E. T. A. Hoffmann: Klein Zaches genannt Zinnober

Mit Klein Zaches genannt Zinnober lieferte Hoffmann 1819 eines seiner beliebtesten Märchen. Erzählt wird die Geschichte um den wun­der­li­chen, kleinen und verwachsenen Zaches, Sohn einer Bäuerin, der das Mitleid der Fee Rosabelverde erregt, die ihn mit einem Zauber belegt, dass alle Welt ihn für einen schönen Jüngling halte und alles Gute und Schöne, das in seiner Nähe geschieht, auf sein Konto gerechnet werde. Mit diesem Zauber ausgestattet, stiftet Klein Zaches unter dem Nom de guerre Zinnober in der Universitätsstadt Kerepes große Verwirrung, besonders zu Lasten der beiden vortrefflichen Studenten Balthasar und Fabian. Zinnober erlangt im Handumdrehen die Gunst des lokalen Fürsten, wird Minister, Ordensträger und Bräutigam der schönen Professoren-Tochter Candida, die gerade eben noch in Balthasar verliebt gewesen war. Zum Glück findet sich aber der Zauberer Prosper Alpanus, der sich als mächtiger denn die Fee erweist und alles wieder in Ordnung zu bringen vermag. Es heißt wohl nicht zu viel zu verraten, wenn ich sage, dass alles so gut ausgeht, wie sich das für ein ordentliches Märchen gehört.

Das Märchen ist nicht ohne die für die Gattung übliche Grausamkeit dem Bösewicht gegenüber, wenn der Leser auch geneigt ist, Hoffmanns Behandlung des kleinen Kerls für ein wenig zu arg zu halten, denn immerhin ist auch er nur ein Getriebener, der versucht, seiner natürlichen Benachteiligung zu entkommen. Hoffmann hat dies selbst wohl so empfunden und so am Ende wenigstens einen Teil des Zaubers wieder restituiert und aus dem Unglück des Sohns das Glück der armen Mutter entspringen lassen.

Was das Märchen über die Standardware der Zeit hinaushebt, ist nicht nur seine hübsche und für Hoffmann typische satirische Behandlung der bürgerlichen Gesellschaft, die nur auf Glanz und Äußerlichkeiten zu blicken versteht, der aber das wahre Wesen der Dinge, die sie bejubeln, gänzlich entgeht, sondern auch die damit verknüpfte milde Kritik am Weltbild der Aufklärung: Nicht nur ist das anfängliche Ausrufen der Aufklärung im Lande völlig wirkungslos, was die mächtigsten Feen und Zauberer angeht – diese tarnen sich einfach als Stiftsfräulein oder Gelehrter –, sondern die Aufklärung hinterlässt auch eine Welt, der alle Herrlichkeit und aller Zauber abgeht, die glanzlos wäre, würde Prosper Alpanus nicht doch heimlich bei der Hochzeit für Glitter, Feuerwerk und Regenbogen sorgen.

Ein wirklich hübsch erfundenes und mit Witz verfasstes Märchen, das einmal mehr Hoffmanns Lieblingsthemen im Gewand eines Phantasus-Kindes in die Welt schickt. Alle, die es noch nicht kennen, mögen sich wenigstens das entsprechende Reclamheft zulegen.

E. T. A. Hoffmann: Klein Zaches genannt Zinnober. Ein Märchen. In: Sämtliche Werke 3. Hg. v. Hartmut Steinecke. Frankfurt: Deutscher Klassiker Verlag, 22011. Leinen, Fadenheftung, zwei Lesebändchen, 1200 Seiten. Diese Ausgabe ist derzeit nur als Taschenbuch lieferbar.

Sade

Sade verdient also besondere Beachtung weder als Schriftsteller noch als sexuell Pervertierter.

Simone de Beauvoir

Sade-Rezeption

Die Person und das Werk des Marquis de Sade sorgen seit über 200 Jahren für intellektuelle Nervosität und moralische Aufregung. Von den einen als eine durchtriebene Zuspitzung der Ideologie der Aufklärung ins Absurde, von den anderen als eine Blütenlese von Obszönitäten gelesen, ist es Sade gelungen, kontinuierlich im Gedächtnis einer Moderne zu verbleiben, deren Wahnsinn er am Horizont seines eigenen Dilettantismus nicht einmal erahnen konnte.

Das vorliegende Buch sammelt theoretische Dokumente der Sade-Rezeption von 1789 bis 2014, wenn man das Nachwort der Herausgeberin mit hinzunimmt. Das Haupt- und Schmuckstück ist Max Horkheimers und Theodor W. Adornos Aufsatz „Juliette oder Aufklärung und Moral“ von 1944, der allerdings Sade gleich so maßlos überschätzt, dass an ihm – Sade, nicht dem Aufsatz – bereits das gesamte Projekt der Aufklärung nahtlos in das Morden der Nationalsozialisten übergeht. Das ist ideologisch hübsch gemacht, findet auch auf einem argumentativen Niveau statt, an das keiner der anderen Essays auch nur annähernd heranreicht, ist aber, tritt man einen Schritt zurück und wendet sich einem der Romane zu, die die Grundlage für solch einen Gedankengang bilden sollen, von erhabener Albernheit. Wenigstens muss man den beiden Autoren zugute halten, dass sie die einzigen sind, die den für Sades Phantasien zentralen Zusammenhang zwischen Macht und Sexualität ernst nehmen, der in beinahe allen anderen Texten höchstens am Rande eine Rolle spielt.

Herauszuheben ist ansonsten noch Thomas de Quinceys Vortrag „Der Mord als eine schöne Kunst betrachtet“, der für sich genommen ein sehr witziger Text, allerdings mit der Sade-Rezeption nur im atmosphärischen Sinne verbunden ist. Von allem anderen war ich eher enttäuscht, wenn ich auch hier und da Schlimmeres erwartet hatte. So war mir beispielsweise das etwas selbstgefällige Geschwätz einer Susan Sontag bei weitem nicht so widerständig wie früher – wahrscheinlich werde auch ich altersmilde. Aber zu oft regieren Sätze wie:

Das Frankreich des 18. Jahrhunderts ist für seine Frivolität bekannt. Die Ausschweifungen der reichen Müßiggänger und Müßiggängerinnen [sic!] kannten keine Grenzen. (Viktor Jerofejew)

So etwas beschleunigt die Lektüre natürlich ungemein. Was der Band aber deutlich werden lässt, ist, dass Sades Dilettantismus den eigentlichen Kern seines Werks bildet: Seine zusammengelesenen Philosopheme, die eklektizistischen, flüchtigen und oft krummen Gedankengänge seiner Philosophie der Folterkammer sind der ideale Nährboden, auf dem jedermann (und auch jede Frau, wenn’s beliebt) seine ganz eigenen Pflänzchen anbauen kann. So ist denn vieles, was über Sade geschrieben wurde, wie Sades Werk selbst: letztlich gänzlich belanglos.

Sade. Stationen einer Rezeption. Hg. v. Ursula Pia Jauch. stw 2115. Berlin: Suhrkamp, 2014. Broschur, 469 Seiten. 20,– €.

Philipp Blom: Böse Philosophen

[…] an unsere eigene Faulheit, an Gleichgültigkeit und intellektuelle Wirrheit.

978-3-446-23648-6Populär und bewusst parteiisch geschriebener biographischer Essay um einige Figuren der Hauptphase der französischen Aufklärung. Das Hauptgewicht der Darstellung liegt auf Denis Diderot, als eigentliches Zentrum der Darstellung benutzt Blom aber den Salon des Baron Holbach, der seit der Mitte des 18. Jahrhunderts einer der wichtigen Orte der intellektuellen Auseinandersetzung in Paris darstellte. Leider erfährt der Leser zu wenig über die allgemeine Pariser Salonkultur dieser Zeit, so dass er sich kein Bild davon machen kann, wie typisch bzw. außergewöhnlich der Salon der Holbachs war. Aber das ist noch das geringste Manko des Buches.

Für ein Buch, das über Philosophen und ihre Ideen berichtet, ist es immer schon ein schlechtes Zeichen, wenn sein Autor die Bedeutung grundlegender philosophischer Termini offenbar nicht kennt: So bedeuten transzendent und transzendental sehr unterschiedliches und können nur in ganz seltenen Fällen synonym verwendet werden. Auch sonst bleibt Bloms Darstellung der philosophischen Inhalte meist völlig unkritisch, entweder getragen von einem begeisterten Pathos oder von scharfer Ablehnung, je nachdem wie es dem Geschmack des Autor gerade entspricht. So ist Bloms Kritik der Positionen Rosseaus, so richtig sie in der Sache auch sein mag, stets durchsetzt mit mokanten und polemischen Bemerkungen, die auf die psychische Verfassung oder die persönliche Lebensführung Rousseaus zielen:

Rousseau war fasziniert von der kindlichen Entwicklung (solange sie sich nicht in seinem Haus vollzog, möchte man hinzufügen)

Nein, man möchte es nicht nur hinzufügen, man fügt es hinzu, und das einzig und allein in polemischer Absicht. Im Gegensatz dazu ist alles, was Diderot tut, wohlgetan. Während Rousseaus Gesellschaftsutopie wegen ihrer diktatorischen Konsequenzen scharf angeprangert wird, werden vergleichbare Ansichten Holbachs und Diderots verharmlosend kommentiert: Befürwortung der Todesstrafe durch Diderot? Naja, er hatte eben kein echtes Interesse an der Frage, und ansonsten hat er auch bedauert, dass so etwas notwendig sei. Und sowieso seien 300 Hinrichtungen pro Jahr in Frankreich ja auch keine so bedeutende Sache gewesen. Immerhin wird Friedrich Melchior Grimms These, dass »das Recht des Stärkeren […] die einzige Legitimität« schaffe, zitiert, bleibt aber unkommentiert stehen, anstatt als gesellschaftspolitische Konsequenz jener Ethik der Lust begriffen und kritisiert zu werden, die Blom zuvor seitenweise in den höchsten Tönen als Alternative zur christlichen Tugendlehre gepriesen hat.

Das Buch scheitert letztlich an den atheistischen und antichristlichen Affekten des Autors. Anstatt die historische Lage Mitte des 18. Jahrhunderts als die wichtige Stufe in der Entwicklung der modernen ethischen Theorien zu begreifen, die sie darstellt, versucht er eine einzelne, höchst disparate philosophische Position dieser Zeit zu verabsolutieren. Dabei legt er höchsten Wert auf den Atheismus der Vertreter dieser Position; selbst David Hume, dem er einen gewissen Rang im philosophiegeschichtlichen Prozess nicht abstreiten kann, muss leider abgewertet werden, da er nur Agnostiker gewesen ist und den Atheismus aus erkenntnistheoretischen Bedenken heraus ablehnte. Es ist dann kein Wunder, dass das, was Blom über die kantische Ethik schreibt, blanker Unfug ist und er über Kant und Hegel ansonsten nur anzumerken weiß, sie seien »wie Heilige verehrt« worden. Weder findet sich eine Auseinandersetzung mit der Lessingschen Geschichtsauffassung – einer der wichtigsten deutschen Reaktionen auf die Ideen der Aufklärung – noch mit der Kantischen Bestimmung der Pflicht. Stattdessen wird dem Leser nahegelegt, eines der pornographischen Romänchen Diderots für eine emanzipatorische Kampfschrift

gegen die Verschwendung der Leben der hinter Klostermauern sequestrierten Frauen, gegen die unnatürliche und »nutzlose Tugend« des Zölibats, gegen unterdrückte Leidenschaft und kirchliches Dogma

halten zu sollen. Diderot hätte mit der Leidenschaft der von ihm imaginierten Nonnen sicherlich besseres anzufangen gewusst.

Auch geistesgeschichtlich bleibt Bloms Darstellung naiv: So scheint ihm jeglicher Sinn dafür zu fehlen, dass die im 18. Jahrhundert zum paradigmatischen Referenzbegriff werdende Natur nur eine Metapher mehr ist, aus der die sich emanzipierende bürgerliche Kultur ihre Berechtigung, ja, Überlegenheit abzuleiten versucht. Es handelt sich bei der Natur des 18. und frühen 19. Jahrhunderts eben nicht um einen objektiven Gegenstand empirischer Forschung, sondern um ein inhaltlich höchst flexibles metaphysisches Konzept, das dazu dient, das propagierte neue Menschenbild als unverfälscht und echt auszuzeichnen. In diesem Sinne hätte auch der Terminus Naturwissenschaft bzw. Wissenschaft historisch eingeordnet werden müssen, anstatt stillschweigend so zu tun, als bestehe zwischen unserem Konzept empirischer Forschung und dem des 18. Jahrhunderts eine ungebrochene Kontinuität.

Und nicht zuletzt muss Blom darin widersprochen werden, das Erbe dessen, was er radikale Aufklärung nennt, sei vergessen worden. Das eben ist es nicht, sondern es ist im Prozess der historischen Entwicklung zur Moderne aufgehoben worden. Dass es in seiner kompromisslosen Idealität und Radikalität für die heraufziehende bürgerliche Gesellschaft unbrauchbar war, erkennt sogar Blom an. Und der Glaube, dass die von Blom angepriesene Ethik der Lust praktisch überhaupt geeignet sei, eine funktionierende Gesellschaft zu begründen, setzt ein so illusionäres Menschenbild voraus, dass selbst Blom an jenen Stellen Bedenken zu hegen scheint, an denen sich seine radikalen Aufklärer in allzumenschliche Affären und Streitigkeiten verwickeln.

So bleibt Bloms Darstellung bei aller Detailkenntnis leider polemisch und geschmäcklerisch und kann außer für jene, die darin bestätigt finden wollen, was sie ohnehin schon immer denken, nicht empfohlen werden.

Philipp Blom: Böse Philosophen. Ein Salon in Paris und das vergessene Erbe der Aufklärung. München: Hanser, 2011. Pappband, Lesebändchen, 400 Seiten. 24,90 €.

Patrick Bahners: Die Panikmacher

978-3-406-61645-7Die in diesen Zeiten der religiösen Hysterie, von denen ich noch vor 15 Jahren behauptet hätte, dass sie nie wieder zurückkehren würden, notwendige Stimme der Vernunft. Bahners beschäftigt sich sachlich, manchmal zu sachlich, mit den Herr- und Frauschaften Sarrazin, Kelek, Broder, Schwarzer, Irmer und was der Gestalten mehr sind. Ein prickelndes Buch ist dabei nicht gerade herausgekommen, denn die bekämpften Dummheiten wiederholen sich rasch und die Argumentationslinien und –fronten sind relativ schnell klar. Ich selbst hätte mir gewünscht, dass Bahners ein stärkeres Gewicht auf die historische Genese der jetzigen Situation legen würde und sich nicht als letzte Ressource zumeist auf das Grundgesetz zurückzieht. Warum, frage ich mich, reden in der jetzigen Situation nur so wenige über Lessing und die deutsche Aufklärung? Und dann sind auch noch die Hälfte davon konservative Katholiken. Ist die Ringparabel und das, was sie meint, tatsächlich so spurlos an all den deutschen Abiturienten vorbeigerauscht? Überlassen wir den Anspruch, in der Tradition der Aufklärung zu stehen, tatsächlich so Nasen wie Matthias Matussek?

Es ist nur zu hoffen, dass Bahners Buch wenigstens halb so viele Leser findet, wie Sarrazins Buch Käufer hatte. Es ist aber zu befürchten, dass die Stammtisch-Schwätzer dieses Thema noch für lange Zeit besetzt halten werden.

Patrick Bahners: Die Panikmacher. Die deutsche Angst vor dem Islam. Eine Streitschrift. München: C. H. Beck, 2011. Pappband, 320 Seiten. 19,95 €