Henry James: Das Tagebuch eines Mannes von fünfzig Jahren

James-Tagebuch-50-JahreHenry James hat eine bedeutende Anzahl von Erzählungen geschrieben, die zusammen an die 4.700 Seiten füllen, was gut 40 % seines erzählerischen Gesamtwerks entspricht. Das Phänomen, dass die Erzählung in ihren verschiedenen kürzeren Formen während des 20. Jahrhunderts gegenüber dem Roman langsam aber sicher an Boden verloren hat und heute jede Erzählung, die es – unter welchen setzerischen Bedingungen auch immer – auf 150 Seiten oder mehr bringt, vom Vertrieb sofort als Roman ausgeschrien wird, ist hier schon an einigen Stellen thematisiert worden. Für James boten kürzere Erzählungen einerseits die Möglichkeit eines relativ stetigen und sicheren literarischen Einkommens, andererseits lieferten sie ihm ein disziplinierendes Gerüst, denn sie entstanden in der Regel unter dem Druck konkreter Erscheinungstermine.

Manesse schöpft schon seit einigen Jahren aus dem reichen Fundus der Jamesschen Erzählungen und bringt immer wieder Sammlungen mit bislang unübersetzten Stücken heraus. Diesmal hat man mit Friedhelm Rathjen einen Übersetzer gefunden, dem es gelingt, die von James mit Sorgfalt ausdifferenzierten unterschiedlichen Ton- und Stillagen der einzelnen Erzähler auch im Deutschen herauszuarbeiten. Der vorgelegte Band ist eine hübsche Gelegenheit, Henry James als Erzähler kennenzulernen. Die sechs versammelten Erzählungen sind:

Louisa Pallandt (1888)

Der Erzähler ist ein alter, amerikanischer Junggeselle, der in Bad Homburg beim Warten auf die Ankunft seines jungen Neffen, den er mit den Sehenswürdigkeiten Europas vertraut machen soll, seine alte Liebe Louisa Pallandt und deren Tochter Linda wiedertrifft. Louisa hat ihn einst für einen reicheren Ehekandidaten sitzen lassen, der sich allerdings als Bankrotteur erwies, bald verstorben ist und Louisa und die gemeinsame Tochter in relativer Armut zurückgelassen hat. Louisa führte seitdem ein unruhiges Wanderleben in Europa, das im 19. Jahrhundert zahlreichen US-Amerikanern ein preiswerteres Leben ermöglichte. Der Erzähler begegnet seiner alten Liebe mit einiger Reserviertheit, doch als schließlich sein Neffe Archie zu der Gruppe stößt, geschieht das stets Unvermeidliche, wenn attraktive junge Leute aufeinandertreffen. Doch wird das junge Glück von der plötzlichen Abreise der Damen unerwartet unterbrochen.

Erst Wochen später teilt Linda Archie in einem Brief mit, dass sie sich inzwischen mit ihrer Mutter am Lago Maggiore aufhält. Von Archies Verliebtheit getrieben, reisen die Herren ebenfalls dorthin, doch gleich bei der ersten Begegnung zeichnet Louisa dem Erzähler ein recht dunkles Bild von ihrer Tochter. Diese sei ein kaltes, herzloses Wesen, von ihr selbst dazu erzogen, um jeden Preis eine hohe gesellschaftliche Stellung und Reichtum zu erlangen. Louisa eröffne ihm dies, um Buße zu tun für ihre eigene ehemalige Grausamkeit, und werde deshalb auch dafür sorgen, dass Archie nicht in den Fängen dieser Sirene ende. Der Erzähler bleibt ebenso verstört zurück wie der Leser, doch sind in dieser ersten Erzählung bereits die zentralen Themen der Sammlung vorgegeben: Liebe, romantische Leidenschaft und bürgerliche Ehe sowie das für James überhaupt wichtige Motiv der Tradierung und Widerspiegelung sozialer und psychologischer Muster in unterschiedlichen Beziehungen beziehungsweise Generationen.

Der Beldonald-Holbein (1901)

ist die einzige Erzählung dieser Sammlung, in der es nicht in irgendeiner Weise um die Schwierigkeiten der Vermittlung von romantischer Liebe und bürgerlichen Vorstellungen von Sitte und Anstand geht. Erzählt wird vielmehr vom Auftauchen einer älteren Dame mit einem Holbeinschen Charaktergesicht in der Londoner Gesellschaft. Sie soll eigentlich als hässliche Gegenfolie der um ihren Status als Schönheit besorgten Lady Beldonald dienen und ist zu diesem Zweck extra aus Amerika eingeführt worden, wird aber bei ihrem ersten Besuch im Atelier des Malers, der der Erzähler dieser Anekdote ist, als Modell entdeckt. Die Lady, die eigentlich portraitiert werden sollte, verhindert zwar, dass ein Bild ihrer Gefährtin entsteht, erträgt aber ihren Ruhm als Holbein für eine Weile, bevor sie sie zurück nach Amerika verfrachtet. Dort stirbt die vom Ruhm Abgeschnittene nach nur kurzer Zeit an Vereinsamung. Diese späte Erzählung, die sich über den seltsam schiefen Gegensatz von Oberflächlichkeit bei gleichzeitiger hoher Kultiviertheit in London einerseits und der US-amerikanischen Ignoranz gegenüber der europäischen Kulturtradition andererseits lustig macht, ist ein mildes satirisches Kabinettstück, hängt mit den übrigen Erzählungen des Bandes aber nur lose zusammen.

Das Tagebuch eines Mannes von fünfzig Jahren (1879)

erzählt die Geschichte eines älteren englischen Generals, der nach vielen Jahren den Ort seiner ersten großen Liebe wieder aufsucht: Florenz. Dort trifft er auf einen jungen Landsmann, der sich zu der Tochter der ehemaligen Angebeteten des Generals in einer nahezu identischen Beziehung befindet wie der General einstmals zur Mutter. Da der General der Auffassung ist, die Mutter habe ihm seinerzeit übel mitgespielt und sei überhaupt eine unmoralische Kokotte gewesen, macht er es sich zur Aufgabe, den jungen Mann vor demselben Schicksal zu bewahren. Am Ende erweist sich wieder einmal, dass es immer einen Narren mehr gibt, als jeder glaubt.

Der spezielle Fall (1898)

erzählt die Geschichte zweier Affären bzw. ihrer Folgen: Zum einen hatte der junge Barton Reeve eine Affäre mit einer verheirateten Frau, Mrs. Kate Despard, Gattin eines britischen Colonels, von der er nun erwartet, sich scheiden zu lassen, was Mrs. Despard aber trotz ihrer Abneigung gegenüber ihrem Ehemann nicht willig zu tun ist. Zum anderen hatte der mit Barton befreundete Philip Mackern eine Affäre mit der bereits anderweitig verlobten jungen Freundin Mrs. Despards, Margaret Hamer, die sich weigert, sich von ihrem in Indien als Offizier stationierten Verlobten loszusagen. Beide Männer versuchen über die jeweils andere Frau Druck auf ihre Angehimmelte auszuüben. Wie alles tatsächlich ausgeht, interessiert James schon gar nicht mehr; ihm genügt es, die Überschreitungen der gesellschaftlichen Etikette und die daraus resultierenden Hilflosigkeiten der Beteiligten zu schildern, die sich aus der gesellschaftlich nicht sanktionierten Intimität der Affären ergeben.

Die Eindrücke einer Kusine (1884)

ist ebenfalls als Tagebuch geschrieben: Die alte Jungfer Catherine Condit begleitet ihre reiche Kusine Eunice aus Europa nach New York, obwohl es ihr dort gar nicht behagt. Eunice ist noch minderjährig, erwartet aber die Übertragung eines erheblichen Vermögens, das lange Jahre von einem Mr. Caliph als Treuhänder verwaltet wurde. Während sich die Damen in New York etwas langweilen, beginnt der Halbbruder von Mr. Caliph, Adrian Frank, Eunice den Hof zu machen, während Mr. Caliph vorgibt, dass es bei der Übertragung des Vermögens noch einige Schwierigkeiten zu bewältigen gibt. Nach einigem Hin und Her stellt sich natürlich heraus, dass Mr. Caliph Eunices Vermögen veruntreut hat und nun versucht, ihr in Form des Vermögens seines Halbbruders einen Ausgleich zu verschaffen. Eunice aber will nicht Adrian heiraten, sondern ist verliebt in Mr.Caliph, während sich Adrian mittlerweile in Catherine verliebt hat. Auch die Auflösung dieser Verwicklungen kann man sich selbst zurechtlegen, so wie das meiste andere an dieser Erzählung, die für ihren Inhalt zweifellos viel zu lang geraten ist.

Die entscheidende Bedingung (1900)

ist das Schmuckstück dieser Sammlung. Erzählt wird die Geschichte zweier Engländer, Bertram Braddle und Henry Chilver, die bei ihrer Rückreise aus den USA, die sie hauptsächlich bereist haben, um die vielbesprochenen amerikanischen Frauen kennenzulernen, Mrs. Damerel begegnen und sich beide in sie verlieben. Bertram als der ältere und situiertere von beiden ist derjenige, der so etwas wie eine Beziehung mit ihr beginnt, sich nach einiger Zeit in England auch mit ihr verlobt, aber von einem nagenden Zweifel beherrscht wird, ob Mrs. Damerel nicht eine dunkle Vergangenheit habe. Dieser Zweifel wird noch dadurch geschürt, dass ihm seine Verlobte sagt, sie habe ihm durchaus etwas zu gestehen, werde es ihm aber erst sechs Monate nach der Hochzeit verraten, wenn er es dann noch wissen wolle. Anstatt seine Geliebte zu heiraten, verschwindet Bertram wieder in die USA, um dort – vergeblich – Nachforschungen über sie anzustellen.

Seine Abwesenheit nutzt Henry dazu aus, Mrs. Damerel den Hof zu machen, die denn auch die Verlobung mit dem abwesenden Bertram löst und Henry heiratet. Sieben Monate nach der Hochzeit treffen die beiden Freunde einander wieder in London, und Bertram muss zu seinem innerlichen Entsetzen erfahren, dass Henry seine Frau nicht nur unter derselben Bedingung geheiratet hat, sondern von sich aus die Schweigefrist um weitere sechs Monate verlängert hat. Bertram bricht daraufhin den Kontakt zum Ehepaar wieder ab, taucht aber weitere acht Monate später bei Mrs. Chilver auf, um zu versuchen, von ihr das dunkle Geheimnis ihres Vorlebens zu erfahren. Der Schluss dieser Erzählung soll hier selbstverständlich nicht verraten werden.

James muss es großes Vergnügen gemacht haben, die einander umkreisenden Gespräche dieser beiden Gentlemen niederzuschreiben, denen es – und wenn etwas sie auch noch so plagt – niemals erlaubt ist, eine unverstellte Äußerung zu tun, sondern die stets mit großem Geschick um den heißen Brei herumreden. Selbst an der Stelle, wo sie allen Grund hätten, einander zu hassen oder zu verachten, bewahren sie eine bewundernswerte Contenance und soziale Distanz. Und natürlich erweist sich ihnen am Ende die Amerikanerin in jeglicher Hinsicht als überlegen. Wer James kennen und schätzen lernen möchte, beginne mit dieser Erzählung!

Henry James: Das Tagebuch eines Mannes von fünfzig Jahren. Aus dem Englischen übersetzt von Friedhelm Rathjen. Zürich: Manesse, 2015. Leinenband mit rotem Farbschnitt, Lesebändchen, 406 Seiten. 26,95 €.

Henry James: Washington Square

«Gütiger Himmel, was für ein blödes Weib», rief Morris sich im Stillen zu.

James-Washington-SquareBei Manesse kümmert man sich erfreulicherweise wieder um Henry James, von dem es zwischenzeitlich mal den Anschein hatte, dass er in Deutschland langsam vergessen würde. James nimmt in der englischsprachigen Literatur in etwa die Stelle ein, die Theodor Fontane in der deutschsprachigen besetzt. Das heißt, dass seine Romane oft im gehobenen Bürgertum spielen und typische Probleme der bürgerlichen Gesellschaft darstellen. Hinzukommt bei James, der in Amerika geboren wurde, einen Großteil seines Lebens aber in Europa verbrachte und schließlich sogar englischer Staatsbürger wurde, die Faszination der Amerikaner für das alte Europa bzw. das halb bewundernde, halb kopfschüttelnde Unverständnis der Europäer für ihre nordamerikanischen Kusinen und Vettern.

„Washington Square“ (1881) ist einer von James’ frühen, vergleichsweise kurzen Romanen. Erzählt wird die Geschichte der verhinderten Eheschließung Catherine Slopers etwa zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Catherine ist die Tochter eines angesehen New Yorker Arztes, deren Mutter recht bald nach Catherines Geburt verstorben ist. Aufgezogen wurde Catherine von ihrer Tante Lavinia Penniman, die nach dem Tod ihres Ehemannes vorübergehend in das Haus ihres Bruders ein-, doch nie wieder ausgezogen ist. Catherine ist ein in beinahe jeglicher Hinsicht durchschnittliches Mädchen: Sie enttäuscht ihren Vater, was ihre Intelligenz angeht, und ihre Tante, soweit es ihre Befähigung zu romantischer Leidenschaft betrifft. Den einzigen Vorzug, den sie gesellschaftlich für sich verbuchen kann, ist das mütterliche Vermögen, das ihr 10.000 $ im Jahr einbringt, und das väterliche Erbe, das eines Tages den doppelten Betrag hinzufügen wird. Gesegnet mit diesen herausstechenden Vorzügen wird sie – wie es kommen muss – zum Ziel eines gutaussehenden Mitgiftjägers, Morris Townsend, der sein eigenes kleines Vermögen bei Reisen durch die Welt durchgebracht hat und sich nun eine Ehefrau sucht, um der Notwendigkeit einer Beschäftigung zu entgehen.

Der nüchterne Doktor Sloper durchschaut die Absichten Townsends rasch und teilt seiner Tochter mit, dass er gegen die zwischen den beiden jungen Leuten verabredete Verlobung sei. Da Catherine volljährig sei, könne er sie an der Heirat mit Townsend nicht hindern, er werde sie aber enterben, was dem Enthusiasmus des jungen Mannes sicher einen Dämpfer aufsetzen werde. Da sich Catherine von dieser Drohung unbeeindruckt zeigt, entschließt er sich, sie mit auf eine Europareise zu nehmen, damit die junge Frau Abstand zum obskuren Objekt ihrer Begierde gewinnen kann. Doch auch nach einem Jahr in Europa – das James nur summarisch abhandelt – hat sich weder an Catherines Gefühlslage noch an Slopers hartnäckigem Widerstand gegen den Ehemann in spe etwas geändert. Als Catherine dies ihrem Verlobten mitteilt, macht dieser endgültig einen Rückzieher, lässt seine Geliebte sitzen und verschwindet aus New York. Nach einer relativ kurzen Trauerphase scheint die junge Frau diesen Verrat verwunden zu haben, doch bleibt kein Zweifel daran, dass sie zu heiraten nicht mehr in Betracht zieht. Der Roman endet mit einer späten Wiederbegegnung der beiden Liebesleute nach dem Tod des Arztes, doch wie das ausgeht, soll hier nicht verraten werden.

Der Witz des Romans besteht weniger in der gerade geschilderten Fabel als vielmehr darin, dass seine Protagonistin zwischen zwei gänzlich unterschiedliche Charaktere gestellt wird, die zwei Grundtendenzen des 19. Jahrhunderts repräsentieren: Der wissenschaftlich-rationalistische Vater und die romantisch-gefühlsschwangere Tante. Beide missverstehen die Heldin auf exemplarische Weise: Der Vater, der erwartet, dass seine charakterliche Analyse einen ausreichenden Grund für seine Tochter darstellen muss, von ihrer ersten Verliebtheit in einen Mann überhaupt zu lassen; die Tante, die eine große Romanze mit Flucht und heimlicher Ehe und Liebe, die über alle Schwierigkeiten siegt, inszeniert haben möchte, ja, die von ihrer Nichte erwartet, jene Liebesbeziehung zu Morris Townsend zu leben, die sie sich für ihr eigenes Leben zusammenphantasiert hat. Beides greift an dem durch und durch normalen Erleben Catherines vorbei: Catherine wünscht sich einen Ehemann, sie wünscht sich Aufmerksamkeit und Rechtschaffenheit, eine eigene Familie und einen Menschen, der sie um ihrer selbst willen liebt. Dass auch sie damit an der Realität vorbeilebt, ist die ironische Pointe der von James erfundenen Konstellation. Allerdings erfüllt sie auch im Scheitern nicht die Ansprüche ihrer Umwelt: Weder gesteht sie ihrem Vater zu, dass er Recht hatte und eine Ehe mit Townsend ihr Unglück bedeutet hätte, noch ist sie die große Verweifelte, die in das Weltbild ihrer Tante passen würde. Sie lebt in einem ganz alltäglichen Unglück vor sich hin, fast mit einem Schulterzucken gegenüber der Chance, die sich eröffnet hatte und die nun vertan ist. Es ist sehr schmerzlich gewesen, aber nun ist es vorüber.

Gerade das Ende des Romans kann den zeitgenössischen Lesern kaum gefallen haben und macht in gewisser Weise die Qualität dieses doch sonst weitgehend durchschnittlichen Romans aus. So ökonomisch und nüchtern James auch erzählt, er hat in dieser Phase noch die Tendenz sehr viel von dem zu erläutern, was sich ein aufmerksamer und mit der Zeit vertrauter Leser auch selbst denken könnte. Auch geraten die psychologischen Profile des Doktors und der Tante noch etwas holzschnittartig und übermäßig antagonistisch. Einzig Catherine hat eigentlich gar keinen wirklichen Charakter, was sie eindeutig zur interessantesten Figur des gesamten Romans macht.

Henry James: Washington Square. Aus dem Englischen übersetzt von Bettina Blumenberg. Zürich: Manesse, 2014. Leinenband mit rotem Farbschnitt, Lesebändchen, 277 Seiten. 24,95 €.

Philip Roth: Der menschliche Makel

Und so hatte all dies begonnen: Ich stand in der Abenddämmerung allein auf einem Friedhof und ließ mich auf einen beruflichen Wettkampf mit dem Tod ein.

Roth-Makel„Der menschliche Makel“ (2000) ist der dritte Roman der sogenannten Amerika-Trilogie von Philip Roth, der zweiten Trilogie von Romanen, in denen der fiktive Schriftsteller Nathan Zuckerman als Erzähler auftritt. Die Jetzt-Zeit des Romans ist das Jahr 1998, und Zuckerman beginnt seine Erzählung mit einer emotionalen Suada über die bigotten Reaktionen weiter Teile der US-amerikanischen Öffentlichkeit auf die Lewinsky-Affäre. Damit ist mit einem wahrscheinlich allen Lesern Roth’ bekannten Beispiel das Hauptthema des Buches bezeichnet, das Zuckerman an späterer Stelle als „Tyrannei der Schicklichkeit“ (S. 175) benennen wird.

Im Zentrum der Erzählung steht das Leben des emeritierten Professors für klassische Literatur Coleman Brutus Silk. Silk hat eine erfolgreiche akademische Karriere hinter sich, wurde bereits als relativ junger Professor Dekan seiner Fakultät am Athena-College und war federführend dafür verantwortlich, diese Fakultät zu modernisieren und die Professuren mit jungen, motivierten Lehrkräften neu zu besetzen. Er entschließt sich im Jahr 1993, seine Stelle als Dekan aufzugeben und sich in seinen letzten Semestern noch einmal der Lehre zu widmen. Jedoch bereits im ersten Semester, das er wieder unterrichtet, kommt es zu einem Vorfall, der Silk in der Konsequenz dazu bringt, seine Stelle aufzugeben und einen privaten Kleinkrieg gegen seine alte Fakultät zu beginnen: Silk bezeichnet zwei seiner Studenten, die er nie gesehen hat, weil sie an keiner seiner Veranstaltungen teilgenommen haben, obwohl sie auf der Teilnehmerliste stehen, scherzhaft als „spooks“, also in etwa als „Gespenster“ (der Übersetzer Dirk van Gunsteren übersetzt „spooks“ hilfsweise mit „dunkle Gestalten“). Es erweist sich im Nachhinein, dass es sich bei den beiden Studenten um Schwarze handelt, und eine der beiden beschwert sich bei der neuen Dekanin über den von Silk verwendeten Ausdruck, den sie – historisch durchaus begründet – als rassistisch empfindet. Diese Kleinigkeit, die sich von Silk mit ein wenig Demut und einer entschuldigenden Erklärung wahrscheinlich hätte ausräumen lassen, eskaliert, da Silk darauf beharrt, er könne diesen Ausdruck nicht rassistisch verwendet haben, da er die fraglichen Studenten nie gesehen und daher auch nicht gewusst habe, dass es sich um Schwarze handelt.

Wie bereits gesagt führt die Zuspitzung dieser Konfrontation dazu, dass Silk vom College emeritiert; als zudem überraschend auch noch seine Frau stirbt – Silk versteigt sich zu der Auffassung, die ihn verleumdenden bzw. nicht unterstützt habenden Kollegen hätten den Tod seiner Frau zu verantworten–, verbeißt sich Silk in ein Buchprojekt, in dem er seine Unschuld und die ungerechte Behandlung durch sein College entlarven will. In dieser Zeit entfremdet sich Silk von seinen Kindern und lebt allein und gesellschaftlich isoliert. Einzig zu Nathan Zuckerman scheint er sporadischen, freundschaftlichen Kontakt zu pflegen. Nach weiteren zwei Jahren – und damit ist die Jetztzeit der Erzählung erreicht – scheint er seine Krise endlich überwunden zu haben: Er hat sein Buch abgeschlossen und anschließend als gescheitert verworfen. Er hat eine Affäre mit Faunia Farley begonnen, einer Frau, die nur halb so alt ist wie er und unter anderem an seinem alten College als Putzfrau arbeitet. So sehr sich die beiden auch bemühen, ihre sexuelle Beziehung geheim zu halten, sie werden bald entdeckt: Zum einen von Faunia Ex-Ehemann Lester, einem Vietnam-Veteranen, der seine Aggressionen und seine Wut der Welt und besonders seiner Ex-Frau gegenüber, der er die Verantwortung für den Tod zweier gemeinsamer Kinder zuschreibt, nur unvollkommen unter Kontrolle hat; zum anderen von der Dekanin Delphine Roux, die Colemans Beziehung zu der angeblich analphabetischen Putzfrau nur als einen Akt der abscheulichsten sexuellen Ausbeutung begreifen kann.

Coleman und Faunia kommen schließlich in einem ungeklärten Autounfall ums Leben – Nathan Zuckerman hegt die nicht zu beweisende Theorie, dass dieser Unfall von Lester verursacht wurde –, und Zuckerman trifft auf Colemans Beerdigung dessen Schwester, die ihm den eigentlichen Skandal von Coleman Silks Leben offenbart: Bei Silk handelt es sich nämlich nicht, wie seine Familie, alle Kollegen am College und auch Zuckerman angenommen hatten, um einen Juden, sondern tatsächlich um einen Schwarzen, der sich bei seinem Eintritt in die Marine nicht nur ein falsches Geburtsdatum, sondern auch eine falsche Rassenzugehörigkeit zulegt hatte.

Coleman Silk ist allerdings nicht die einzige Figur, die versucht ihrer Herkunft und den sich aus ihr ergebenden Folgen zu entfliehen: Auch Delphine Roux ist aus Frankreich nach Amerika gegangen, um sich dem Einfluss einer übermächtigen Mutter zu entziehen und sich neu zu erfinden, und auch für Faunia Farley gilt, dass sie zumindest ihr Analphabetentum nur vortäuscht, um in der Gesellschaft eine Nische einnehmen zu können, die sie von ihrer eigenen Vergangenheit isoliert. Diese Scheinexistenzen, die sich gegenseitig auf merkwürdige Weise spiegeln und zugleich verhindern, dass diese drei Personen wirklich verstehen, wer der jeweils andere ist, bilden das Widerlager zu der Welt des Klatsches und der Gerüchte, die das Leben der Figuren beherrscht. Selbst für Lester gilt das, den der Erzähler Zuckerman zu einem Mörder macht, ausschließlich weil er gegen ihn ein Vorurteil hegt. Selbst die auf den letzten Seiten geschilderte, einzige persönliche Begegnung zwischen Nathan und Lester führt nicht dazu, dass Zuckerman sein Vorurteil aufgibt; am Ende ist auch er in denselben Strukturen gefangen, die er mit dem Erzählen der Geschichte Coleman Silks anklagt.

„Der menschliche Makel“ ist eine hoch komplexe Erzählung, der es auf eine außergewöhnliche Art und Weise gelingt, die Beziehungen einer Handvoll von Menschen zueinander zu thematisieren. Dabei gelingt es Roth seinen Erzähler als „Mensch mit Menschen“ erscheinen zu lassen, ohne auch nur den Anschein zu erwecken, Nathan Zuckerman verfüge über eine erhabene Moral oder sonst einen seinen Figuren überlegenen Standpunkt. Alles, womit er ihn ausstattet, ist ein moralischer Affekt, dem man zwar nur zu gerne zustimmt, ohne dabei aber über das hinauszukommen, was das Buch kritisiert: ein unbegründetes Ressentiment, das sich überlegen glaubt.

Philip Roth: Der menschliche Makel. Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren. rororo 23165. Reinbek: Rowohlt 252012. Broschur, 400 Seiten. 9,99 €.

Vladimir Nabokov: Das wahre Leben des Sebastian Knight

Aber ich wüßte keinen anderen Dichter zu nennen, der von seiner Kunst einen so verwirrenden Gebrauch macht – verwirrend für mich, der ich versuche, hinter dem Autor den wahren Menschen zu sehen.

Nabokov-Sebastian-KnightDer erste Roman, den Nabokov von Anfang an in Englisch verfasst hat. Die Entscheidung, die Sprache zu wechseln, kann für einen Schriftsteller und noch dazu für einen so sprachbewussten und eigenwilligen wie Nabokov niemals leicht sein. Nabokov sah sich dazu aus ganz praktischen Gründen gezwungen: Er hatte 1937 Deutschland endgültig verlassen und lebte zu der Zeit, als der „Das wahre Leben des Sebastian Knight“ schrieb, mit seiner Familie unter kargen Bedingungen im Süden Frankreichs und später in Paris. Es war ihm klar, dass er das von den Deutschen bedrohte Europa wohl würde verlassen müssen und dass die USA für ihn und seine Familie der sich anbietende Fluchtpunkt sein würden.

Ein US-amerikanischer Verlag hatte sich 1937 an „Gelächter im Dunkel“ interessiert gezeigt, und Nabokov hatte die Gelegenheit genutzt, nach „Verzweiflung“ ein weiteres seiner Bücher selbst ins Englische zu übertragen. Da der deutsche und deutsch-russische Buchmarkt in Zukunft für einen russischen Autor mit einer jüdischen Ehefrau wohl eher eine unsichere Sache darstellen würde, konnte Nabokov nur hoffen, sich auf dem englischsprachigen Markt etablieren zu können. Dazu war es aber allein schon aus Gründen der Effizienz notwendig, die Doppelbelastung von Niederschrift eines russischen Originals und anschließender Übersetzung in die Sprache seiner hauptsächlichen Leserschaft zu vermeiden. Nabokov musste also wohl oder übel in den sauren Apfel beißen und ein englischer bzw. amerikanischer Autor werden.

So entstand um die Jahreswende 1938/1939 herum der kleine Roman „Das wahre Leben des Sebastian Knight“ auf Englisch. Sein Ich-Erzähler ist ein namenlos bleibender Exilrusse, der versucht, eine Biographie seines früh verstorbenen, als Schriftsteller erfolgreichen Halbbruders zu verfassen. Treibendes Motiv ist sein Schuldbewusstsein, dass er sich zu Lebzeiten nicht ausreichend um seinen Halbbruder gekümmert hat, der ihm das allerdings durch seine distanzierte Haltung auch nicht einfach gemacht hatte. Sebastian Knight war der Sohn der ersten Frau des Vaters des Ich-Erzählers, einer eher flatterhaften Frau, die sich vom gemeinsamen Vater der Brüder rasch wieder getrennt hatte. Sebastian und der sechs Jahre jüngere Erzähler waren gemeinsam aufgewachsen, nach dem Tod des Vaters zusammen mit der Mutter bzw. Stiefmutter aus dem kommunistischen Russland nach Finnland und Dänemark geflohen, von wo aus Sebastian zum Studium nach England, die Mutter mit dem Erzähler nach Paris gegangen waren. Seit dieser Zeit ist der Kontakt zwischen den Brüdern immer nur sporadisch, auch wenn sich Sebastian um den finanziellen Unterhalt des Erzählers nach dem Tod von dessen Mutter kümmert.

Sebastian wird ein relativ bekannter Schriftsteller, der alles in allem fünf Bücher veröffentlicht. Er lebt eine gute Weile mit Clare Bishop zusammen – Knight ist das englische Wort nicht nur für den Ritter, sondern auch für den Springer im Schachspiel, Bishop heißt dort der Läufer; Sebastian und Clare gehören also offensichtlich zum selben Spiel (vielleicht gar zu derselben Farbe), müssen aber ebenso offenbar zwangsläufig getrennte Wege gehen –, verliebt sich dann aber bei einem Kuraufenthalt in eine andere Frau, die wahrscheinlich durch ihr emotionale Gleichgültigkeit ihm gegenüber wesentlich mit zu seinem frühen Tod beiträgt; Sebastian Knight leidet – wie sich das für einen anständigen allegorischen Autor gehört – an einem ererbten Herzleiden. Der von einem mit der Familie befreundeten Arzt benachrichtigte Erzähler eilt von Marseille aus an das Krankenbett seines Bruders, kommt aber am Ende doch zu spät. Vom schon erwähnten Schuldgefühl angetrieben, versucht er nun, die Biographie seines Bruders zu rekonstruieren. Der Bericht von diesem letztendlich scheiternden Unterfangen bildet im Wesentlichen den Inhalt des Buches. Ganz am Ende findet sich noch eine zusätzliche, romantisch-nabokovsche Wendung, wenn der Erzähler sich mit seinem Halbbruder für identisch erklärt; man kann dies – wie der Übersetzer und Herausgeber des Bandes – tiefsinnig interpretieren wollen, man kann aber auch schlicht die Schultern zucken und es als das zur Kenntnis nehmen, was es ist: eines der üblichen Spielchen, wie Nabokov sie geliebt hat, um seinen Lesern unter die Nase zu reiben, dass es sich bei allen seinen Büchern immer um Fiktionen handelt. Wir hätten es auch ohne das bemerkt.

Das Buch ist recht witzig geraten: Es ist natürlich kein Zufall, dass Nabokov für seinen ersten englischen Roman einen russischen Möchtegern-Autor erfindet, der ebenfalls dabei ist, sein erstes Buch auf Englisch zu schreiben. Es bietet sich ausgiebig Gelegenheit, prinzipielle poetologische Überlegungen auszubreiten, sich sowohl über eigene Marotten, Vorlieben und Eitelkeiten als auch die anderer Autoren lustig zu machen usw. usf. Dass der Autor in seinem Vorhaben wesentlich scheitert – „Das wahre Leben des Sebastian Knight“ ist weit mehr ein Buch über den namenlosen Erzähler als über das obskure Objekt seiner Liebe –, lässt sich als eine Parodie auf die Parodie einer Biographie in „Die Gabe“ lesen, was, ins Ernste gewendet, nicht weniger als die Zuspitzung von Nabokovs Zweifel daran ist, ob sich die Komplexität des Lebens eines wirklichen Menschen überhaupt angemessen in ein Buch bannen lässt. All das wird mit anscheinend leichter Geste vorgetragen, und selbst dort, wo der Erzähler die moralische Keule zur Verteidigung seines Bruders schwingt, weiß der Leser inzwischen genug, um die für das Verständnis dieser Stellen notwendige Ironie selbst aufzubringen.

Vladimir Nabokov: Das wahre Leben des Sebastian Knight. Deutsch von Dieter E. Zimmer. Gesammelte Werke VI. Reinbek: Rowohlt, 1996. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 299 Seiten. 21,– €.

James Fenimore Cooper: Ned Myers

Wohlmeinende Menschen richten auf dieser Welt oft einfach ebenso viel Schaden an wie die böswilligen.

Cooper-MyersBei „Ned Myers oder Ein Leben vor dem Mast“ handelt es sich um die von Cooper literarisch aufgearbeitete, ihm mündlich erzählte Biografie des Seemanns Edward Meyers (ca. 1793–1849), der einen bedeutenden Teil seines Lebens unter dem angenommenen Namen Ned Myers auf See verbracht hat. Auslöser der Niederschrift dürfte der Erfolg von Richard Henry Danas au­to­bio­gra­phi­schem Bericht „Zwei Jahre vor dem Mast“ (1840) gewesen sein, der zahlreiche Seefahrer-Biografien nach sich zog. Myers war in jungen Jahren gemeinsam mit Cooper auf einem Schiff gefahren und erinnerte sich an seine Bekanntschaft mit ihm, nachdem er durch den Bruch seiner Hüfte nicht länger auf See arbeiten konnte.

Myers wechselte häufig die Schiffe, diente zwischenzeitlich auch in der US-Marine, wurde von den Briten gefangengesetzt, floh mehrfach aus dieser Gefangenschaft und nahm nach dem Friedenschluss zwischen den USA und England sein unstetes Leben als Matrose wieder auf. Cooper will Myers’ Papieren ent­nom­men haben, dass er auf min­des­tens 72 Schiffen angeheuert war und insgesamt – zählt man seine Fahrten als Passagier und Gefangener hinzu – auf mehr als 100 Schiffen gefahren sein muss. Dementsprechend geraten einige Pas­sa­gen der Biographie sehr aufzählend: Myers heuert auf diesem Schiff an, die Fahrt verläuft ohne besondere Ereignisse, Myers heuert auf dem nächsten Schiff an etc. pp. Zwi­schen­durch finden sich aber immer wieder impressive Abschnitte, die von den zahlreichen Stürmen und Schiffsuntergängen berichten, die Myers überlebt hat; auch die Er­zäh­lun­gen von den kriegerischen Auseinandersetzung zwischen der britischen und US-amerikanischen Flotte auf dem Ontariosee und der darauf folgenden Zeit der Kriegsgefangenschaft gehören zu den lebendigen und interessanten Teilen der Erzählung.

Für Leser, die am Leben der Seeleute im frühen 19. Jahrhunderts oder überhaupt an frühen Reiseerzählungen interessiert sind, ist das Büch­lein sehr zu empfehlen; ohne dieses spezielle Interesse dürfte der einen oder dem anderen die Lektüre vielleicht etwas lang werden. Die Ü­ber­set­zung ist bis auf Kleinigkeiten tadellos; ein seemännisches Glos­sa­ri­um, Fußnoten sowie ein Vor- und Nachwort des Übersetzers er­gän­zen und erläutern den Text.

James Fenimore Cooper: Ned Myers oder Ein Leben vor dem Mast. Übersetzt von Alexander Pechmann. Hamburg: Mare, 2014. Bedruckter Leinenband im Schuber, Fadenheftung, Lesebändchen, 389 Seiten. 28,– €.

Bill Bryson: Sommer 1927

Charles Lindberghs Tournee war immer noch nicht beendet.

Bryson-1927Nachdem nun schon eine Zeitlang Jahreszahlen-Bücher beliebt zu sein scheinen, legt der erfolgreiche Sachbuchautor Bill Bryson mit „Sommer 1927“ ein erstes Jahreszeiten-Buch vor, wenn er auch dabei etwas mogelt und seinen Sommer auf fünf Monate streckt. Ich erwarte nun binnen Jahresfrist einen Tausendseiter von Peter Ackroyd, etwa über den 23. April 1616, also circa 500 Seiten für jeden der beiden Tage.

Nach den beiden materialreichen Bänden zur Wissenschafts- bzw. zur Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts – „Eine kurze Geschichte von fast allem“ und „At Home“ –  liefert Bryson mit „Sommer 1927“ eine US-amerikanische Kulturgeschichte des frühen 20. Jahrhunderts. Der Sommer 1927 bildet dabei in der Hauptsache aus zwei Gründen den Schwerpunkt: zum einen dem Lindbergh-Flug über den Atlantik, zum anderen dem bis heute bestehenden Rekord des Baseball-Spielers Babe Ruth.

Ich muss gestehen, dass ich an diesem sehr auf ein US-Publikum zugeschnittenen Buch nur mäßig interessiert war, was aber gut an mir und nicht am Buch liegen kann. Weder interessiert mich eine aus­führ­li­che Darstellung der Geschichte des Baseballs, noch habe ich mein kind­li­ches Interesse an der Fliegerei über mehr als dreißig Jahre hinweg konservieren können. Auch der Boxsport, die Vita Al Capones oder Henry Fords konnten mich nicht gefangennehmen. Hinzukommt, dass die Übersetzung des Buches offenbar unter großem Zeitdruck ent­stan­den und stilistisch nicht immer rund geraten ist. Auch das un­durch­schau­ba­re Nebeneinander von metrischen und nichtmetrischen Längenangaben, die häufig nicht oder nur schlecht erklärten Be­grif­fe aus der Welt des Baseballs und nicht zuletzt die, auch was den Zeitrahmen angeht, umfangreichen Abschweifungen haben meine Unzufriedenheit wohl noch erhöht.

Alles in allem kein wirklich schlechtes Buch, aber verglichen mit seinen beiden Vorgängern für mich eine Enttäuschung.

Bill Bryson: Sommer 1927. Übersetzt von Thomas Bauer. München: Goldmann, 2014. Pappband, Lesebändchen, 639 Seiten. 24,99 €.

Drei Liebesromane

Beisserbuch

Frank Duwald von dandelion fragt Blogger-Kollegen nach den drei schönsten Liebesgeschichten. Auf Anhieb würde ich mich für den denkbar Ungeeignetsten zur Beantwortung dieser Frage halten, und das aus gleich zwei Gründen: Zum einen ist der Liebesroman eines der klischeebehaftetsten Genres überhaupt. In meiner Zeit als Buchhändler nannten wir eine bestimmte Sorte von Romanen, die sich durch Variation des immer selben Cover-Motivs auszeichneten, aus offensichtlichen Gründen „Beißerbücher“. Wenig lässt daran zweifeln, dass der Inhalt dieser Romane den Bildern auf den Umschlägen gleicht wie eine Boulevard-Komödie der anderen.

Zum anderen hege ich arge Zweifel daran, dass eine schöne Lie­bes­ge­schich­te eine schöne Liebesgeschichte sein kann. Schon 1764 bemerkt Christoph Martin Wieland in seinem „Don Sylvio von Rosalva“:

Die Moralisten habens uns schon oft gesagt, und werdens noch oft genug sagen, daß es nur ein einziges bewährtes Mittel gegen die Liebe gebe; nehmlich, so bald man sich angeschossen fühle, so schnell davon zu laufen als nur immer möglich sey. Dieses Mittel ist ohne Zweifel vortrefflich; wir bedauern nur, daß es unsern moralischen Ärzten nicht auch gefallen hat, das Geheimnis zu entdecken, wie man es dem Pazienten beybringen solle. Denn man will bemerkt haben, daß ein Liebhaber natürlicher Weise eben so wenig fähig sey, vor dem Gegenstande seiner Lei­den­schaft davon zu laufen, als er es könnte, wenn er an Händen und Füßen gebunden oder an allen Nerven gelähmt wäre; ja man behauptet sogar, vermöge einer unendlichen Menge Erfahrungen worauf man sich beruft, daß es in solchen Umständen nicht einmal möglich sey, zu wünschen daß man möchte fliehen können.

Literarische Liebe ist daher wahrscheinlich dann am besten, wenn ihre Protagonisten sich als jene Patienten erweisen, von denen Wieland spricht. Aus diesen beiden Gründen fällt die Auswahl meiner „schönsten Liebesgeschichten“ für die eine oder den anderen vielleicht etwas zu defätistisch aus.

Johann Wolfgang Goethe: Die Leiden des jungen Werthers (1774)

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Wäre der Protagonist nicht ein Mann, so ließe sich bei diesem Buch von der Mutter aller unglücklich Liebenden sprechen. Das Buch war nicht nur ein internationaler Erfolg, der Goethe binnen kurzem zu einer Berühmtheit machte, es löste auch eine Propaganda aus, die zum Teil bis heute nachwirkt, so etwa die immer wiederholte, aber gänzlich unbelegte Behauptung, das Buch habe eine Welle von Selbstmorden ausgelöst, ein Gerücht, dem offenbar sogar Goethe teilweise Glauben geschenkt hat. Erzählt wird die Geschichte des jungen Werther, der sich in die bereits anderweitig verlobte Lotte verliebt, sich loszureißen versucht, in die Welt flieht, trotz allem zurückkehrt und am Ende keinen besseren Ausweg findet, als sich eine Kugel vor den Kopf zu schießen und es anderswo zu versuchen, da er in der sublunaren Welt seinen Platz nicht hat finden können. Goethe achtet schon in der ersten Fassung des Textes sorgfältig darauf, Werthers Leiden als eine Art sich steigernden Wahn der Leidenschaft darzustellen, als eine Art von Geisteskrankheit, der sich der an ihr Leidende ab einem gewissen Punkt nicht mehr selbst entziehen kann. Noch Hunderte von unglücklich liebenden Romanfiguren des 19. Jahrhunderts sollten auf diesem Wege aus ihrem papiernen Leben scheiden.

Vladimir Nabokov: Lolita (1955)

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Wohl seufzend hat Nabokov einmal festgestellt, nicht er sei berühmt, „Lolita“ sei es. Und ebenso seufzend könnte man anmerken, dass diese Berühmtheit wie so viele andere auf einem Missverständnis beruht, nämlich auf dem, bei „Lolita“ handele es sich um einen erotischen Roman. Dabei ist „Lolita“ die Geschichte einer tiefen Wunde, die der Protagonist und Erzähler Humbert Humbert in seiner Jugend empfangen hat, als er sich zum ersten Mal und für immer unglücklich verliebte. Seit jenen frühen Jugendtagen wiederholt er das Muster dieser Liebe immer und immer wieder, um ebenso selbstverständlich wie notwendig zu scheitern. Jetzt, während er uns die Geschichte seiner letzten verzweifelten Liebe zu Lolita erzählt, sitzt er im Gefängnis und erwartet die Todesstrafe, nicht, weil er ein minderjähriges Mädchen verführt und missbraucht hat, sondern weil er einen seiner Rivalen um die Liebe Lolitas erschossen hat. „Lolita“ ist ein in jeglicher Hinsicht tief trauriges Buch, das nur Verlierer und Unglück kennt und eine treffliche Antwort zu jener Frage bei E.T.A. Hoffmann ist: „Was ist der Mensch, und was kann aus ihm werden?“

Arno Schmidt: Seelandschaft mit Pocahontas (1955)

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Vielleicht in den Augen manch eines Lesers kein Roman, sondern nur eine Erzählung (Schmidt selbst nannte es einen Kurzroman), aber eben auch eine unglückliche Liebesgeschichte, vielleicht eine der schönsten der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts: Erzählt wird von zwei Kriegs­ka­me­ra­den, Erwin und Joachim, die sich in den 50er Jahren wiedertreffen und am Dümmer in Niedersachsen Urlaub machen. Erwin ist ein erfolgreicher Anstreicher, Joachim ein erfolgloser Schriftsteller, und so zahlt der Handwerker für das Kopftier. Und weil er zahlt, kann er sich, als die beiden am Urlaubsort auf ein sympathisierendes Pärchen von Damen treffen, seine aussuchen – Annemarie, rund und handfest – und Joachim muss sich um die andere kümmern – Selma, dürr, lang und hässlich wie eine UKW-Antenne (das Bild stammt von Schmidt, nicht von mir). Doch was als Verpflichtung beginnt, wird rasch zu einer Liebesgeschichte, einer, in der beide Liebenden nicht an eine gemeinsame Zukunft glauben: Selma ist schon einem groben Menschen versprochen, der sie wegen eines zu erwartenden Erbes genommen hat, und Joachim weiß nicht einmal von einer Gegenwart, geschweige denn könnte er eine Zukunft versprechen. Und so endet auch diese Liebe nach wenigen Tagen, als der Urlaub der Damen zu Ende geht:

Das Trauerkleid der letzten Nacht. / […] »Ach Du.« Kam inbrünstig und drückte sich an; seufzte galgenhumorig: »Na dann atterdag.«; zog auch die Füße an und gab schnelle Tritte auf einen unsichtbaren Hintern (des Schicksals?). / »Knips Du bitte aus.« Noch einmal sah ich so eine lange Indianerin. Am Schalter. Dann ging die Unsichtbare still um mich herum. (Gleich darauf Wadenkrampf, etwa auch souvenir d’amour, und ich ächzte und zischte und massierte: teuflischer Einfall: vielleicht hält sies für Schluchzen!). / Gleich darauf raste der Wecker schon; wir erhoben uns geduldig. Sie reichte sich stumm zum letzten Biß: – »In Beide«: »Schärfer!«; prägte auch ihre Zahnreihen mächtig ein. (Schon klopfte Annemie vorsichtshalber: ?: »Ja wir sind wach!«. Und hastende Stille). / »Sieh mich nich mehr an, damit ich abreisen kann!« / Erich, unverwüstlich, rühmte schon wieder die Autobusschaffnerin: »Haste die gesehn?!«: Kaffeebrauner Mantel, gelber Schal, die schräge schwarze Zahltasche, eine Talmiperle im rechten Ohr, blasses lustiges Gesicht; ich gab Alles zu. / Wolkenmaden, gelbbeuligen Leibes, krochen langsam auf die blutige Sonnenkirsche zu. Erich räusperte sich athletisch: »Na, da wolln wer erssma …..« und wir marschierten zurück, »weiter penn’: verdammte Fützen!«. Mein Kopf hing noch voll von ihren Kleidern und ich antwortete nicht.

(geschrieben für dandelion)

William Faulkner: Schall und Wahn

Komische Leut. Gut dass ich keiner von denen bin.

Faulkner-Schall

Rowohlt setzt seine Reihe von Neuübersetzungen von Romanen William Faulkners – „Licht im August“ (2008), „Als ich im Sterben lag“ (2012) – mit dem 1929 erschienenen „Schall und Wahn“ fort. Der Titel des amerikanischen Originals „The Sound and the Fury“ ist eine offensichtliche Anspielung auf eine Passage aus Shakespeares „Macbeth“:

Life’s but a walking shadow, a poor player,
That struts and frets his hour upon the stage,
And then is heard no more. It is a tale
Told by an idiot, full of sound and fury,
Signifying nothing.

Nun wäre angesichts dieses Hintergrundes der Titel wahrscheinlich genauer mit „Der Lärm und die Raserei“ oder auch, wie Übersetzer Frank Heibert in seinem Nachwort vorschlägt, „Das Tönen und Wüten“ übersetzt. Allerdings, schließt Heibert seine Reflexion über mögliche Titelvarianten, habe bei

der Titelentscheidung […] nicht der Übersetzer das letzte Wort.
Auf Deutsch heißt dieser Roman «Schall und Wahn».

Der Roman ist aufgeteilt in vier große Abschnitte, von denen drei an den drei Tagen von Karfreitag bis Ostersonntag des Jahres 1928 im fiktiven Mississippi-Städtchen Jefferson spielen. Der zweite Teil ist auf den 2. Juni 1910 datiert und ist in Harvard angesiedelt. Jedes der Kapitel hat einen eigenen Erzähler, wobei die Erzählhaltungen von Abschnitt zu Abschnitt immer traditioneller werden. Der erste Abschnitt, der wohl am besten dem Programm des oben angeführten Shakespeare-Zitats folgt, wird vom geistig behinderten Benjy, dem jüngsten der drei Söhne der Familie Compson erzählt. Benjy ist 1928 dreiunddreißig Jahre alt und bedarf ständiger Aufsicht und Hilfe. Er ist nach einem Übergriff auf ein kleines Mädchen kastriert worden und hätte anschließend nach dem Willen seines Bruders Jason in eine geschlossene Anstalt gesteckt werden sollen. Doch aus Rücksicht auf die Mutter lebt er weiterhin im elterlichen Haus, unter ständiger Aufsicht eines schwarzen Bediensteten, zumeist des erst 14-jährigen Lusters.

Benjy ist naturgemäß ein denkbar ungeeigneter Erzähler: Er kann kaum zwei Gedanken folgerichtig hintereinander setzen, seine Erinnerungen und Eindrücke nicht in eine zuverlässige zeitliche Abfolge bringen, keine seiner Erfahrungen tatsächlich begreifen oder sich in ein Verhältnis zu ihr setzen etc. Er ist tief geprägt von den Erlebnissen seiner Kindheit, die in seinem Gedanken- und Er­fah­rungs­strom immer wieder auftauchen. Besonders die Liebe zu seiner Schwester Candy ist eine der Konstanten in dem Chaos in Benjys Kopf. Erst die zweite Hälfte des Romans wird vieles von dem, was Benjy erzählt, verständlich werden lassen.

Der zweite Abschnitt wird von Quentin Compson erzählt, der im Jahr 1910 in Harvard studiert. Der Leser kann vermuten, dass es sich bei dem erzählten Tag um denjenigen handelt, an dessen Ende sich Quentin ertränken wird. Quentin verbringt den Tag mit einer an­schei­nend ziellosen Fahrt durch Harvard und dessen ländliches Umfeld. In einer kleinen Stadt läuft ihm längere Zeit ein kleines italienisches Mädchen nach, weshalb er unter dem Verdacht verhaftet wird, er habe das Mädchen entführen wollen. Nachdem sich dieser Verdacht vor dem Friedensrichter, vor den Quentin gestellt wird, als unbegründet erweist, nimmt Quentin mit einigen Kommilitonen an einem Picknick teil, bei dem er allerdings eine Schlägerei beginnt. Er kehrt allein nach Harvard zurück und ordnet seine Habseligkeiten als Vorbereitung für seinen Selbstmord. Die Erzählung bricht ab, unmittelbar bevor Quentin sein Zimmer wahrscheinlich zum letzten Mal verlässt.

Quentins Ich-Erzählung ist natürlich deutlich klarer strukturiert als die Benjys, doch wird auch hier dem Leser einiges an Aufmerksamkeit und interpretierendem Lesen abverlangt. Quentins Denken ist getränkt von einem tiefem Schuldgefühl wegen seiner Liebe zu seiner Schwester Candace, die offenbar vor kurzer Zeit geheiratet hat. Wir werden später erfahren, dass Candy diese Ehe eingeht, um ihrer unehelich, nicht von ihrem Ehemann gezeugten Tochter eine Familie zu geben. Quentin verachtet Candys Ehemann und ist eifersüchtig auf ihn, macht sich zugleich aber schwere Vorwürfe wegen dieser Gefühle, die er selbst als inzestuös empfindet. Dieser innere Konflikt ist zumindest einer der Gründe für Quentins Entschluss, sich selbst zu töten.

Der dritte Abschnitt wird von Jason, dem dritten Sohn der Compsons erzählt. Auch Jason lebt immer noch im elterlichen Haus, und er ist es, der durch seine Tätigkeit als Verkäufer in einem Ladengeschäft die Familie finanziell über Wasser hält. Im Haushalt der Compson lebt außer der Mutter Caroline, Benjy und Jason auch Candys Tochter Quentin (!), die von ihrer Mutter nach der Scheidung ihrer ersten Ehe zur Familie in Jefferson gebracht wurde. Quentin ist 17 Jahre alt und rebelliert gegen ihren sie und die übrige Familie tyrannisierenden Onkel Jason. Jason ist nicht nur ständig schlecht gelaunt und geneigt, jedermann nach Möglichkeit zu quälen, er unterschlägt auch sys­te­ma­tisch die Unterhaltszahlungen, die Candy für ihre Tochter schickt. Der verbitterte und geldgierige Mann spekuliert mit diesem Geld an der Baumwoll-Börse, die aber im wesentlichen auch nur seinen Hass auf die Welt, die Juden und die Schwarzen schürt. Jasons Ich-Erzählung folgt am ehesten traditionellen Vorbildern, wie sie die Erzähler des 19. Jahrhundert geliefert haben.

Der vierte Abschnitt schließlich hat einen auktorialen Erzähler, der im Großteil seiner Erzählung dem Tagesablauf von Dilsey, der schwarzen Haushälterin der Compsons und Mutter Lusters, folgt. Dilsey hat außer Luster noch eine Tochter, Frony, die aber nicht im Haus lebt. Sie be­sorgt nicht nur den Haushalt, sondern hat auch die Kinder der Comp­sons erzogen, da weder die hypochondrische Mutter Caroline noch der stets betrunkene Vater Jason (sen.) dazu in der Lage waren. Sie ist das ausgleichende Element im Haus der Compson und sorgt immer wieder dafür, dass die Streitereien der weißen Familie nicht in Gewalt und Chaos enden. Allerdings muss Jason (jun.) an dem im letzten Ab­schnitt erzählten Ostersonntag 1928 feststellen, dass seine Nichte, die ihn zwei Tage zuvor flehentlich gebeten hatte, ihr das Geld aus­zu­zahlen, das ihre Mutter ihr gerade geschickt hatte, und von ihm mit 10 Dollars abgespeist wurde, in sein Zimmer eingebrochen ist, seine Geldschatulle aufgebrochen und mit 7000 Dollars das Weite gesucht hat. Ein Großteil dieses Geldes ist der von Jason un­ter­schla­ge­ne Unterhalt, so dass sich Quentin wenigstens zum Teil nur das Geld wiederholt, dass Jason ihr vorenthalten hat. Jason versucht noch, Quentin und den Schausteller, mit dem sie aus Jefferson geflohen ist, einzuholen, muss aber schließlich einsehen, dass der Versuch zwecklos ist. Mit einem letzten Wutanfall Jasons gegen Luster endet der Roman.

„Schall und Wahn“ ist 1928 entstanden und lässt überdeutlich den Einfluss von Joyces „Ulysses“ auf Faulkner erkennen: Der Wechsel der Erzählform und der Erzähler von Abschnitt zu Abschnitt, das ex­pe­ri­men­tel­le Zuspitzen der Subjektivität des Erzählens besonders im ersten Abschnitt, das Erzählen eher eines Zustands als einer Handlung, die Reduktion des Erzählten auf kurze Zeiträume lassen sich alle problemlos auf das Vorbild des „Ulysses“ zurückführen. Heutige Leser, die in der Rezeption dieser Art von Texten geübter sind als Faulkners zeitgenössisches Publikum (es gibt allerdings auch heute noch Ausnahmen), können durchaus den Eindruck haben, dass auch eine deutlich kürzere Fassung des Textes denselben Eindruck vermitteln würde. Doch sollte man nicht vergessen, dass diese Formen Ende der 20er Jahre noch weitgehend neu und wenig eingeübt waren und sowohl auf der Seite der Schriftsteller als auch auf der der Leser noch eine bedeutende Unsicherheit über die Wirkung und die Tragfähigkeit dieser Formen bestand.

Die Übersetzung Frank Heiberts ist sorgfältig und präzise und vermeidet es, den Text zu verflachen oder der sogenannten Lesbarkeit zu opfern. Auch typographisch geht diese Neuausgabe sehr sorgsam mit dem Original um und reproduziert Faulkners typographische Manierismen – etwa längere Folgen von Leerzeichen, um etwas ungesagt Bleibendes zu markieren, oder das Einfügen einer kleinen Graphik eines Auges an einer Stelle, wo eine Werbetafel mit einem entsprechenden Symbol beschrieben wird – zuverlässig.

Ein Klassiker der Moderne, der erheblichen Einfluss auf die Ent­wick­lung der US-amerikanischen Literatur gehabt hat und einen der Grund­stei­ne zu Faulkners Ruhm bildet. Es ist zu hoffen, dass Rowohlt seine Reihe von Neuübersetzungen Faulkners noch lange fortsetzen wird.

William Faulkner: Schall und Wahn. Übersetzt von Frank Heibert. Reinbek: Rowohlt, 2014. Pappband, Lesebändchen, 381 Seiten.
24,95 €.

Patricia Highsmith: Ripley Under Water

Tom fiel ins Bett und schlief wie ein Toter.

Highsmith-Ripley-5Erst 1991, elf Jahre nach „Der Junge, der Ripley folgte“, erschien der fünfte und letzte Band der Ripley-Reihe. Er fällt in mehr als einer Hinsicht aus dem Muster, das die Reihe bis dahin konstituiert hatte und lässt den Leser mit der Frage zurück, warum die Autorin daran interessiert war, auch diese Ripley-Geschichte noch zu erzählen.

Dass die Handlung nur fünf Jahre nach der von „Ripley Under Ground“, also im Jahr 1972 angesiedelt ist, dürfte das erste sein, worüber sich Leser der Reihe wundern könnten. Bis zu diesem Roman befand sich Ripley in einer ständigen Fortentwicklung, die nun aber mit „Der Junge, der Ripley folgte“ abgeschlossen zu sein scheint. Der wichtigste Grund hierfür ist wohl, dass die Leiche des in „Ripley Under Ground“ ermordeten amerikanischen Kunstenthusiasten Murchison, die dort in einem kleinen Fluss abgelegt worden war, in diesem Roman wieder eine bedeutende Rolle spielen soll. Da sie zu diesem Zweck in einem Zustand sein muss, der eine Identifizierung schwer, aber nicht gänzlich unmöglich erscheinen lassen soll, kann Highsmith die Handlung nur eine begrenzte Anzahl von Jahren nach dem Mord spielen lassen.

Zum zweiten fehlt in „Ripley Under Water“ die bis dahin übliche, für die US-Leser exotische europäische Kulisse. Als Ersatz dafür reist Ripley mit Frau (und Kind, hätte ich beinahe geschrieben, es ist aber nur eine Freundin seiner Frau) nach Marokko. Anscheinend war der Reiz Europas Ende der 80er Jahre bereits abgenutzt, so dass etwa Kopenhagen oder Stockholm durch das provinziellere Tanger ersetzt wurden.

Die dritte gravierende Abweichung vom Muster besteht darin, dass Ripley diesmal kein Mann an die Seite gestellt wird, mit dem er für eine Weile kooperiert, der dann aber letztlich sterben muss, sondern dass er hier zum ersten und einzigen Mal auf einen echten Feind trifft: David Pritchard, US-Amerikaner, taucht zusammen mit seiner Frau Janice unversehens in Villeperce auf und beginnt, Ripley mit Anrufen und Unterstellungen zu traktieren. Er vermutet, Ripley habe Murchison umgebracht und hegt denselben Verdacht auch im Falle Dickie Greenleafs. Pritchard ist offensichtlich von sadistischer Natur; es geht ihm weniger darum, Ripley zu überführen, als vielmehr, ihn unter Druck zu setzen und sich winden zu sehen. Den Gefallen tut ihm Ripley aber nur bedingt: Als Pritchard dem Ehepaar Ripley nach Tanger folgt, stellt ihn Ripley dort und schlägt ihn böse zusammen. Er zügelt allerdings seine aufwallende Wut und lässt ihn am Leben.

Nach Villeperce zurückgekehrt, beginnt Pritchard die Flüsschen und Kanäle der Gegend nach der Leiche Murchinsons abzusuchen. Wie er zu der Überzeugung gelangt ist, Ripley habe sie versenkt und nicht vergraben, erklärt uns Frau Highsmith leider nicht. Die schließlich gefundene Leiche dient am Ende dann auch der Auflösung der gesamten Affäre. Dass Ripley aus all dem unbeschadet hervorgehen wird, wissen aber alle Leser von „Der Junge, der Ripley folgte“ bereits.

Das Buch ist – verglichen mit den anderen Teile der Reihe – schwach: Die Handlung ist nur ein Nachklapp von „Ripley Under Ground“, Pritchard nur das Abziehbild eines Psychopathen, der Konflikt wird nicht wirklich durchgespielt, die Auflösung ist banal und die Polizei begriffsstutzig wie immer. Bleibt die Frage, warum Highsmith ihrem Helden die Begegnung mit einem Sadisten zumuten wollte. Vielleicht hatte sie das Gefühl, die Geschichte von „Ripley Under Ground“ nicht wirklich zu Ende gebracht zu haben (was übrigens für dieses Buch genauso gilt, denn die Autopsie der Leiche durch die französische Polizei steht am Ende immer noch aus). Vielleicht war es auch die Idee, Ripley einmal unter konstantem Druck durch einen Dritten zu zeigen, also nicht in einer Situation, die er durch sein Talent zur Improvisation und Lüge rasch entschärfen oder durch einen abrupten Akt der Gewalt lösen kann. Leider kommt dieser Lesart die Begegnung Ripleys und Pritchards in Tanger in die Quere, wo Ripley sogar das Messer schon in der Tasche hat, seinen Quälgeist aber dennoch nicht tötet. Genug Material zur Rechtfertigung der Tat vor sich selbst hatte er bis dahin schon angesammelt, dennoch verlängert Highsmith die Quälerei bis zu einem Ende, in der das Böse des Bösen sich schließlich selbst in die Falle geht. Zwar kommt Ripley hier und da in die Nähe einer Paranoia, aber bekanntlich bedeutet paranoid zu sein nicht, dass niemand hinter einem her ist. Nichts von alle dem überzeugt wirklich, und wahrscheinlich hätte niemand etwas vermisst, wenn Highsmith diesen Roman nicht geschrieben hätte.

Patricia Highsmith: Ripley Under Water. Aus dem Amerikanischen von Matthias Jendis. detebe 23421. Zürich: Diogenes, 2006. Broschur, 433 Seiten. 11,90 €.

Patricia Highsmith: Der Junge, der Ripley folgte

War das der Weg, die Jugend zu belehren? Banalitäten zu brüllen?

Highsmith-Ripley-4Im Jahr 1980 erschien der vierte Ripley-Roman. Seine Handlung ist zwei Jahre früher angesetzt, also etwa 25 Jahre nach dem ersten Ripley-Abenteuer (das 1955 erschien) und knapp zehn Jahre nach der Handlung von „Ripley’s Game“. Ripley dürfte also inzwischen auf die 50 zugehen, er lebt immer noch in Villeperce in der Nähe von Paris, ist immer noch mit Héloïse verheiratet, macht immer noch kleine, illegale Geschäfte mit Reeves Minot aus Hamburg und selbst die alte Derwatt-Connection existiert noch. Alles, was zu einer gutbürgerlichen Existenz zu fehlen scheint, sind Kinder. Also verpasst Highsmith ihrem Helden ohne Gewissen einen Sohn.

Es ist kein leiblicher Sohn, sondern ein junger Mann, der sich etwas verirrt hat in der Welt und eines Abends Ripley von einer Kneipe aus nachgeht und so ihre Bekanntschaft provoziert. Der Junge ist US-Amerikaner und arbeitet in einem Dorf in der Nähe als Gärtner. Ripley hegt sehr bald den Verdacht, dass es sich um Frank Pierson handeln könnte, vermisster Sohn eines kürzlich in den USA zu Tode gekommenen Lebensmittel-Magnaten. Diese Ahnung erweist sich als richtig – wie übrigens alle weiteren Ahnungen und Vermutungen Ripleys durch den ganzen Roman –, und zwischen den beiden entspinnt sich sehr rasch ein erstaunliches Vertrauensverhältnis. So gesteht Frank rasch und ohne gedrängt worden zu sein, dass er es war, der seinen Vater getötet hat, indem er dessen elektrischen Rollstuhl auf der Klippe hinter dem Anwesen der Familie in Maine in Gang gesetzt und seinen Vater zu Tode habe stürzen lassen. Anschließend sei er, obwohl nur von einer alten Haushälterin verdächtigt, der aber niemand glaubt, mit dem gestohlenen Pass seines älteren Bruders nach Europa weggelaufen und habe seitdem in England und Frankreich gelebt. Von Ripley wisse er durch seinen Vater, der ein (gefälschtes) Gemälde Derwatts besaß und die Verwicklungen aus „Ripley Under Ground“ in den Zeitungen verfolgt hatte.

Nach seinem Geständnis adoptiert Ripley den jungen Mann ad hoc: Er holt ihn in sein eigenes Haus, bewahrt so gut es geht das Inkognito Franks und will ihn nicht nur vor potentiellen Entführern beschützen, sondern besorgt ihm sogar einen gefälschten Pass und reist mit ihm nach Deutschland, als Franks Bruder zusammen mit einem Privatdetektiv in Paris auftaucht. Die Wahl des Reiseziels fällt auf Berlin, da man dort die wenigsten amerikanischen Touristen vermutet. Doch auch in Berlin wird Frank Pierson nahezu sofort erkannt und bei einem Ausflug in den Grunewald umgehend entführt, womit die Kriminalhandlung dieses nur hilfsweise als Krimi zu lesenden Romans beginnt. Nachdem Ripley bei einer gescheiterten Geldübergabe einen der Entführer erschlagen hat, gelingt ihm eine abenteuerliche Aktion, bei der er als Frau verkleidet die Entführer vom Ort einer vorgeblichen zweiten Geldübergabe aus verfolgt, in deren Wohnung eindringt, die Entführer in Panik versetzt und zur Flucht veranlasst und Frank unverletzt befreit. Nach einem Umweg über Hamburg bringt Ripley Frank nach Paris zu Bruder und Privatdetektiv, ja, er entschließt sich auch noch, Frank in die USA zu begleiten. Angesichts der vorherigen Männerfreundschaften Ripleys dürfte es keinen Leser verwundern, das auch Frank Pierson das Ende des Romans nicht erlebt.

Nachdem ich an „Ripley’s Game“ kritisiert hatte, dass die psychologische Charakterisierung des zweiten Protagonisten Jonathan Trevanny aufgrund der Fülle aufgeregter Handlungen zu kurz gekommen war, ist dieses Verhältnis hier vollständig umgekehrt. Zwar spielt Highsmith offenbar kurz mit dem Gedanken einer möglichen Verwicklung Ripleys in die Folgen des Deutschen Herbstes – die Entführung und Ermordung Hanns Martin Schleyers wird ausdrücklich erwähnt –, aber letztlich erweisen sich die Entführer Franks als eine Gruppe von Dilettanten ohne erkennbare politische Motive. Im Zentrum steht dagegen diesmal die Vater-Sohn-Beziehung Ripleys und Franks, wobei sich Highsmith selbst über diese merkwürdige emotionale Konstruktion lustig macht, wenn sie Ripley zusätzlich auch noch zu Franks Adoptiv-Mutter macht in dem Moment, als er sich anschickt, den Jungen aus den Händen der Entführer zu befreien. Auch diesmal erweist sich Ripley wieder als eine bemerkenswerte Mischung von empathischer und gefühlloser Natur: Einerseits geht er sorgsam und einfühlsam mit dem jungen Mann um, erweist sich zugleich als verantwortungsbewusst, indem er ihm zuredet, zu seiner Familie zurückzukehren, andererseits gelingt es ihm nahezu augenblicklich, jede Trauer um Franks Tod zu verdrängen und sich bruchlos wieder in sein altes Leben zu finden.

In erzähltechnischer Hinsicht ist es nett zu beobachten, wie Highsmith sich an dem Problem abarbeitet, den abschließenden Tod Franks ausreichend zu motivieren: Sie glaubt selbst nicht so recht, dass die Gewissensbisse des Jungen über die Tötung seines Vaters dafür ausreichen, sondern sie baut zusätzlich noch eine unglückliche Liebesgeschichte zu einer nie leibhaftig auftretenden Teresa (sozusagen Highsmith’ Rosaline) ein, um den für die Ripley-Romane charakteristischen Abgang des zweiten Protagonisten zu garantieren.

Ripley muss letztendlich allein bleiben, koste es, was es wolle, selbst wenn er in Frank wenigstens für eine Weile jemanden findet, in dem er sein früheres Selbst (Unsicherheit, Weltfremdheit, Verlangen nach Anerkennung und Liebe) widergespiegelt sehen kann. Ripley will in Frank wohl wesentlich noch einmal sich selbst retten, und nur weil der Junge eine ausreichende Projektionsfläche für diesen Narzissmus bietet, bemüht er sich so hartnäckig um ihn. Und so gerät dieser Roman zu dem psychologisch wohl spannendsten der Reihe.

Patricia Highsmith: Der Jungen, der Ripley folgte. Aus dem Amerikanischen von Matthias Jendis. detebe 23418. Zürich: Diogenes, 2006. Broschur, 476 Seiten. 11,90 €.