Herman Melville: Moby-Dick

Gott bewahre mich davor, jemals etwas zu vollenden. Dieses ganze Buch ist nur ein Entwurf – nein, nur der Entwurf zu einem Entwurf. Oh, Zeit, Kraft, Geld und Geduld!

Ein Buch, bei dem sich ein Rezensent bestenfalls blamieren kann! »Moby-Dick« ist zu unterschiedlichen Zeiten so unterschiedlich bewertet worden, dass zu vermuten ist, dass zukünftige Generationen sich köstlich über unsere Unfähigkeit amüsieren werden, diesen Roman einzuordnen. Und wahrscheinlich werden sie auch damit Unrecht behalten.

Dieses Buch, von dem sich Melville merkwürdigerweise einiges erhofft hatte, war ein grandioser Misserfolg und das vorläufige Ende seiner Karriere als Schriftsteller. Es wurde wenig gekauft, durchweg schlecht besprochen und schließlich zum Abenteuer- und Jugendbuch umgeschrieben. Erst nachdem die Moderne die erzählerische Tradition des 19. Jahrhunderts kräftig durchmischt hatte, konnte »Moby-Dick« entdeckt werden als das literarische Wagnis, das es gewesen war: die Geschichte von einem, der auszog in einem Meer von Wörtern ein literarisches Monstrum zu erlegen.

Erzählt, das dürfte wenigstens aus dem Fernsehen bekannt sein, wird die Geschichte des Kapitäns Ahab, der versucht, Rache an einem Wal zu nehmen, der ihm auf der letzten Walfang-Fahrt einen Unterschenkel amputiert hat. Der Erzähler Ishmael lässt keinen Zweifel daran, dass es sich bei Ahab um einen Wahnsinnigen handelt, der die Gemeinschaft an Bord des Walfängers Pequod auf einen irrationalen Rachefeldzug einschwört und sie auf diese Weise schließlich ins Verderben führt. Moby Dick (merkwürdigerweise schreibt Melville den Namen im Titel mit Bindestrich, im Text dann durchgehend ohne; auch dies ein ungehobenes Rätsel des Buches) wird nicht nur Ahab töten, er versenkt mit einem Rammstoß auch die Pequod mit Mann und Maus, und nur der Erzähler überlebt, auf einem Sarg treibend, die Katastrophe. Soweit im Groben die Abenteuergeschichte.

Für Melville und seinen Erzähler aber geht die Reise der Pequod weit über dieses Abenteuer hinaus: Nicht nur liefert Melville die erste panoramatische Darstellung der Walfangindustrie des 19. Jahrhunderts, nicht nur erhebt er den Anspruch, die cetologische Literatur seiner Zeit zu einer klärenden Gesamtschau zusammenzufassen, nicht nur will er aus seinem Walfänger die Bühne Shakespeares machen, die die Welt bedeutet, die Fahrt der Pequod in den Untergang ist ohne Zweifel auch eine spirituelle Reise zu den Abgründen des Menschen und seiner verzweifelten Stellung in der Welt. Und damit ist noch gar nicht von der Ebene der politischen Allegorie die Rede oder von der praktizierten Toleranz in Glaubens- und Rassefragen, die Mitte des 19. Jahrhunderts alles andere als selbstverständlich war.

Das Buch ist sprachlich chaotisch und formal so unförmig, wie ein an Land gespülter Wal:

Den lebenden Wal in seiner ganzen Majestät und Bedeutung kriegt man nur auf See in unergründlich tiefen Gewässern zu Gesicht; und in schwimmendem Zustand ist der Großteil von ihm der Sicht vorenthalten wie bei einem vom Stapel gelassenen Linienschiff; und es ist eine Sache, die für den sterblichen Menschen auf ewig unmöglich bleibt, ihn aus jenem Element mit ganzem Leib in die Luft emporzuhieven und solchermaßen all seine mächtigen Ausbauchungen und wallenden Erhebungen festzuhalten.

Melville war sich im Klaren darüber, dass er ein Risiko lief, dass »Moby-Dick« ein Buch sein würde, wie es die Welt zwischen zwei Buchdeckeln noch nicht erblickt hatte. Er hoffte, dass wenigstens die fortschrittlicheren seiner Zeitgenossen ihm auf diesem Weg würden ein weniges folgen können. Doch er war ihnen in seiner Jagd nach dem, was der Literatur möglich sein könnte, zu weit voraus.

So wahr mir Gott helfe, und auf meine Ehr, die Geschichte welche ich Euch erzählt, Gentleman, ist im Kern und in ihren wesentlichen Punkt wahr. Ich weiß, daß sie wahr ist; es geschah auf diesem Erdenrund; ich betrat das Schiff; ich kannte die Mannschaft […].

Es müssen noch ein paar Sätze zur Übersetzung gesagt werden: Bis vor acht Jahren lagen im Deutschen nur mehr oder weniger mangelhafte Übersetzungen des Buches vor, selbst wenn man einmal von den »für die heranreifende Jugend bearbeiteten« Ausgaben absieht. Die Übersetzer wussten es entweder besser als Melville, wie dieser Roman hätte geschrieben werden sollen, und griffen massiv in den Text ein, oder sie opferten zumindest auf dem Altar der Lesbarkeit und verflachten Melvilles vulkanische Sprache zu einer zumutbaren Einheitssauce, die sie zum halb verrotteten Wal servierten. Im Jahr 2004 erschienen dann gleich zwei Neu-Übersetzungen: die von Friedhelm Rathjen bei 2001 und die von Matthias Jendis bei Hanser (als Eröffnung einer Werkauswahl, die inzwischen ins Stocken geraten zu sein scheint). Der Text von Jendis verheimlichte nicht, dass es sich bei ihm um eine Bearbeitung der Rathjenschen Übersetzung handelte. Rathjen hatte seine Übersetzung nämlich im Auftrag des Hanser Verlages erstellt, doch der schließlich gefundene Herausgeber Daniel Göske war mit ihrer Radikalität nicht einverstanden. Nach langem Hin und Her einigten sich Übersetzer, Herausgeber und Verlag schließlich darauf, dass Friedhelm Rathjen die Rechte an seiner Fassung zurückerhalten und bei Hanser eine Bearbeitung dieser Übersetzung unter dem Namen des Bearbeiters erscheinen würde.

Im Endeffekt hat dies für den Leser den Vorteil, dass er sich seinen »Moby-Dick« heute aussuchen kann: Wer den ganzen Genuss des sprachlichen Abenteuers und der Gefahren und Stürme des Erzählens erleben will, greift zu Rathjens Text, wer seichtere und ruhigere Gewässer vorzieht, kauft die öligere Variante von Jendis. Wie sagte Friedhelm Rathjen jüngst bei anderer Gelegenheit so richtig: »Es gibt Bücher, von denen es gar nicht zu viele Übersetzungen geben kann.«

Herman Melville: Moby-Dick. Deutsch von Friedhelm Rathjen. Fischer Tb. 90195. Frankfurt/M.: Fischer, 42012. Broschur, 927 Seiten. 12,50 €.

Philip Roth und die biographische Wahrheit

Philip Roth hat mit einem Brief im Blog des New Yorker einen Sturm im Wasserglas ausgelöst. Der zugrundeliegende Sachverhalt ist folgender:

Roth hat unvorsichtigerweise den Artikel zu seinem Roman »The Human Stain« in der Wikipedia gelesen und anschließend einen Vermittler gebeten, die dort kolportierte Information, Roth sei zu dem Roman durch das Leben des New Yorker Autors Anatole Broyard inspiriert worden, zu löschen. Der Vermittler bekam von einem Administrator der Wikipedia die Antwort, man benötige mindestens eine zweite, unabhängige Quelle, um die entsprechende Änderung vorzunehmen.

Roth fühlte sich daraufhin als Autor seines eigenen Romans nicht ernst genommen und machte den Vorgang und den seiner Meinung nach im Wikipedia-Eintrag vorhandenen Fehler öffentlich; ein verständlicher Schritt, nachdem er auf direktem Weg nicht zum Ziel gekommen war. Statt eines Edit-Wars löste er damit die übliche Sturzflut hoch kompetenter Leserbriefe und Föjetong-Kommentare (vgl. auch hier) aus, was aus seiner Sicht wahrscheinlich nervenschonender ist.

Mir scheinen die meisten Kommentare allerdings das hier aufscheinende Problem nicht zu verstehen: Weder ist es zweckmäßig, den durchaus vernünftigen Grundsatz der Wikipedia nach zwei voneinander unabhängigen Quellen zu kritisieren, noch Philip Roth vorzuwerfen, er habe das Medium Wikipedia nicht verstanden und solle doch einfach eine zweite Quelle benennen und gut sei es.

In Frage steht die Quelle der Inspiration, für die der Autor auf Anhieb die einzige Autorität zu sein scheint. Wie soll ein Autor seine Inspiration von ihm selbst unabhängig belegen, da es sich offensichtlich um ein privates Ereignis in seinem Kopf handelt, über das, wenn überhaupt, nur er Auskunft geben kann. Und so wäre jede weitere Quelle durch ihn kontaminiert: Selbst wenn er nun jemanden anführen könnte, dem er Jahre vor Veröffentlichung des Buches erzählt hat, dies und das habe ihn auf die Idee gebracht oder zur Niederschrift inspiriert, so wäre dessen Zeugnis nur die Wiederholung der Selbstauslegung des Autors. Angesichts dieser Lage ist es verständlich, dass Roth die Nachfrage nach einer zweiten Quelle als eine Verhöhnung seiner ausgezeichneten Stellung im Prozess der Werkentstehung empfindet und entsprechend pikiert reagiert.

Auf der anderen Seite zeigt die Erfahrung der Literaturwissenschaftler, dass Autoren in autobiographischen Fragen nur bedingt zu trauen ist: Zu sehr ist es den meisten Autoren zur zweiten Natur geworden, Ereignisse, Gedanken, Charakterzüge zu variieren und fiktionalisieren, dass es den meisten, je länger sie das Geschäft betreiben, um so schwerer fällt, bei den schlichten biographischen Wahrheiten zu verharren und sie nicht zur Literarisierung und Stilisierung der eigenen Person zu verwenden. So lässt auch Roth’ wortreiche und offenbar emotional fundierte Abwehr der Idee, »The Human Stain« sei vom Leben Anatole Broyards inspiriert, zumindest den Verdacht aufkommen, dass Roth eine vergleichbar falsche Information, die auf einen beliebigen anderen Literaten rekurriert hätte, vielleicht mit einem Schulterzucken und einem Lächeln zur Kenntnis genommen oder gar als Verwirrung stiftende Fehldeutung ironisch begrüßt hätte.

Besonders merkwürdig aber wird der Fall, so meine ich, gerade dadurch, dass es um den Roman »The Human Stain« geht, ein Buch, dessen Protagonist zu Unrecht des Rassismus verdächtigt wird und dabei selbst ein negativer Rassist ist, nämlich ein solcher, der die Vorurteile der weißen Welt gegen seine Hautfarbe dadurch umgeht, dass er sich erfolgreich für einen jüdischen Weißen ausgibt. Coleman Silk ist ein Musterbeispiel für jemanden, dessen gesamtes Leben eine anpasserische Lüge an eine falsche Welt ist. Roth ist der Letzte, der ihm das zum Vorwurf macht, denn wie jeder intelligente Schriftsteller weiß er um die Gebrechlichkeit der irdenen Einrichtungen und die Um- und Schleichwege, zu denen die Menschen darum gezwungen sind.

Von daher gibt es neben der geradlinigen und naiven Lektüre des Briefes von Roth noch eine weitere: Nämlich die, dass der Anteil des Lebens von Anatole Broyard an der Inspiration zum Roman weit größer ist, als Roth es eingestehen möchte und dass seine wortreiche Abwehr dieser Tatsache gerade der fehlende, unabhängige Beleg dafür ist, dass das von Roth Bestrittene stimmt; und dass Roth dies weiß und es gerade dadurch eingesteht, dass er es bestreitet. Das zumindest wäre Roth und »The Human Stain« angemessen.

Was aber die Wikipedia dann damit machen sollte, bleibt völlig unerfindlich …

Neue Rundschau 2/2012: Moby-Dick

NR_2012-2_Moby-DickPünktlich zu meiner Wiederbeschäftigung mit »Moby-Dick« bringt die »Neue Rundschau« ein passendes Themenheft. Es präsentiert 12 Kommentare unterschiedlicher Autoren zu einzelnen Kapiteln des Romans als Auftakt zu einer ständigen Kolumne, die in den nächsten Jahren Kommentare zu allen 135 Kapiteln versammeln soll. Ein solches Kommentar-Projekt erscheint auf den ersten Blick wunderlich, aber natürlich bietet sich gerade »Moby-Dick« als Objekt für einen solchen Kommentar an, da für Melville die Kapitel offensichtlich ein wichtiges, wenn nicht das zentrale Ordnungssystem des Romans darstellten. Die Einleitung bezeichnet das Projekt als einen »historisch-spekulativen Kommentar«. Nach der Lektüre der ersten Beispiele neige ich dazu, die gelieferten Texte nur bedingt als Kommentare, sondern vielmehr als Interpretationen aufzufassen. Selbstverständlich sind die Grenzen fließend, aber die Texte sind insgesamt deutlich mehr deutend als erläuternd. Doch dazu später noch ein paar Sätze.

Außer den sich sowieso aus dem hermeneutischen Zirkel ergebenden, hat ein solches Projekt offensichtlich mit zusätzlichen Schwierigkeiten zu kämpfen: Die erste resultiert aus der unterschiedlichen Länge der Kapitel, die zwischen 1 und 27 Seiten schwankt. Es besteht daher die Gefahr, dass der Interpret bei kurzen Kapitel zur Überinterpretation neigt, um eine angemessene Menge an Kommentar liefern zu können. Eine andere Gefahr besteht offenbar darin, dass übergreifende Motive oder weit von einander entfernte Stellen, die einander erhellen oder konterkarieren, unterbewertet oder übersehen werden könnten, wenn das die Interpretation hauptsächlich leitende Ordnungssystem die Kapitelstruktur ist. Auch ist die Kapiteleinteilung durch den Roman hindurch durchaus nicht gleichmäßig: Während manche Kapitel offensichtlich als für sich allein stehend konzipiert wurden, bilden andere ebenso offensichtlich Gruppen oder nähern sich dem Erzählfluss traditionellen Erzählens an. Aber nehmen wird zugunsten der Interpreten an, dass sie sich all der Schwierigkeiten im Großen und Ganzen ausreichend bewusst sind. Mildernde Umstände ergeben sich natürlich auch daraus, dass keine Interpretation der Weisheit letzten Schluss darstellen muss, sondern immer nur einen Versuch liefert, den Widerstand, den ein Text unserem Begreifen und Durchdringen entgegenstellt, zu überwinden oder wenigstens abzuschwächen.

Wie schon angedeutet, handelt es sich bei den Texten weniger um erläuternde Kommentare, sondern mehr um deutende Interpretationen. Dabei herrschen zwei methodische Zugriffe vor:

1. Der Interpret nimmt zu Melvilles »Moby-Dick« einen anderen Text oder Autor hinzu, den er auch gelesen hat, und schaut, was Melville und was der andere Autor so ungefähr gesagt haben und vergleicht dann miteinander. Bereits 1804 hat Jean Paul zu diesem Verfahren eine methodologische Einschätzung geliefert:

Ich berufe mich auf ihre zwei verschiedene Wege, nichts zu sagen. Der erste ist der des Parallelismus, auf welchem Reinhold, Schiller und andere ebensooft auch Systeme darstellen; man hält nämlich den Gegenstand, anstatt ihn absolut zu konstruieren, an irgendeinen zweiten (in unserm Falle Dichtkunst etwa an Philosophie, oder an bildende und zeichnende Künste) und vergleicht willkürliche Merkmale so unnütz hin und her, als es z. B. sein würde, wenn man von der Tanzkunst durch die Vergleichung mit der Fechtkunst einige Begriffe beibringen wollte und deswegen bemerkte, die eine rege mehr die Füße, die andere mehr die Arme, jene sich nur mehr in krummen, diese mehr in geraden Linien, jene für, diese gegen einen Menschen etc. Ins Unendliche reichen diese Vergleichungen, und am Ende ist man nicht einmal beim Anfange. (Vorschule der Ästhetik)

Seitdem hat die Methode unter dem Schlagwort Intertextualität extrem an Prominenz gewonnen.

2. Der Interpret sucht sich aus der Menge der im Kapitel vorhandenen strukturellen Merkmale ein oder zwei heraus, zu denen ihm ein Gedanke einfällt. Nun entwickelt er diesen Einfall über einige Seiten hinweg und zieht dabei alles heran, was in dem verhandelten Kapitel seinen Einfall irgendwie stützen könnte, und lässt alles fort, was darauf hinweisen könnte, dass sein Einfall zur Erhellung des Kapitels eher weniger beiträgt. Auch diese Methode begreift man besser am konkreten Beispiel.

So beschäftigt sich Ethel Matala de Mazza mit dem Kapitel 15 »Chowder« (Chowder ist eine Art Fischsuppe): Ishmael und Queequeg kehren, gerade in Nantucket angekommen, im Hotel »Trankessel« ein, das ihnen ihr Wirt in New Bedford empfohlen hat. Bereits das Wirtshaus-Schild weist auf eine Besonderheit dieser Herberge hin:

Zwei gewaltige hölzerne Kessel, schwarzgestrichen und aufgehängt an Eselsohren, schwangen von den Quersalings einer alten Bramstege, aufgepflanzt vor einem alten Torweg. (Übersetzt von Friedhelm Rathjen.)

Die beiden Kessel bilden fast so etwas wie die Speisekarte des Hotels, denn offenbar finden sich ihre metallenen Pendants in der Küche, so dass der Gast bei jeder Mahlzeit die Auswahl zwischen zwei Gerichten hat; im Fall von Ishmael und Queequeg heißt die Alternative »Miesmuschel oder Kabeljau?« Nun fällt der Interpretin bei der Lektüre folgendes auf: Der ganze erste Teil des »Moby-Dick« erzählt eine Abfolge von Entscheidungen Ishmaels, die unter immer enger werdenden Bedingungen schließlich dazu führen, dass er sich in eine Lage begibt, in der nicht mehr er selbst, sondern ein anderer, Ahab, für ihn die Entscheidungen trifft. Während ihm zu Anfang die ganze Welt offen zu stehen scheint, ist er mit dem Ablegen der Pequod einem Schicksal ausgeliefert, über das er nicht einmal mehr illusionär Herr ist. Frau Matala de Mazza möchte nun das Kapitel »Chowder« zu einem entscheidenden Gelenk in dieser Entwicklung machen, indem sie erklärt, hier habe Ishmael zum letzten Mal eine freie, wenn auch wenig relevante Wahl, während sein weiteres Vorgehen vom Schicksal, seinem Unbewussten oder was auch immer (die Interpretin mag sich da verständlicherweise nicht konkret festlegen) schon wesentlich beschränkt sei.

Nun ist natürlich die grundlegende Idee der Interpretin richtig und weist auf eine wichtige Struktur des Buches hin. Nur erzwingt der Einfall, dies gerade am Kapitel »Chowder« zeigen zu wollen, eine Missachtung des Textes, so wie Melville ihn geschrieben hat: Denn nachdem sich Ishmael im »Trankessel« zwischen zwei Gerichten entscheiden muss, stehen ihm nachher drei Schiffe für die Ausfahrt zum Walfang zur Auswahl. Melville hatte offensichtlich nicht den Einfall einer konsequent immer kleiner werdenden Anzahl von Möglichkeiten für Ishmael, sondern ihm genügte die allgemeinere Struktur. Frau Matala de Mazza dagegen muss die explizit auf zwei reduzierte Anzahl der Töpfe in der Küche des »Trankessels« ignorieren und von einer Vielzahl möglicher Fischgerichte faseln, um ihren Einfall zur Kommentierung des Kapitels 15 durchzusetzen. Ein solches Ignorieren vorhandener, aber im Gang der Interpretation störender Textstrukturen ist nahezu durchgängig zu beobachten.

Von dem Kollegen, der durch die Lektüre des »Moby-Dick« zu der Erkenntnis gekommen sein will, dass sich Pottwale von Krill ernähren und ähnlichem Unfug, der weder den Herausgebern noch den Redakteuren des Heftes hätte entgehen dürfen, will ich ganz schweigen.

Insgesamt eine Enttäuschung, die sich aber nahtlos in meinen allgemeinen Eindruck der deutschen Literaturwissenschaft einfügt. Ich werde das Projekt wenigstens in nächster Zeit weiter beobachten, denn man weiß ja nie …

Neue Rundschau, Jahrgang 123 (2012), Heft 2: Moby-Dick. Frankfurt/M.: Fischer, 2012. Broschur, 206 Seiten. 12,– €.

Thomas Nickerson, Owen Chase, a. o.: The Loss of the Ship Essex, Sunk by a Whale

Nickerson_EssexDer Untergang der Essex wäre heute wahrscheinlich ebenso vergessen wie zahlreichen andere Schiffskatastrophen vergangener Jahrhunderte, wenn er nicht das Vorbild für den Untergang der Pequod in Herman Melvilles »Moby-Dick« geliefert hätte. Melville lernte den Bericht Owen Chase’, des 1.Offiziers der Essex, bereits kennen, als er selbst noch auf einem Walfänger unterwegs war, erhielt sein eigenes Exemplar des Buches aber erst 1851, als sein Roman bereits weitgehend fertiggestellt war.

Natürlich darf das Schicksal der Essex auch ohne Beziehung auf den »Moby-Dick« Interesse für sich beanspruchen: Immerhin betont Chase in seiner Schilderung der Ereignisse, dass es unerhört sei, dass jemals ein Walfangschiff von einem Pottwal gezielt und direkt angegriffen, geschweige denn versenkt worden sei. Was die Zeitgenossen an dem Fall faszinierte, war aber nicht nur die außergewöhnliche Ursache des Untergangs der Essex, sondern auch das Schicksal der wenigen Überlebenden, die letztlich zum Kannibalismus Zuflucht nehmen mussten. Allein schon aus diesem schaurigen Detail erklärt sich, dass der Fall der Essex breit besprochen und noch nach Jahrzehnten bekannt war.

Der Band bei Penguin versammelt alle bekannten Quellen direkt von der Katastrophe Betroffener, von denen einzig der Bericht von Owe Chase in Buchform erschien. Der Bericht von Thomas Nickelson, dem jüngsten Mitglied der Crew der Essex, ergänzt den von Chase insoweit ganz gut, als Chase die Fahrt der Essex vor der Versenkung des Schiffs nur sehr rasch abhandelt. Im Zusammenhang mit Melville sind diese und die weiteren Quellen allerdings nicht erheblich, da er sie nicht gekannt haben kann.

Zusätzlich zu den Primärquellen werden die Notizen dokumentiert, die sich Melville auf den letzten, leeren Seiten seines Exemplars von Chase’ Bericht machte. Allerdings tragen diese Notizen zum Verständnis von »Moby-Dick« nur wenig bei; einzig dass sich Melville anhand des Buches von Chase selbst über die Glaubwürdigkeit des Endes seines Romans beruhigte, könnte vielleicht von Interesse sein.

Alles in allem ein ganz nettes Bändchen, wenn es auch nur von begrenztem Nutzen für den Melville-Leser ist.

Thomas Nickerson, Owen Chase, a. o.: The Loss of the Ship Essex, Sunk by a Whale. First Person Accounts. Ed. by Nathaniel and Thomas Philbrick. New York: Penguin, 2000. Broschur, 231 Seiten. Ca. 11,– €.

Nathaniel Philbrick: Why Read Moby-Dick?

philbrick_moby-dickNathaniel Philbrick hat nicht nur einen Roman über die Tragödie des Walfangschiffs Essex verfasst, sondern auch eine verdienstvolle, vollständige Sammlung der Augenzeugenberichte über dieses Vorbild für den Untergang der Pequod in Herman Melvilles »Moby Dick« herausgegeben (darüber bald mehr an dieser Stelle). Das kleine Büchlein »Why Read Moby-Dick?« ist eine sehr persönlich gehaltene Anregung zur Lektüre dieses nicht einfachen Klassikers der amerikanischen Literatur. Es reißt zahlreiche Themen des Buches an, gibt kurze Einblicke in die Biographie Melvilles, zitiert einige Stellen aus seinen Briefen an Nathaniel Hawthorne, erzählt anekdotisch von der Niederschrift des „Moby-Dick“ und ist insgesamt getragen von einer aufrichtigen Begeisterung für das Buch.

Ich habe es als Anregung gelesen, weil bei mir in den nächsten Wochen Melville dran ist, da ich im November wieder einmal einen Vortrag über ihn und seinen großen, weißen Wal halten werde. Als (Wieder-)Einstieg ins Thema ist das Buch exzellent und kann allen Neugierigen für eine nachmittägliche, kurzweilige Lektüre empfohlen werden.

Nathaniel Philbrick: Why Read Moby-Dick? New York: Viking, 2011. Wachstuch, Leinenrücken, rauer Schnitt, 131 Seiten. Ca. 15,– €.

William Faulkner: Als ich im Sterben lag

Ab und zu macht man sich so seine Gedanken. Über all das Unglück und Leid in dieser Welt. Wie’s überall und jederzeit einschlagen kann, wie der Blitz.

Bereits 2008 hatte der Rowohlt Verlag eine Neuübersetzung von »Licht im August« vorgelegt, der er nun, zum 50. Todestag Faulkners, eine weitere folgen lässt. Der vergleichsweise kurze Roman »Als ich im Sterben lag« gehört ebenfalls zu denen um das fiktive Yoknapatawpha County, Faulkners Very Own County. »Als ich im Sterben lag« gehört zu Faulkners populären Romanen, was an der zwar wuchtigen und komplex erzählten, im Grunde aber einfachen und geradlinigen Handlung liegen mag.

Erzählt wird die Familiengeschichte der Bundrens um und nach dem Tod von Addie Bundren, Gattin Anse Bundrens und Mutter von vier Söhnen und einer Tochter. Addie stammt aus der Bezirkshauptstadt Jefferson und hat ihren Mann versprechen lassen, sie nach ihrem Tod dorthin zu überführen und bei ihren dortigen Verwandten beizusetzen. Die Fahrt nach Jefferson, die eine knappe Woche dauern wird, gerät zu einer Odyssee von Unglück zu Unglück, was Anse nicht daran hindert, sein Versprechen gegen alle Widerstände und koste es, was es wolle, einzuhalten. Zuerst verliert man bei der Überquerung eines Hochwasser führenden Flusses, der alle verfügbaren Brücken weggerissen hat, die beiden Maultiere, und Cash, der älteste Sohn bricht sich das Bein. Dann muss Anse, um neue Maultiere zu beschaffen, den einzigen Schatz seines dritten Sohn Jewel (der nicht sein leiblicher Sohn ist, was Anse aber nicht weiß), ein Texas-Pony, eintauschen. Inzwischen werden die Bundrens von zahlreichen Bussarden begleitet, da die Leiche Addies nun schon mehrere Tage alt ist; entsprechend unbeliebt sind sie bei ihren Mitmenschen. Da Cashs gebrochenes Bein sich gegen das Ruckeln des Wagens nicht ausreichend mit Holzschienen stabilisieren lässt, kommt man auf den grandiosen Einfall, das Bein einzuzementieren, allerdings ohne es zuvor verbunden oder sonstwie geschützt zu haben. Und um allem die Krone aufzusetzen, zündet auf dem letzten Halt vor Jefferson der Zweitälteste, Darl, ein geistig etwas zurückgebliebener junger Mann, die Scheune an, in der man den Sarg gelagert hat, um der schaurigen Reise durch Einäscherung der Leiche ein Ende zu bereiten. Bei der Rettung der Tiere und des Sargs aus den Flammen zieht sich Jewel schwere Verbrennungen zu.

In Jefferson angekommen geht es mit der Beerdigung (die selbst übrigens ungeschildert bleibt) vergleichsweise glatt: Man leiht sich bei einer Frau, die Anse zwei Tage später als neue Mrs. Bundren mit zur Farm zurücknehmen wird, zwei Spaten aus und bringt die Sache hinter sich. Doch fordert auch Jefferson noch Opfer: Der Besitzer der niedergebrannten Scheune hat Darl als Brandstifter angezeigt, der nun verhaftet und in eine Irrenanstalt eingewiesen wird, und die schwangere Tochter Dewey Dell bekommt von einem jungen Drogisten, von dem sie ein Abtreibungsmittel kaufen will, gegen eine sexuelle Dienstleistung nur ein Placebo ausgehändigt. Die zehn Dollar, die sie vom Kindsvater  für das Abtreibungsmittel bekommen hat, nimmt ihr Anse weg und investiert sie in ein Gebiss, das er sich seit Jahren sehnsüchtig wünscht. Cash wird von Doktor Peabody von dem Zementverband und seinem derweil nekrotisch gewordenen Fuß befreit, bevor die Familie sich schicksalsergeben auf den Rückweg macht.

Diese Abfolge von Katastrophen wird ausschließlich aus der Perspektive der Figuren erzählt, nicht nur der Familie (einmal kommt sogar die tote Mutter zu Wort), sondern auch ihrer Bekannten, des Doktors und derjenigen, die der Familie unterwegs Unterkunft und Nahrung gewähren. Insgesamt sind es 14 Erzähler, die aus ihrer Sicht und in ihrer jeweils eigenen Sprache die Geschichte erzählen. Während das zu Anfang dem Leser eine kurze Phase der Orientierung abverlangt, entwickelt die Erzählung bald einen derartigen Sog, dass man sich kaum noch vorstellen kann, wie die Geschichte anders hätte erzählt werden können.

Ein grandioses Buch und ein erzählerisches Kabinettstück, das eine Literatur erzeugt, wie sie entstehen würde, wenn diese Menschen denn tatsächlich schrieben. Der Neuübersetzung gelingt eine exzellente Wiedergabe des lakonischen, am Denken und Sprechen der Figuren ausgerichteten Tons der Erzählung. Es ist zu hoffen, dass Rowohlt diese Reihe von Neuübersetzungen Faulkners fortsetzen wird.

William Faulkner: Als ich im Sterben lag. Aus dem Englischen von Maria Carlsson. Reinbek: Rowohlt, 2012. Pappband, Lesebändchen, 248 Seiten. 19,95 €.

Stephen Greenblatt: Die Wende

»Herr Ober, in der Suppe fehlt was.«
»Das ist nicht möglich, mein Herr. Da ist alles drin, was in der Küche war.«

greenblatt_wendeEin Buch aus der Kategorie »viel Soße, wenig Fleisch«. Greenblatt ist es als Shakespeare-Biograph natürlich gewohnt, mit nahezu nichts soviel Umstände zu machen, dass sich ein ansehnliches Buch ergibt. Dass man mit dem Bohren eines solch dünnen Bretts allerdings jetzt schon einen Pulitzer-Preis gewinnen kann, ist kein gutes Zeichen.

Das Zentrum des Buches bildet die Wiederentdeckung des Textes »De rerum natura« von Lukrez im Jahre 1417. Wir kennen hierfür leider nur wenige konkrete Fakten: Weder wissen wir, in welcher Klosterbibliothek Gianfrancesco Poggio den Fund machte, noch ist das ursprünglich aufgefundene Manuskript jemals wieder aufgetaucht. Auch die im Auftrag Poggios erstellte Kopie ist verloren; erhalten blieb nur eine italienische Abschrift dieser Abschrift, die dann die Grundlage der Verbreitung des Textes im 15. Jahrhundert wurde. Das ist auch schon beinahe die ganze Geschichte, die Greenblatt zu erzählen hat. Damit gut 270 Seiten zu füllen, ist kein kleines Kunststück, weshalb wir viel oberflächlich Angelesenes über Pompei und Herculaneum erfahren, weil dort in einer Villa ein antikes Exemplar des Buches gefunden wurde. Auch wird uns ausführlich von Jan Hus und Giordano Bruno berichtet, nicht weil die Lukrez gelesen hätten, sondern weil der eine ebenso wie Poggio auf dem Konzil von Konstanz war (allerdings mit deutlich schlechterem Ausgang) und der andere auch sowas ähnliches wie Lukrez gemeint hat, wenn auch aus anderen Gründen und mit anderen Absichten, aber was macht das schon, wenn es nur Seiten füllt. Auch erfahren wir einiges über die Kirchenpolitik des 15. Jahrhunderts, über Petrarcas Latein, mittelalterliche Skriptorien (wobei Greenblatt von den drei dort am häufigsten verwendeten Tinten gerade einmal eine zu kennen scheint), Lesevorschriften für Mönche und die Mühen des Kopierens  und vieles, vieles andere mehr. Nichts von dem hat zwar irgend etwas mit Lukrez oder »De rerum natura« zu tun, aber Greenblatt hat es eben irgendwo gelesen und nun soll es auch mit ins Buch hinein. Wer wird so kleinlich sein und verlangen, dass ein so umfassend halbgebildeter Autor beim Thema bleibt.

Wie wesentlich fremd Greenblatt die Welt des 15. und 16. Jahrhunderts am Ende bleibt, zeigt vielleicht am deutlichsten diese Stelle:

Tatsächlich konnte es den Anschein haben, als gebe der Atomismus den Reformatoren so etwas wie eine geistige Massenvernichtungswaffe an die Hand. [S. 263]

Was wird sich ein Mensch des 16. Jahrhunderts wohl unter einer »Massenvernichtungswaffe« vorgestellt haben?

Gänzlich irreführend aber sind der Untertitel und die Verlagswerbung zum Buch: Während die ursprüngliche Ausgabe den ebenso vagen wie historisch irritierenden Untertitel »How the World Became Modern« trug, wurde das Buch dann schon für die englischen Ausgaben bei Random House in »How the Renaissance Began« umgetauft, was dann konsequent zu dem deutschen »Wie die Renaissance begann« führte. Nun spricht Greenblatt nebenbei und fragmentarisch auch darüber, wie die Renaissance begann, wobei er sich dabei in der Hauptsache auf Pertrarcas Vorliebe für klassisches Latein konzentriert, alles in allem ist im Buch aber nur ganz wenig und sehr oberflächlich davon die Rede, wie die Renaissance begann. Die Verlagswerbung setzt noch eins oben drauf:

Spannend und farbenfroh beschreibt Stephen Greenblatt, wie die Verbreitung des Buches die Renaissance beeinflusste und bedeutende Künstler wie Botticelli und Shakespeare, aber auch Denker wie Giordano Bruno und Galileo Galilei prägte. Greenblatt bietet einen neuen Blick auf die Geburtsstunde der Renaissance, der zugleich zeigt, wie ein einzelnes Buch dem Lauf der Geschichte eine neue Richtung geben kann. [Siedler Verlag / Random House]

Genau dies tut Greenblatt nicht! Zwar suggeriert er einen Einfluss des Lukrezschen Weltbildes auf Botticellis »La Primavera«, aber das ist auch schon der einzige bildende Künstler, der erwähnt wird. Von einer Einordnung Botticellis in die Gesamtentwicklung der Kunst geschweige denn der Kultur der Renaissance, die eine gänzlich ausreichende Erklärung ohne einen Rekurs auf Lukrez liefert, kann natürlich keine Rede sein. Einen möglichen Einfluss auf Shakespeare macht der Shakespeare-Experte Greenblatt ausgerechnet an der Verwendung des Wortes »atomi« in »Romeo and Juliet« fest, nachdem er einige Seiten zuvor explizit festgestellt hat, dass Lukrez das griechische »atomos« überhaupt nicht verwendet. Auch von einem konkreten Einfluss auf Giordano Bruno oder Galilei ist keine Rede, auch wenn beide im Buch natürlich prominent vertreten sind.

Einen konkreten inhaltlichen Einfluss kann Greenblatt überhaupt erst für das 17. Jahrhundert nachweisen, also zu einer Zeit, als dem physikalischen Materialismus längst auf anderem Wege der Boden bereitet ist. Das 15. und 16. Jahrhundert haben Lukrez wohl ausschließlich als einen außerordentlichen Stilisten zur Kenntnis genommen, dessen Theorien aber in keiner Weise ernst zu nehmen waren.

Ein geschwätziges und seichtes Buch, das, so lange man nicht erwartet, das vorzufinden, was der Untertitel und die Verlagswerbung versprechen, für die meisten sicherlich ganz nett zu lesen ist. Für diejenigen, die schon eine allgemeine Vorstellung davon haben, dass es so etwas wie eine Antike und eine Renaissance gegeben hat, ist das Herausklauben relevanter Informationen wahrscheinlich etwas zu mühsam und die Lektüre eine Zeitverschwendung.

Stephen Greenblatt: Die Wende. Wie die Renaissance begann. Aus dem Englischen von Klaus Binder. München: Siedler, 2012. Leinen, Lesebändchen, 345 Seiten. 24,99 €.

Vladimir Nabokov: Nikolaj Gogol

«Nun ja», sagte mein Verleger …

Nabokov_GogolDas Büchlein über Gogol ist 1942 als zweites auf englisch geschriebenes Buch Nabokovs entstanden und 1944 im selben Verlag wie sein Vorgänger »The Real Life of Sebastian Knight« erschienen. Es ist der erste umfangreiche literaturwissenschaftliche Text Nabokovs, dem später seine Vorlesungen über russische und westeuropäische Literatur folgen sollten. In allen diesen Büchern erweist sich Nabokov als ein – um es positiv zu formulieren – sehr origineller Leser, der oft die Ansätze anderer Interpreten als unsinnig oder irrelevant verwirft und weitgehend nur den ihn selbst interessierenden Zugriff gelten lässt. Dies bedeutet in den meisten Fällen eine unnötige Verengung der Werke auf einzelne Aspekte.

So verwirft Nabokov im Fall Gogols alle gesellschaftskritischen und politischen Aspekte von dessen Texten, auf die sich ein bedeutender Teil der Rezeption konzentriert hat, als Missverständnis. Er weiß sich in dieser Ablehnung einig mit dem Autor, wenn er auch zugleich dessen religiös gefärbte Selbstdeutungen ebenso verwirft. Nabokov schätzt in Gogols Werken wesentlich zwei Aspekte: Die sprachliche Originalität und die Fülle der Randfiguren und nebensächlichen Details, die mit der eigentlichen Handlung wenig oder nichts zu tun haben. Nabokov liest Gogol wesentlich als phantastischen Autor, dessen Bücher eine autarke Realität etablieren, der der Leser nachzuspüren habe. Dem mag man folgen wollen oder nicht, doch wird es in der Exklusivität, mit der es vorgetragen wird, weder der Fülle möglicher Deutungsansätze, die die Texte stützen, noch ihrer tatsächlichen historischen Wirkung gerecht. Am Ende sagen Nabokovs literarhistorische Texte mehr über ihn als Leser und Autor aus als über die Autoren und Werke, über die er schreibt.

Was das Buch nicht enthält, ist eine auch nur einigermaßen vollständige Biographie Gogols oder Inhaltsangaben der behandelten Werke. Dies wurde bereits vor dem Erstdruck kritisch von Nabokovs Verleger angemerkt (was Nabokov im Anhang des Büchleins genauer dokumentiert als irgend ein biographisches Detail aus dem Lebens Gogols) und wurde mehr als notdürftig durch einen Anhang ausgeglichen. Auch hierin zeigt sich deutlich Nabokovs Desinteresse an hergebrachten interpretatorischen Zugriffen auf Autoren. Dass er selbst nach Jahren mit dem Buch nicht mehr sehr zufrieden war, ja, auch betont hat, dass es Gogol sicherlich missfallen hätte, markiert diese Haltung nur noch deutlicher. Das Buch ist daher eher für Nabokov-Leser aufschlussreich als für jene, die eine Einführung zu Gogol suchen.

Vladimir Nabokov: Nikolaj Gogol. Deutsch von Jochen Neuberger. Reinbek: Rowohlt, 1990. Leinen, Lesebändchen, 213 Seiten. 19,– €.

David Foster Wallace: Das hier ist Wasser

Wallace_WasserWas tut man, wenn man einen Autor hat, der ein zwar berühmtes, aber nur schwer lesbares Buch geschrieben hat, das zudem so dick ist, dass man es nur in einer ziemlich teuren Ausgabe verkaufen kann? Man sucht einen kürzeren, eingängigeren Text von ihm und hofft, dass seine Leser anschließend auch den Ziegelstein kaufen, selbst wenn sie ihn dann ungelesen ins Regal stellen.

Und was tut man, wenn der konsumierbarere Text zu kurz ist für ein eigenständiges Buch? Man setzt ihn in einer größeren Schrift. Und wenn er dann immer noch zu kurz ist? Dann macht man eine zweisprachige Ausgabe draus, damit der Buchhandel etwas hat, das im Regal nicht vollständig verloren geht.

So geschehen mit David Foster Wallace’ einziger Abschlussrede für einen College-Jahrgang, die er im Jahr 2005 gehalten hat. Wallace plädiert darin für eine andere Art der Aufmerksamkeit, die die unvermeidliche Routine im Leben eines Erwachsenen wenigstens erträglich machen soll. Der wichtigste Satz der ganzen Rede lautet:

The capital-T Truth is about life before death. It is about making it to thirty, or maybe even fifty, without wanting to shoot yourself in the head.

David Foster Wallace hat sich 2008 im Alter von 46 Jahren erhängt.

David Foster Wallace: Das hier ist Wasser / This is Water. Aus dem amerikanischen Englisch von Ulrich Blumenbach. KiWi 1272. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2012. Broschur, 62 Seiten. 4,99 €.

Padgett Powell: Roman in Fragen

Sollte ich weggehen? Sie in Frieden lassen? Sollte ich mit meinen Fragen nur mich selbst behelligen?

powell_fragenHandelt es sich bei dieser mehr als 180 Seiten langen Ansammlung unzusammenhängender Fragen tatsächlich um einen Roman? Ist ein Roman nicht ein Werk der erzählenden Literatur? Wäre es nicht besser gewesen, die Übersetzung des Originaltitels »The Interrogative Mood. A Novel?« zu benutzen? Ist ein Konzept, das auf zehn, vielleicht auch auf zwanzig Seiten witzig ist, auf mehr als 180 Seiten nicht nur noch eine Frage der Ausdauer oder eine Manie? Warum mit 180 Seiten aufhören? Sind dem Autor die Fragen ausgegangen, oder hat ein Controller des Verlages das Buch auf die am Markt am besten zu platzierenden Länge zusammengekürzt?

Glauben Autor, Übersetzer und Verlag tatsächlich, dass das witzig ist? Schätzen Sie den Humor von Harry Rowohlt? Glauben Sie nicht auch, dass sich seine Wortspielchen beliebig reproduzieren lassen und seine Gedankenströme eher seichter Natur sind? Ist seine Selbst-Identifikation mit Winnie-the-Pooh nicht vielleicht nur ironisch gemeint?  Könnte es sein, dass gerade Sie deshalb dieses Buch schätzen würden, während ich es nach zwanzig Seiten gähnend langweilig fand? Braucht man tatsächlich irgend wofür ein »kindliches Gemüt«? Und besitzt man eines, wenn man es ständig vor sich her trägt? Sollte man als Leser seine wenige und wertvolle Lesezeit nicht besser auf etwas weniger Beliebiges verwenden?

Heißt der Autor des Buches Padgett Powell? Lautet sein Titel »Roman in Fragen«? Wurde es von Harry Rowohlt aus dem amerikanischen Englisch ins Deutsche übersetzt? Ist es im Jahr 2012 in Berlin im Berlin Verlag erschienen? Handelt es sich um einen Pappband mit Lesebändchen und 191 Seiten? Kostet es 17,90 €?

(Wurde diese Besprechung für
Literaturwelt
geschrieben?)