The Book

Cover englisch

“The Book” ist eines der merkwürdigsten Buchprojekte, das mir seit längerem untergekommen ist (wahrscheinlich seit „Das Schiff des Theseus“). Folgt man dem Untertitel, so handelt es sich um den „ultimativen Wegweiser zum Wiederaufbau einer Zivilisation“, was natürlich höchstens ironisch gelesen werden kann. Es handelt sich um eine Sammlung von um die 200 großformatigen, auf alt getrimmten Doppelseiten (22,5 cm × 33,5 cm pro Seite, also deutlich über DIN A4), die jeweils einem Thema gewidmet, graphisch gestaltet und strukturiert und durch Texte ergänzt sind. Wer sich einen Eindruck von den Seiten verschaffen möchte, kann sich auf der extra für das Buch erstellten Webseite umschauen. Der Vertrieb soll wohl hauptsächlich über Direktbestellungen via Internet erfolgen, “The Book” ist aber auch ganz normal über den Buchhandel zu beziehen.

Wenn man das Buch nur als graphisches Projekt (es wird weder ein Autor noch ein Übersetzer des Buches genannt) oder als Coffee table book anschaut, ist es ganz nett geraten und zeigt einige hübsche Einfälle. Mehr als das enthält es leider nicht. Sprich: Die Texte sind durchweg einfältig und sagen beinahe nichts aus (es ist wenigstens in der deutschen Ausgabe nicht einmal gelungen, den Text druckfehlerfrei zu halten). Auch die thematische Auswahl, die ja dem Wiederaufbau einer Zivilisation dienen soll, ist doch eher merkwürdig. So gibt es einen Abschnitt „Militär“ mit den Themenseiten „Kampfkunst | Nahkampfwaffen | Rüstung und Kettenhemden | […] Schusswaffen | Panzer | Coilguns“ – dies alles scheint also zum Aufbau einer Zivilisation unabdingbar; wir planen bei ihrem Aufbau gleich ihre Zerstörung im nächsten Zyklus mit ein. Der Abschnitt „Mensch“ enthält Seiten zu „Atmung | Meditation | Selbstoptimierung | Yoga | Qigong | Träume | Psychotherapie“; leider wird uns nicht wirklich erklärt, wie wir unsere Träume wieder aufbauen werden, aber dass es auch in der kommenden Zivilisation Psychoanalytiker (Sigmund Freud wird explizit abgebildet) geben wird, ist natürlich beruhigend.

Man merkt rasch, dass das Ganze in der Hauptsache von der Seite des oder der Graphiker her entworfen worden ist. Angenehm ist, dass der bei der Vorstellung von Zivilisation sich leicht einstellende Eurozentrismus wenigstens abgemildert ist, wenn auch der sogenannte Globale Süden natürlich zu kurz kommt; aber wenigstens China und Japan sind einigermaßen vertreten. Ein ganz hübsches, wenn auch gänzlich harm- und inhaltsloses Verschenkbuch, nett anzuschauen, nett zu vergessen.

The Book. Der ultimative Wegweiser zum Wiederaufbau einer Zivilisation. Köln: WE MIND PUBLISHING, 2024. Bedruckter Leinenband, Fadenheftung, Lesebändchen, 409 großformatige Seiten (22,5 cm × 33,5 cm). 120,– €.

Bram Stoker: Das Geheimnis der See

Augen, die in der Lage sind, die Oberfläche der Dinge zu durchdringen, können vielleicht auch sehen, was dahinter vorgeht.

Abbildung Schuber

Bram Stoker ist als Schriftsteller das, was in der Musikbrache ein „One Hit Wonder“ genannt wird. Wie es um seinen Rang als Schriftsteller bestellt ist, zeigt, dass mehr als eine Biographie über ihn gleich in der Titelei auf seinen Roman „Dracula“ hinweist, damit der Käufer den Namen auch sicher einordnen kann. Und es kann ganz eindeutig festgestellt werden, dass Stoker heute, wie so viele Unterhaltungsschriftsteller seiner Generation, komplett vergessen wäre, wenn er nicht in diesem einen Buch zufällig auf einen Archetyp des kindlichen Gruselns gestoßen wäre.

Nun hat sich der mare Verlag, der auf Bücher über das Meer ein wenig spezialisiert ist, entschlossen, Stokers „Das Geheimnis der See“ von 1902 herauszugeben; ich vermute fast, dass es sich um die Erstübersetzung des Romans handelt – und so ist er denn auch. Das Buch stellt nach dem Motto des Goetheschen Theaterdirektors „Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen“ eine Melange aus allen um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert populären Formen der Unterhaltungsliteratur dar: ein wenig Schauerroman mit Geistern und 2. Gesicht, ein wenig Liebesroman mit einer reichen amerikanischen Erbin, ein wenig historischer Roman um die Spanische Armada (die reiche Erbin heißt auch noch absichtlich Drake mit Nachnamen), ein wenig politischer Roman um den Spanisch-Amerikanischen Krieg, ein wenig Verschwörungsroman, in dem die Spanier versuchen, Miss Drake umzubringen, die sich mit ihrem Geld in den Krieg eingemischt hat, ein wenig Schatzsuche nach einem verlorenen spanisch-katholischen Schatz, der von einem Spanier in Schottland versteckt worden ist, ein wenig Detektiv-Roman, in dem ein äußerst schwieriger Code geknackt werden muss, um den Ort des Schatzes herausfinden zu können (zum Glück oder Unglück geht das offenbar nicht mit dem schon erwähnten 2. Gesicht!), ein wenig Abenteuer-Roman, denn der Schatz kann natürlich nur unter den größten Gefahren für die beiden Liebenden gehoben werden.

Nun könnte sowas eventuell gelingen, wenn es ein souveräner Schriftsteller mit der nötigen Ironie versuchen würde, aber leider ist Bram Stoker genau das nicht. Alle Details des Romans tauchen genau an der Stelle auf, an der sie gebraucht werden; nicht einmal seine aus äußerster Not zu rettende Herzensdame darf der Ich-Erzähler wenigstens 20 Seiten vor der Rettung etwa aus einer Kutsche steigen sehen. Und dass sich der Erzähler als Kind mit Kryptographie die Zeit vertrieben hat, erfahren wir keine einzige Zeile früher, als er mit seiner Meisterleistung des Codeknackens beginnt, die selbst dann völlig im Allgemeinen bleibt – so kann jeder Protagonist ein Sherlock Holmes sein. Auch die Dialoge werden über Seiten hin ohne jegliche Voraussicht vor sich hin erfunden und sind entsprechend belanglos. Da wundert es dann auch nicht (wenigstens mich nicht), dass Stoker zu faul war, in den Kalender von 1897 zu schauen und deshalb in der Nacht zum 1. August einen Vollmond scheinen lässt. Kurz: Das Ding ist eine flüchtig hingesudelte Scharteke, wie es sie zu jeder Zeit gegeben hat, und wäre besser vergessen geblieben.

Einzig zu loben ist die Ausstattung des Bandes: Der bedruckte Leinenband mit Fadenheftung nimmt die Gestaltung der englischen Erstausgabe auf und liegt gut in der Hand. Wenn nur der Rest danach wäre!

Bram Stoker: Das Geheimnis der See. Aus dem Englischen von Alexander Pechmann. Hamburg: Mare, 2024. Bedruckter Leinenband im Schuber, Fadenheftung, Lesebändchen, 539 Seiten. 48,– €.

Wilhelm Raabe: Unruhige Gäste

Eine fatale Geschichte! wahrhaftig, eine nette Dorfidylle!

Cover

„Unruhige Gäste“ ist ein später, kurzer Roman Wilhelm Raabes und wurde 1885 im populären Familienblatt „Die Gartenlaube“ in zwölf Folgen veröffentlicht; im Jahr darauf erschien die Buchausgabe bei Grote in Berlin. Mit der Fortsetzungsausgabe erreichte der „Roman aus dem Säkulum“ – so die vom Autor gewählte Genrebezeichnung – ein für Raabe vergleichsweise breites Publikum, das den Roman anfänglich zumeist positiv aufnahm, mit dem Ende aber nicht recht zufrieden war; ich werde noch darauf zurückkommen.

Die Handlung spielt in den 1880er Jahren in einem Minendorf im Harz und einem im Tal darunter gelegenen Kurort, für den offenbar Bad Harzburg das Vorbild war. Über den Charakter des Städtchens als Badeort macht sich Raabe, der Bad Harzburg aus eigenem Erleben kannte, ein wenig lustig:

Dieser beliebte Badeort für Gesunde hatte selten eine so gute Gesellschaft wie diesmal um seine unschädlichen Quellen versammelt gesehen.

S. 90

Zu dieser guten Gesellschaft gehört auch eine Gruppe um Professor Freiherr Veit von Bielow, der das Bad offenbar mit seiner Verlobten in spe Valerie, deren Vater und einer Gruppe von jungen Leuten besucht. Beim Ausflug in das in den Bergen gelegene Dorf macht er einen Abstecher ins Pfarrhaus, um dort seinen ehemaligen Kommilitonen, den in Gott verbitterten Pastor Prudens Hahnemeyer aufzusuchen, den er seit der Studienzeit nicht mehr gesehen hat. Hahnemeyer lebt zusammen mit seiner Schwester Phöbe, einer 20-jährigen Lehrerin und Krankenpflegerin, die sich in der Gemeinde und im Pfarrhaus nützlich macht. Den eigentlichen Erzählanlass bildet der Tod von Anna Fuchs, die gerade an dem Tag stirbt, als von Bielow im Dorf eintrifft. Anna Fuchs war am Typhus erkrankt und wurde zusammen mit ihrem im Dorf ohnehin nur mäßig beliebten Mann Volkmar und ihren beiden Kindern zu einer ärmlichen Existenz in einer notdürftigen Hütte am Dorfrand gezwungen. Nun will man die Tote möglichst rasch unter die Erde bringen, doch Volkmar in seiner Trauer und seinem Zorn auf die Gemeinde verweigert die Herausgabe der Toten, die er lieber im Wald verscharren will, als es zuzulassen, dass sie zusammen mit jenen, die sie verachtet haben, auf einem Friedhof liegen soll.

Es gibt nun mehrere Versuche, Fuchs zur Vernunft zu bringen, die aber alle scheitern: Weder die Drohungen des Ortsvorstehers, noch die Ermahnungen des Pastors helfen; erst als Phöbe, die sich aufopferungsvoll um die Kranke gekümmert hatte, zusammen mit von Bielow noch einmal die Hütte aufsucht, gelingt der Durchbruch, als von Bielow spontan anbietet, drei nebeneinanderliegende Grabstellen zu erwerben, in denen Anna – in der Mitte – bewacht von Phöbe und ihm selbst die letzte Ruhe finden soll. Völlig überrascht und überwältigt von der Zustimmung Volkmars zu diesem Vorschlag, erklärt sich auch Phöbe einverstanden. Nach der Beerdigung geht von Bielow wieder hinab in den Kurort zu der Gesellschaft, zu der er gehört.

Damit beginnt die zweite Hälfte des Romans, in deren Zentrum die Erkrankung von Bielows am Typhus steht. Wieder im Kurort angekommen, muss von Bielow sehr rasch und gegen seinen Willen die Geschichte um das Begräbnis der Anna Fuchs und der dreifachen Grabstelle erzählen. Valerie ist von dieser Festlegung von Bielows auf eine letzte Ruhestätte so betroffen und in Furcht versetzt, dass sie selbst hinauf ins Dorf reitet, Volkmar und Phöbe – in der sie eine Konkurrentin um die Liebe von Bielows zu haben fürchtet – kennenlernt und sich den Friedhof zeigen lässt. Es kommt zu einer Art von Aussprache zwischen den beiden Frauen, und als Valerie abends ins Tal zurückkommt, muss sie erfahren, dass inzwischen von Bielow selbst an Typhus erkrankt ist.

Merkwürdigerweise wird nun nicht das Klischee umgesetzt, dass sich Valerie am Krankenbett Veits zum großen, entsagenden Vorbild der Phöbe hinauf arbeitet, sondern ganz in Gegenteil flieht die Gesellschaft um Valerie den Kurort, von Bielow wird in ein aufgelassenes Siechenspital am Rande des Städtchens verbannt und dort vom lokalen Doktor, Phöbe und Dorette – einer spät eingeführten, aber nichts weniger als unbedeutenden Nebenfigur – gepflegt. Nur dass Veit von Bielow dem Tod entgeht und nach einer Woche Phöbe wieder ins Pfarrhaus zurückkehrt, wird uns erzählt. Und dann schließt Raabe einen ganz merkwürdigen Schluss an: Im nächsten Frühjahr erreichen das Pfarrhaus zwei Briefe. Zum einen von Dorette an Phöbe, in dem ein schlichtes Gemüt die Erlebnisse der Woche der Pflege von Bielows und die Freundschaft der beiden Frauen reflektiert. Zum anderen von dem in Sizilien sich nur langsam erholenden Veit von Bielow und seiner Gattin Valerie, die ihre Flitterwochen zu einem Genesungsurlaub verlängert haben.

Wer die Romane kennt, die im Umfeld um „Unruhige Gäste“ entstanden, wird begreifen, dass ein Gutteil der Leser der „Gartenlaube“ mit einem solchen Ende nur wenig zufrieden sein konnten. Weder wird der durch die Flucht Valeries inszenierte Konflikt auch nur angesprochen, sondern die beiden werden einfach verheiratet, noch findet die aufopferungsvolle Liebe Phöbes, die durch die Persönlichkeit von Bielows doch für den Moment heftig aus dem Gleichgewicht geraten war, eine Auflösung. Stattdessen wird Volkmar Fuchs zu einem angesehenen Mitglied der Gemeinde, nachdem er – offenbar durch die Protektion von Valeries Vater – zu einer Anstellung als Forstwart gekommen ist. Aber eine der üblichen, kunstfertigen Abrundungen darf von Raabe im Ernst nicht erwartet werden.

Neben dem hier Nacherzählten hat der Roman noch die eine und andere knorrige Nebenfigur, wie man sie ähnlich nur in den Romanen von Charles Dickens finden wird. Für seine nur knapp 180 Seiten macht das Buch ein erstaunlich breites Gesellschaftspanorama auf. Und es enthält viel von der Welt, wie sie sich Raabe gezeigt hat.

Jeder für den Mist vor seine Kellerlöcher, und unser Herrgott fürs Ganze!

S. 158

Wilhelm Raabe: Unruhige Gäste. Ein Roman aus dem Säkulum. In: Werke. Kritische kommentierte Ausgabe. Göttingen: Wallstein, 2024. Pappband, Fadenheftung, 235 Seiten. 26,– €.

Alexandre Dumas: Georges

Der Zufall hatte es glücklich gefügt, …

Mit der Besprechung dieses für ihn vergleichsweise kurzen Romans beende ich vorerst meine kleine Dumas-Reihe. Er ist 1843 veröffentlicht worden und spielt auf Mauritius, einer Insel, die im 18. und 19. Jahrhundert wechselhafte koloniale Herrscher hatte. Der Handlungsknoten wird im Jahr 1810 bei der Eroberung der Insel durch die Engländer geknüpft: Pierre Munier, einer der reichsten Plantagen-Besitzer der Insel, wird von seinen rein europäisch-stämmigen Kollegen als Mitstreiter gegen die anrückenden Engländer abgelehnt, obwohl er sich dann im Kampf natürlich aufs Beste bewährt und überhaupt der tollste Kerl ist. Nach einem Konflikt seiner beiden Söhne mit dem Sohn des Anführers der Europäer, entzieht er die beiden weiteren Drangsalierungen, indem er sie nach Europa zur Erziehung schickt. Vierzehn Jahre später kehren beide nach Mauritius zurück, der eine als vollendeter Gentleman, der andere als Pirat und Sklavenhändler.

Der Titelheld Georges reist gleich zusammen mit dem englischen Gouverneur an und bleibt zuerst unerkannt. Wie schon gesagt, ist er der vollendete Gentleman, der alle Charaktereigenschaften, die es dafür braucht, in sich vereint: Reichtum, Araberhengste und Arroganz. Nach eigener Aussage ist er nach Mauritius zurückgekommen, um ein Vorurteil zu bekämpfen; wie er das machen will, bleibt ihm selbst, dem Autor und den Lesern vollständig unverständlich. Tatsächlich erklärt er Sara, der Cousine und Verlobten seines Kindheits-Feindes, nach nur drei Begegnungen (bei deren einer er ihr immerhin das Leben rettet, als sie vom Autor dazu bestimmt scheint, von einem Hai gefressen zu werden) ihre weibliche Vollkommenheit und seine ewige Liebe. Der folgende Heiratsantrag wird, wie erwartet, von ihrem Onkel abgelehnt. Und nun nimmt das Schicksal erbarmungslos seinen Lauf.

Dazu gehört ein Sklavenaufstand, dessen Ausgang eines der übelsten rassistischen Klischees bedient, die man in der Weltliteratur finden wird. Es ist überhaupt ein Witz, dass diese Abenteuer-Scharteke als der politische Roman Dumas’ beworben wird. Sicherlich möchte Dumas ganz pro domo Menschen mit nicht vollständig europäischer Herkunft wie Europäer behandelt wissen, solange sie reich und gebildet genug sind, um zur feinen Gesellschaft dazuzugehören, aber weder hat er grundsätzliche Probleme mit der Sklaverei und dem Sklavenhandel noch hält er die Masse der Sklaven „von Natur aus“ für derselben Ehre fähig.

Ein üblicher Abenteuer-Roman des 19. Jahrhunderts, eher schlecht als recht konstruiert, mit einem oberflächlich kritischen Anstrich, ohne dass es tatsächlich zur Kritik oder auch nur Darstellung konkreter sozialer Verhältnisse kommt. Alles, was an Elend und Ungerechtigkeit im Roman vorkommt, scheint eine Frage der Ehre, nicht der moralischen, sozialen und monetären Verhältnisse zu sein. Natürlich wohnen die Sklaven in Hütten, die der Sturm einfach wegfegt, aber wenige Tage später können sie schon wieder fröhlich feiern und saufen. Ganz und gar fürchterlich!

Alexandre Dumas: Georges. Aus dem Französischen von Friedrich Ramhorst (1890). Berlin: Comino, 2020. Broschur, 224 Seiten. 12,90 €.

Alexandre Dumas: Die drei Musketiere

»Nun«, sprach Rochefort, »das ist abermals so ein Zufall, der dem anderen die Stange halten kann. […]«

Dieser Fortsetzungsroman entstand 1844 unmittelbar vor „Der Graf von Monte Christo“, und fällt im direkten Vergleich mit diesem deutlich ab. Zwar nimmt das Buch im letzten Viertel deutlich an Fahrt auf, und seine Konstruktion wird subtiler, aber es erreicht nicht die dichte Verflechtung seines Personals in die zentrale Intrige (hier sind es am Ende gleich zwei Intrigen, die über die Strecke helfen müssen), die „Der Graf …“ auszeichnet. Es fehlt ein sich über den gesamten Text erstreckender Plan; der Mittelteil der Erzählung besteht in der Hauptmasse aus rein anekdotischem Füllstoff, der die Leser unter- und hinhalten soll, bis es Zeit ist, das durchaus furiose Ende auszupacken.

Mit „Die drei Musketiere“ liefert Dumas ein französisches Pendant zu dem in England von Walter Scott erfolgreich begründeten Historischen Roman, der eine sogenannte spannende Handlung vor einen historischen Hintergrund setzt, der den Lesern mehr oder weniger vertraut ist. Bei Dumas dient dazu die Regierungszeit Ludwig XIII., den er ganz traditionell als einen schwachen König unter der Fuchtel des intriganten Kardinals Richelieu vorführt. Der Handlungszeitraum sind die Jahre 1625 bis 1628; der zweite Teil der Handlung fällt in die Zeit der Belagerung von La Rochelle.

Im Zentrum der Handlung steht der junge Gascogner d’Artagnan, der sich aufmacht, um in Paris Musketier zu werden, und dessen hauptsächliche Charaktereigenschaft ist, sich bei jeder Gelegenheit zu duellieren. Auf diese Weise macht er auch Bekanntschaft mit dem titelgebenden Trio Athos, Porthos und Aramis, mit denen zusammen er sogleich in eine staatsumstürzende Intrige verwickelt wird. Besonders dieser erste Teil der Erzählung ist zahlreich verfilmt worden; auf eine Verfilmung des zweiten, dunkleren und voraussetzungsreicheren Teils hat man in der Regel klugerweise verzichtet. Allerdings muss man Dumas einräumen, dass seine Einbeziehung der Ermordung des Herzogs von Buckingham in die Handlung, so unwahrscheinlich seine Konstruktion auch immer sein mag, ein kleines schriftstellerisches Meisterstück bildet. Ansonsten ist auch diesem Buch die Geschwindigkeit anzumerken, mit der Dumas arbeiten musste, so dass es Flüchtigkeitsfehler – so wird etwa d’Artagnan gleich zweimal zum Musketier gemacht (S. 360 und 544) – bis in die Buchausgabe geschafft haben.

Dumas hat zu diesem Erfolgsroman gleich zwei Fortsetzungen von jeweils etwa gleicher Länge geliefert – „Zwang Jahre später“ (1845) und „Der Vicomte von Bragelonne“ (1847) –, mit denen er dem Interesse des Publikums des 19. Jahrhunderts an Historischen Romanen entgegenkam. Ob ich diese Teile, die ich nicht bereits gelesen habe, ebenfalls hier besprechen werde, ist derzeit noch nicht entschieden.

Es ist in jedem Fall zu empfehlen, „Die drei Musketiere“ vor oder mit einigem Abstand zu „Der Graf von Monte Christo“ zu lesen; man kann alternativ auch die Kapitel 29 bis 42 getrost querlesen, ohne viel zu versäumen. Auch dieser Ausgabe liegt die Übersetzung von August Zoller (1845) zugrunde, die hier ebenfalls modernisiert, aber nicht gekürzt wurde.

Alexandre Dumas: Die drei Musketiere. Aus dem Französischen von August Zoller. Neu überarbeitet von Michaela Meßner. dtv 14765 (Neuausgabe 2020). München: dtv, 22024. Broschur, 748 Seiten. 15,– €.

David Gerrold / Larry Niven: Die fliegenden Zauberer

Purpur stand außerhalb aller menschlichen Erfahrung. Das Unglück war geschehen, weil wir ebenso falsche Vorstellungen über ihn hatten wie er über uns.

Bei der Suche nach einer der nächsten Lektüren bin ich in einer zweiten Reihe auf lang vergessene Science-Fiction-Bücher gestoßen, die ich offensichtlich beim letzten Umzug vor über 20 Jahren nicht entsorgen wollte, die aber auch nicht in den Vorzug kamen, in der ersten Reihe des Regals aufgestellt zu werden. Darunter finden sich auch vier Romane von David Gerrold, der – als ich so etwas noch hatte – einer meiner liebsten Science-Fiction-Autoren gewesen ist. Gerrolds Bücher, oft mit Co-Autoren verfasst, zeichnen sich fast immer durch ungewöhnliche Themen oder zumindest ungewöhnliche Perspektiven auf klassische Themen der Science-Fiction aus; bei dem hier besprochenen „Die fliegenden Zauberer“ kommt hinzu, dass es sich um einen der seltenen humoristischen Romane des Genres handelt.

Erzählt wird aus der Ich-Perspektive eines Bewohners eines wahrscheinlich weit von der Erde entfernten Planeten. Der Planet befindet sich in einem Doppelsternsystem, das wiederum von einer dichten Wolke kosmischen Staubs umgeben ist, so dass die Bewohner des Planeten über ihr Planetensystem hinaus nichts vom Universum wissen. Erzählanlass ist die Landung einer Raumfähre, die einen einzelnen Menschen auf den Planeten bringt, vorgeblich einen Anthropologen, der sich allerdings als das dümmstmögliche Exemplar seiner Zunft erweist. Purpur, wie die Eingeborenen den Menschen aufgrund eines Übersetzungsfehlers von dessen Universalübersetzer nennen (der Witz wird auf den letzten 50 Seiten dann noch erklärt), wird aufgrund seiner technischen Überlegenheit sogleich der Zunft der Zauberer zugeordnet, was ihn dummerweise in direkte Konkurrenz mit dem lokalen Zauberer Shoogar bringt. Dieser sieht sich durch die Tradition zu einem Zauber-Duell genötigt, in dessen Verlauf er die Raumfähre Purpurs zerstört; Purpur verschwindet in der stark beschädigten Fähre Richtung Süden.

Als unangenehmer Nebeneffekt des Duells wird auch das Dorf der Einheimischen und dessen Umgebung weitgehend unbewohnbar, und die Dorfbewohner ziehen ebenfalls nach Süden, vor dem in dieser Jahreszeit stetig steigenden Meer fliehend. Nach langer Zeit treffen sie auf ein Dorf und – was für ein Zufall! – Purpur, der mit seiner abstürzenden Fähre den Dorf-Zauberer getötet und seine Stelle eingenommen hat. Purpur spricht inzwischen die lokale Sprache einigermaßen fließend; sein Hauptproblem besteht darin, dass er sich zu weit südlich befindet, um sein Mutterschiff zur Landung zu veranlassen (offenbar befindet er sich komplett allein auf einer interstellaren Forschungsreise!). Da sich nach Norden hin inzwischen das Meer ausgebreitet hat, kommt er zu der Einsicht, dass er ein Fluggerät bauen muss, um weit genug in den Norden zurückkehren zu können. (Alle diese Voraussetzungen sind etwas dünn, denn die Einheimischen verfügen durchaus schon über Boote; diese entsprechend weiterzuentwickeln, wäre sicherlich einfacher als das, was Purpur nun unternimmt.) Die fortgeschrittenste Maschine, die Purpur vorfindet, ist das Fahrrad. So beginnt er zusammen mit den beiden Fahrradbauern Wilville und Orbur (die Wortspiele sind Absicht!) eine steuerbares, durch Wasserstoff-Ballons in der Luft gehaltenes Luftschiff zu entwickeln, für dessen Herstellung aber die gesamte lokale Kultur industrialisiert werden muss. Dies ist das eigentliche Thema des Romans.

Der genaue Ablauf und die zu überwindenden Schwierigkeiten müssen hier nicht geschildert werden. Der Roman arbeitet nach dem nur zu verbreiteten Muster „was wahrscheinlich passiert, wenn etwas Unwahrscheinliches passiert“, führt sein Thema aber leicht und angenehm durch und ist auch nach über 50 Jahren immer noch eine witzige und intelligente Lektüre für ein Wochenende. Das englische Original ist lieferbar; die deutsche Übersetzung derzeit bloß als eBook bzw. antiquarisch. Für alle, die Gerrold nicht oder nur als Script-Autor des Star-Trek-Univers kennen, auf jeden Fall ein Tipp.

David Gerrold & Larry Niven: Die fliegenden Zauberer. Übersetzt von Yoma Cap. Heyne SF 3489. München: Heyne, 1976. Broschur, 352 Seiten. Derzeit nur als eBook für 7,99 € lieferbar.

Alexandre Dumas: Der Graf von Monte Christo

»Merken Sie sich Herr Intendant«, entgegnete er, »daß alles und immer an denjenigen verkauft wird, der den rechten Preis zu bezahlen vermag.«

Dass dieser Roman hier frech unter der Rubrik Wiedergelesenes angezeigt wird, ist wahrlich eine Übertreibung. In der mütterlichen Bibliothek fand ich eine Ausgabe des Romans, die so um die 400 Seiten gehabt haben dürfte und die von einem Burkhard Busse angeblich „in Sprache u. Orthographie in e. zeitgemäße Form gebracht“ worden war. Die hier vorgestellte „vollständige Ausgabe“ – ob diese Beschreibung tatsächlich zutrifft, ist bei dtv auf Anhieb nicht immer zu entscheiden – verfügt über knapp 1.500 und noch dazu eng bedruckte Seiten. Grundlage ist wohl die Zollersche Übersetzung von 1846, die also unmittelbar nach dem Erscheinen des Romans im französischen „Journal de Débats“ erfolgte, was noch heute eine Vorstellung davon gibt, was für eine Sensation der Roman bei seinem Erscheinen gemacht haben muss.

Was das Buch erzählt, ist einerseits rasch zusammenzufassen: Der Seemann Edmond Dantès aus Marseilles gerät aufgrund seiner Naivität ungewollt in die Verschwörung um Napoleons Rückkehr von der Insel Elba und wird durch ein Zusammentreffen boshaft herbeigeführter Umstände vom stellvertretenden Staatsanwalt in Marseilles ohne Prozess zu einer zeitlich unbegrenzten Haft auf einer Gefängnisinsel verurteilt. Als er nach 14 Jahren endlich fliehen kann, gerät er durch einen weiteren Zufall in den Besitz eines potenziell unbegrenzten Vermögens, mit dessen Hilfe er seine Rache in Szene zu setzen beginnt. Nach etwa einem Drittel erreicht Dantès als Graf von Monte Christo, einer seiner drei hauptsächlichen Tarnidentitäten, Paris, wo der mehr als erfolgreiche Vollzug seiner Rache an den vier Hauptbeteiligten beinahe den kompletten Rest des Romans füllt. Andererseits müsste man, um den zum Teil haarsträubenden Beziehungen und Verwicklungen der Figuren und Ereignisse zu- und untereinander gerecht zu werden, zahlreiche Seiten füllen. Das Buch strotzt nur so von Unwahrscheinlichkeiten – selbst Dumas macht sich auf den letzten Seiten über diese Zumutung lustig –, die als ein von Dantès’ langer Hand ausgetüftelter Plan verkauft werden. Dantès versteht seine Rache dabei als Mission from God (dies dürfte einer der offensichtlichen Gründe gewesen sein, weshalb Dumas’ Schriften 1863 auf dem Index gelandet sind), woran ihm zwar zwischenzeitlich Zweifel kommen, von denen ihn aber sein Autor glücklich gleich wieder befreien kann.

Der Umfang des Buches ergibt sich nicht nur aus den Verwicklungen der Handlung, sondern auch daraus, dass sich Dumas als ein Meister der Retardation erweist: Immer wieder tauchen neue Figuren im Text auf, denen auf umständlichste Weise erklärt werden muss, was bisher geschah (manche Episoden der Fabel werden gleich vier- oder fünfmal erzählt); alle Gespräche werden auf die umständlichste aller möglichen Weisen geführt (die Spitze stellt wahrscheinlich das Gespräch zwischen Dantès und Maximilien in Kapitel 94 dar, in dem der junge Liebhaber Maximilien von seiner vergifteten Liebe Valentine zu Monte Christo um Hilfe eilt, nur um zuerst seitenweise belangloses Gewäsche zu erzeugen, bis er auf den Punkt kommen kann); Handlungsfäden werden auf komplizierteste Weise in Gang gesetzt, nur um dann kurz vor ihrem Abschluss noch einmal umgebogen und in eine andere Richtung weiterentwickelt zu werden und was der Späße mehr sind. Wenn man als Leser nicht atemlos dem Abenteuer folgt, sondern sich den Spaß macht, die Absicht all dieser Verzögerungen und Windungen zu verstehen – immer noch mehr Seiten und damit Honorar aus der ohnehin schon viel zu langen Handlung zu schlagen! –, ist das Ganze nicht ohne Vergnügen zu lesen, wie trivial und unwahrscheinlich es auch sein mag. In summa: Einerseits eine hanebüchene Handlung, die im Detail immer wieder unter der notwendigen Flüchtigkeit ihres zu viel und viel zu schnell schreibenden Autors leidet, andererseits eine auch entgegen aller Wahrscheinlichkeit faszinierende Konstruktion.

Neben diesem formalen Aspekt dürften der Anschluss an die historischen Ereignisse der jüngsten Vergangenheit und Dumas’ karikierende Zeichnung der Pariser besseren Gesellschaft wesentlich zu dem Erfolg des Romans beigetragen zu haben: Dantès wird unmittelbar Opfer einer Gesellschaft, die die Verwerfungen ihrer eigenen Zeitgeschichte so weit wie möglich unter den Teppich kehren möchte, um den Ablauf ihrer Geschäfte und Karrieren nicht zu stören. Und er benutzt für seine Rache die Strukturen eben dieser Gesellschaft, in der es an der Oberfläche um Ehre und Ansehen, im Wesentlichen aber immer nur um Geld geht. Dumas erfüllt mit diesem Zeitportrait die beinahe schon moderne Maxime, Kunst gerade dort zu machen, wo man sie am wenigsten erwartet.

Der Roman verdient, in seiner ganzen Komplexität und Trivialität gelesen zu werden. Ich rate daher dringlich davon ab, eine der gekürzten bzw. bearbeiteten Ausgaben zu lesen oder sich mit einer der wirklich zahlreichen Verfilmungen zufrieden zu geben. Wer ein echtes Meisterstück des Fortsetzungsromans – einer der wichtigsten Romanformen des 19. Jahrhunderts – erleben will, greife zu einer möglichst vollständigen Ausgabe wie dieser.

Alexandre Dumas: Der Graf von Monte Christo. dtv 13955. München: dtv, 72019. Broschur, 1495 Seiten. 20,– €.

Joseph Conrad: Nostromo

Jedem sein eigenes Schicksal, geformt von Leidenschaft und Empfindung.

Zum 100. Todestag Joseph Conrads legt Manesse seinen Roman „Nostromo“ (1904) in einer neuen Übersetzung vor. Bereits Conrad selbst hatte das Gefühl, der Roman habe eine neue Epoche in seinem Erzählen eingeleitet, und viele Kritiker sind dieser Einschätzung gefolgt. Der Roman ist denn auch ungewöhnlich genug geraten und braucht eine ganze Weile, bis er in Fahrt kommt, nur um dann seine rattlin’ good story plötzlich wieder abzubrechen und zu einem mehr historisierenden Erzählen zurückzukehren.

Erzählt wird im Wesentlichen von den Ereignissen in und um Sulaco herum, einer fiktiven Hafenstadt im ebenso fiktiven südamerikanischen Staat Costaguana (was soviel wie Palmenküste heißen kann; allerdings hat guano auch noch eine andere Bedeutung). Costaguana zerfällt in eine Zentral- und eine Westprovinz, die durch einen hohen, unwegsamen Gebirgszug voneinander getrennt sind. Sulaco ist zu Zeiten der Segelschiffe aufgrund seiner sehr windstillen Bucht ein eher verschlafener Hafen von untergeordneter Bedeutung, bekommt aber durch die aufkommende Dampfschifffahrt und die erfolgreiche Wiedereröffnung einer lokalen Silbermine eine ganz neue Bedeutung. Die Lizenz zur Ausbeutung der Mine hat Charles Gould, der als Kind in Europa erzogen worden ist und dort auch studiert hat, von seinem englischstämmigen costaguanischen Vater geerbt, und die Mine zu einem Erfolg zu machen, ist ihm ein wenig zur fixen Idee geworden.

Doch Costaguana ist politisch instabil, und die in der Zentralprovinz ansässige rechtsliberale, republikanische Regierung, die selbst durch den Umsturz einer Tyrannei an die Macht gekommen ist, wird wiederum vom Militär gestürzt. In der Westprovinz bricht bei den Landbesitzern und Charles Gould eine milde Panik aus. Zwar schickt man eine zusammen­gewürfelte Armee aus, um sich der Bedrohung entgegenzustellen, aber die revolutionären Truppen halten sich nicht an den Plan der Verteidiger, sondern steuern über See und Berge Sulaco und seinen vermeintlichen Schatz an Silber direkt an. Diesen hat man allerdings kurz vor Ankunft der feindlichen Truppen auf einen Leichter verladen und in stockfinsterer Nacht hinaus in die Bucht geschickt, auf dass er in einen Nachbarstaat gerettet und von dort aus zur Finanzierung der Konterrevolution, vielleicht sogar zum Erringen der staatlichen Unabhängigkeit der Westprovinz dienen möge.

Erst mit diesem Rettungsversuch des Schatzes bekommt nach ca. 240 von 520 Seiten der Titelheld Nostromo endlich seine entscheidende Rolle zugeschrieben. Es handelt sich um einen genuesischen Seemann namens Giovanni Battista Fidanza, der in Sulaco gestrandet ist. Dort ist er aufgrund seines großspurigen und freigiebigen Auftretens und auch wegen seines Erfolgs bei Frauen zu einer Art Volksheld geworden (bei seinem ersten größeren Auftritt gestaltet Conrad ihn als einen Operetten-Don-Juan), der allgemein nur unter seinem Spitznamen Nostromo (einem verschliffenen nostro uomo) bekannt ist. Nostromo, der alles kann und alles wagt, ist der rechte Mann um den Silberschatz in der Nacht herauszuschmuggeln; er hat außerdem noch Martín Decoup an Bord, einen Journalisten und politischen Schwärmer, dem von den heranziehenden Truppen sicher der Tod droht, und einen Blinden Passagier, der an sich nicht weiter von Bedeutung ist, aber noch eine entscheidende Nebenrolle zu spielen hat.

Es ist nicht nötig, die eigentliche Handlung zu referieren und so den Erstlesern die Spannung zu rauben. Wichtig ist nur, dass der Abenteuerroman Episode bleibt. Vorangegangen ist eine gründliche Historie der jüngsten Vergangenheit Costaguanas sowie eine ausführliche Schilderung der Hauptcharaktere und ihrer Vorgeschichten (mit Ausnahme Nostromos, der, wie schon gesagt, in der ersten Hälfte des Buches beinahe nur als Randfigur vorkommt). Dabei ist diese erste Hälfte in einer mäandernden Erzählweise verfasst, die sich von Figur zu Figur hangelt und dabei weder Rücksicht auf eine strenge Chronologie, noch auf Vollständigkeit zu nehmen scheint. Trotzdem entwickelt sich mit der Zeit ein reiches und komplexes Bild Sulacos und seines politischen und gesellschaftlichen Umfeldes. Wie ebenfalls bereits gesagt, endet das Buch ähnlich historisierend wie es anfängt, wenn auch mit einer dramatischen, kaum vorhersehbaren Schlusspointe.

Alles in allem ein außergewöhnlicher Roman, der zwischen Fiktion und alternativer Geschichte, wie man das heute wohl nennt, seinen Weg sucht; ein geadelter Räuberroman, wenn man so will. Die Neuübersetzung ist angenehm zu lesen; an keiner Stelle merkt man ihr an, dass sie von zwei Übersetzern erstellt wurde. Auch haben sich Verlag und Übersetzer nicht dem herrschenden Zeitgeist gebeugt und heute politisch inkorrekte Ausdrücke, die Conrad wie selbstverständlich verwendete, abgeschwächt oder gar überschrieben. Auch sind die den Text durchsetzenden spanischen Wörter stehen geblieben (ein kleines Glossar am Ende hilft jenen, denen das Spanische fremd ist). Einzig, dass man den Untertitel “A Tale of the Seaboard” hat entfallen lassen, hat mich ein wenig irritiert.

Ein durchweg gelungenes Memento zur Feier Conrads!

Joseph Conrad: Nostromo. Aus dem Englischen von Julian und Gisbert Haefs. Zürich: Manesse, 2024. Bedruckter Leinenband, Fadenheftung, Lesebändchen, 536 Seiten. 38,– €.

Der Roman des Freiherrn von Vieren

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Dieses Fragment eines Romans aus dem Jahr 1815 wurde 1926 erstmals aus dem Nachlass Adalbert von Chamissos veröffentlicht. Es umfasst faktisch sieben Kapitel von drei Autoren (Adalbert von Chamisso, Karl Wilhelm Salice-Contessa und Friedrich de la Motte Fouqué) mit in der vorliegenden Ausgabe knapp 50 Seiten; zwar werden acht Kapitel gezählt, aber das fünfte, das einzige von E. T. A. Hoffmann verfasste, fehlt im Manuskript und scheint überhaupt verloren gegangen zu sein. Hoffmann hat es nach der Aufgabe des Projektes offenbar zurückgefordert und als Grundlage für seine Erzählung „Der Doppeltgänger“ (1821) benutzt. Außer Hoffmann hat auch der mit drei Kapiteln beteiligte, heute nur noch literarhistorisch rezipierte Karl Wilhelm Salice-Contessa (1777–1825) aus seinem Anteil am Fragment eine Veröffentlichung erzeugt: „Das Bild der Mutter“ (1818). Beide Verarbeitungen werden in der vorliegenden Ausgabe dankenswerter Weise mit abgedruckt; so hat man wenigstens nicht nur das kurze Fragment zum Lesen.

Das Fragment selbst kommt kaum über die Exposition der angestrebten Verwicklungen hinaus: Offensichtlich geht es um gleich drei Brüder – eineiige Drillinge, was die Voraussetzung für die angestrebten Verwicklungen bildet –, die, nachdem sie getrennt und ohne Kenntnis voneinander aufgewachsen sind, nun schicksalhaft aufeinandertreffen. Nachdem dem Leser dies klar geworden ist, setzen zwei der Figuren zu einer Verfolgungsjagd auf einen der Brüder und eine in all dies verstrickte junge Dame an, doch bricht das Fragment an dieser Stelle ab. So recht beurteilen kann man den Text nicht; einzig klar wird, dass es keinen groben Entwurf der gesamten Handlung gab, sondern die Autoren sich von Kapitel zu Kapitel vorwärts wurschtelten. Wahrscheinlich war es eine kluge Entscheidung, das Experiment dieses Vierer-Romans aufzugeben; jedenfalls geben die erhaltenen Seiten nicht Anlass zur Erwartung, hier wäre ein großer Wurf verloren gegangen.

„Das Bild der Mutter“ von Contessa ist eine Art Schmonzette, die ohne das Doppelgänger-Motiv auskommt, sondern nur mit dem Brüder-Motiv arbeitet. Die familiären Verwicklungen halten sich daher in Grenzen und werden auf recht banale Weise aufs Glücklichste aufgelöst. Ich selbst habe von Contessa nichts außer diesem Text gelesen, und das wird auch bis auf Weiteres so bleiben. Hoffmanns „Der Doppeltgänger“ gehört ebenfalls nicht zu dessen beliebtesten Erzählungen. Wie der Titel schon verrät, übernimmt Hoffmann das bei ihm mehrfach auftauchende Doppelgänger-Motiv, reduziert die Anzahl der Brüder aber auf zwei. Die beiden sind bereits als Kinder unschuldig in den Streit zweier Fürsten geraten, der ihren Lebensgang geprägt hat. Hoffmanns Erzählung ist angereichert durch zahlreiche unterschiedliche Figurenspiegelungen. Hoffmann ist sich der Trivialität der Fabel sehr bewusst und bricht deren Pathos immer wieder durch burlesk übertriebenen Humor, der dem Text eine unübersehbare ironische Ebene einzieht. Das rettet Hoffmanns Erzählung vor der Banalität der Contessas.

Alles in allem ein etwas obskures Dokument; wirklich lesenswert nur für echte Freunde der deutschen Romantik.

Adalbert von Chamisso / E. T. A. Hoffmann / Friedrich de la Motte Fouqué / Karl Wilhelm Salice-Contessa: Der Roman des Freiherrn von Vieren / Das Bild der Mutter / Der Doppeltgänger. Hg. v. Markus Bernauer. München: dtv, 2018. Pappband, Lesebändchen, 223 Seiten. 22,– €. Nur noch antiquarisch lieferbar.

Friedrich Heinrich Jacobi: Aus Eduard Allwills Papieren

Friedrich Heinrich Jacobi (1743–1819) ist einer jener Schriftsteller des Übergangs vom 18. zum 19. Jahrhundert, die nur deshalb noch einigermaßen in Erinnerung sind, weil sie sich in die reiche Briefkultur dieser Zeit eingeschrieben haben. Jacobis älterer Bruder war der als Dichter oft verspotteter Anakreontiker Johann Georg Jacobi, der an zahlreichen Zeitschriften der Zeit beteiligt war und dessen Prominenz seinem Bruder den Weg zu zahlreichen berühmteren Korrespondenz­partnern eröffnete. Ganz im Geiste der Zeit folgten den Briefen auch persönliche Begegnungen, und so wurde Friedrich Heinrich Jacobi eine der vielen Randfiguren der deutschen Literarhistorie.

Die ersten Briefe Aus Eduard Allwills Papieren erschienen 1775 in der von Johann Georg Jacobi herausgegebenen Zeitschrift Iris, die sich explizit an ein weibliches Publikum wandte. Fortgesetzt wurde die Reihe der Briefe dann 1776 in Wielands Teutschem Merkur und dann über weitere Zwischenstufen bis 1812, als sie als Allwills Briefsammlung innerhalb der vom Autor selbst besorgten Werke endgültig fixiert wurden. Die Reihe von Briefen einen Roman zu nennen, wie dies weitgehend geschieht, ist etwas verwegen, nicht nur wegen des mäßigen Umfangs, sondern auch, weil eine Handlung eher angedeutet ist, als dass sie wirklich erzählt würde.

Die Briefe erzählen im im Großen und Ganzen eine Episode aus der Geschichte der Familien Clerdon und der mit ihr verschwägerten von Wallberg, zu deren Bekanntenkreis auch der titelgebende junge Eduard Allwill gehört. Allwill hat sich bereits in seiner Kindheit als ein besonders willensstarkes und eigensinniges Kind gezeigt und ist nun ein junger Mann, der auf gesellschaftliche Usancen nur wenig Rücksicht nehmen zu müssen glaubt. Er hat offensichtlich einer jungen Frau – Luzie von Wallberg – den Kopf verdreht und sie dann sitzen lassen. In einem ihrer Briefe schreibt ihre Tante Silly:

So ward unsere Luzie hingewagt, so ging uns das süße Geschöpf verloren; denn sie stirbt, Kinder, und ihr Tod ist dieser Allwill!

Als ganz so dramatisch erweist sich die Lage dann doch nicht: In den beiden letzten Briefen, die das eigentliche Prunkstück der Sammlung (1775/1776) bilden, verbreitet Eduard nicht nur seine libertinistische Philosophie des natürlichen Gefühls, dem es zu folgen gelte, sondern er erhält auch eine vollständige Zurückweisung seines Standpunktes durch die bürgerlich-moralisch argumentierende Luzie, die mit ihrem Plädoyer das letzte Wort behält. Einen sterbenden Eindruck macht sie dabei ganz und gar nicht.

Ich bin an dieses Stück geraten, da ich im Rahmen einer Rezension, die hier nichts zur Sache tut, wieder einmal den Goetheschen Werther in die Hand genommen habe und dabei an Jacobi erinnert wurde, von dem mir bislang nur sein Woldemar dem Namen nach bekannt war. Der Eduard Allwill stand kurzzeitig im Verdacht eine weiterer Briefroman aus der Feder Goethes zu sein, wenn dies auch aus einer eher oberflächlichen Vergleichung mit dem Werther herzurühren scheint. Da das Stück rasch gelesen ist (digitale Texte und deren Ausdrucke finden sich zuhauf), kann ich es für jene, die an der Literatur der Empfindsamkeit und des Sturm und Drang interessiert sind, nur empfehlen. Wahrscheinlich werde ich hier in nächster Zeit noch die eine oder andere kleine Publikation, die im zeitlichen Umfeld des Werthers entstanden ist, besprechen.

Friedrich Heinrich Jacobi: Aus Eduard Allwills Papieren. Düsseldorf: Iris 4.1775 und Weimar: Der Teutsche Merkur 2.1776–4.1776.