Colm Tóibín: Porträt des Meisters in mittleren Jahren

toibinNoch ein Henry-James-Roman, der ebenso wie David Lodges »Autor, Autor« aus dem Jahr 2004 stammt. Der Originaltitel lautet schlicht »The Master«, aber das Marketing beim Hanser Verlag fand offenbar die Joyce-Anspielung schick.

Das Buch setzt später ein als das von Lodge: Jedes der elf Kapitel ist mit einer Monatsangabe überschrieben und das erste Kapitel beginnt im Januar 1895 mit der desaströsen Premiere von James’ Theaterstück »Guy Domville«, und es folgen dann drei weitere Kapitel bevor das Buch das einigermaßen kontinuierliche Erzählen aufgibt und sich in Sprüngen bis zum Oktober 1899 bewegt; allerdings umfasst das letzte Kapitel auch noch den Übergang in das Jahr 1900.

Insgesamt ist Tóibíns Buch bei weitem nicht so konzentriert wie das von Lodge. Tóibín unternimmt lange Rückblenden, die zum Teil weitere Rück- oder Vorblenden enthalten, so dass man am Anfang manch eines Abschnitts nicht ganz sicher sein kann, wo in der Chronologie man sich gerade befindet. Man vermisst einen roten Faden, der das Buch strukturieren würde; im Grunde laufen alle Erzählstränge recht unverbindlich nebeneinander her und James muss für die Assoziationsbrücken des Autors Tóibín geradestehen.

Da geht denn dann auch einiges schief: So erfährt der Leser auf S. 235 zum ersten Mal etwas über Constance Fenimore Woolson, die Henry James bis zu ihrem Freitod in Venedig im Januar 1894 sehr nahe gestanden hatte. Dementsprechend heißt es dann zwei Seiten später:

Ihr Tod war für Henry, ebenso wie der seiner Schwester Alice, ein ständiger täglicher Begleiter.

Wenn das so war, dürfte die Frage berechtigt sein, warum der Leser davon erst nach über 230 Seiten Kenntnis erlangt, nachdem er bereits dreieinhalb Jahre im Leben des Henry James hinter sich gebracht hat. Solche Beliebigkeiten in der Darstellung finden sich recht häufig.

Im Gegensatz zu Lodge, der das Thema eher dezent anspricht, betont Tóibín die vermutliche Homosexualität Henry James’ stark und setzt sich deshalb auch intensiv mit den Prozessen um Oscar Wilde auseinander, denen James aufgrund der ihm zugeschriebenen habituellen Invertiertheit fasziniert folgen muss.

Recht gelungen ist die Darstellung des älteren Bruders William James und seiner Familie im letzten Kapitel des Buches, aber alles in allem wäre wahrscheinlich anzuraten, die Lektürezeit besser auf das Buch von Lodge oder die Biographie von Leon Edel zu verwenden.

Colm Tóibín: Porträt des Meisters in mittleren Jahren. Aus dem Englischen von Giovanni und Ditte Bandini. Hanser Verlag, 2005. Pappband; 427 Seiten. 24,90 €.

David Lodge: Autor, Autor

188967399_14e15afd94David Lodge, englischer Literaturwissenschaftler und Schriftsteller, hat sein neues Buch einem Klassiker der englischsprachigen Literatur gewidmet: Es erzählt die Lebensgeschichte des amerikanischen Autors Henry James (1843–1916). Doch »Autor, Autor« ist keine Biografie, sondern ein Roman, der sich aber in nahezu allen Details an die Tatsachen hält.

Henry James hat heute in der englischsprachigen Welt in etwa den Status, den Theodor Fontane in der deutschsprachigen Literatur einnimmt: eine der wichtigen Stationen auf dem Weg zum modernen Roman. Das war aber nicht immer so. David Lodge konzentriert sich im Hauptteil seines Buches auf eine Zeit der Krise im Leben von Henry James, der seit Ende 1876 hauptsächlich in London lebte. Ende der 1880er Jahre ist sein Ruhm als Autor im Schwinden begriffen, der Absatz seiner Bücher geht von Jahr zu Jahr zurück und James sieht sich auf lange Sicht einer ernsthaften finanziellen Notlage gegenüber.

Da kommt es ihm gerade recht, dass er Ende 1888 die Anfrage einer englischen Theatertruppe bekommt, die ihn bittet, seinen Roman »Der Amerikaner« zu einem Theaterstück umzuarbeiten. Nach anfänglichem Zögern begreift James dieses Angebot als Chance, seine finanzielle Lage dauerhaft abzusichern. Er geht nicht nur auf das Angebot ein, sondern entwirft zugleich den Plan, eine Karriere als Bühnenautor zu beginnen. Erst nach mehr als fünf Jahren wird James die Fruchtlosigkeit seiner Versuche endgültig einsehen. Lodge beschreibt die Hoffnungen, Anstrengungen, Erfolge und Niederlagen, die James in diesen Jahren durchlebt, mit großer Sensibilität und Empathie.

Begleitet wird die Erzählung dieser Lebensphase von der Darstellung zweier wichtiger Freundschaften mit anderen Autoren: George du Maurier (dem Großvater von Daphne du Maurier), eigentlich Zeichner, der 1894 mit seinem Roman »Trilby« einen Megaseller schreibt, und Constance Fenimore Woolson, der Frau, die dem lebenslang keuschen Henry James wohl am nächsten stand; auch sie war als Autorin kommerziell wesentlich erfolgreicher als James.

Dieser Hauptteil wird durch die Erzählung der letzten Wochen gerahmt, die Henry James durchlebt: Seinem langsamen geistigen Verfall nach einem Schlaganfall, der Ehrung durch das englische Königshaus mit dem Order of Merit, seinem Tod und schließlich einem Ausblick auf seinen Nachruhm, der in der englischsprachigen Welt bis heute anhält.

Lodges »Autor, Autor« ist ein ruhig und sorgfältig erzählter Roman, was seinem Inhalt auch ganz angemessen ist. An einer Stelle macht sich Lodge beinahe ein wenig lustig über Henry James und zugleich über sich selbst:

Das Thema […] war reizvoll, aber er gab bereitwillig zu, daß der Roman mit zu vielen Kommentaren behaftet und im Tempo zu gemächlich war. [S. 137]

Doch wer ein wenig Geduld für das Buch aufbringt und sich für Schriftsteller und das späte 19. Jahrhundert interessiert, sollte »Autor, Autor« auf jeden Fall lesen.

David Lodge: Autor, Autor. Aus dem Englischen von Renate Orth-Guttmann. Gerd Haffmans bei Zweitausendeins, 2006. Fadenheftung; 544 Seiten. 17,90 €.

Den großen Wal auf die Ohren!

Herman Melvilles großer Roman »Moby-Dick« (nur echt mit dem Bindestrich!) ist ein ungeheuerliches Buch – aber darüber mehr bei anderer Gelegenheit. Der deutsche Übersetzer Friedhelm Rathjen hat die Mühe auf sich genommen, diesen Roman kongenial ins Deutsche zu übertragen. Nun erscheint die komplette Übersetzung auch als mp3-Hörbuch, gelesen von Christian Brückner.

»Moby-Dick« ist ein dickes und oft überwältigendes Werk. Viele Leser werden es bloß aus einer der zahlreichen »Bearbeitungen für die heranwachsende Jugend« kennen, die versuchen, das Buch zu zähmen und auf die Abenteuer-Handlung zu reduzieren. Wenn man sich aber die Mühe macht, einmal nachzusehen, was Melville tatsächlich geschrieben hat, so entdeckt man einen wilden, zerklüfteten Text mit einer rauhen Sprache, die wechselhaft ist wie die See, von der er so viel erzählt.

Den Deutschen ist dieses Buch in seiner ganzen Fülle lange Zeit vorenthalten worden, weil alle älteren Übersetzungen versucht haben, den Text zu glätten und damit leichter lesbar zu machen. Nun sind aber in jüngster Zeit gleich zwei neue Übersetzungen erschienen – wobei das Kuriose darin besteht, dass eine der beiden Übersetzungen sogar die andere zugrunde legt – die beide von sich selbst behaupten, das Buch getreu ins Deutsch zu übertragen. Die grundlegende Übersetzung stammt von Friedhelm Rathjen und ist im Jahr 2004 bei 2001 erschienen. Diese Übersetzung ist der bislang kompromissloseste Versuch, aus Moby Dick einen deutschen Wal zu machen und wird für lange Zeit die deutsche Übersetzung bleiben.

Wem die Lektüre eines Romans von über 800 Seiten zu anstrengend ist oder wer einfach lieber hört als liest, hat jetzt die Gelegenheit, sich dieses Stück Weltliteratur in einer hervorragenden Einspielung anzuhören: Christian Brückner hat die komplette Rathjensche Übersetzung vorgelesen und 2001 bietet diese Lesung als mp3-Hörbuch auf zwei CDs für 39,90 € an. Umgerechnet auf die ca. 30 Stunden Hörgenuss sind das nur etwas mehr als 2 Cent pro Minute. Das kann sich doch hören lassen, oder?

Michael Maar: Lolita und der deutsche Leutnant

Michael Maars Fund einer möglichen literarischen Vorlage für Vladimir Nabokovs »Lolita« hatte im März 2004 einige Aufregung in den Feuilletons verursacht, darunter auch zahlreiche Widersprüche, oft nach dem Muster, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Die in Frage stehende Erzählung von Heinz von Lichberg war nur antiquarisch zu erwerben und die Zitate von Maar waren zu dünn, um die These wirklich beurteilen zu können. Maar hat im Jahr darauf ein kleines Büchlein daraus gemacht, in dem er nun nicht nur in Ruhe und mit einiger Gründlichkeit die Argumente anführt, sondern das auch Lichbergs Erzählung »Lolita« und eine weitere mit dem Titel »Atomit« bringt, für die Maar einen noch deutlicheren Vorlagencharakter für Nabokovs »Walzers Erfindung« anführen kann.

Unbefangen betrachtet, ist die Aufregung, die Maars Fund im März 2004 ausgelöst hat, weitgehend unverständlich. Weder wirft Maar Nabokov ein Plagiat vor, noch hält Maar die Lichbergsche Vorlage für literarisch gleichrangig mit Nabokovs Roman, noch behauptet er, erwiesen zu haben, dass es sich bei Lichbergs Erzählung um eine notwendige Vorstufe zu Nabokovs Werk handelt. Alles, worauf er aufmerksam macht, sind auffällige und bemerkenswerte Indizien, die, je mehr sie sich finden lassen, es immer unwahrscheinlicher machen, dass Nabokov die Vorläufer-Erzählung nicht gekannt habe, ja die am Ende sogar nahelegen, Nabokov habe die Erzählung bewusst verarbeitet.

Maar selbst hält die Konsequenzen seiner Entdeckung nicht für besonders bedeutsam:

Wenn sich die erste, textgenetische [Frage] abhaken ließe, wäre genügend Raum für die zweiten und dritten, sublimeren Fragen: Was die Ur-Lolita für den Status des Romans bedeutet (nicht viel), ob sie den Rang Nabokovs schmälert (nicht im geringsten), ob wir unser Bild von ihm korrigieren müssen (minimal), ob wir aus den zwei Lolitas etwas über das Zusammenspiel von Hoch- und Trivialliteratur erfahren (durchaus), etwas über Nabokovs Verhältnis zu den Deutschen (auch das) und etwas über seine Kunst, die Deuter zu lenken (allerdings).

Die angehängten Erzählung »Lolita« von Lichberg ist – alles in allem – ziemlich schrecklich. Die Sprache ist hölzern und besonders die eigentliche Liebesgeschichte von einer seltenen literarischen Blödheit. »Atomit« ist ein zu langer, zu schlecht erzählter Witz, dessen Pointe trotz der Länge der Erzählung nicht recht vorbereitet ist. Uns Nachgeborenen mag ein Schauer über den Rücken laufen, aber wirklich besser macht das den Text auch nicht. Hiernach zu urteilen, hat man den Autor Heinz von Lichberg gänzlich zu Recht vergessen.

Ein Büchlein für Nabokov-Spezialisten und Leser, die Spaß an literarischen Detektiv-Spielchen haben. Die anderen mögen ihre Zeit Wichtigerem widmen.

Michael Maar: Lolita und der deutsche Leutnant. Suhrkamp, 2005. Pappband; 100 Seiten. 14,80 €.

John Irving: Until I Find You

177650619_1b09ae6f38John Irvings elfter Roman erinnert in einigen Aspekten an seinen vierten, »The World According to Garp«, mit dem er weltberühmt wurde. Das ist nicht verwunderlich bei einem Autor, der ganz allgemein dazu neigt, bestimmte Motive, Themen und Situationen in seinen Büchern beinahe obsessiv zu wiederholen.

Auch »Until I Find You« ist die Geschichte eines vaterlosen Jungen: Jack Burns allerdings wächst ohne Vater auf, weil seine Mutter versucht, ihn als Geisel zu benutzen, um die Liebe seines Vaters zu ihr zu erzwingen. Sie ist Tochter eines Tattoo-Künstlers aus Edinburgh und hat eine kurze, folgenreiche Affäre mit einem jungen, gutaussehenden Organisten. Da Jacks Vater, William Burns, Edinburgh noch vor Jacks Geburt in Richtung Kanada verlassen hat, entschließt sich Jacks Mutter ihm nachzureisen. Jack wird nach der Ankunft in Halifax (Nova Scotia) geboren und verlebt mit seiner Mutter Alice die ersten vier Lebensjahre in Toronto. Dann macht sich Alice erneut auf, Jacks Vater zu suchen, der sich inzwischen in Europa aufhält. Diese Suche gerät zu einer kleinen Odyssee durch die skandinavischen Länder und endet schließlich in Amsterdam. Alice arbeitet an allen Orten in dem Beruf ihres Vaters und bildet sich in dieser Zeit zu einer angesehenen und gesuchten Tattoo-Künstlerin aus. Ihr eigentliches Ziel aber, das zu dieser Zeit weder Jack noch der Leser kennen, erreicht sie nicht. Schließlich macht sie sich von Rotterdam aus zurück auf den Weg nach Kanada, und Jacks Vater scheint für immer aus Jacks Leben zu verschwinden.

Nach dieser Ouvertüre erzählt Irving Jacks Leben: Ausbildung, Ringen (eine Wiederholung mehr aus »Garp«), Schauspielerkarriere, gescheiterte Liebe, den Tod seiner vertrautesten Freundin und schließlich auch den seiner Mutter. Erst nach dem Tod von Alice geht Jack Burns erneut auf die Suche nach seinem Vater. Er bereits noch einmal alle Stationen, die er als Vierjähriger mit seiner Mutter durchlebt hat und stellt zu seiner Überraschung fest, dass kaum etwas von dem, was er erinnert, den tatsächlichen Ereignissen entspricht, die er nun rekonstruiert. Jack bekommt ein vollständig neues Bild seiner beiden Eltern, seiner Reise mit seiner Mutter, seines Lebens überhaupt. Natürlich wissen wir hier längst, dass die große Apotheose des Romans die Begegnung Jack Burns’ mit seinem Vater sein wird, aber auch hier baut Irving noch einmal eine retardierende Schleife ein, bevor er zum Finale kommt.

Der Roman ist ein normaler Irving, so wie ihn seine Leser inzwischen mit einiger Zuverlässigkeit erwarten können. Er hat mich emotional nicht so bewegt wie etwa »Garp« oder »Widow for One Year«, aber ich habe ihn z. B. lieber gelesen als »A Prayer for Owen Meany«. So sucht sich jeder Irving-Leser seine Lieblinge heraus. Gänzlich unangemessen erscheinen mir dagegen die Verrisse, die es zu diesem Buch gesetzt hat: Matthias Altenburgs Kritik in der »Zeit« ist dem Buch gänzlich unangemessen und beweist einmal mehr, dass schlechte Kritiken nicht immer auf schlechte Bücher, sondern in einigen Fällen auf schlechte Leser hinweisen. Auch die überaus überlegenen Betrachtungen von Annette Zerpner für die »F.A.Z.« beweisen nur, dass es ihr auch nicht für einen einzigen Augenblick gelungen ist, sich für den Menschen Jack Burns zu interessieren. Dagegen hat Gerrit Bartels den Roman für die »TAZ« genauer gelesen: Er lobt die Stringenz des Romans und hat im Gegensatz zu seinen Kollegen verstanden, dass dem Roman eine genau kalkulierte Komposition zugrunde liegt.

Dass nicht alle Leser die nötige Geduld für dieses Buch aufbringen werden, versteht sich von selbst. Aber das bedeutet nicht, dass der Roman misslungen ist, sondern es zeitigt nur einmal mehr die alte Einsicht, dass nicht jedes Buch für jeden Leser geschrieben ist.

Wenn ein Buch und ein Kopf zusammenstoßen und es klingt hohl, ist das allemal im Buch?

Lichtenberg

Irving, John: Until I Find You
New York: Random House, 2005. ISBN: 1-4000-6383-3
Pappband – 827 Seiten – ca. 14,00 Euro

Deutsche Ausgabe:
Irving, John: Bis ich dich finde
Diogenes, 2006. ISBN: 3-257-06522-1
Leinen – 1152 Seiten – 18,4 × 11,6 cm – 24,90 Eur[D]

Gary Taylor: Shakespeare – Wie er euch gefällt

154528500_e16ec1c2e4Gary Taylor war Mitarbeiter und einer der Herausgeber des neuen »Oxford Shakespeares«, und stellt seinen Rang als einer der führenden Experten für Shakespeare auch mit diesem Buch unter Beweis. Taylor schreibt eine Rezeptionsgeschichte, die das sich wandelnde Bild von der Person Shakespeares und seinem Werk von der Mitte des 17. Jahrhunderts bis in die 80er Jahre des 20. Jahrhunderts verfolgt. Dabei liegt der Fokus auf der englischen und amerikanischen Rezeption und Forschung; die Entwicklungen in Deutschland und Frankreich werden nur am Rande gestreift, insbesondere dort, wo sie auf die englische zurückgewirkt haben. Das scheint für den deutschen Leser auf den ersten Blick ein Manko zu sein, allerdings zeigt es sich, dass sich die Rezeptionsgeschichte im deutschen Sprachraum zu großen Teilen mit der englischen parallelisieren lässt.

Das Buch zeugt von einer stupenden Kenntnis der Shakespeare-Literatur und -Inszenierungen aus über 300 Jahren. Taylor referiert alle wichtigen Stationen im historischen Gang der »Shakespearotik«, wie er die Darstellung, Deutung, Aneignung und Verehrung des englischen Dramatikers aus Stratford-upon-Avon nennt. Dabei bleiben weder die Machtstrukturen des englischen Buchhandels des 18., weder die moralisierenden Bearbeitungen und glättenden Entstellungen des 19. noch die akademischen Moden und Wirrungen des 20. Jahrhunderts unberücksichtigt, weder Positionen blinder Verehrung noch harscher Kritik am »größten Dramatiker aller Zeiten« werden unterschlagen. Alles wird nach bester englischer Manier in verständlicher und auch für den Laien interessanter Form präsentiert.

Dabei ist dem Autor jede Überheblichkeit, jeder Stolz auf das eigene Wissen, jede die sachliche Darstellung störende Eitelkeit fremd. Dies Buch macht durch seinen Stil deutlich, wie sehr dem Autor bewusst ist, dass sich sein Buch einreiht in die unüberschaubare Reihe von Shakespeare-Büchern, die die Zeiten nicht überdauert haben und heute zu Recht vergessen sind; Taylor weiß, dass wahrscheinlich in 50 oder 100 Jahren niemand mehr von Taylor sprechen oder über ihn schreiben wird; vielleicht noch ein zukünftiger »Taylor«, in dessen Buch der heutige Taylor auftauchen wird wie all die vergessenen Herausgeber, Schauspieler und Forscher in seinem. Das macht die Lektüre des Buches sehr angenehm, denn es versucht stets, mit dem Leser auf »gleicher Augenhöhe« zu kommunizieren.

Dargestellt wird die Genese des »Mythos Shakespeare«, wie er sich heute darstellt, sprich: wie es dazu gekommen ist, dass Shakespeare heute in der englischsprachigen und weitgehend auch in der europäischen Welt beinahe unwidersprochen als einzigartiges literarisches Genie gehandelt wird. Taylor macht die historische Stufenfolge sichtbar, die zu diesem Status geführt und die langsam aber sicher jeglichen Makel aus dem Werk Shakespeares hinausinterpretiert hat. Taylors Buch ist eines der klügsten und erhellendsten literarhistorischen Bücher, das ich gelesen habe. Auch für Nicht-Shakespeare-Kenner sehr zu empfehlen.

Das Buch ist leider nicht mehr im Druck (bibliographischer Nachweis). Sowohl die englische (»Reinventing Shakespeare: A Cultural History, from the Restoration to the Present«) als auch die deutsche Ausgabe sind aber noch leicht antiquarisch erhältlich.

Richard P. Feynman: Was soll das alles?

121017248_862d5f04d9Drei Vorträge, die Richard Feynman 1963 als Gast an der University of Washington gehalten hat, und die 1998 aus dem Nachlass veröffentlicht wurden. Ihr englischer Übertitel »The Meaning of It All« macht das Missverhältnis von Anspruch und Ausführung noch krasser deutlich, als seine doppeldeutige deutsche Übersetzung.

Der erste Vortrag beschäftigt sich mit »Ungewißheit in der Wissenschaft« und ist der einzige, dessen Lektüre man einigermaßen empfehlen kann. Feynman weist auf einem sehr populären Niveau auf die Notwendigkeit des Zweifels für alle wissenschaftliche Arbeit hin und darauf, dass die Grundeinsicht in die Vorläufigkeit aller Erkenntnis und die Unabgeschlossenheit des Forschungsprozesses Grundvoraussetzungen für eine erfolgreiche und produktive Wissenschaft sind.

Der zweite Vortrag beginnt mit unsystematischen Überlegungen dazu, inwieweit die Beschäftigung mit den Naturwissenschaften Einfluss auf die religiösen Gefühle eines Menschen hat, um dann völlig unvermittelt in eine Philippika gegen die Sowjetunion überzugehen.

Den dritte Vortrag beginnt Feynman mit dem Bekenntnis, das worüber er habe reden wollen, sei bereits gesagt. Daher sage er nun, was ihm sonst noch so einfalle, und er selbst gäbe nicht viel darauf, was nun folge. Da hatte er Recht! Der dritte Vortrag ist eine Gemengelage zumeist unverbundener Themen, zu denen Feynman mehr oder weniger Platitüden zum Besten gibt. Einzig die Bemerkungen zur Erhebung und wissenschaftlichen Relevanz von Stichproben sind von einigem Interesse.

Insgesamt ein enttäuschendes und überflüssiges Buch und eine typische Nachlassveröffentlichung, von deren Lektüre fast ausnahmslos abgeraten werden kann. Das wenige Interessante, das zu finden ist, lässt sich anderswo ebensogut und besser finden.

Feynman, Richard P.: Was soll das alles? Gedanken eines Physikers. Aus dem Amerikanischen von Inge Leipold.
Piper, Sonderausgabe 2002. ISBN 3-492-04472-7
Gebunden – 153 Seiten – 9,90 Eur[D]

Richard P. Feynman: »Sie belieben wohl zu scherzen, Mr. Feynman!«

121017247_b1fcf96245Eine anekdotische Lebensgeschichte Feynmans, von ihm selbst erzählt. Seine wissenschaftliche Karriere kommt natürlich auch vor, aber eher in den äußerlichen Umständen, weniger in den zahlreichen herausragenden Entdeckungen, die Feynman im Verlauf seines Lebens gemacht hat. Das Buch ist amüsant, hier und da etwas selbstgefällig, was mich aber nicht wirklich gestört hat, eine nette Lektüre. Feymans Leben erweist sich als äußerst vielfältig und reichhaltig: Schon früh autodidaktisch an Mathematik interessiert, beschäftigt er sich mit allen drei großen Naturwissenschaften, studiert nicht nur Physik, sondern hospitiert auch in der Chemie und Biologie, und landet schließlich als Theoretiker im Team um Oppenheimer in Los Alamos. Dort betätigt er sich umfänglich als Safeknacker – auch dies hauptsächlich Zeugnis seiner unstillbaren, eigenwilligen Neugier, die ihn dazu geführt hat, sich im Laufe seines Lebens mit sehr unterschiedlichen Themen zu beschäftigen. Feynman ist dabei von erfrischender Offenheit und Ehrlichkeit, zögert auch nicht, die Grenzen seines Verständnisses sichtbar werden zu lassen.

Was man bedauern könnte, ist, dass Feynman mit allem was er erzählt, den Bereich des Privaten kaum verlässt: Politik und erfahrene Historie kommen so gut wie gar nicht vor, Begegnungen mit anderen Physikern nur am Rande etc. Man sollte also keine »Erinnerungen« oder »Bekenntnisse« in diesem Band voller »Abenteuer« erwarten.

Feynmans Anekdotensammlung ist ganz unabhängig davon, ob man sich für Physik oder die Naturwissenschaften überhaupt interessiert, eine sehr kurzweilige, wenn auch letztendlich etwas belanglose Lektüre.

Feynman, Richard P.: »Sie belieben wohl zu scherzen, Mr. Feynman!« Abenteuer eines neugierigen Physikers. Aus dem Amerikanischen von Hans-Joachim Metzger.
Piper, Sonderausgabe 2005. ISBN 3-492-04726-2
Gebunden – 464 Seiten – 14,90 Eur[D]

Richard P. Feynman: Sechs physikalische Fingerübungen

121017246_120fbf6982Laut Vorwort des amerikanischen Originalverlages handelt es sich bei dem Buch um die »sechs einfachsten Kapitel« der »Lectures on Physics«, die unter den Einführungen für Physikstudenten eine Art Kultstatus inne haben. Dass die Originalausgabe dieser Auswahl 1995 erschienen ist, also 30 Jahre nachdem Feynman den Physik-Nobelpreis erhalten hat, zeugt von der ungebrochenen Popularität, die er in den Vereinigten Staaten besitzt. Es gibt zahlreiche Zeugnisse dafür, dass Feynman als akademischer Lehrer und als Persönlichkeit zahlreiche Menschen beeinflusst und tief beeindruckt hat.

Durch die Auswahl sind die Kapitel natürlich wenig miteinander verbunden und auch was den Anspruch an das Verständnis der Leser recht unterschiedlich. Das Büchlein beginnt mit einem Kapitel, das sich auf einem sehr allgemeinen Niveau mit der Tatsache auseinandersetzt, dass die Welt aus Atomen zusammengesetzt ist, es folgt ein Kapitel zur Entwicklung der Quanten- und Elementarteilchenphysik, eines zum Verhältnis der Physik zu anderen Naturwissenschaften – mit einem Schwerpunkt auf der Biologie, mit der sich Feynman im Laufe seiner wissenschaftlichen Karriere ebenfalls intensiver beschäftigt hat –, eines zum Energieerhaltungssatz, eines zur Gravitationstheorie und ein letztes, doch schon recht anspruchsvolles, zur Quantenmechanik und der Heisenbergschen Unschärferelation.

Für naturwissenschaftlich Interessierte, die ihre Schulphysik einmal wieder auffrischen und vielleicht auch etwas erweitern wollen, eine anregende und lohnende Lektüre. Für die allermeisten Nichtphysiker wird der eine oder andere anregende Gedanke oder neue Perspektive abfallen. Mir etwa ist nie zuvor die enge Abhängigkeit zwischen Quantenmechanik und der Unschärferelation auf so einfache und einleuchtende Art klar gemacht worden.

Feynman, Richard P.: Sechs physikalische Fingerübungen. Aus dem Amerikan. von Inge Leipold.
Piper, Sonderausgabe 2004. ISBN 3-492-04665-7
Gebunden – 224 Seiten – 12,90 Eur[D]

John Steinbeck: Tortilla Flat

106060846_41dd06354eEin immer noch ganz wundersames Buch, das wahrscheinlich von den meisten Lesern literarisch unterschätzt wird, weil es sich so angenehm und amüsant liest. Tatsächlich steckt es voller literarischer Bezüge und Parodien: Nicht nur ist es eine subtile Satire auf die europäische Adelsgesellschaft, sondern Steinbeck parallelisiert seinen Gruppe von Tagedieben ganz bewußt mit Artus und seiner Tafelrunde, die im Gegenzug als edle Räuberbande erscheinen. Außerdem steckt natürlich ein gerüttelt Maß an »Don Quixote« im Buch und zugleich auch viel vom »Lazarillo« und seinen Brüdern. Steinbeck erweist sich bei näherer Betrachtung als ein Autor mit gewichtigen literarischen Wurzeln. Dass er aus diesen Wurzeln eine so eingängige Kunst herauszutreiben versteht, zeichnet ihn umso mehr aus.

Auch dieses Buch ist wie »Von Mäusen und Menschen« noch in der schlechten Übersetzung von Elisabeth Rotten im Handel. Es ist zu hoffen, dass die Reihe der Steinbeck-Neuübersetzungen im Zsolnay Verlag auch diese Ausgabe bald ersetzt.

Steinbeck, John: Tortilla Flat. Deutsch von Elisabeth Rotten.
Roman
dtv. ISBN 3-423-10764-2
Kartoniert – 176 Seiten – 7,50 Eur[D]