»Ich glaube … dass es mir um Wahrheit geht.« »Ist das nicht eine Nummer zu groß?« »Nicht von allem. Nur im Kleinen, nur für mich. In einem kleinen Eckchen werde ich versuchen, Wahrheit zu schaffen.«
Ein weiterer englischer Schulroman, den mir mein Buchhändler nahegelegt hat, als wir über Eine Frage der Erziehung gesprochen haben. Auch Simon Raven, der überhaupt ein äußerst produktiver Autor gewesen ist, liefert gleich einen Romanzyklus – Alms for Oblivion / Almosen fürs Vergessen –, der zehn Bände mit zusammen etwa 2.300 Seiten und die Zeit zwischen 1945 und 1973 umfasst. Im Gegensatz zu A Dance to the Music of Time wurden die Romane nicht entlang der inneren Chronologie geschrieben, so dass der Beginn der Gesamthandlung erst in dem hier besprochenen, 1967 veröffentlichten vierten Band der Dekalogie gemacht wurde. Die deutsche Übersetzung des gesamten Zyklus soll bis 2024 erscheinen, wobei sich der Verlag insgesamt an die innere Chronologie des Zyklus hält (nur die Bände 2 und 3 bilden eine Ausnahme).
Die Haupthandlung beginnt im Mai 1945, nachdem der Zweite Weltkrieg in Europa zum Ende gekommen ist. Der Ich-Erzähler Fielding Gray, als Offizier der britischen Armee in Griechenland stationiert, blickt aus dem Jahr 1959 zurück auf das letzte Jahr seiner Schulzeit: Er ist der Musterschüler seines Jahrgangs, sowohl akademisch als auch als Sportler (in diesem Roman wird selbstverständlich Kricket gespielt) erfolgreich und bei seinen Mitschülern offenbar beliebt. Gray hat, wenn auch nicht ausschließlich, homoerotische Neigungen, und in diesem Jahr ist er sogar eindeutig verliebt in seinen Mitschüler Christopher Roland, der diese Neigung einerseits zu teilen scheint, andererseits aber dann doch erschrickt und schließlich gänzlich aus der Fassung gerät, als es ein einziges Mal zwischen den beiden zu einer kurzen sexuellen Berührung kommt.
Als Gray in den Ferien nach Hause fährt, muss er erfahren, dass sein Vater, der immer schon gegen Fieldings Plan war, nach der Schule Latein und Griechisch zu studieren, nun konkrete Vorbereitungen trifft, ihn von der Schule zu nehmen und in Indien auf einer Teeplantage in eine kaufmännische Ausbildung zu zwingen. Zwar stirbt der Vater ebenso spektakulär wie glücklich an einem Herzinfarkt, doch muss Gray feststellen, dass dies seine Situation wider Erwarten nicht verbessert. Während seine Mutter, solange der Vater am Leben war, ihn stets gegenüber dem Vater verteidigt hat, geht sie nun in das Lager des Feindes über und betreibt ebenfalls die Verhinderung von Fieldings akademischer Laufbahn.
Fielding erreicht eine Art von Kompromiss: Während er seiner Mutter vorgeblich nachgibt und seinen Militärdienst antritt, weil ihn seine Schule hinauswirft, da inzwischen gerüchteweise seine Affäre mit Christopher bekannt geworden ist, der sich zwischenzeitlich das Leben genommen hat. Daneben betreibt Gray weiterhin heimlich seine Studienpläne, da einer seiner Lehrer bereit ist, ihm das Studium zu finanzieren. So scheint für einen Moment alles gut auszugehen, bis wenige Tage nach dem Antritt der Grundausbildung Fielding von seinem Freund und Mitschüler Peter Morrison mitgeteilt wird, dass sich auch diese Aussicht zerschlagen hat, da der betreffende Lehrer von dem Streit zwischen Fielding und seiner Mutter und dem Versuch Fieldings, seine Mutter über seine wahren Pläne zu täuschen, moralisch so abgestoßen ist, dass er sein Angebot eines Stipendiums nicht weiter aufrecht hält. So entscheidet sich Gray für eine Karriere als Berufssoldat; eine letzte Begegnung mit Peter Morrison, den er 14 Jahre nicht gesehen hat und der inzwischen Berufspolitiker geworden ist, beendet das Buch und schließt den Rahmen der Erzählung.
Das Buch hat einen deutlich humoristischen Einschlag; sein Protagonist und Erzähler erweist sich immer erneut als im Sinne einer christlichen Moral indifferent, ja weitgehend gefühllos. Weder der Tod seines Vaters noch der Christophers gehen ihm nahe, er schlägt in Wut seiner Mutter ins Gesicht, ohne sich deshalb irgendwelche Vorwürfe zu machen, aber auch die Verhinderung seiner akademischen Karriere scheint ihn eher schulterzuckend zurückzulassen. Seinen Nachnamen ererbt er nicht umsonst von Oscar Wildes Dorian Gray, der auch noch, als sei es nicht auch ohne das deutlich genug, seine einzige moderne Lektüre darstellt. Wenn Fielding überhaupt einer Moral folgt, ist es die seiner Egozentrik; die wohl als Folie gedachte Antike, die sich in Grays Interesse für die antike Literatur widerspiegelt, hätte ihn für seine Indifferenz aber ebenso verurteilt wie seine Zeitgenossen.
Nicht alle Teile des Romans sind gleich gelungen; besonders die Dialoge sind eher schwach und erscheinen gekünstelt. Insbesondere dort, wo direkt über Moral gesprochen wird, sind sie flach und ermangeln der nötigen Reflexion. Aber das mag auch Absicht des Erzählers sein, um seine Verachtung für das moralisierende Geschwätz seiner Mitmenschen auszustellen.
Alles in allem ein Roman, der aus der Dutzendware des Jahrhunderts heraussticht, aber sicherlich nur auf seiner Position im Gesamtzyklus angemessen beurteilt werden kann.
Simon Raven: Fielding Gray. Aus dem Englischen übersetzt von Sabine Franke. Berlin: Elfenbein, 22020. Bedruckter Pappband, Fadenheftung, Lesebändchen, 262 Seiten. 22,– €.
Zehn Jahre nach seiner Odyssee-Übersetzung legt Manesse nun auch die Ilias in der Übertragung durch Kurt Steinmann vor. Das Buch ist – wie schon sein Vorläufer – exquisit ausgestattet: ein großformatiger, geprägter Leinenband in bedrucktem Schuber, zwei Lesebändchen, 16 farbige, zum Teil doppelseitige Illustrationen, die sich dem grausigen Geschehen stellen, das das Epos schildert, eine ebenso ausgesuchte wie großzügige Typographie – alles, was man sich von einem repräsentativen Geschenkbuch wünschen kann. Leider ist das ebenso prunkvolle Gegenstück von 2007 lange schon nicht mehr lieferbar; wer also damals nicht vorsorglich eingekauft hat, muss heute die Antiquariate bemühen, um zu sehen, wie schön die beiden Bände aufeinander abgestimmt sind: Während die Odyssee mit einem tiefen Blau die Ägäis beschwört, ist der Einband der Ilias farblich zum Violetten hin verschoben worden; schon der Einband deutet die Ströme von Blut an, die in diesem Epos fließen. Leser, so ist zu befürchten, wird Steinmanns Übersetzung in dieser Ausgabe wohl eher wenige finden, aber dafür wird dann später eine preiswerte Ausgabe sorgen, die allein den Text und die Anmerkungen liefert.
Homer – Es ist dem Leser des 21. Jahrhunderts gänzlich unverständlich, warum sich in der Antike niemand besser um die Biographie des ersten europäischen Dichters überhaupt gekümmert hat. Nicht nur soll es dieser mythischen Person gelungen sein, zu einem unbestimmten Zeitpunkt an sieben Orten gleichzeitig geboren worden zu sein, auch hat er blind und ohne Blindenschrift Texte verfasst, die schon im Goldenen Jahrhundert Athens zentraler Inhalt aller Bildung waren. Mir wurde an der Universität noch die Mär erzählt, jeder gebildete Grieche habe beide Epen Homers Zeile für Zeile auswendig gekonnt, und auf meine Rückfrage, woran man denn einen gebildeten Griechen habe erkennen können, geantwortet, eben daran, dass er beide Epen Homers Zeile für Zeile auswendig konnte. O selige Zeit, die solche Definitionen pflegen konnte.
Alles zusammengenommen wissen wir von Homer nichts: Weder wann und ob er überhaupt gelebt hat, ob er, wie schon die Antike glaubte, blind war, ob die beiden Epen tatsächlich das Produkt einer einzigen Person sind oder von zwei Redakteuren oder gar zwei oder mehr Redakteuren pro Epos zusammengeschrieben worden sind, wieviel von seinem Stoff aus mündlicher Überlieferung stammt und wie diese Überlieferung ausgesehen haben könnte etc. pp. Zu allen diesen Fragen gibt es ausgiebige wissenschaftliche Spekulationen, verlässliches Wissen aber hatte schon die Antike nicht mehr.
So sollten Leser sich angewöhnen, den Namen Homer als eine Art Platzhalter anzusehen für den- oder diejenigen, die vermutlich im 8. Jahrhundert v.u.Z. die Mühe auf sich genommen haben, aus dem altehrwürdigen Sagenstoff zwei Epen zu schmieden, die am Beginn aller erzählenden Literatur Europas stehen.
Ilias – Die Ilias schildert einen kurzen, nur 51 Tage umfassenden Ausschnitt aus dem zehn Jahre andauernden, mythischen Krieg um Troja. Erzählanlass ist die Beleidigung eines Priesters des Apoll, der im Heerlager der Griechen (man verzeihe mir die saloppe Zusammenfassung der Troja belagernden Volksgruppen unter dieser anachronistischen Bezeichnung) vor Troja erscheint und seine als Kriegsbeute verschleppte Tochter Chryseïs vom griechischen Heerführer Agamemnon zurück erbittet. Aufgrund dieser Beleidigung sendet Apoll eine Seuche ins Lager der Griechen, die nur dadurch abgewendet werden kann, dass man das Mädchen mit großer Gesandtschaft dem Vater wieder zustellt. Zum Ausgleich für das ihm so entgehende Vergnügen, fordert der Heerführer und König ( ἄναξ/βασιλεύς) Agamemnon das Beutemädchen Briseïs aus dem Besitz des Achill; kein sehr geschickter Schachzug, wie sich zeigen wird.
Achill, ob dieser Kränkung seiner Ehre erzürnt, verweigert die weitere Teilnahme am Krieg gegen die Troër, trägt sich sogar mit dem Gedanken, zusammen mit seinen Myrmidonen das griechische Lager zu verlassen und nach Hause zurückzukehren. Achills Verweigerung führt zu wechselhaft verlaufendem Kampfgeschehen, bei dem die Griechen in Gefahr geraten, ihre Schiffe zu verlieren und so für immer von der Heimat abgeschnitten zu sein.
Die Lage wendet sich erst, als Achills engster Freund Patroklos darum bittet, diesen in der Rüstung Achills auf dem Schlachtfeld vertreten zu dürfen. Als Patroklos dabei von der Hand des troischen Helden Hektor fällt, wendet sich der Zorn des Achill von Agamemnon ab und den Troërn zu; mit einer neuen, vom Gott Hephaistos persönlich geschmiedeten Rüstung wirft er sich ins Kampfgeschehen und tötet den trojanischen Vorkämpfer Hektor, dessen Leiche er vom Schlachtfeld zurück ins Lager der Griechen schleift. Es folgt noch eine ausführliche Schilderung der Beisetzung des Patroklos, und das Epos schließt mit der Besänftigung des Achill, als Priamos, der König Trojas und Vater Hektors sich ins griechische Lager schleicht und erfolgreich die Herausgabe der Leiche seines Sohnes erbittet, um ihn dem Brauch gemäß beisetzen zu können.
Überlagert wird dieses Geschehen von einer ausführlichen Göttererzählung, die die Handlung zu einer Art von Schachspiel der olympischen Götter macht. Auch auf dem Olymp existieren zwei Parteien: Zeus hält es mit Troja, Hera und Athene dagegen mit den Griechen. Aber es ist nicht nur so, dass der Ratschluss der Götter ganz allgemein das Schicksal der Menschen dirigiert, sondern die Götter greifen auch persönlich und handfest in die Kämpfe um Troja ein; es kommt sogar soweit, dass es dem Griechen Diomedes mit Hilfe der Athene gelingt, den Kriegsgott Ares im Zweikampf zu verletzen!
Aus Sicht der heutigen Leser ist die Ilias ein Text von einer erstaunlichen Brutalität. Die Ilias enthält Beschreibungen kriegerischer Gewalt, rasenden Zorns in der Schlacht, brutalster Orgien von Totschlag und Verstümmelung, so dass der Text, wäre er heute geschrieben, wahrscheinlich keine Jugendfreigabe erhalten würde. Die beschriebene Welt ist eine kämpfender Männer, die dem Feind gegenüber in der Schlacht keine Gnade kennen und von ihm ebensowenig Gnade erwarten, die für sich und den Mann neben sich kämpfen und wissen, dass sie nur mit dem eigenen Leben davonkommen werden, wenn sie sich ohne Kompromiss der Gewalt des Krieges ausliefern und zugleich die Götter mit Wohlwollen auf sie blicken.
Doch was Homer schildert, geht noch darüber hinaus: Er zeigt nur einen Ausschnitt eines zehn Jahre andauernden Ringens zweier Großmächte. Die Griechen sind mit 50.000 Mann vor Troja erschienen und doch wäre es ihnen auch nach zehn Jahren nicht gelungen, die Stadt zu erobern, hätte nicht der listenreichen Odysseus einen Einfall gehabt, wie man Griechen in die Stadt schmuggeln und diese von innen heraus aufbrechen könne. Aber diesen spektakulären Fall der mächtigen Stadt – sicherlich eine Orgie der Gewalt, die selbst in seiner Vorstellung ihres gleichen gesucht hat – schildert Homer nicht, sondern nur vier gewöhnliche Tage der Schlacht; und jeder, der nicht vollständig abgestumpft ist, begreift nicht, wie Menschen zehn Jahre so hätten leben sollen. Sicherlich, Homers Zuhörer oder Leser waren zum großen Teil Männer, die selbst die Erfahrung der Schlacht gemacht hatten und einer Gesellschaft angehörten, die regelmäßig ihre Interessen nach außen hin nur dadurch durchsetzen konnte, dass sie in einen Krieg zog. Für nahezu jeden erwachsenen Mann gehörte der Krieg zum unvermeidlichen Erfahrungsschatz. Es ist daher kein Wunder, dass die meisten heutigen Leser vor dem brutalen Realismus des Trojanischen Krieges erschrecken.
Der heutige Leser sollte sich aber zum einen klar machen, dass die Ilias von Vorgängen erzählt, die zu dem Zeitpunkt, als sie abgefasst wurde, mindestens 400 Jahre in der Vergangenheit lagen. Dieser zeitliche Abstand ist in etwa vergleichbar mit dem der romantischen Ritterromane zu dem Mittelalter, das ihre historische Folie bildet. Zum anderen ist die Ilias ein Werk der Fiktion, was auch immer die Griechen der Antike geglaubt haben mögen. Einen solchen Krieg um Troja, zumal einen, dessen Grund der Raub einer Ehefrau war, hat es nie gegeben. Und falls es sich bei dem Schutthaufen Hisarlık tatsächlich um die Überreste des antiken Troja handeln sollte, so haben sich dort bislang keinerlei Anzeichen für eine auch nur annähernd so umfangreiche kriegerische Auseinandersetzung finden lassen, wie die Ilias sie beschreibt. Anders gesagt: Der Trojanische Krieg fand und findet nur an einem einzigen Ort statt – auf den Seiten der Ilias, nirgends sonst.
Es ließe sich hier nun eine breite Reflexion darüber anschließen, welchen Status Ilias und Odyssee für die Griechen der Antike hatten, auf welche Weise diese beiden Epen zusammen mit dem, was wir sonst noch griechische Sagen nennen, ihnen eine Art von Ersatz-Historie lieferte für eine Zeit, von der sie wussten, dass es dort bereits Griechen gegeben hatte, die aber geschichtlich für sie komplett verloren gegangen war. Über die Dunklen Jahrhunderte hinweg zur Zeit der Heroen, als noch Götter und Halbgötter auf Erden wandelten, reichten nur diese Erzählungen, mit denen sich die Griechen ihrer Herkunft und gemeinsamen Geschichte versichern konnten. Aber es wird ohnehin schon lang genug.
Homer auf Deutsch – Mit der Übersetzung der Odyssee durch Johann Heinrich Voß beginnt 1781 eigentlich erst so recht die Geschichte Homers auf Deutsch, obwohl er bei weitem nicht der erste war, der sich dem antiken Epiker gewidmet hat. Seine Übersetzungen machten die Deutschen des 18. Jahrhunderts zuerst und auf Dauer mit Homer bekannt und ließen den Odysseus zu einem der Abenteuerhelden der deutschen gebildeten Jugend werden. Und Voß gab auch den Weg vor, den die meisten Übersetzer nach ihm gehen würden, den des deutschen Hexameters. Es ist eine Ausnahme, dass ein Übersetzer sich entschließt, diesen Widerstand des griechischen Originals zu umgehen und zu versuchen, den homerischen Text in schlichte Prosa zu übertragen; ich kenne drei, genauer zweieinhalb Übersetzungen in Prosa: die der Odyssee von Wolfgang Schadewaldt sowie die beider Epen von Gerhard Schreiber und Karl Ferdinand Lempp, dessen Übersetzung eine Art von Notwehr darstellt, nachdem er den Voßschen Homer vergeblich versucht hatte, im Unterricht zu vermitteln. Für eine Übersetzung in Prosa spricht Homers von allen Kennern des Originals so gelobter Lakonismus, seinen Neigung zu einfachem und unaufgeregtem Ausdruck selbst bei aufgeregtester Textlage. Wie man es und sich auch wendet, so kommt der Hexameter im Deutschen noch in seinem bescheidensten Ausdruck immer etwas zu großartig daher. Doch kann man dem mit einigem Recht entgegenhalten, dass Homer sich die Mühe des Hexameters nicht umsonst gemacht habe und Übersetzer und Leser eben diese Mühe mitzumachen haben, um an das Werk heranzukommen. Und natürlich ist es nur eine Frage der Gewohnheit: Hält man dreißig oder auch vierzig Seiten in einer metrischen Übersetzung durch, ja, kann man sich vielleicht sogar dazu überwinden, sie laut vorzulesen, so wird man sich bald in den Duktus einfinden. Besonders vor den neueren Übersetzungen (etwa die Dietrich Ebeners oder Roland Hampes) braucht man keinerlei Furcht zu haben.
Kurt Steinmanns Übersetzung kann sich in Sachen Eingängigkeit und Verständlichkeit mit den besten Vorläufern messen. Auch über die gerade in der Ilias erforderliche Flexibilität im Ausdruck verfügt sein Hexameter, so dass er von der blutigsten und brutalsten Sequenz einer Schlacht über die Beschreibung der Waffen des Achill bis hin zur befreienden Komik des Wettlaufs in Buch 23 allen Tönen des Epos gerecht werden kann. Der angehängte Kommentar und das äußerst nützliche, erläuternde Personenregister beschränken sich auf das Nötigste, so dass hier sicherlich das eine oder andere ein wenig leichthin abgetan wird, was aber dem Nicht-Fachmann nur entgegenkommt; und die anderen haben sich ohnehin schon anderwärts informiert.
Jedem, der sich auf die Antike und ihre Phantasie einlassen mag, kann dieses Buch nur empfohlen werden, obwohl es für den heutigen Leser sicherlich in einigen Teilen eine Zumutung darstellt; aber dafür ist es nahe an den Erfahrungen antiken Lebens. Diejenigen, die mit Iphigenie „das Land der Griechen mit der Seele suchen“ – was ohne Frage ebenso wichtig und nützlich ist –, sollten sich dem Buch mit Vorsicht nähern; denen aber, die wissen möchten, „wie die Alten den Tod gebildet“ – man entschuldige den doppelten Anachronismus – kann man das Buch mit ruhigem Gewissen auf den Gabentisch legen.
Homer: Ilias. Aus dem Griechischen von Kurt Steinmann. München: Manesse, 2017. Großformatiger Leinenband (29,5 × 19 cm) in bedrucktem Schuber, Fadenheftung, zwei Lesebändchen, 16 großformatige, farbige Illustrationen von Anton Christian, 574 Seiten. 99,– €.
Homer: Odyssee. Aus dem Griechischen von Kurt Steinmann. München: Manesse, 2007. Großformatiger Leinenband (29,5 × 19 cm) in bedrucktem Schuber, Fadenheftung, zwei Lesebändchen, 16 großformatige, farbige Illustrationen von Anton Christian, 446 Seiten. In dieser Ausgabe nur antiquarisch lieferbar. Der Text ist in einer alternativen Ausgabe greifbar.
Mit aller Macht beförderte Justinian das Heil seiner Untertanen, und sei es mit Gewalt.
Der chronologisch sechste und letzte Band von Becks „Geschichte der Antike“ – der Band zur klassischen Epoche Griechenlands fehlt derzeit noch – behandelt die Zeit von der Herrschaft Diokletians (284–305) bis zum Aufstieg des Islams zur führenden Macht im Nahen Osten, Nordafrika und auf der iberischen Halbinsel. Erst damit ist für ihn auch im oströmischen Reich die Antike endgültig abgeschlossen. Für Westrom bietet sich als Ende der Antike bereits die Mitte des 6. Jahrhunderts an, nachdem Italien durch die Befreiung von den Ostgoten durch Ostrom wirtschaftlich und kulturell weitgehend entkräftet worden ist.
Der Beginn der Spätantike ist im Wesentlichen durch zwei Veränderungen markiert: Dioklektians Reform des Kaisertums – kurzfristig gibt es zwei Augusti und zwei ihnen nachgeordnete Caesaren im römischen Reich –, die den Anfang von Ende der Einheit des römischen Reiches bildet, zum anderen der Aufstieg des Christentums zur römischen Staatsreligion unter Konstantin (306–337), womit zugleich die Verwerfungen des sich entwickelnden Christentums zur Staatsangelegenheit und damit nicht nur innenpolitisch wirksam werden, sondern bei denen auch der Kaiser eine bedeutende Rolle als Schlichter oder Mitstreiter spielt.
Für die weitere Entwicklung erweisen sich zudem die zunehmend militärisch aufholenden Nachbarvölker als entscheidend, die das Reich kontinuierlich unter Druck setzen. Zwar gelingt es immer wieder, die entsprechenden Gruppen durch Ansiedlung und Zahlungen zu befrieden, ja sie sogar in die eigenen Legionen einzubinden, doch erweisen sich solche Konstruktionen immer wieder als instabil. Wenn es den Vandalen, Goten oder Franken zu langweilig wird, ziehen sie erneut auf Raub aus und machen Gallien, Spanien oder den Balkan unsicher. Im Osten droht immer aufs Neue das Sasanidenreich, mit dem Frieden nur sporadisch zu halten ist.
Der eigentliche Zusammenbruch beginnt dann, als 476 der germanische Offizier Odoaker von den Germanen der Legion zum König gewählt wird und den letzten weströmischen Kaiser Romulus schlicht absetzt (nicht einmal mit dessen Ermordung hat er sich aufgehalten.) Als der oströmische Kaiser Zenon dann 488 versucht, die ihm lästigen (Ost-)Goten zu instrumentalisieren, um Odoakers Germanen aus Italien zu vertreiben, ersetzt er nur den Teufel durch Beelzebub, denn Theoderich hat wenig besseres zu tun, als sich das befreite Italien als gotisches Königreich zu eigen zu machen. Und als unter Kaiser Justinian (527–565) versucht wird, das Reich noch einmal zu einen, wird Italien derart gründlich in Grund und Boden befreit, dass es von da an für das Reich keine Rolle mehr spielen und eine leichte Beute der Langobarden werden sollte.
Und auch Ostrom kann sich nur unvollkommen halten: Im 7. (und 8.) Jahrhundert geht der Balkan zum Großteil an die von Norden einfallenden Slawen verloren, während man im Osten und in Nordafrika Besitzungen an die aggressiv expandierenden, islamischen Araber verliert. Das verbleibende byzantinische Reich ist nurmehr ein Schatten Ostroms und verliert auch kulturell zunehmend den Kontakt zum ehemaligen römischen Reich. Mit dem Tod Kaiser Herakleios 641 endet bei Pfeilschifter die Epoche der Antike wohl zum spätestmöglichen Zeitpunkt.
Pfeilschifters Darstellung ist – ebenso wie Eichs im Vorgängerband – gut strukturiert und stellt neben der Chronologie der Ereignisse in systematischen Kapiteln die politische und soziale Struktur insbesondere des oströmischen Reichs sowie die komplexe Genese des Christentums auch für den historischen Laien gut nachvollziehbar dar.
Mit diesem sechsten Band ist die Beck’sche Becks „Geschichte der Antike“ abgeschlossen. Mit der Beschränkung auf die griechische und römische Geschichte folgt man einem eher traditionellen Begriff der Antike; man würde sich zur Ergänzung zumindest einen ähnlich gut gemachten Band auch zum alten Ägypten wünschen, eventuell auch mit Ausblicken auf den aktuellen Forschungsstand zu den Phöniziern. In den selbst gesteckten Grenzen kann diese Geschichte der Antike durchweg nur empfohlen werden; ich warte mit Spannung auf den für dieses Jahr angekündigten Band zur klassischen Epoche Griechenlands.
Rene Pfeilschifter: Die Spätantike. Der eine Gott und die vielen Herrscher. C. H. Beck Paperback 6156. München: Beck, 2014. Klappenbroschur, 304 Seiten. 16,95 €.
Auch Becks „Geschichte der Antike“ folgt der klassischen Dreiteilung der Geschichte des römischen Imperiums in die Epoche der Republik, die Kaiserzeit und die Spätantike. Während sich die Grenze zwischen Republik und Kaiserreich mehr oder weniger von selbst versteht, kann von einem Ende der römischen Kaiserzeit nur in einem metaphorischen Sinn die Rede sein, da in der Zeit der Spätantike mehr Kaiser das römische Reich beherrscht haben als je zuvor.
Armin Eichs „Die römische Kaiserzeit“ schließt daher nahezu nahtlos an den Vorgängerband an und endet mit der Regierungszeit Kaiser Carus (282–283), also vor der Reform der Institution des Kaisertums unter Diocletian (284–305), umfasst also eine Spanne von etwa 310 Jahren. Eichs Darstellung besticht in allen Stufen der Entwicklung des Reiches in dieser Zeit durch Klarheit und Strukturiertheit, wobei die Kapitel der chronologischen Abfolge der Ereignisse durch solche der systematischen Analyse der politischen und soziologischen Verhältnisse ergänzt werden. Auch inhaltlich erscheint Eichs Geschichte der Kaiserzeit tadellos, wenn auch wahrscheinlich Kleopatra etwas gegen die Behauptung einzuwenden gehabt hätte, Gaius Iulius Caesar habe keine „direkten männlichen Nachkommen“ gehabt.
Erstaunlich und letztlich nur ansatzweise zu erklären bleibt aber immer die Stabilität des römischen Imperiums trotz massiver innen- und außerpolitischer Verwerfungen. Besonders im dritten Jahrhundert bewährt sich das Reich als Reich auch gegen massive Angriffe durch Germannengruppen im Westen und das Sasanidenreich im Osten und der schnellen Abfolge von Kaisern, die oft nach nur kurzer Regierungszeit ermordet und ersetzt werden. Auch wenn man aus heutiger Sicht die Krise bzw. Krisen des 3. Jahrhunderts als Anfang vom Ende der römischen Herrschaft über den Mittelmerraum und Westeuropa deuten kann, so ist dies für die Zeitgenossen alles andere als klar. Im Gegenteil beginnt der oben schon erwähnte Kaiser Carus, nachdem sich die Lage im Westen wieder einigermaßen beruhigt hat, umgehend einen neuen Krieg im Osten, offenbar in der Überzeugung, dass sich auch dort die Verhältnisse der Blütezeit römischer Herrschaft wieder würden etablieren lassen. Wie sehr er damit das Kräfteverhältnis zwischen Rom und seinen Nachbarn untzerschätzt haben sollte, werden aber erst die kommenden Jahrhunderte erweisen.
Armin Eich: Die römische Kaiserzeit. Die Legionen und das Imperium. C. H. Beck Paperback 6155. München: Beck, 2014. Klappenbroschur, 304 Seiten. 16,95 €.
Es bleibt immer interessant genug, wie sich da im wilden Westen, in Rom wieder einmal so ein Wolfsstaat (wie damals Sparta) brutal groß frißt.
Arno Schmidt
Der Titel des chronologisch vierten Bandes von Becks „Geschichte der Antike“ bezeichnet ebenfalls den Inhalt bloß pars pro toto, da der Band mit der Frühzeit Roms und der mythischen Königszeit beginnt. Er überschneidet sich natürlich zum Teil mit dem Band zum Hellenismus, was aber aufgrund der auf Rom zentrierten Perspektive nicht weiter stört. Dargestellt wird die Geschichte des römischen Stadtstaates und des aus ihm erwachsenden Reichs von 9. Jahrhundert v.u.Z. bis zur Begründung des monarchischen Prinzipats durch Octavian Anfang 27 v.u.Z.
Dabei setzt Blösel den eigentlichen Untergang der Republik auf das Jahr 43 an, als das 2. sogenannte Triumvirat 300 Senatoren und 2.000 Ritter umbringen lässt, um die eigenen Machtbasis zu stabilisieren. Die verbleibende Oberschicht Roms stellt politisch keine Gefahr für die Triumvirn mehr dar, die wohl alle drei das Bündnis eingegangen sind, um auf diesem Weg letztlich zur Alleinherrschaft nach caesarischem Vorbild gelangen zu können.
Die erste Hälfte des Buches gerät etwas zäh, was sich nicht nur aus der vergleichsweise dünnen Quellenlage ergibt, sondern auch daraus, dass der Autor nicht unbedingt zu den begnadetsten Schriftstellern gehört – „Seine Kontrastierung findet ihre Bestätigung in den Befürchtungen“ lässt sich auf Deutsch auch ein wenig eleganter ausdrücken. Spannender wird es erst mit der Zeit der Gracchen, in der dann auch substanziell über politische Motivationen der Protagonisten spekulieren werden kann. Die Darstellung der Karriere Cäsars, des 1. Triumvirats und seiner Folgen ist untadelig, soweit ich das beurteilen kann, auch wenn Blösels Urteil über Cäsar vielleicht ein wenig negativer ausfällt, als es sein müsste.
Für alle, die sich für die Entstehung des römischen Reichs interessieren, eine knappe und durchweg empfehlenswerte Lektüre, die an den historischen Laien aber – wie auch die Bände zuvor – einige Ansprüche stellt. So werden zum Beispiel die Genese, die Aufgaben- und Machtbereiche der römischen Magistrate (Quästoren, Ädilen, Prätoren und Konsulen) eher beiläufig abgehandelt, so dass sich ein unvorbereiteter Leser über diese Strukturen des römischen Staates wird anderswo systematisch kundig machen wollen.
Was mich bei diesem erneuten Durchgang durch die römische Geschichte vor der Zeitwende mehr als je zuvor erstaunt hat, ist, dass sich das politische System Roms trotz aller Willkür und allen Gewalttaten seiner Mitspieler solange als einigermaßen stabil und – im Sinne der Akteure – funktional erhalten hat. Natürlich erklärt sich das aus einem zufälligen Zusammenspiel von individuellen Eigenschaften der Akteure und unvorhersehbaren Umständen, aber die Idee, dass eine Staatsform ihre Stabilität aus dem Gegeneinander intrinsischer Motivationen Einzelner und der gesellschaftlichen Gruppierungen beziehen kann, solange sich die Gegenspieler wenigstens im Großen und Ganzen an einen bestimmten Satz politischer Regeln halten, ist faszinierend. Das bedeutet nicht, dass das System nicht doch am Ende in ein anderes umschlagen wird, aber was die römische Republik alles aushalten konnte, ohne zu kollabieren, ist und bleibt erstaunlich.
Wolfgang Blösel: Die römische Republik. Forum und Expansion. C. H. Beck Paperback 6154. München: Beck, 2015. Klappenbroschur, 304 Seiten. 16,95 €.
Niemand hat das Recht zu tun, was er will, doch alles ist zum Besten geordnet.
Ptolemäischer Rechtsgrundsatz
Der chronologisch dritte Band von Becks „Geschichte der Antike“ – der Band zur Griechischen Klassik soll im kommenden Jahr erscheinen – ist nach dem originellen Band zum archaischen Griechenland eine kleine Enttäuschung. Es ist dem Autor zugutezuhalten, dass es eine undankbare Aufgabe ist, die Geschichte des Hellenismus nachzuzeichnen, da ein Großteil des historischen Stoffs von den Haupt- und Staatsaktionen der Diadochenreiche gebildet wird. In seinem Resümee schreibt Peter Scholz:
Die von Alexander gleichsam begründete, mit seinem Tod einsetzende Epoche des Hellenismus bietet, was die Lektüre der vorangehenden Seiten vermitteln wollte, eine schwer überschaubare Fülle von Herrschern und ihren Familien, von großen Protagonisten und kleinen Akteuren, eine ermüdende Vielzahl kleiner Konflikte und großer Kriege, von Morden an Herrschern und Mitgliedern der jeweiligen Herrscherfamilien, von schwierigen Herrscherwechseln und damit im Zusammenhang stehenden höfischen Intrigen. Aus den zahllosen Einzelereignissen, die kaum Anspruch erheben können, im allgemeinen historischen Gedächtnis zu verbleiben, lassen sich jedoch im Überblick einige besonders charakteristische Merkmale und Errungenschaften des hellenistischen Zeitalters herausarbeiten, die es verdienen, als Merkmale der hellenistischen Geschichte erinnert zu werden. (S. 302 f.)
Leider liegt das Hauptgewicht des Textes nicht auf den „charakteristischen Merkmalen“, die nur zwischendurch auf wenigen Seiten zusammengefasst werden, sondern auf der Auflistung und Nacherzählung eben der „ermüdenden Vielzahl“ jener Daten, die sich in ähnlicher Zusammenstellung auch in jeder anderen Darstellung der Epoche finden lässt.
Scholz beginnt seine Darstellung mit einer ausführlichen Schilderung der Karriere Alexanders III. als Gewaltmensch, wobei das Bild dieses historischen Protagonisten letztlich widersprüchlich bleibt. Während Scholz einerseits bei jeder sich bietenden Gelegenheit Alexanders Egozentrismus betont, kann er es andererseits nicht umgehen, seine innovativen, wenn auch vielleicht ungelenken Versuche zur Vereinigung der griechisch-makedonischen und persischen Kultur zu schildern, die dem Bild des ausschließlich an der Selbststilisierung zum Heros Egomanen widersprechen. Auch Scholz’ These, Alexander habe auf nichtmilitärische Probleme ausschließlich ad hoc und ohne genügendes Gesamtkonzept reagiert, überzeugt nur, wenn man moderne Maßstäbe der Soziologie bzw. politischen Theorie anlegt. Alexanders Gesamtentwurf für sein Reich mag uns unzureichend erscheinen, aber zum einen war etwas ähnliches nie zuvor unternommen worden und zum anderen hatte kein Zeitgenosse jemals auch nur ansatzweise über politische Probleme dieser Größenordnung nachgedacht. Betrachtet man etwa versuchsweise Platons Analyse der Staatsformen als Anhalt für den theoretischen Horizont der Zeit, so kann von Alexander fairerweise kein substantielles Konzept für eine Durchstrukturierung seines Reichs erwartet werden. Reflektiert man gar die Reaktionen von Alexanders Mitstreitern auf seine Annäherung an persische Sitten und Rituale, so kommt man kaum umhin, ihn bei aller Egozentrik immerhin für einen originellen Kopf halten zu müssen, was immer man von seiner allgemeinen Tendenz zu Massenschlächtereien auch sonst halten mag.
Nach Alexanders Tod folgt Scholz all den oben angedeuteten Wirren und Verwicklungen der Geschichte des östlichen Mittelmeerraumes bis zum Aufstieg der Römer als neue Ordnungsmacht. Warum es den Römern gelingt, eine zwar weiterhin fragile, im Vergleich zur Epoche des Hellenismus aber immerhin kontinuierliche Herrschaft im östlichen Mittelmeerraum zu errichten, wird von Scholz nicht mehr im Detail thematisiert. Bei ihm bleibt es bei einer Kritik des wesentlich auf die Person des Königs bezogene Staatsform der hellenistischen Reiche, in der jeder Herrscherwechsel, ja, sogar jeder militärische Erfolg letztlich zu einer immer erneuten Destabilisierung des gesamten internationalen Systems führen. Der Eindruck, der dem Leser bleibt, ist, dass es keinem der Nachfolger Alexanders gelungen ist, auch nur in Ansätzen die Idee zu einer Staatsform zu finden, die nicht wesentlich von dem Individuum an der Spitze und seiner Individualität abhängig ist. Im Primat der staatlichen Struktur über den Herrscher scheint eine der Pointen der Überlegenheit und des Erfolgs der Römer zu bestehen. Mag sein, dass dies die historische Lehre aus dem Chaos des Hellenismus ist.
Peter Scholz: Der Hellenismus. Der Hof und die Welt. C. H. Beck Paperback 6153. München: Beck, 2015. Klappenbroschur, 352 Seiten. 16,95 €.
Zur Ergänzung von Clives „1177 v. Chr.“ habe ich im Anschluss diesen kurzen Überblick über den aktuellen Forschungsstand zum archaischen Griechenland, also der Zeit zwischen dem Ende der sogenannten Dunklen Jahrhunderte bis zum Beginn der Klassischen Zeit (ca. 800–500 v.u.Z.) gelesen. Die Autorin liefert bewusst keine geschlossene historische Erzählung der Epoche, sondern behandelt sie unter verschiedenen thematischen Aspekten, bei denen sie jeweils die schriftlichen und archäologischen Quellen nebeneinanderstellt und abgleicht.
Es beginnt mit einer kurzen Darstellung der Dunklen Jahrhunderte, deren Umfang in den letzten Jahrzehnten nicht nur bedeutend zusammengeschmolzen ist, sondern die sich inzwischen auch als bei weitem nicht so einheitliches Phänomen präsentieren, wie das noch zu meiner Studienzeit der Fall war. Zwar bleibt der allgemeine Niedergang der sogenannten mykenischen Palastkultur festzustellen, doch das übrige Griechenland bietet in dieser Zeit durchaus kein einheitliches Bild von Kulturverfall oder Isolation von der übrigen Welt des östlichen Mittelmeeres.
Es folgt eine knappe Behandlung der Frage, inwieweit sich in Homers Epen die Darstellung der fiktiven, heldischen Vorzeit und der rezenten Kultur zur Zeit der schriftlichen Fixierung der Epen mischen. Auch wird die Frage kritisch erörtert, wie wahrscheinlich es ist, dass für „Ilias“ und „Odyssee“ eine längere orale Tradierung existierte, bevor sie niedergeschrieben wurden. Anschließend wird die Lebenswelt des archaischen Griechenland anhand der Themenkomplexe Kolonisation, Polis, Bauern, Aristokraten, Tyrannis und Bürgerschaft aufgefächert. Im Zentrum jedes Abschnitts stehen konkrete Fallstudien, in denen für konkrete Orte das Bild der schriftlichen Überlieferung mit den archäologischen Befunden abgeglichen wird. Es entsteht auf diese Weise ein differenzierter Überblick der archaischen Griechen Kultur, Politik und Gesellschaftsstruktur. Der einzige Aspekt, der stets nur am Rande behandelt wird, ist der Krieg als zentrale Form der außenpolitischen Auseinandersetzung. Bis auf diesen einzigen Mangel fand ich die gesamte Darstellung exzellent und jeweils auf den Punkt. Es ist erfreulich zu sehen, dass inzwischen die eher märchenhaft gehaltenen Einführungen, die noch zu meiner Studienzeit durchaus gängig waren und die die Komplexität der antiken Welt prinzipiell verflachten, durch differenzierte und durchweg anspruchsvolle Darstellungen abgelöst wurden.
Das Buch ist in einer leicht akademischen Diktion geschrieben und zielt daher wohl eher auf Leser mit einer historischen oder archäologischen Vorbildung oder einem akademischen Hintergrund. Zahlreiche historische oder archäologische Begriffe werden schlicht als bekannt vorausgesetzt, so dass dem echten Laien das eine oder andere Nachschlagen während der Lektüre nicht erspart bleiben dürfte. Der Band ist Auftakt einer insgesamt sechsteiligen „Geschichte der Antike“ (von der bis dato fünf Bände erschienen sind); es ist nicht unwahrscheinlich, dass der ein oder andere Band dieser Reihe hier noch besprochen werden wird.
Elke Stein-Hölkeskamp: Das archaische Griechenland. Die Stadt und das Meer. C. H. Beck Paperback 6151. München: Beck, 2015. Klappenbroschur, 302 Seiten. 16,95 €.
Es ist bei populären wissenschaftlichen Sachbüchern eher selten der Fall, dass es ihr Autor wagt, das Wir wissen es nicht als die derzeit gültige Antwort auf ein Problem hinzustellen; umso angenehmer, wenn es einem dann doch hin und wieder begegnet. Eric H. Cline, Direktor des Archäologischen Instituts an der George Washington University, gibt in diesem Buch einen umfassenden Überblick über den derzeitigen Kenntnisstand zu Entstehung und Untergang der bronzezeitlichen Kulturen im östlichen Mittelmeerraum.
Mehr als 300 Jahre lang – von der Herrschaft der Hatschepsut ab ca. 1500 v. Chr. bis zum Zusammenbruch nach 1200 v. Chr. – war das Mittelmeer der späten Bronzezeit Schauplatz einer komplexen internationalisierten Welt, in der Minoer, Mykener, Hethiter, Assyrer, Babylonier, Mitani, Kanaaniter, Zyprer und Ägypter miteinander interagierten. Es war eine kosmopolitische und globalisierte Welt, wie es sie in der Geschichte der Menschheit bis heute nur selten gegeben hat.
Cline macht einsichtig, wie sich über mehrere Jahrhunderte hinweg in diesem Gebiet zahlreiche Kulturen entwickelten und komplexe politische und ökonomische Beziehungen miteinander unterhielten. Er schildert dabei ausreichend detailliert und zugleich für den Laien nachvollziehbar, auf welche archäologischen Funde und schriftlichen Quellen sich unser momentanes Bild dieser Epoche stützt. Dabei findet stets eine ebenso zurückhaltende wie sichere Bewertung der vorgeschlagenen Deutungen der Artefakte statt: Cline nennt eine Spekulation eine Spekulation, eine Vermutung eine Vermutung und eine sichere Erkenntnis eine sichere Erkenntnis. Beim Leser entsteht so zugleich sowohl ein reiches Bild der bronzezeitlichen Welt im Großen als auch ein Bewusstsein davon, auf einer wie schmalen Grundlage von Funden bzw. Quellen dieses Bild basiert.
Das eigentliche Problem oder Rätsel der bronzezeitlichen Welt im Mittelmeerraum stellt aber ihr weitgehender Zusammenbruch im 12. Jahrhundert v.u.Z. dar, dem dann die sogenannten Dunklen Jahrhunderte folgen, bis – insbesondere in Griechenland – eine neue Kultur wieder archäologisch und historisch greifbar wird. Seit dem 19. Jahrhundert wird eine kontinuierliche, wissenschaftliche Diskussion über diesen Zusammenbruch der bronzezeitlichen Zivilisation(en) geführt, wobei dafür abwechselnd barbarische Eroberer (eine von den Griechen der klassischen Zeit selbst vertretene These; leider taugen die von ihnen angezeigten Dorer aufgrund der heute bekannten Faktenlage nicht als Täter), Naturkatastrophen (Erdbeben, Vulkanausbrüche), Klimawandel (Dürre), Hungersnöte, Seuchen (die einzige inzwischen wohl nicht mehr vertretene Erklärung, wenn man ihr Fehlen in Clines Buch als Indiz dafür nehmen darf) oder allgemein humane oder organisatorische Degenerationserscheinungen verantwortlich gemacht wurden.
Leider taugen alle diese Gründe nicht, um jeweils für sich allein den Untergang der Zivilisationen des östlichen Mittelmeerraums zu begründen. Die einzige tatsächlich fassbare Gruppe von Eroberern, die sogenannten Seevölker, deren genaue Herkunft und Zusammensetzung bis heute unklar sind, hat sicherlich einige Unruhe und Zerstörung verursacht, ist aber zu unbedeutend, um den ganzen Kulturraum zu destabilisieren. (Im titelgebenden Jahr 1177 v.u.Z. gab es eine Schlacht zwischen besagten Seevölkern und den Truppen des ägyptischen Pharaos Ramses III., in der die Ägypter siegreich blieben; ansonsten spielt das Jahr keine bedeutende Rolle im Buch und markiert höchstens symbolisch den Zeitpunkt des Untergangs der bronzezeitlichen Welt.) Auch hat es nachweislich in dieser Zeit Erdbeben, Trockenheit und Hungersnöte gegeben, doch auch mit ihren Folgen schien man in der Bronzezeit bereits einigermaßen umgehen zu können. Es wurde daher in den letzten Jahren vorgeschlagen, dass die bronzezeitliche Kultur einfach an sich selbst untergegangen ist: Sie soll so komplex geworden sein, dass es einer Reihe von Ereignissen, die jedes für sich genommen nicht ausgereicht hätten, den Untergang herbeizuführen, in der Kombination gelungen ist, das Gesamtsystem Bronzezeit zum Kollaps zu bringen. Es ist Cline hoch anzurechnen, dass er diese Theorie wie folgt einordnet:
Trotz allem kann es auch sein, dass wir mit der Komplexitätstheorie zur Analyse der Ursachen des Kollapses der Spätbronzezeit lediglich einen wissenschaftlichen (möglicherweise sogar pseudowissenschaftlichen) Begriff auf eine Situation anwenden, über die wir schlichtweg nicht genügend wissen, um überhaupt irgendwelche Schlussfolgerungen ziehen zu können.
Wer sich einen Überblick über die Hochzeit der Zivilisation des Mittelmeerraums und des Nahen Ostens in der späten Bronzezeit verschaffen will, dem sei dieses inhaltlich hervorragende, sehr gut lesbare Buch unbedingt empfohlen. Selbst demjenigen, der sich in der Welt der griechischen und ägyptischen Bronzezeit schon einigermaßen auskennt, bietet der präzise und ausgewogene Überblick über die Faktenlage, den Cline liefert, ein so konzises Bild dieser Epoche, wie es sich derzeit geben lässt. Eine der besten Einführungsdarstellungen überhaupt, die ich seit langem gelesen habe.
Eric H. Cline: 1177 v. Chr. Der erste Untergang der Zivilisation. Aus dem Englischen von Cornelius Hartz. Darmstadt: Theiss, 2015. Pappband, 336 Seiten. 29,95 €.
Im Jahr 2008 erschienen zwei Bücher Raoul Schrotts: zum einen eine Übersetzung von Homers „Ilias“ und zum anderen mit unmittelbarem Bezug zu dieser Übersetzung der Band „Homers Heimat“, der einen kleinen Sturm im Wasserglas der Altertumswissenschaften auslöste. Schrott macht sich in diesem Buch in einer komplexen und quellengesättigten Argumentation für die Hypothese stark, Homer als einen kilikischen Autor zu lesen, seine Herkunft und die von ihm verarbeitete lebensweltliche Wirklichkeit also in den östlichen Mittelmeerraum, genauer an die Südost-Küste der Türkei zu verlegen.
Schrotts gerade erschienene „Theogonie“ stellt eine Variation desselben Themas dar: Er liefert zu seiner Übersetzung des Textes einen umfangreichen Anhang, in dem er den Einflüssen nachspürt, den die Mythen des östlichen Mittelmeerraums auf den griechischen Entwurf der Götterwelt gehabt haben könnten. Er behauptet im Falle Hesiods nicht, dass ihm – wie er das für Homer wahrscheinlich machen möchte – eine schriftliche Fassung der verarbeiteten Mythen vorgelegen habe, sondern geht in diesem Fall von einer mündlichen Tradierung der entsprechenden Stoffe aus. Schrott steht mit dieser Sicht, die von einer vielfältigen Verbindung und Verschränkung der diversen Kulturräume des Mittelmeers ausgeht, durchaus nicht allein; er ist nur derjenige, der diese Einsichten außerhalb der reinen Fachdiskussion zuerst thematisiert hat.
Wen die Verknüpfungen der alten Kulturen im Mittelmeerraum interessieren, findet hier reichhaltigen Stoff und Anregungen zur weiteren Lektüre. Verständlicherweise ist auch Schrotts Übersetzung sehr stark von seiner Grundthese beeinflusst. Es kann sich daher hier und da lohnen, eine zweite, konservativere Übersetzung zu Schrotts Text der „Theogonie“ parallel zu lesen.
Hesiod: Theogonie. Übersetzt und erläutert von Raoul Schrott. München: Hanser, 2014. Bedruckter Pappband, bedruckte Vorsätze, 216 Seiten. 19,90 €.
Der Band bietet einen Marsch durch die Geschichte Kleinasiens von den ersten fassbaren archäologischen Spuren bis zur Gründung Konstantinopels als zukünftiger Hauptstadt Ostroms. Angesichts dieses Zeitraums und der Kürze des Bandes darf man nicht zu viel erwarten. Auf vielen Seiten bleibt dem Autor praktisch nichts anderes übrig, als eine gedrängte Chronologie des historischen Ablaufs zu liefern, wobei besonders in der Zeit des Hellenismus die Verhältnisse so komplex sind, dass wenigstens ich der Darstellung ohne einen daneben liegenden historischen Atlas nicht folgen konnte.
Dies wird dann bei der Darstellung der römischen Zeit in Kleinasien wieder etwas besser, wobei aber auch hier der Versuch, gleichzeitig die religiöse Entwicklung des Christentums und die politische Entwicklung Roms zu beschreiben, den Leser letztlich etwas unbefriedigt zurücklässt. Das Dilemma des Autors, einerseits kein wesentliches Details vernachlässigen zu wollen, andererseits nicht mehr als knapp 120 Seiten für seine Darstellung zur Verfügung zu haben, ist dem Text auf beinahe jeder Seite abzulesen.
Dabei handelt es sich bei Kleinasien tatsächlich um einen der spannendsten und spannungsreichsten Kulturräume der Antike, der aber in den großen Überblicksdarstellungen der antiken Geschichte beinahe immer etwas stiefmütterlich abgehandelt wird. Ich selbst bin gespannt, ob ich mir die Zeit nehmen werde, Christian Mareks umfangreiches Buch zum Thema wenigstens auszugsweise zu lesen.
Elmar Schwertheim: Kleinasien in der Antike. Von den Hethitern bis Konstantin. BR 2348. München: C.H. Beck, 22011. Broschur, 128 Seiten. 8,95 €.