James Wood: How Fiction Works

A great deal of nonsense is written every day …

978-1-845-95093-4Da gerade die deutsche Übersetzung dieses in der englischsprachigen Welt nahezu durchweg positiv besprochenen Büchleins erschienen ist, habe ich mir endlich einmal das Original besorgt und angelesen. Wood selbst stellt seine Einführung in die Belltristik in eine Reihe mit Ruskins »The Elements of Drawing« (1857); es scheint also für alle jene geschrieben, die zwar die Literatur lieben, aber wenig Bewusstsein für ihre Gemachtheit besitzen. Von daher gehöre ich eher nicht zur Zielgruppe des Autors, und ich sollte mich vielleicht eines Urteils gänzlich enthalten. Da nun aber zumindest einige Leser hier ebenfalls nicht zur Zielgruppe gehören, mögen wenigstens diese gewarnt sein und Zeit und Geld sparen.

Ich habe mich bei der Lektüre gehörig gelangweilt, da ich weder originelle noch sonst überraschende oder erhellende Gedanke finden konnte. Die zweite Hälfte habe ich denn auch nur noch kursorisch angeschaut, und die Lektüre dann schulterzuckend abgebrochen. Damit soll nicht gesagt sein, dass das Buch für den Normal-Leser nicht anregend sein kann. Die meisten Leser begegnen einem fiktionalen Text in der Regel wie einem Naturereignis. Nur wenige machen sich bewusst, dass in einer Fiktion jedes einzelne Detail auf einer bewussten oder unbewussten Entscheidung des Autors beruht, dass jedes einzelne Detail auch anderes hätte ausfallen können – natürlich oft mit weitreichenden Folgen für den gesamten Text.

Es ist sicherlich so, dass Wood die Grundelemente, die die Erscheinung und das Gelingen eines Textes bestimmen (so etwa Erzählperspektive, grammatikalische und ontologische Zeit, Bestimmtheit oder Vagheit, Charakterbildung und Sprache), kurz und prägnant anreißt. Dabei verzichtet er sowohl auf jeden systematischen Balast als auch auf akademische Sprache und Gestus. Er plaudert in kürzeren und längeren Abschnitten über das, worauf man beim Lesen achten könnten, liefert zahlreiche Beispiele aus der gehobenen Literatur, die er zumeist angemessen erläutert. Hier und da zuckt der professionelle Leser auch einmal zusammen, weil Wood deutlich zu kurz greift, aber so richtig falsch gerät es an keiner Stelle; so richtig richtig aber eben auch nicht.

James Wood: How Fiction Works. London: Vintage, 52009. Broschur, 194 Seiten. 10,– €.

Robert M. Pirsig: Zen and the Art of Motorcycle Maintenance

When you’ve got a Chautauqua in your head, it’s extremely hard not to inflict it on innocent people.

978-0-06-058946-2Eines der Bücher, die auf meiner imaginären Liste der frühen Lektüren stehen, die ich noch einmal lesen will. Zwar habe ich versucht herauszufinden, wann genau ich dieses Buch gelesen habe, konnte aber zu keinem genauen Ergebnis kommen. Ich vermute, dass es 1977 oder 1978 gewesen sein muss, also bevor ich zum ersten Mal Philosophie-Unterricht hatte, denn die Passage über Kants »Kritik der reinen Vernunft« hätte später bei mir sicherlich zu einer heftigen Abwertung des Buches geführt; so habe ich sie wahrscheinlich nicht besonders gut verstanden und dementsprechend rasch vergessen.

Die größte Überraschung der erneuten Lektüre war die Einsicht, dass es sich hier wesentlich nicht um einen Roman handelt (so habe ich das Buch Ende der 70-er Jahre gelesen), sondern um eine Mischung aus weitgehend autobiographischem Bericht und philosophischem Essay. Der essayistische Anteil ist bewusst populär behandelt und wird von Pirsig an die Tradition der Chautauquas angeschlossen.

Den erzählerischen Rahmen bildet in der ersten Hälfte des Buches eine Motorradtour, die der autobiographische Ich-Erzähler zusammen mit seinem Sohn Chris und zwei Bekannten, Sylvia und John, nach Bozeman in Montana unternimmt. In der zweiten Hälfte besteigt er zusammen mit Chris einen Berg und setzt anschließend mit ihm die Motorradtour fort. Der Erzähler hat vor vielen Jahren an der Universität von Bozeman Rhetorik unterrichtet, dann aber offensichtlich eine schizophrene Episode durchlebt, während der er in der Psychiatrie mit einer Elektroschock-Therapie behandelt und geheilt wurde. Die Fahrt nach Bozeman ist somit zugleich eine Reise in die eigene, weitgehend vergessene Vergangenheit und zurück zu einem früheren Ich, das den Namen Phaedrus trägt und sich, je weiter die Handlung fortschreitet, immer deutlicher wieder im Erzähler manifestiert. Der sich immer mehr in den Vordergrund drängende essayistische Anteil ist vorgeblich der Versuch des Erzählers, die von Phaedrus entwickelte philosophische Theorie vorzuführen, wobei der Erzähler betont, dass er sie aus fragmentarischen Erinnerungen und Notizen habe rekonstruieren müssen.

Das philosophische Brett, das hier gebohrt wird, ist recht dünn: Es handelt sich um einen handgreiflichen Versuch in klassischer Metaphysik. Ausgehend von seiner eigenen Unfähigkeit, auf den Begriff zu bringen, was Qualität ist, obwohl er sie erkennen kann und sie ein wesentliches Ziel seiner Lehrtätigkeit darstellt, fasst der Rhetoriklehrer Phaedrus den Entschluss, Qualität sei eine nicht zu definierende essentielle Eigenschaft der Welt, die der dualistischen Teilung in Subjekt und Objekt vorausgehe. Diese all eine Qualität sei überhaupt die Verbindung zwischen allen wirklichen Philosophien der Welt und der westliche Irrweg der rationalistischen Analyse, den wesentlich Platon und Aristoteles erstmals beschritten hätten, sei von Übel und verantwortlich für das Unbehagen in der technischen Kultur des 20. Jahrhunderts. Man sollte nicht erwarten, dass dies tatsächlich irgendwie begründet wird; das verhindert allein schon der Charakter der Darstellung als fragmentarische Rekonstruktion. Auch fällt Phaedrus, obwohl er angeblich die »Kritik der reinen Vernunft« gelesen hat, nicht ein, dass dieser Begriff sich in der Kantischen Kategorientafel findet. Überhaupt beschränkt sich seine Auseinandersetzung mit der neuzeitlichen Philosophie auf den Mathematiker Poincaré, die einzigen wissenschaftstheoretischen Gedanken, die zitiert werden, stammen von Albert Einstein. Der Rest erschöpft sich in Namedropping, und das obwohl Phaedrus sich, man höre und staune, ein ganzes Jahr lang mit Philosophiegeschichte beschäftigt. Auch die auf den letzten 100 Seiten stattfindende Diskussion der Philosophie der griechischen Antike ist geprägt von einem unzureichenden Verständnis der antiken Problemstellungen.

Für jemanden, der sich in der Philosophie des 20. Jahrhunderts auskennt, dürfte aber am witzigsten sein, dass bereits 1953 ein Buch erschienen ist, das die gesamte metaphysische Gymnastik dieses Buches obsolet macht: Hätte Phaedrus einen wohlmeinenden Freund gehabt, der ihm Ludwig Wittgensteins »Philosophische Untersuchungen« in die Hand gedrückt hätte, wäre ihm wohl der Wahnsinn und uns gut 500 Seiten erspart geblieben.

Nett ist das Plädoyer für die hauptsächlich am Beispiel der Motorradwartung demonstrierten sekundären Tugenden wie Geduld, Aufmerksamkeit, Sorgsamkeit, Konzentration und Geläufigkeit. Dies sind die angenehmsten Passagen dieses sich ansonsten bei aller vorgeblichen Demut selbst weit überschätzenden Textes. Sie sind es neben dem Titel wohl auch, die das Buch zum Bestseller haben werden lassen.

Insgesamt eine enttäuschende Wiederbegegnung.

Robert M. Pirsig: Zen and the Art of Motorcycle Maintenance. An Inquiry into Values. New York: Harper, 172006. Broschur, 540 Seiten. 5,20 €.

Paul Auster: Unsichtbar

978-3-498-00081-3Auster ist schlicht ein großer Routinier der literarischen Fiktion. Unsichtbar enthält im Wesentlichen zwei erzählerische Ebenen, von denen die eine eine Variation der klassischen Herausgeberfiktion darstellt. Im Zentrum des Romans steht der 20-jährige Adam Walker, der 1967 in New York Literatur studiert und Schriftsteller werden will. Er lernt auf einer Party Rudolf Born, einen Schweizer Gastprofessor seiner Universität, und dessen Freundin Margot kennen. Als er Born kurze Zeit später zufällig wieder trifft, macht dieser ihm ein außergewöhnliches Angebot: Born habe geerbt und wolle Geld in ein Projekt investieren, etwa eine literarische Zeitschrift. Ob Walker sich vorstellen könne, eine solche Zeitschrift zu leiten? Obwohl Walker misstrauisch ist, ob es sich nicht um einen Scherz handelt, entwickelt er ein Konzept für eine solche Zeitung, das von Born akzeptiert wird: Born will die Zeitschrift im ersten Jahr mit 25.000 $ finanzieren. Als Born kurz darauf für kurze Zeit nach Paris reist, beginnt seine Freundin eine Affäre mit Walker, die mit Borns Rückkehr endet. Born trennt sich allerdings daraufhin von Margot, auch weil er vorhat in Frankreich zu heiraten. An dem Plan mit der Zeitschrift ändert sich aber nichts: Als Walker Born das nächste Mal trifft, stellt der ihm einen Scheck über das erste Viertel der geplanten Summe aus. Als die beiden dann ausgehen, um etwas zu essen, werden sie von einem Schwarzen überfallen, den Born kurz entschlossen mit einem Messer niedersticht. Walker sucht das nächste Telefon, um eine Ambulanz zu rufen, doch als er zum Tatort zurückkehrt, sind Born und das Opfer verschwunden. Am nächsten Tag erfährt Walker aus der Zeitung, dass die Leiche eines Schwarzen entdeckt wurde, der mit zahlreichen Messerstichen getötet wurde. Am selben Tag findet er in seinem Briefkasten eine Drohung Borns, ihn zu töten, falls er zur Polizei gehe. Als Walker sich nach mehreren Tagen doch dazu entschließt, die Polizei zu verständigen, ist Born inzwischen nach Frankreich geflohen.

Soweit der erste von vier Teilen des Buchs. Im zweiten Teil erfährt der Leser, dass es sich beim ersten um einen Entwurf Walkers zum einem autobiografischen Roman handelt. Walker hat diesen Entwurf an einen ehemaligen Kommilitonen und erfolgreichen Autor, James Freeman, geschickt mit der Bitte, ihm schriftstellerisch etwas auf die Sprünge zu helfen, da er mit dem zweiten Teil nicht recht vorwärts komme. Freeman erfährt, dass der inzwischen 60-jährige Walker an Leukämie erkrankt ist und wahrscheinlich bald sterben wird. Er gibt Walker einige allgemeine Tipps und hält bald den zweiten Teil des Romans in Händen, der von den folgenden Monaten des Jahres 1967 erzählt: Walker arbeitet als Hilfskraft in der Universitätsbibliothek und hat außerdem eine inzestuöse Beziehung zu seiner Schwester, mit der er zusammenlebt. Dieses Verhältnis endet, als Walker ein Auslandsstudienjahr in Paris antritt.

Als Freeman nach der Lektüre des zweiten Kapitels Walker wie verabredet besuchen will, erfährt er, dass der kurz zuvor verstorben ist. Er hat Freeman aber den Entwurf des abschließenden dritten Kapitels hinterlassen. Wie zu erwarten ist, spielt der letzte Teil von Walkers Roman in Paris und bringt eine Wiederbegegnung sowohl mit Margot als auch mit Born. Die Ereignisse der wenigen Wochen, die Walker in Paris zubringt, nachzuerzählen, kann hier unterbleiben. Wichtig ist nur, dass Walker versucht, Borns geplante Eheschließung zu verhindern und auf diese obskure Weise den New Yorker Mord an dem Schwarzen zu rächen. Als Born Walkers Vorhaben erkennt, lässt er Walker kurzerhand wegen Drogenbesitzes festnehmen und ausweisen.

Im vierten und letzten Teil des Buches beschäftigt sich Freeman mit dessen Herausgabe, nachdem Walkers Schwester ihm dazu den Auftrag erteilt hat. Nachdem Freeman von ihr erfahren hat, dass zumindest die inzestuöse Beziehung frei erfunden ist, nutzt er seinen nächsten Paris-Aufenthalt, um zu recherchieren, wie viel von dritten Teil der Erzählung der Wahrheit entspricht. Und tatsächlich kann er eine der Figuren aus Walkers Roman identifizieren. Von ihr erfahren wir zum Abschluss auch von der weiteren Geschichte Rudolf Borns.

Auster beweist einmal mehr, dass die guten alten Muster der Erzählkunst immer noch wirksam sind: Herausgeberfiktion, Spannung zwischen den Ebenen der Fiktion und der fiktiven Wirklichkeit, Liebe, Sex and Crime, eine moralisch fragwürdige Haupt- und eine zwielichtige Nebenfigur – all das wird zu einem gut erfundenen, routiniert erzählten Unterhaltungsroman verarbeitet. Es ist immer wieder erstaunlich, mit welch leichter Hand Auster das Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Ebenen seiner Fiktionen aufrecht erhalten kann. Für meinen persönlichen Geschmack war es in diesem Fall am Ende eine fiktionale Ebene zu viel, aber das mögen andere Leser anders empfinden.

Paul Auster: Unsichtbar. Aus dem Englischen von Werner Schmitz. Reinbek: Rowohlt, 2010. Pappband, Lesebändchen, 316 Seiten. 19,95 €.

Philip Roth: Nemesis

978-0-224-08953-1Sogenannter Kurzroman (Short Novel), der aber mit immerhin 280 Seiten so manche heutzutage schlicht mit Roman betitelte Produktion deutlich übertrifft. Erzählt wird die Geschichte Eugene »Bucky« Cantors, eines jungen Sportlehrers, der im Jahr 1944 während der Sommerferien in Newark einen Sportplatz als Playground director betreut. Cantor leidet darunter, dass er nicht wie andere junge Männer seiner Generation im Krieg ist, da er aufgrund seiner extrem schlechten Augen als untauglich eingestuft wurde. Nichtsdestotrotz ist er ein überdurchschnittlicher Athlet, der Turmspringen und Speerwurf als besondere Disziplinen betreibt. Und er betreut den Sportplatz gern, hat ein herzliches Verhältnis zu den meisten Kindern dort und wird auch von ihnen als Vorbild und wichtige Bezugsperson wahrgenommen. Nur dass er während der Ferien von seiner Freundin Marcia Steinberg, die in dieser Zeit in einem Sommercamp in Pennsylvania arbeitet, getrennt ist, lässt ihn ein wenig mit seiner Situation hadern.

Bereits zu Beginn des Sommers bricht in Newark eine Polio-Epidemie aus, die sich bald schon auf den jüdischen Stadtteil Weequahic, in dem auch Cantors Schule und der Sportplatz liegen, zu konzentrieren scheint. Kurz nach Ausbruch der Epidemie sterben gleich zwei Jungen, die Cantor regelmäßig auf dem Sportplatz betreut hatte. Die Mutter eines anderen erkrankten Kindes macht Cantor Vorwürfe, er schone die Kinder nicht genug und sei deshalb mitverantwortlich an den zahlreichen Erkrankungen. Nahezu gleichzeitig ergibt sich für Cantor die Möglichkeit, seiner Freundin nachzureisen, da im Ferienlager ein Schwimmlehrer gebraucht wird. Obwohl Cantor es für seine Pflicht hält, in der Stadt zu bleiben und seine Kinder nicht im Stich zu lassen, gibt er, einem plötzlichen Impuls folgend, den Bitten seiner Freundin nach, kündigt seine Stelle und flieht vor der Epidemie in die scheinbar heile Welt des Ferienlagers. Dort angekommen macht ihm zwar zuerst noch sein Gewissen zu schaffen, das ihm nicht nur seine Flucht aus Newark, sondern auch seine militärische Untauglichkeit vorhält, doch angesichts des harmonischen Lagerlebens und der Nähe seiner Freundin versucht er diese Gedanken zu verdrängen. Sieben Tage nach seiner Ankunft erkrankt einer der Jungen aus seiner Hütte an Polio. Es folgen rasch weitere Fälle und wiederum ein paar Tage später ist auch Bucky Cantor eines der Opfer der Krankheit.

Bis zu dieser Stelle ist der Roman eher ruhig und in einem weitgehend auktorialen Stil geschrieben. Wir erfahren im ersten Teil zwar kurz, dass der Text einen Ich-Erzähler hat, Arnie Mesnikoff, einen der erkrankten Jungen in Newark. Doch erst im dritten Teil des Buches kommt dieser Ich-Erzähler im eigentlichen Sinne zu Wort. Er berichtet davon, Bucky Cantor viele Jahre nach den geschilderten Ereignissen wiedergetroffen zu haben. Beide befreunden sich erneut, und Cantor erzählt Mesnikoff seine Lebensgeschichte. Wir erfahren, dass er sich nach seiner Erkrankung geweigert hat, wieder Kontakt zu Marcia aufzunehmen. Er wollte seiner Geliebten nicht eine Ehe mit einem Behinderten zumuten und sein eigenes Glück aufopfern, um sie nicht unglücklich zu machen. Gespeist wird die Opferrolle, in die sich Cantor begibt, durch seine ihn überwältigenden Schuldgefühle: Er glaubt sich nicht nur verantwortlich für den Ausbruch der Krankheit im Ferienlager, sondern hält es sogar für wahrscheinlich, dass er auch die Kinder in Newark angesteckt habe. Zusammen mit den ihn sowieso peinigenden Selbstvorwürfen wegen seiner Untauglichkeit und seiner Flucht aus Newark ergibt sich eine psychische Lage, aus der er sich selbst nicht mehr befreien kann. Das Buch endet überraschend mit einer Apotheose Cantors, indem der sich erinnert, seinen Schülern auf dem Sportplatz seine Fähigkeiten als Speerwerfer vorgeführt zu haben: Dabei gerät Bucky beinahe zu einem klassisch-griechischen Helden.

Es handelt sich um einen für Roth außergewöhnlich ruhig erzählten, weitgehend ereignislosen Roman, dem ein echter Höhepunkt fehlt. Die eher ungewöhnliche erzählerische Konstruktion war ähnlich bereits in The Human Stain zu finden, in dem der Ich-Erzähler ebenfalls relativ spät im Text auftritt. Für die Einordnung des Textes erscheint es nicht unwichtig, dass der Verlag dem Buch eine Übersicht der Rothschen Werke mitgegeben hat, in der vier seiner letzten Bücher – Everyman, Indignation, The Humbling und eben Nemesis – unter der Überschrift Nemeses: Short Novels zu einer neuen Gruppe zusammengefasst wurden. Nemesis steht hier wohl in erster Linie für das vom Schicksal dem Einzelnen Zugeteilte, wobei noch zu reflektieren wäre, ob bei Roth das Prinzip der gerechten Strafe nicht durch das einer ausgleichenden Ungerechtigkeit ersetzt worden ist.

Philip Roth: Nemesis. London: Jonathan Cape, 2010. Pappband, 283 Seiten. 11,95 €.

Tom Rachman: Die Unperfekten

978-3-423-24821-1Netter, ein wenig zu lang geratener sogenannter Roman, der in einzelnen Erzählungen um die Mitglieder Redaktion einer namenlos bleibenden Zeitung kreist. Die Redaktion ist in Rom angesiedelt, wurde aber von einem Amerikaner gegründet und erstellt eine englischsprachige Zeitung für den internationalen Markt. Jedes der elf Kapitel dreht sich um jeweils ein Mitglied der Redaktion oder einen Korrespondent; in einem Kapitel steht sogar eine Leserin der Zeitung im Mittelpunkt. Am Ende der einzelnen Kapitel wird in einer kursiv gesetzten Passage die Geschichte der Zeitung aufgerollt von ihrer Gründung in der 50er Jahren des 20. Jahrhunderts bis zu ihrer Auflösung im Jahr 2007. Die meisten Figuren sind witzig oder obskur, die meisten Erzählungen humorvoll und leicht zu konsumieren. Gegen Ende wird es ein wenig dünner, wahrscheinlich auch, weil hier der Bericht vom Niedergang der Zeitung dem Autor gewisse erzählerische Zwänge auferlegt.

Wirklich zu bemängeln ist eigentlich nur der deutsche Titel: Das Original heißt »The Imperfektionists«, also Die Imperfektionisten, was zugleich mit der grammatikalischen Zeitstufe des Imperfekts und der Spannung zwischen dem Anspruch auf Perfektionismus und der immerwährenden Unvollkommenheit im Geschäft des Journalismus spielt. Davon ist im deutschen Titel »Die Unperfekten« mit dem neckisch kursiv gesetzten Un nun leider gar nichts übrig geblieben. Aber man kann nicht alles haben.

Tom Rachman: Die Unperfekten. Aus dem Englischen von Pieke Biermann. dtv 24821. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2010. Broschur, 397 Seiten. 14,90 €.

Philip K. Dick: The Three Stigmata of Palmer Eldritch

978-1-59853-009-4Science-Fiction-Roman, der 1965 erschienen ist. Im Zentrum steht der Precog – eine Person, die eine beschränkte Einsicht in zukünftige Entwicklungen hat – Barney Mayerson, der für die monopolistische Firma P.P. Layouts tätig ist. P.P. Layouts produziert und vertreibt die illegale Droge Can-D, die in den Kolonien auf den Planeten und Monden im Sonnensystem an die Kolonisten verkauft wird. Die Droge erzeugt eine mehreren Personen gemeinsame Halluzination, die sich um eine Fantasiewelt dreht, deren materielle Vorlage P.P. Layouts ebenfalls herstellt. Dieses Drogen-Monopol gerät nun in Gefahr durch die Rückkehr Palmer Eldritchs von einer interstellaren Reise nach Proxima Centauri. Er scheint von dort eine Konkurrenz-Droge, Chew-Z, mitgebracht zu haben, deren Vertrieb unmittelbar bevorsteht.

Während der Roman als eine Auseinandersetzung mit einer Gesellschaft, die in weiten Teilen um Drogenkonsum herum organisiert zu sein  scheint, beginnt, schiebt sich, je weiter er fortschreitet, ein anderes Thema in den Vordergrund: Die Person Palmer Eldritchs wurde auf seiner Rückreise zur Erde von einer interstellaren Lebensform übernommen, die mit Hilfe der Droge Chew-Z die Kontrolle über die menschliche Zivilisation übernehmen will.

Wie oft so arbeitet Dick auch in diesem Roman mit einer Fülle von Themen und Motiven, die er letztendlich nicht ausschöpfen kann. Diese motivische Breite soll darüber hinweg täuschen, dass die zentralen Themen jeweils nur angerissen und auch nicht einmal versuchsweise zu Ende gedacht werden. So sind die offenbar gemeinten Parallelen sowohl zwischen dem Drogenkonsum und der christlichen Religion als auch die zwischen Gott und dem interstellaren Wesen jeweils bloß behauptet bzw. angedeutet, entbehren aber jeglicher gedanklicher Durchdringung. Hier mag sich jeder Leser nach Belieben etwas zusammenreimen oder es eben auch bleiben lassen.

Einmal mehr überzeugt Dick mehr durch fantastische Fülle – insbesondere die Passagen, die die veränderte Wahrnehmung der Wirklichkeit unter dem Einfluss von Chew-Z beschreiben, sind faszinierend –, weniger durch Konstruktion oder Gehalt.

Philip K. Dick: The Three Stigmata of Palmer Eldritch. In: Four Novels of the 1960s. New York: Library of America, 2007. Leinen, fadengeheftet, Lesebändchen. 230 von insgesamt 831 Seiten. Ca. 30,– €.

J. D. Salinger: Der Fänger im Roggen

978-3-499-23539-9Beim Suchen im SUB ist mir die Neu-Übersetzung von Salingers »The Cather in the Rye« durch Eike Schönfeld, die seit 2003 vorliegt, in die Hand gefallen. Ich habe nun endlich einmal hinein geschaut und bin einmal mehr enttäuscht. Zwar ist diese Übersetzung der Vorgängerversionen gleich in mehrfacher Hinsicht überlegen, schon allein deshalb, weil sie endlich auf das amerikanische Original zurückgeht anstatt auf englische Bearbeitungen, doch bleibt auch sie deutlich hinter dem Original zurück. Weder die vom Übersetzer erfundene Jugendsprache, die niemals von irgendeinem Jugendlichen zu irgendeiner Zeit gesprochen worden ist, noch die Übersetzung des Erzähltons schlechthin konnten mich überzeugen. Wenn Holden horny ist, ist er bei Schönfeld heiß; ist irgendetwas sexy, ist es bei Schönfeld heiß. Und wenn dann tatsächlich im Original mal jemand hot auf etwas ist, ist er bei Schönfeld scharf darauf. Und auch, wenn Holden crazy about etwas ist, ist er bei Schönfeld scharf darauf. Egal, ob ein Taxifahrer Holden Mac oder buddy nennt, in der deutschen Fassung nennt er ihn Meister, eine übersetzerische Entscheidung, zu der es schon einiger Dumpfheit bedarf. Mädchen, die deep down, gave me a pain in the ass, sind in der Übersetzung solche, die mich tief im Innern nerven. Das ist einerseits nicht falsch und andererseits so falsch, wie es nur sein kann.

Folgendes Zitat von Wilhelm Stekel, das Mr Antolini für Holden auf einen Zettel schreibt

The mark of the immature man is that he wants to die nobly for a cause while the mark of the mature man is that he wants to live humbly for one.

wird ohne erkennbaren Anlass in das grammatikalisch falsche

Der unreife Mensch kennzeichnet sich dadurch aus, dass er edel für eine Sache sterben will, der reife dadurch, dass er bescheiden für eine leben will.

übersetzt. Ganz abgesehen davon, dass hier massiv in die Struktur des Zitats eingegriffen wird und das doppelte das Kennzeichen eines […] Mannes einfach fortgelassen wurde.

Wie vielleicht bekannt sein dürfte, fehlte in der Erstausgabe dieser Neuübersetzung der viel zitierte Satz, dass Holden, wäre er ein Pianist, in the goddam closet spielen würde, um dem Applaus der Idioten zu entgehen. In der von Heinrich Böll durchgesehenen alten Übersetzung war aus dem closet ein Klosett geworden, was nur dem Ton nach und nicht inhaltlich falsch ist; inzwischen hat man in der Neuübersetzung eine verfluchte Wäschekammer ergänzt, was auch inhaltlich nur gerade so eben noch durchgehen dürfte. Dass der Satz in der Erstausgabe der Neuübersetzung gefehlt hatte, hat offenbar nicht zu einer gründlichen Revision des Textes geführt, denn auf S. 194 fehlt in dem nächtlichen Telefongespräch Holdens mit Sally ebenfalls ein kompletter Satz.

Solche Dinge sind ärgerlich, wenn schon der – unbestreitbar notwendige – Aufwand betrieben wird, eines der kanonischen Bücher der US-amerikanischen Literatur neu und besser zu übersetzen. Wenn auch diese Neuübersetzung einen deutlichen Schritt in die richtige Richtung darstellt, ist dennoch Salingers Klassiker auch weiterhin im Deutschen nicht adäquat übersetzt. Wer verstehen will, warum dieses Buch in der US-amerikanischen Kultur eine solche Rolle spielt, muss weiterhin zum Original greifen.

J. D. Salinger: Der Fänger im Roggen. Deutsch von Eike Schönfeld. rororo 23539. Reinbek: Rowohlt, 72007. 270 Seiten. 7,95 €.

Edgar Allan Poe: Arthur Gordon Pym

Zur Vorbereitung der erneuten Lektüre von Arno Schmidts »Zettel’s Traum« habe ich noch einmal Schmidts Übersetzung des einzigen Romans von Edgar Allan Poe gelesen. Bei einer distanzierten Lektüre erweist sich das Buch als als eine ziemlich dreiste kompilatorische Arbeit, die in ihrem ersten Teil rein um des Effekts willen gegen jede Wahrscheinlichkeit alle möglichen Gräulichkeiten von Schiffsunglücken anhäuft. Die Darstellung ist derartig übertrieben, dass dem Leser der Verdacht kommen könnte, der Autor verfolge parodistische Absichten, wofür im Text allerdings sonst jegliche Anzeichen fehlen. Im zweiten Teil verwandelt sich die Erzählung dann in eine phantastische Entdeckungsreise im antarktischen Meer, bei der die Weißen auf der Insel Tsalal einem in steinzeitlichen Verhältnissen lebenden Stamm begegnen, der sich vorerst als freundlich, später dann aber als mörderische Bande erweist. Der Protagonist und Erzähler entkommt einem Massaker zusammen mit seinem Kameraden Dirk Peters, mit dem er schon die Katastrophe des ersten Teils durchlebt hatte, und treibt schließlich in einem Boot der Eingeborenen auf den Südpol zu. In unmittelbarer Nähe des Pols bricht der Bericht mit dem Auftauchen einer riesigen, weißen Gestalt ab, angeblich da der Erzähler Pym verstorben sei, bevor er die abschließenden Kapitel habe zum Druck befördern können.

Das Buch stellt den Versuch Poes dar, sich in die Reihe erfolgreicher Verfasser von Seestücken einzureihen und selbst ein Stück zu liefern, das nicht nur durch die Beschreibung der Gefahren, Entbehrungen und Gräulichkeiten  einer solchen Reise seine Leser fesselt, sondern das sich auch an die gerade in Mode befindlichen Berichte über Entdeckungen auf dem letzten weißen Flecken des Globus anhängen will. Es ist der letztlich gescheiterte Versuch Poes, einen Bestseller zu schreiben.

Die Übersetzung Arno Schmidts ragt in der deutschen Rezeption des »Pym« allein schon dadurch heraus, dass es sich wohl um die früheste vollständige Eindeutschung des Textes handelt. Schmidt hat Poe als Schriftsteller sehr ernst genommen – man kann auch die Meinung vertreten, er habe ihn zu ernst genommen, aber das ist eine Diskussion für einen anderen Ort –, so dass seine Übersetzung deshalb an zahlreichen Stellen dem Originaltext in Grammatik und sprachlichem Duktus ungewöhnlich treu bleibt. Leider wird diese Tendenz durch die sprachlichen und orthographischen Manierismen Schmidts, die er selbst für wesentliche Elemente im Fortschritt der Literatursprache hielt, überlagert. Der Leser muss sich daher an solche Dinge wie die Verwendung des &-Zeichens statt des Wortes und, die Ersetzung des Wortes ein durch die Ziffer 1, die Verwendung des Gleichheitszeichens anstelle des Bindestrichs und was der Dinge mehr sind, gewöhnen. Ist er dazu bereit, findet er eine sprachlich sehr sorgfältige und genaue Übersetzung des Textes vor. Inwieweit Schmidts Übersetzung von seiner sogenannten Etymtheorie beeinflusst war, wird andernorts zu erörtern sein.

978-3-86648-092-6 Im selben Zusammenhang habe ich mir auch die 2008 erschienene kommentierte Neuübersetzung des Texts angeschaut. Hier haben Übersetzer und Herausgeber aus dem doch relativ schmalen Text Poes einen umfangreichen Wälzer von mehr als 500 Seiten gezimmert. Den Umfang machen eine ausführliche Einleitung, die fortlaufende Textkommentierung in Fußnoten, die Dokumentation verschiedener Illustrationen zum »Pym« sowie eine ausführliche Chronologie zu Entstehung und Rezeption des Textes aus. Ergänzt wird dies durch zwei Bibliographien, von denen eine die vermutlichen Quellen Poes dokumentiert, die andere neuere Texte zum »Pym« versammelt, die der Herausgeber benutzt hat.

Die Neuübersetzung ist verglichen mit der Arno Schmidts natürlich eher brav, da sie auf Manierismen verzichtet. Stichprobenhafte Vergleiche mit dem Original lassen keine wirklichen Fehler erkennen; allerdings scheint der Übersetzer eine leichte Neigung zu haben, Poes hier und da etwas verschrobene Grammatik zu glätten, was aber wohl den meisten Lesern entgegenkommen wird.

Der mitgelieferte Apparat zum Text ist alles in allem als sehr gut zu bezeichnen. Die Einleitung zeichnet ein umfassendes Bild sowohl der biografischen als auch der politischen und literarhistorischen Voraussetzungen von Poes Text. Ein gewichtiger Teil der Fußnoten erschöpft sich im Nachweis der für einzelne Passagen verwendeten Quellen; hinzu kommen Anmerkungen zu den inneren Widersprüchen des Textes, die eine aufmerksame Lektüre gleich zu Dutzenden ans Licht fördert. Einige Anmerkungen bleiben wirr, so etwa jene zu Kapitel XVII, in dem Poe an einer Stelle die Position der Jane mit »latitude 73° 15′ E., longitude 42° 10′ W.« angibt, was der Übersetzer stillschweigend in »73° 15′ s. Breite, 42° 10′ w. Länge« korrigiert. Dazu heißt es dann in der Fußnote:

Es sollte besser »73° 15′ ö. Breite« heißen. In Baudelaires französischer Übersetzung und in manchen englischen Ausgaben wurde der Fehler stillschweigend korrigiert; Arno Schmidt behilft sich in seiner Übersetzung damit, dass er die Breite ohne Himmelsrichtung lässt.

Nun gibt es natürlich gar keine östliche Breite, so dass hier der Herausgeber dem Übersetzer, der es wie Baudelaire richtig hat machen wollen, mit einem unsinnigen Kommentar in den Rücken fällt. Sollte der Leser so wenig Ahnung von der Sache haben wie der Kommentator, ist die Verwirrung allseits komplett. Auch sonst macht das Buch an einzelnen Stellen einen unfertigen Eindruck, als habe sich der Herausgeber am Ende sehr beeilen müssen. So fehlen zum Beispiel auf S. 381 in den Fußnoten 9 und 10 offenbar faksimilierte Abbildungen aus dem von Poe verwendeten Hebräisch-Wörterbuch von Gesenius; stattdessen sind die Platzhalter für die Faksimiles stehengeblieben: »[Schriftzeichen]«.

Wen solche Kleinigkeiten nicht stören und wer sich bei der Lektüre darüber hinwegsetzen kann, dass ihm dauernd vom Fuß der Seite her in die Lektüre hinein geplappert wird, für den ist die Marebuch-Ausgabe eine gute Alternative zur etwas manierierten Übersetzung Schmidts.

  • Edgar Allan Poe: Umständlicher Bericht des Arthur Gordon Pym von Nantucket. Aus dem amerikanischen Englisch von Arno Schmidt. In: Ders.: Werke II. Olten u. Freiburg im Breisgau: Walter-Verlag, 1967. S. 112–400. Papband, Fadenheftung.
  • Edgar Allan Poe: Die Geschichte des Arthur Gordon Pym aus Nantucket. Übersetzt von Hans Schmid. Hg. v. Hans Schmid und Michael Farin. Hamburg: Marebuch, 2008. Pappband, Lesebändchen, stabiler, bedruckter Schuber. 526 Seiten, davon 32 Seiten Kunstdruckpapier mit Illustrationen. 39,90 €.

Philip K. Dick: The Man in the High Castle

978-1-59853-009-4Nicht ganz runder Roman auf der Grenze zwischen Science-Fiction und Alternativer Geschichte. Erzählt wird über eine nur lose miteinander verbundene Handvoll von Menschen, die 1962 im Westen der ehemaligen USA leben. Die Fiktion geht davon aus, dass der Zweite Weltkrieg 1948 vom Deutschen Reich und den Japanern gewonnen wurde. Die Japaner haben im Westen der USA eine Besatzungszone errichtet, die Nazis eine Vichy-ähnliche Regierung im Osten der USA etabliert. Dazwischen liegen als Pufferzone die sogenannten Rocky Mountain States. Hier und in der japanischen Besatzungszone, genauer in San Francisco spielt der Roman hauptsächlich.

Der Roman unterscheidet sich durch seine thematische Vielfalt und seinen Reichtum an Reflexionen wohltuend von üblichen Beispielen der Genre-Literatur. Man muss es Dick wohl zugutehalten, dass er sich für die gut 220 Seiten des Romans zu viel vorgenommen hat. Nicht nur  versucht er, ein authentisches Bild einer Nachkriegswelt zu entwickeln, in der Japan und der Nazi-Staat die führenden und miteinander konkurrierenden politischen Kräfte sind, es wird auch die grundsätzliche Schwierigkeit der US-Amerikaner dargestellt, japanische Kultur und Umgangsformen zu begreifen, ein Diskurs über Historizität und Originalität als ästhetische Kriterien geführt, das I Ging ausführlich benutzt und zitiert, eine Poetik des Buches anhand eines Buches im Buch geliefert, wobei das Buch im Buch eine weitere alternative Fassung der Nachkriegsgeschichte liefert sowie eine Agenten-Geschichte mit Sex and Crime erzählt. Und das sind nicht einmal alle Handlungsfäden, die das Buch verfolgt.

Es ist verständlich, dass Dick nur einen der Handlungsstränge einigermaßen einem Ende zuführen kann und auch das nur auf einer eher allegorischen Ebene, indem er den Autor des Buches im Buch, bei dem es sich um den Titel gebenden Man in the High Castle handelt, auftreten und den ganzen Roman als Fiktion entlarven lässt. Dieser Abschluss ist nicht wirklich überzeugend, ist aber natürlich dem Widerspruch zwischen literarischem Anspruch und begrenzter Seitenzahl geschuldet. Von daher ist der Roman zwar etwas kurzatmig geraten, insgesamt aber durchaus lesenswert.

Philip K. Dick: The Man in the High Castle. In: Four Novels of the 1960s. New York: Library of America, 2007. Leinen, fadengeheftet, Lesebändchen. 225 von insgesamt 831 Seiten. Ca. 30,– €.

Mark Twain: Tom Sawyer & Huckleberry Finn

Übersetzungen und Neuübersetzungen des Hanser Verlages kaufe ich normalerweise blind, da der Verlag allgemein für ein hohes Niveau und große Sorgfalt bei seinen Übersetzungen steht. Wenn dann auch noch eine feine Ausstattung des Bandes hinzukommt, freue ich mich ganz besonders auf die Lektüre. So auch diesmal: Zwei Klassiker der amerikanischen Literatur, bisher nicht gerade selten eingedeutscht, werden in einer Neuübersetzung vorgelegt, so wie es sich für Klassiker gehört: Leineneinband, feines Dünndruck-Papier und Fadenheftung – alles so, wie es sein soll. Da greife ich dann gern auch einmal tiefer in die Tasche.

Dann wird es Frühling, und an einem unerwartet sonnigen Tag greife ich mir den Band vom SUB (Stapel ungelesener Bücher) und nehme ihn mit ins Café. Als der Kaffee auf dem Tisch steht, schlage ich voller Vorfreude den »Huckleberry Finn« auf und beginne zu lesen. Aber schon nach wenigen Seiten  stutze ich: Das kommt alles so betulich daher, und als die ersten Dialoge erscheinen, wundere ich mich doch sehr darüber, wie diese Mississippi-Kinder miteinander reden:

»So«, sagte Ben Rogers, »was ist denn die Geschäftssparte der Bande?«
»Nix, nur Raub und Mord«, sagte Tom.
»Aber wen rauben wir denn aus. Häuser … oder stehlen wir Vieh … oder …«
»Quatsch! Vieh stehlen und so was, das hat nix mit Räuberei zu tun, das ist Diebstahl«, sagte Tom Sawyer. »Wir sind keine Diebe. Das hat doch keinen Stil. Wir sind Wegelagerer. Wir halten Postkutschen und andere Kutschen auf der Straße an und haben Masken auf und töten die Leute und nehmen ihre Uhren und ihr Geld.«
»Müssen wir die Leute immer umbringen?«
»Ja, klar doch. Das ist das beste. Manche Fachleute denken da anders, aber die meisten halten es für das beste. Außer ein paar, die man in die Höhle hier bringt und gefangen hält, bis sie ausgelöst sind.«
»Ausgelöst? Was soll’n das sein?«
»Ich weiß nicht. Aber das wird so gemacht. Ich hab’s in Büchern gelesen. Und also müssen wir’s genauso machen.«
»Aber wie sollen wir’s machen, wenn wir nicht wissen, was es ist?«
»Das ist doch egal, wir müssen’s eben machen. Hab ich nicht gesagt, dass es in den Büchern steht? Wollt ihr es anders machen, als es in den Büchern steht und alles durcheinander bringen?«
»Das ist ja alles schön und gut, was du sagst, Tom Sawyer, aber wie zum Kuckuck sollen diese Leute ausgelöst werden, wenn wir nicht wissen, wie man das macht? Das möchte ich gerne mal wissen. Was glaubst du denn, was es ist?«
»Naja, ich weiß nicht. Aber vielleicht, wenn wir sie behalten, bis sie ausgelöst sind, dann heißt das, dass wir sie behalten, bis sie tot sind.«
»Na, das hört sich schon anders an. Das kommt hin. Warum hast du das nicht gleich gesagt? Wir behalten sie, bis sie zu Tode ausgelöst sind – aber es wird schon verdammt mühsam mit der Truppe, die werden uns die Haare vom Kopf essen und immer versuchen abzuhauen.«
»Wie du daherredest, Ben Rogers. Wie können sie abhauen, wenn eine Wache auf sie aufpasst und sie sofort abknallt, wenn sie einen falschen Schritt machen?«
»Eine Wache? Ja, das ist mal gut. Dann sitzt also jemand die ganze Nacht da, ohne zu schlafen, und passt auf sie auf. Das halte ich für den reinsten Blödsinn. Warum kann nicht jemand einen Knüppel nehmen und sie gleich auslösen, wenn sie ankommen?«
»Weil’s nicht so in den Büchern steht – deswegen. […]«

Stellen wir dem rasch mal die Original-Passage gegenüber:

»Now,« says Ben Rogers, »what’s the line of business of this Gang?«
»Nothing only robbery and murder,« Tom said.
»But who are we going to rob? houses – or cattle – or –«
»Stuff! stealing cattle and such things ain’t robbery, it’s burglary,« says Tom Sawyer. »We ain’t burglars. That ain’t no sort of style. We are highwaymen. We stop stages and carriages on the road, with masks on, and kill the people and take their watches and money.«
»Must we always kill the people?«
»Oh, certainly. It’s best. Some authorities think different, but mostly it’s considered best to kill them. Except some that you bring to the cave here and keep them till they’re ransomed.«
»Ransomed? What’s that?«
»I don’t know. But that’s what they do. I’ve seen it in books; and so of course that’s what we’ve got to do.«
»But how can we do it if we don’t know what it is?«
»Why blame it all, we’ve got to do it. Don’t I tell you it’s in the books? Do you want to go to doing different from what’s in the books, and get things all muddled up?«
»Oh, that’s all very fine to say, Tom Sawyer, but how in the nation are these fellows going to be ransomed if we don’t know how to do it to them? that’s the thing I want to get at. Now what do you reckon it is?«
»Well I don’t know. But per’aps if we keep them till they’re ransomed, it means that we keep them till they’re dead.«
»Now, that’s something like. That’ll answer. Why couldn’t you said that before? We’ll keep them till they’re ransomed to death – and a bothersome lot they’ll be, too, eating up everything and always trying to get loose.«
»How you talk, Ben Rogers. How can they get loose when there’s a guard over them, ready to shoot them down if they move a peg?«
»A guard. Well, that is good. So somebody’s got to set up all night and never get any sleep, just so as to watch them. I think that’s foolishness. Why can’t a body take a club and ransom them as soon as they get here?«
»Because it ain’t in the books so – that’s why. […]«

Wer ein Gespür für den Ton des Originals hat, bemerkt dass die neue Übersetzung den Dialog aufpoliert: Weder das »per’aps« noch das »reckon« des Originals sind angemessen übersetzt, überhaupt sind in der Übersetzungen die Verschleifungen reduziert und das sprachliche Niveau angehoben. Nicht, dass die Übersetzung falsch wäre, sie trifft nur den Ton des Originals nicht.

Doch ist das noch eine unproblematische Stelle. Jede Übersetzung des »Huck Finn« steht und fällt mit dem, was der Übersetzer aus der Sprache Jims macht:

I says:
»Hello, Jim!« and skipped out.
He bounced up and stared at me wild. Then he drops down on his knees, and puts his hands together and says:
»Doan’ hurt me – don’t! I hain’t ever done no harm to a ghos’. I awluz liked dead people, en done all I could for ’em. You go en git in de river agin, whah you b’longs, en doan’ do nuffn to Ole Jim, ’at ’uz awluz yo’ fren’.«
Well, I warn’t long making him understand I warn’t dead. I was ever so glad to see Jim. I warn’t lonesome, now. I told him I warn’t afraid of him telling the people where I was. I talked along, but he only set there and looked at me; never said nothing. Then I says:
»It’s good daylight. Le’s get breakfast. Make up your camp fire good.«
»What’s de use er makin’ up de camp fire to cook strawbries en sich truck? But you got a gun, hain’t you? Den we kin git sumfn better den strawbries.«
»Strawberries and such truck,« I says. »Is that what you live on?«
»I couldn’ git nuffn else,« he says.
»Why, how long you been on the island, Jim?«
»I come heah de night arter you’s killed.«
»What, all that time?«
»Yes-indeedy.«

Grundsätzlich sind hier drei Lösungswege versucht worden: Einige Übersetzer haben versucht, Jim einen bestimmten deutschen Dialekt reden zu lassen. Aber weder Bayerisch noch Sächsisch führen zu wirklich befriedigenden Ergebnissen. Andere Übersetzer haben versucht, einen Kunstdialekt zu erfinden, der den Ton von Jims Sprechweise im Deutschen nachzuahmen versucht. Wieder andere haben vor dem Problem kapituliert und ersetzen den starken Dialekt Jims durch einige wenige Verschleifungen. Diesen Weg geht auch die Neuübersetzung:

Dann sagte ich:
»Hallo, Jim!« und hüpfte hinter dem Busch hervor.
Er schrak hoch und starrte mich wild an. Dann fiel er auf die Knie und presste die Hände zusammen und sagte:
»Tu mir nix – bloß nix! Ich hab noch nie nem Gespenst was getan. Ich hab Tote immer gern gehabt und alles für sie getan, was ich konnte. Du gehst jetzt wieder innen Fluss zurück, wo du hingehörst, und tust dem alten Jim nix, der immer dein Freund gewesen is.«
Na, ich machte ihm schnell klar, dass ich nicht tot war. Ich war so froh, Jim zu sehen. Jetzt war ich nicht mehr allein. Ich sagte ihm, ich hätte keine Angst, dass er den Leuten verrät, wo ich war. Ich redete einfach drauflos, und er saß nur da und starrte mich an, sagte aber kein Sterbenswort. Dann sagte ich:
»Es ist schon richtig hell. Lass uns frühstücken. Mach dein Lagerfeuer ruhig wieder an.«
»Was hat’n das für ’n Sinn, das Lagerfeuer anzumachen, um Erdbeern und so ’n Grünzeug zu kochen. Aber du hast ja ’n Gewehr! Da können wir was Besseres wie Erdbeern holen.«
»Erdbeeren und so ’n Grünzeug«, sagte ich. »Was andres zum essen hast du nicht?«
»Ich hab sonst nix gefunden«, sagte er.
»Wieso, wie lang bist du denn schon auf der Insel, Jim?«
»Ich bin hier in der Nacht her, nachdem sie dich ermordet haben.«
»Was, die ganze Zeit?«
»Ja, so isses.«

Das ist natürlich im Vergleich zum Original gar nichts. Nun ist es aber so, dass die Verwendung der Dialekte im »Huck Finn« programmatisch ist. Der Verfasser stellt seinem Text ausdrücklich dies voran:

Explanatory

In this book a number of dialects are used, to wit: the Missouri negro dialect; the extremest form of the backwoods South-Western dialect; the ordinary ›Pike- County‹ dialect; and four modified varieties of this last. The shadings have not been done in a hap-hazard fashion, or by guess-work; but pains-takingly, and with the trustworthy guidance and support of personal familiarity with these several forms of speech.
I make this explanation for the reason that without it many readers would suppose that all these characters were trying to talk alike and not succeeding.

THE AUTHOR.

Mark Twain scheint also davon ausgegangen zu sein, dass die sprachliche Vielfalt seines Textes zum Vergnügen seiner Leser beitragen wird. Und er betont, dass er die  Ausdifferenzierung unter Mühen erarbeitet hat, um die Sprechweise seiner Figuren so genau wie möglich an die von ihm erlebte Sprachfülle anzunähern.

Natürlich weiß das auch der Übersetzer Andreas Nohl, denn er hat die entsprechende Passage des Buches mit übersetzt. Was also bringt ihn dazu, die sprachliche Färbung weiter Textpassagen einfach zu ignorieren und zu ein paar Verschleifungen zu verflachen? Es ist einmal mehr die »Lesbarkeit«, der dies angeblich geopfert wurde:

Grundsätzlich wurde darauf verzichtet, den Slang des Ich-Erzählers und der sprechenden Personen in einem künstlichen deutschen Slang oder in einem Dialekt abzubilden. Darin unterscheidet sich die neue Übersetzung grundlegend von den bisherigen Übersetzungen.
[…]
Bei Huckleberry Finn gibt es neben den älteren Jugendbuchbearbeitungen zwei neuere Übersetzungen, deren Lesbarkeit aber durch deutsche Dialekteinsprengsel bzw. einen deutschen Kunst-Slang stark beeinträchtigt ist.

Was glaubt denn wohl der Übersetzer, wie das Original in dieser Beziehung von Muttersprachlern wahrgenommen wird? Und was mag er wohl über deutsche Bücher denken, deren Hauptforce gerade darin liegt, einen Kunst-Slang (z. B. Herbert Rosendorfers »Briefe in die chinesische Vergangenheit«) oder Dialekte und Sprechweisen (z. B. Arno Schmidts »Kaff auch Mare Crisium«) abzubilden. Wünscht er auch diese Bücher ins »Lesbare« übersetzt? Und was glaubt er wohl, warum sich ein deutscher Leser eine Übersetzung des »Huck Finn« kauft – um Mark Twain zu lesen oder Andreas Nohl?

Nun können sich deutsche Leser zum Glück entscheiden: Entweder sie folgen Andreas Nohl ins Land der sprachlichen Plattitüde, oder sie greifen zur Übersetzung von Friedhelm Rathjen und haben zusammen mit ihm und Mark Twain Spaß an der Sprache. Ich jedenfalls habe die Neuübersetzung bedauernd beiseite gelegt – so ein schönes Buch und so eine vertane Liebesmüh.

Mark Twain: Tom Sawyer & Huckleberry Finn. Herausgegeben und übersetzt von Andreas Nohl. München: Hanser, 2010. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, Dünndruck, 711 Seiten. 34,90 €.