laune heraus vergeblich versucht, ein sexuelles Abenteuer mit einer jungen Frau zu initiieren, bekommt er die Nachricht, dass seine zweite Frau Phoebe – Nancys Mutter – eine Schlaganfall erlitten hat und dass von drei Kollegen, mit denen er eng und freundschaftlich zusammengearbeitet hat, einer verstorben ist und zwei ernsthaft erkrankt sind. Zu all dem kommt hinzu, dass er sich selbst einmal mehr einer Operation unterziehen muss, eigentlich ein leichter Eingriff, der ihn aber nichtsdestotrotz in Todesangst versetzt.

Das Buch findet seinen grandiosen Abschluss in einem Friedhofsbesuch: Auf dem Friedhof, mit dem das Buch beginnt, unterhält sich Roth’ Jedermann bei einem Besuch am Grab seiner Eltern mit dem lokalen Totengräber, selbst schon ein alter Mann, der das Gewerbe zusammen mit seinem Sohn betreibt. In diesem sachlichen Gespräch über das Handwerk des Totengräbers erlangt der Namenlose plötzlich Ruhe. Er trifft einen Menschen, für den der Umgang mit dem Tod alltäglich ist, der die Toten seines Friedhofs und ihre Geschichten kennt. Diese Alltäglichkeit des Todes und die Sorgfalt, mit der der Totengräber seine Arbeit verrichtet, versöhnen den Protagonisten mit einem Mal – nur wenige Seiten später ist er tot.

Roth’ »Jedermann« schließt sich nur sehr locker an die Tradition des Jedermann-Stoffs an. Der auffälligste Unterschied dürfte sein, dass Roth Gott explizit aus seinem Buch ausschließt: Sein Jedermann wird nicht von einem Gott vor Gericht zitiert, sein Held ist sicher, dass der Tod bloß der Tod ist »– sonst nichts.« Dieser »Jedermann« ist eine sehr säkularisierte Fassung des alten »Spiels vom Sterben des reichen Mannes«. Einzig bei der abschließenden Begegnung mit dem Totengräber meint man einen Hauch von Mysterium zu spüren, als unterhalte sich Jedermann hier auf einmal mit dem Tod selbst, als räsoniere Hamlet noch einmal mit dem alten Totengräber über Yoricks Schädel. Aber vielleicht gilt auch hierfür das Wort Horatios: »Die Dinge so betrachten, hieße sie allzugenau betrachten.«

Philip Roth: Jedermann. Aus dem Amerikanischen von Werner Richter. Hanser, 2006. 172 Seiten. 17,90 €.

Vladimir Nabokov: Lolita

lolita

Als Vladimir Nabokov im Sommer 1953 begann, seinen Roman »Lolita« zu schreiben, war er ein unbekannter russischer Emigrant, der an der Cornell University in New York Literatur unterrichtete und Romane in englischer Sprache schrieb, die zwar Kollegen und Kritiker schätzten, die aber sonst kaum gelesen wurden. Als im November 1959 der englische Generalstaatsanwalt bekannt gab, dass er gegen die Publikation und den Vertrieb des Romans »Lolita« in England nicht vorgehen würde, war der Weltruhm Nabokovs endgültig gesichert: Es war von staatlicher Seite anerkannt worden, dass es sich bei »Lolita« um Kunst, nicht um Pornographie handelt.

Vladimir Nabokov ist in den Augen einer breiten Öffentlichkeit der Autor eines einzigen Buches: »Lolita«. Mit dem Skandal um dieses Werk ist Nabokov in die Weltliteratur eingegangen, und das, obwohl es sich für die meisten bei »Lolita« wohl eher um ein Gerücht als um ein Buch handeln dürfte. Viele haben sicherlich inzwischen eine der beiden Verfilmungen gesehen: Die frühe von 1962, die den Regisseur Stanley Kubrick zu einer Marke machte, und die spätere von 1997, die – wenn auch nur unwesentlich freizügiger als die 35 Jahre ältere – auch heute noch in Deutschland und zahlreichen anderen Ländern keine Jugendfreigabe besitzt.

Lolita erzählt die Geschichte einer Obsession. Erzählt wird sie vom Protagonisten des Romans – einem Professor für romanische Literatur – aus der Ich-Perspektive als Erinnerung und Rechtfertigung für die Tat, wegen der er im Gefängnis sitzt und auf seinen Prozess wartet: Er hat einen Mann erschossen und versucht nun sich selbst, der Jury und der Welt begreiflich zu machen, was zu diesem Mord geführt hat. Als das Buch erscheint, ist sein Held bereits tot: Gestorben in der Untersuchungshaft an einem gebrochenen Herzen – »Koronarthrombose« nennt es der Totenschein –, nur einen guten Monat bevor das Objekt seiner Begierden und Sehnsüchte, seine geliebte Lolita stirbt.

Humbert Humberts – so der obskure Name des Erzählers, der aber nur ein Pseudonym sein soll – Geschichte beginnt aber nicht damit, dass er Lolita kennenlernt, sondern mit der Erzählung von einer Jugendliebe: Als er 13 Jahre alt ist verliebt er sich im Hotel seines Vaters an der Riviera in die Tochter eines Gastes, eine kurze, leidenschaftliche Sommerliebe zweier Kinder, die damit endet, dass Annabel vier Monate später auf Korfu an Typhus stirbt. Humbert hat diesen Verlust nie verwunden.

Und so ist er sich selbst weitgehend wehrlos ausgeliefert, als er sich viele Jahre später – inzwischen amerikanischer Staatsbürger – für den Sommer in das kleine Städtchen Ramsdale begibt, um dort an einem Buch zu arbeiten, und dabei auf Lolita, die Tochter seiner alleinstehenden Wirtin trifft.

Lolita, Licht meines Lebens, Feuer meiner Lenden. Meine Sünde, meine Seele. Lo-li-ta: die Zungenspitze macht drei Sprünge den Gaumen hinab und tippt bei Drei gegen die Zähne. Lo. Li. Ta.

Sie war Lo, einfach Lo am Morgen, wenn sie vier Fuß zehn groß in einem Söckchen dastand. Sie war Lola in Hosen. Sie war Dolly in der Schule. Sie war Dolores auf amtlichen Formularen. In meinen Armen aber war sie immer Lolita.

Humbert verliebt sich rettungslos in das kokette Mädchen, dem es Spaß macht, mit dem etwas weltfremden Kauz zu flirten und ihre Macht über ihn auszuspielen. Humbert geht soweit, ihre Mutter zu heiraten, bloß um in Lolitas Nähe bleiben zu können. Als ein »glücklicher Zufall« zum Tod der Mutter führt, beginnt Humbert eine ziellose Fahrt mit Lolita durch Amerika, von Motel zu Motel, immer in der Furcht entdeckt, verfolgt, verhaftet zu werden.

Die Geschichte endet wie sie enden muss: Humberts Eifersucht – die nicht unbegründet ist, wie sich herausstellt – führt zu Streit und Entzweiung, und schließlich verschwindet Lolita eines Tages mit dem Mann, den Humbert Jahre später erschießen wird, weil er ihm Lolita geraubt hat.

»Lolita« ist wesentlich ein trauriges Buch, das Buch eines Sentimentalen, der auf sein gescheitertes Leben zurück- und einem Todesurteil entgegenblickt. »Lolita« ist alles andere als ein erotisches Buch – auch wenn sein Thema die sexuelle Beziehung eines alten Mannes zu einem minderjährigen Mädchen ist – und nichts in dem Buch rechtfertigt auch nur den den Verdacht, es können sich um ein pornographisches Werk handeln. »Lolita« ist allerdings ein herausragendes Buch, geschrieben von einem der lesenswerten Autoren des 20. Jahrhunderts, der ohne den Skandal um das Buch sicherlich auch weiterhin eine Randexistenz im Literaturbetrieb seiner Zeit hätte führen müssen.

Ich rate all denen, die das Buch noch nicht kennen, »Lolita« auf die Leseliste zu setzen und dadurch vielleicht einen Autor kennen zu lernen, der über dieses eine Buch hinaus ein Gesamtwerk geschaffen hat, das zu den intelligentesten und literarischsten des 20. Jahrhunderts gehört!

Vladimir Nabokov: Lolita. Aus dem Englischen von Helen Hessel, Maria Carlsson, Kurt Kusenberg, Heinrich M. Ledig-Rowohlt und Gregor Rezzori bearb. von Dieter E. Zimmer. Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1999. 8,90 €.