Laurence Sterne: Werke und Briefe

Man ist überfordert darin, Bücher zu schreiben und auch noch Köpfe zu finden, die sie verstehen.

Der Übersetzer Michael Walter hat seine Arbeit an den Schriften Laurence Sternes fortgesetzt, so dass im 250. Todesjahr zum ersten Mal so etwas wie eine Werkausgabe Sternes auf Deutsch vorliegt. Die leichte Einschränkung ergibt sich daraus, dass ein um­fäng­li­cher Teil der Werke Sternes, seine Predigten, zwar auf Deutsch vorliegen – zuletzt 1921 bei Georg Müller –, den deutsch­spra­chi­gen Lesern aber offenbar nicht mehr zugemutet werden sollen. Sozusagen zum Ausgleich liefert die Ausgabe alle bekannten Briefe Sternes in deutscher Übersetzung.

Wie an anderer Stelle bereits erwähnt, hat Sterne nur gut acht Jahre als Schriftsteller im eigentlichen Sinne gearbeitet und im Grunde nur zwei fragmentarische Werke hinterlassen: Zum einen neun Bände des „Tristram Shandy“, der seinen Ruhm als Schriftsteller begründete, zum anderen die beiden Bände der „Empfindsamen Reise“, die nur die erste Hälfte des geplanten Umfangs enthalten. Der Erfolg des späteren Werks gründet sich hauptsächlich auf den sensationellen Erfolg des früheren, das seinen Autor im Jahr 1759 praktisch über Nacht zu einem Star der besseren Gesellschaft Londons gemacht hatte. Sterne war ein skrupelloser Promoter seiner selbst, der im Erfolg seines Romans mit Recht seine einzige Chance auf finanzielle Un­ab­hän­gig­keit erkannte. Dementsprechend sollte er bis zu seinem Lebensende nicht aus den Schulden herauskommen. Das Hauptwerk des „Tristram Shandy“ füllt denn auch den ersten Band der Ausgabe.

Um weitere Werke im eigentlichen Sinne ist es, außer den durchaus zahlreichen Predigten, etwas dünn bestellt. Es existiert eine politische Satire, die sich mit klerikalem Ämterklüngel in York aus­ein­an­der­setzt, ein „Fragment in Rabelais’scher Manier“ (eine offensichtliche Handübung zum „Tristram Shandy“), das nach fünf Seiten ab­ge­bro­chen wurde, zwei Gedichtlein, eine Sammlung von Briefen an die späte Geliebte Eliza, die bereits von den Zeitgenossen mehr aus Not zum postumen Werk erklärt worden ist, und schließlich noch ein Journal für eben dieselbe Geliebte, das Sterne als Ersatz für die Fortsetzung seiner Briefe geführt hat, als sich Elizabeth Draper  auf einem Schiff in Richtung auf ihren in Indien lebenden Ehemann befand. Diese ärmliche Ansammlung von Werken bildet zusammen mit der „Empfindsamen Reise“ den Inhalt des zweiten Bandes dieser Ausgabe; die Herausgeber trifft kein Vorwurf: Sieht man von dem Korpus der Predigten ab, gibt es einfach nicht mehr.

Die Waltersche Übersetzung der „Empfindsamen Reise“ ist seit ihrem Erscheinen 2010 noch einmal gründlich überarbeitet worden, wobei ich anhand vorgenommener Stichproben keine eindeutige Tendenz der Überarbeitung habe erkennen können: An zahlreichen Stellen erscheint der jüngere Text straffer und kürzer, an wieder anderen zeigt er eine stärkere Neigung zu einem historischen Sprachstand. Es mag am Ende eine Ge­schmacks­fra­ge bleiben, welche der Fassungen man vorzieht. Auf einen Vergleich des „Tristram Shandy“ habe ich verzichtet, da ich mir – bei allem Respekt vor Walters Können und seiner Ausdauer – nicht noch eine Ausgabe der Walterschen Übersetzung antun wollte.

Den Omphalos der Ausgabe aber bildet der Briefband, der, wie schon gesagt, alle derzeit bekannten Briefe Sternes enthält. Diese Briefe bilden die Hauptquelle für die Biographie Sternes. Naturgemäß ist der Anteil der erhaltenen Briefe für seine letzten Lebensjahre deutlich höher, wenn auch immer noch nicht so, dass man daraus tatsächlich ein einigermaßen geschlossenes Bild des Lebens Sternes entnehmen kann. Auch ist Sterne zu selbstverliebt und stets auf die Inszenierung seiner eigenen Bedeutsamkeit und Witzigkeit aus, dass ein Ge­gen­ge­wicht nicht dringend nötig wäre. Aber man muss eben mit dem arbeiten, was man in die Hände bekommt. Walters Übersetzung ist einmal mehr ein Genuss, da er es versteht, dem deutschen Text eine so altertümlich elegante Anmutung zu geben, dass man an einigen Stellen tatsächlich den Ton der Sterneschen Originale zu hören glaubt.

Die Kommentare des Briefbandes, die sich in der Hauptsache am Fuß der einzelnen Briefe befinden, gehen wohl zu einem bedeutenden Umfang auf die englische, sogenannte Florida-Ausgabe der Werke und Briefe Sternes zurück. Es ist zum einen ganz erstaunlich, welche der von Sterne mit Briefen bedachten oder in ihnen erwähnten Personen identifiziert und mit Informationen zu Leben und ge­sell­schaft­li­cher Stellung und Bedeutung für Sterne versehen werden konnten; mindestens ebenso erstaunlich ist die Anzahl der Personen, zu denen man nichts weiß oder deren Identität nur erraten werden kann. Dabei entwickeln diese Kommentare durchaus ihren ganz eigenen Humor; zum Ausgleich wird die Bibel an den meisten Stellen in der Fassung der Luther-Übersetzung von 1545 zitiert, an anderen wieder in einer späteren Fassung (ich vermute eine des 18. Jahr­hun­derts, war aber zu faul, sie zu identifizieren), was vielleicht auch ein Ausdruck von Humor ist. Zudem weist der Briefband eine erstaunliche Anzahl von Druck- und Sachfehlern auf, lässt also noch einigen Raum für eine verbesserte zweite Auflage – aber das ist vielleicht schon eine zu optimistische Sicht der Dinge in Sachen Sterne.

Laurence Sterne: Werke und Briefe in drei Bänden. Übersetzt von Michael Walter. Berlin: Galiani, 2018. Pappbände, Fadenheftung, Lesebändchen. 1885 Seiten. 98,– €. Alle drei Bände sind auch einzeln erhältlich.

Sinclair Lewis: It Can’t Happen Here

Der Roman entstand und erschien 1935 und beschreibt einen faschistischen Staatsstreich in den USA nach dem Vorbild der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland. Der demokratische (im Sinne der US-amerikanischen Partei, nicht der Staatsform) Kandidat Berzelius Windrip gewinnt die Wahl 1935 mit einem populistischen Programm, das sich an Arme und Veteranen wendet und ihnen vergleichsweise goldene Zeiten verspricht. Nach seiner Inauguration Anfang 1936  hebelt er durch Not­stands­ge­set­ze den Kongress aus und zerschlägt die traditionellen US-Staaten durch das Einführen von willkürlichen Verwaltungsgrenzen und -strukturen, in denen seine Parteigänger als Funktionäre eingesetzt werden. Gestützt und geschützt wird dieser Prozess durch eine private Miliz, die Minute Men (M. M.), die faktisch die Polizeigewalt inne haben.

Protagonist des Romans ist Doremus Jessup, älterer Chefredakteur einer Tageszeitung einer Kleinstadt an der amerikanischen Ostküste. Sozial etabliert, verheiratet mit drei Kindern und einer Geliebten, nicht parteipolitisch gebunden, ist Jessup das Muster des liberalen nordamerikanischen Intellektuellen: klassisch gebildet, sich der sozialen Frage bewusst mit einer leichten Tendenz zum demokratischen Sozialismus, misstrauisch allen starken Ideologien der Zeit gegenüber – also letzten Endes ein idealisierter Selbstentwurf Lewis’. Im Gegensatz zu den meisten seiner Bekannten misstraut Jessup von Beginn an dem Kandidaten Windrip, hält sich aber zurück in dem Glauben, dass das alles vorübergehen wird.

Erst ein Gewaltverbrechen an einem Rabbi und einem Universitäts-Professor durch einen betrunkenen hohen Vertreter des neuen Staates, also ein Übergriff politischer Barbaren auf die gesellschaftliche Gruppe, der er sich selbst zuordnen, veranlasst ihn zu einem ersten offen kritischen Kommentar in seiner Zeitung. Die Reaktion des neuen Staates lässt nicht lange auf sich warten: Jessup wird verhaftet und einem Richter vorgeführt, der sich aber überraschend milde zeigt, indem er Jessup dazu zu überreden versucht, sich mit dem neuen Staat zu arrangieren. Um seinem Vorschlag Nachdruck zu verleihen, lässt er Jessups Schwiegersohn umgehend standrechtlich erschießen und  setzt ihm in seiner zeitung einen staatlichen Aufpasser vor die Nase, den er vorgeblich als seinen Nachfolger einarbeiten soll.

Jessup betreibt daraufhin erfolgreich seine Pensionierung und beginnt zugleich, sich dem politischen Widerstand gegen die Diktatur zu verbinden. Er betreibt im Neuen Untergrund eine geheime Presse, die Flugblätter mit Nachrichten und Gerüchten herstellt und verteilt. Insgesamt geht man in der kleinen lokalen Widerstandsgruppe sehr lax mit der Geheimhaltung um, so dass es kein Wunder ist, dass Jessup nach nur wenigen Monaten in einem Konzentrationslager landet. Nach nur fünf Monaten und nicht der grausamsten aller denkbaren Behandlungen wird er durch Initiative seiner Geliebten befreit und nach Kanada gebracht, wo er eine Stelle in der US-amerikanischen Exil-Regierung findet. Der Roman hat ein offenes Ende, das die ersten Erfolge des politischen und militärischen Widerstandes gegen den neuen Staat beschreibt, an dessen Spitze nach mehrfachen Staatsstreichen inzwischen ein Militär steht. Der letzte Satz feiert den ewigen Jessup, der nun bei aller ironischen Distanz und wohl in Ermangelung eines Besseren dann doch zum idealen Vorkämpfer der guten Sache gemacht werden muss.

Der Roman war ein sofortiger großer kommerzieller Erfolg. Man plante sogar eine Hollywood-Verfilmung, die aber trotz weitreichenden Vorbereitungen nie zustande kam– man darf staatliche Rücksichtnahme auf die Beziehungen zum Deutschen Reich als Ursache dafür annehmen. Stattdessen gab es eine sehr erfolgreiche Umsetzung für die Bühne. Es ist leicht zu erkennen, dass nicht nur Sinclair das Szenarium des Romans für eine nicht ganz und gar abwegige utopische Alternative zur US-amerikanischen Geschichte hielt.

Angeregt zu dem Buch wurde Lewis durch die Reportagen seiner Ehefrau Dorothy Thompson, die von 1924 bis 1934 in Berlin gelebt und den Aufstieg der Nationalsozialsten zur Macht journalistisch eng begleitet hatte. Aus ihrer Kenntnis und der weiterer Bekannter, die in dieser Zeit in Europa gelebt hatten, bezog Lewis im Wesentlichen die Vorbilder für die faschistische Machtübernahme in seinem Roman. Streng genommen gehört das Buch nicht in das Genre der Alternativen Geschichte, da es in der unmittelbaren Zukunft spielt, also eine Warnutopie darstellt, wird aber natürlich heute so gelesen. Es hat durch den aktuellen weltweiten  Rechtspopulismus, aber auch durch den in den USA gezogenen durchaus provokanten Vergleich des Aufstiegs Donald Trumps mit dem von Lewis’ Diktator Berzelius Windrip überraschend an Popularität gewonnen.

Sinclair Lewis: It Can’t Happen Here. New York: Penguin Random House, 2014. Kindle-Edition, 195 Seiten. 5,49 €.

Marcus Braun: Der letzte Buddha

Marcus Brauns Bücher sind seit seinem ersten Roman „Delhi“ anspruchsvolle Lektüren. Sein vorletzter Roman „Armor“ erschien vor etwas mehr als 10 Jahren; nun folgte im vergangenen Jahr „Der letzte Buddha“. Während es sich bei „Armor“ um eine erzählerisch sehr verdichtete Kriminalerzählung handelte, versucht sich Braun nun im Genre der Alternativen Geschichte.  Allerdings ist seine Erzählweise diesmal recht schlicht: Nur die historischen Voraussetzungen der Fabel stellen einige Ansprüche an die Leser, der Text selbst liest sich flott herunter.

Dem Buch zugrunde liegt der Mitte der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts aufgekommene Konflikt um die Bestimmung des 11. Panchen Lama: Nach dem Tod des 10. Panchen Lama im Jahr 1989 machte man sich wie üblich auf die Suche nach seiner Reinkarnation. Nachdem man eine Reihe von Kandidaten ermittelt hatte, legte man dem im Exil befindlichen 14. Dalai Lama ihre Fotos vor und bat ihn um seine Auswahl. Der vom Dalai Lama ohne weitere Rücksprache ausgewählte Gendün Chökyi Nyima wurde aber von der chinesischen Regierung abgelehnt; Peking ließ seinen eigenen Kandidaten Gyeltshen Norbu durch ein traditionelles Losverfahren ermitteln und in sein Amt einsetzen. Seitdem gibt es zwei nominelle Inhaber der Position des Panchen Lama: der chinesische Panchen Lama residiert in Lhasa; der von der tibetischen Exilregierung gewählte Prätendent ist aus der Öffentlichkeit verschwunden, lebt und arbeitet aber nach offiziellen Angaben irgendwo in China.

Marcus Braun lässt nun eben diesen Gendün Chökyi Nyima als Jonathan Daguerre an der Westküste der USA wieder auftauchen: Adoptivsohn zweier vielbeschäftigter Eltern, die das Kind der Adoptiv-Großmutter überlassen, ist Jonathan zu einem etwas unpraktischen und arbeitsscheuen jungen Mann herangewachsen, der sein Leben zwischen psychiatrischer Therapie und Surfboard verbringt. Dies Leben nimmt die für den Roman notwendige unerwartete Wendung, als dem Korrespondenten der Los Angeles Times in Nepal ein Umschlag zugespielt wird, der die Behauptung enthält, der verschwundene Prätendent des Dalai Lama lebe als adoptiertes Waisenkind von 20 Jahren in den USA.

Diese Offenbarung trifft bei Jonathan auf offene Ohren, der sich sofort berufen glaubt, die ihm angebotene Existenz als 11. Panchen Lama anzunehmen. Er gibt bereitwillig sein altes Leben auf und zieht sich als tibetischer Mönch in ein Kloster zurück, um seine spirituelle Ausbildung zu beginnen. Doch weder der tibetische Buddhismus noch das Erlernen der tibetischen Sprache scheinen ihm sehr zu liegen. Den Höhepunkt seiner Karriere bildet ein Treffen mit dem Dalai Lama, das aber zu einem nichtssagenden Fiasko gerät; kurz danach wirft man ihn aus dem Kloster und kümmert sich nicht weiter um ihn.

In der Zeit, in der Jonathan diese Verwandlung durchläuft, gerät auch das Leben des chinesischen Panchen Lama aus den Fugen: Nach einer längeren Meditationsübung kommt Gyeltshen Norbu zu dem Entschluss, er müsse die Tibeter in die Freiheit führen, und beginnt daher, politisch aktiv zu werden. Der lokale politische Kommissar der chinesischen Kommunisten sieht darin eine Chance, seine eigene politische Position zu stärken (wie das genau geschieht, verrät uns der Autor zum Glück nicht), und lässt den Panchen Lama vorerst agieren, ja, macht ihn später sogar zum Gouverneur Tibets. Auch diese Geschichte endet nicht wirklich glücklich.

Es braucht hier nicht erzählt zu werden, wie die beiden Protagonisten enden; Braun bringt seine Geschichte nur knapp zu einem glaubhaften Ende. Wenn es ein Ziel von Literatur ist, zu berichten, was wahrscheinlich geschieht, wenn etwas Unwahrscheinliches geschieht, so muss man wohl feststellen, dass Brauns Fabel dies nur zu einem Teil zu erfüllen vermag. Nicht nur bleibt völlig offen, von wem und zu welchem Zweck die Entdeckung Jonathans ins Werk gesetzt wird, noch kann Braun mit seiner Hauptfigur nach dem Durchlaufen der offensichtlichsten Folgen dieser Entdeckung noch irgendetwas anfangen. Und ehrlich gesagt ist mit Jonathan auch sonst kaum irgendetwas los. Mag sein, es soll dem Leser gezeigt werden, wie weit die moderne Brot und Spiele-Welt von der Welt des Buddhismus entfernt ist, dass sich Machtpolitik und Meditation ausschließen oder – man verzeihe die grobe Wendung – dass auch Mönche über gebrauchsfähige Geschlechtsorgane verfügen. Doch kaum einer, der das nicht ohnehin schon weiß, wird wohl bei Brauns Buch ankommen.

Marcus Braun: Der letzte Buddha. München: Hanser Berlin, 2017. Pappband, 208 Seiten. 20,– €.

Rudyard Kipling: Kim

»Je mehr man über die Eingeborenen weiß, desto weniger kann man vorhersagen, was sie tun werden oder was nicht.«

Rudyard Kipling ist in Deutschland in der Hauptsache als Autor des „Dschungelbuchs“ wahrgenommen worden; nur wenige dürften wissen, dass er 1907 der erste englische Literaturnobelpreisträger wurde und bis heute der jüngste Träger dieses Preises geblieben ist – Kipling war erst 41 Jahre alt, als ihm der Preis verliehen wurde. Während ihn die meisten deutschen Leser als eine Art von Kinderbuch-Autor ansehen werden, war Kipling in seiner Heimat aufgrund seines politischen Engagements eine höchst umstrittene Person; von seinen Gegnern wurde er gern als Faschist beschimpft, war aber im Grunde wenig mehr als ein erzkonservativer Militarist, der mit der Militärpolitik der britischen Regierungen stets höchst unzufrieden blieb. Auch sein Bild Indiens wurde von seinen ideologischen Kontrahenten gern bespöttelt: Wie man bei George Orwell lesen kann, wurde diesem von Bekannten Kiplings versichert, Kipling habe von Indien nur wenig Ahnung gehabt.

Wie dem auch immer gewesen sein mag, bildet „Kim“ zusammen mit den beiden „Dschungelbüchern“ die Grundlage für das Indien-Bild zahlreicher Europäer. Kipling wurde 1865 in Bombay geboren und stand über die Schwestern seiner Mutter sowohl mit der künstlerischen als auch der politischen Elite Englands in verwandtschaftlicher Beziehung. Kiplings Vater war Künstler und Kunstpädagoge und später Museumsdirektor in Indien; Kipling erhielt zuerst die bei vermögenden Engländern übliche Erziehung in England; er wohnte in dieser Zeit bei seiner Tante Georgiana Burne-Jones, der Frau des Präraphaeliten Edward Burne-Jones. Eine anschließende universitäre Ausbildung in England konnte Kiplings Vater nicht finanzieren, so dass Kipling 1882 nach Indien zurückkehrte und in Lahore einen Job als Journalist bei der Civil & Military Gazette übernahm. In dieser Tageszeitung erschienen dann auch seine ersten Gedichte und Erzählungen. Bereits 1889 verließ Kipling Indien wieder und erreichte nach einer Weltreise London. Bereits verheiratet lebte Kipling anschließend für einige Zeit in den USA, bevor er sich dauerhaft in England niederließ. Als er 1907 den Literaturnobelpreis erhielt, war er bereits ein ebenso weltbekannter wie umstrittener Autor. Alle seine vier Romane hat Kipling in dem Jahrzehnt vor der Jahrhundertwende verfasst – „Kim“ erschien als letzter 1901 in Buchform –, später beschränkte er sich auf Erzählungen und Gedichte.

Kim, der titelgebende Protagonist des Romans, ist ein halb irischer, halb indischer Waisenjunge, der bei einer Schwester seiner indischen Mutter in Lahore aufwächst. Als der Roman beginnt, ist Kim etwa 12 Jahre alt – die Handlung ist historisch nicht präzise einzuordnen, spielt aber sicherlich im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts – und von einem eingeborenen Inder kaum zu unterscheiden. Er bewegt sich auf den Basaren wie ein Fisch im Wasser, hat Freunde unter den Fakiren und ist insbesondere befreundet mit dem afghanischen Pferdehändler Mahbub Ali, für den er von Zeit zu Zeit diskret kleine Aufträge erledigt. Erzählanlass aber ist, dass Kim vor dem Museum von Lahore einen Lama, also einen buddhistischen Mönch aus Tibet kennenlernt, dem er sich nahezu augenblicklich als Schüler zugesellt. Die beiden beginnen eine Reise durch Nordindien, da der Lama auf der Suche nach einem geheimnisvollen Fluss ist, der ihm Erleuchtung bringen soll.

Unterwegs treffen die beiden auf das Regiment, zu dem Kims Vater gehörte; Kim wird als Engländer erkannt und man will ihn in eine englische Wai­sen­schu­le stecken. Doch der Lama verpflichtet sich, für Kims Ausbildung zu bezahlen, und so besucht Kim – zwar zuerst nur widerwillig – eine der besten englischen Schulen in Lucknow. Natürlich erweist es sich, dass Mahbub Ali für den englischen Geheimdienst in Indien arbeitet und Kim aufgrund seiner Intelligenz und seiner Fähigkeit, als Inder durchzugehen, für eine Karriere in diesem Dienst vorgesehen ist. Während der Ferien erhält er eine Spezialausbildung als Spion und wird nach dem Ende seiner Schulzeit – er ist nun etwa 16 Jahre alt – zusammen mit seinem Lama wieder auf die Straßen Nordindiens geschickt. Es spinnen sich eine Reihe von Geheimdienst-Abenteuern an, in denen sich Kim natürlich aufs Beste bewährt, aber auch an seine körperlichen Grenzen gerät. Das Buch hat ein offenes Ende, das den Protagonisten nach seiner ersten Bewährungsprobe quasi als Unseren Mann in Ambala in die Welt entlässt.

Kipling erzählt diese Geschichte vor einem breiten Panorama nordindischer Kultur und Landschaft. Hindus, Moslems und Buddhisten treffen aufeinander, Kim und sein Lama geraten bis in die Berglandschaft des Himalaya mit ihren wieder ganz eigenen, lakonischen Bergbauern. Auch sprachlich ist die Erzählung von einer ungewöhnlichen Fülle geprägt; wenn Kipling vielleicht auch nicht so sehr viel von der Politik Indiens verstanden haben mag, wie man dort sprach, wusste er ziemlich genau. Es ist dieser kulturelle Reichtum, der das Buch zu einem Klassiker hat werden lassen. Leider geht in sprachlicher Hinsicht in der Übersetzung notwendig viel verloren, aber Gisbert Haefs ausführlicher Kommentar und sein Nachwort holen einiges davon wieder ein.

Rudyard Kipling: Kim. Aus dem Englischen von Gisbert Haefs. Fischer Taschenbuch 90526. Frankfurt/M.: Fischer, 22016. Broschur, 431 Seiten. 10,99 €.

E. T. A. Hoffmann: Die Serapionsbrüder (1. Band)

»Schwäne fressen keinen Marzipan«

Die Serapionsbrüder sind Hoffmanns große Sammlung von Erzählungen, die zwischen Februar 1819 und Mai 1821 in vier Bänden erschienen ist. Hoffmann selbst nennt im Vorwort Ludwig Tiecks Fragment gebliebenen Phantasus (3 Bände, 1812–1816) als Vorbild für sein Werk. Zwar verwendet auch Hoffmann wie Tieck einen erzählerischen Rahmen für seine Sammlung, aber damit hören die Gemeinsamkeiten auch beinahe schon auf. Während sich bei Tieck eine gesellige Versammlung von vier (nur zuhörenden) Damen und sieben vortragenden Herren trifft (das Werk sollte am Ende 7 mal 7 Werke enthalten, also beinahe ein halbes Decamerone), sind es bei Hoffmann nur vier Freunde, die einander nach vielen Jahren wiedersehen und an ihre alte Geselligkeit anknüpfen wollen. Auch Hoffmann lässt die jeweils vorgetragene Erzählung im Anschluss von den vier Freunden kommentieren und kritisieren, verfolgt dabei aber durchaus keine systematische Poetik, wie das bei Tieck durchaus der Fall ist. Die Hoffmannsche Bescheidenheitsgeste im Vorwort gegenüber dem Vorbild ist auch von daher keine bloße Floskel, dass sich der Autor durchaus darüber im Klaren war, dass er literarisch auf einem deutlich populäreren Niveau schrieb als Tieck. Das dürfte mit dazu beigetragen haben, dass Die Serapionsbrüder heute immer noch zum lebendigen Kanon der deutschen Literatur gehören, während Tiecks Phantasus außerhalb eines eher engen Kreises von Fachleuten kaum noch bekannt sein dürfte.

Biographisches Vorbild für den Kreis der vier Serapionsbrüder Theodor, Lothar, Ottmar und Cyprian war der Hoffmannsche Seraphinenorden, der sich bald nach Hoffmanns Rückkehr nach Berlin 1814 gegründet hatte. Hoffmann reduziert in der Fiktion die Anzahl der Teilnehmer und hatte wohl auch keine direkte Zuordnung seiner Figuren zu den Mitgliedern des tatsächlichen Kreises im Sinn, da ja ohnehin alle Erzählungen von ihm selbst stammen.

Jeder der vier Bände liefert die Fiktion zweier literarischer Abende, die die Freunde miteinander verbringen und an denen jeweils drei oder vier Texte vorgetragen und kurz besprochen werden. Dabei müssen die einzelnen Erzählungen einander durchaus nicht immer ergänzen oder sich um ein gemeinsames Thema gruppieren; oft genügt auch der ausdrückliche Gegensatz zum zuvor Vorgetragenen, um die Eingliederung der nächsten Erzählung zu begründen.

Der erste Band präsentiert in seinen beiden Abschnitten die folgenden Erzählungen:

  • Erster Abschnitt
    • [Der Einsiedler Serapion] (Cy)*: Erzählung über einen Verrückten, der sich für den heiligen Einsiedler und Märtyrer Serapion hält (um welchen genau es sich handelt, lässt sich nicht sagen, da Hoffmanns Angaben die Legenden mindestens zweier Märtyrer miteinander verquicken) und in der Nähe einer süddeutschen Kleinstadt im Wald haust, den er für die thebanische Wüste hält. Der Erzähler bildet sich nun autodidaktisch zum Psychologen aus zu dem alleinigen Zweck, Serapion von seinem Wahn zu heilen. Überraschenderweise wird er von ihm aber rasch davon überzeugt, dass er nicht beweisen könne, wessen Realität die wahre, und zudem Serapions Sicht der Welt eine höhere, weil phantastischere sei. Damit ist ein wichtiges Grundthema der Erzählungen Hoffmanns und der Sammlung im besonderen angeschlagen: die Überhöhung der Wirklichkeit durch die Phantasie.
    • [Rat Krespel] (Th): Erzählung von dem musikliebenden und gei­gen­bau­en­den Eigenbrödler Krespel, der mit seiner hübschen, jungen Tochter Antonie zusammen lebt, der er das Singen verbietet. Er nimmt zudem alte Geigen auseinander, um durch die Analyse ihrer Bauformen die Geheimnisse ihres Klangs auszuforschen. Der Erzähler macht nähere Bekanntschaft mit dem Rat und will Antonie zum Singen verführen, um wenigstens einmal ihre in der Stadt legendäre Stimme zu hören. Der Rat weiß das aber zu verhindern und wirft ihn aus dem Haus. Nach drei Jahren kehrt der Erzähler in die Stadt zurück, gerade als Antonie beerdigt wird. Vom trauernden und zugleich ob seiner gewonnenen Befreiung jubilierenden Rat erfährt der Erzähler nun die wahre Geschichte Antoniens, die der Rat mit einer italienischen Sängerin gezeugt, das Mädchen aber erst bei sich aufgenommen habe, als die Mutter auf einer Tournee durch Deutschland verstorben sei. Antonie sei als lungenkrank diagnostiziert worden und zu singen sei tödlich für sie gewesen, weshalb der Rat ihr nur einmal, bei der Ankunft in der Stadt, erlaubt habe zu singen. Nun aber sei er frei und brauche keinen Geigen mehr zu bauen.
    • Die Fermate (Th): Ausgehend von der Betrachtung eines Bildes erzählt Theodor vom Beginn seiner musikalischen Ausbildung. Er sei in einer Kleinstadt aufgewachsen, die ihm nur sehr eingeschränkt Gelegenheit zur musikalischen Erziehung geboten habe. Dann aber seien zwei italienische Sängerinnen in die Stadt gekommen, mit denen er auf und davon ist. Zuerst in die eine, dann in die andere verliebt, erfährt er bald, dass beide ihn nur zu ihrem eigenen Vorteil auszunutzen suchen, und verlässt sie. Das Bild aber zeige den Augenblick ihrer Wiederbegegnung in Italien viele Jahre später.
    • Der Dichter und der Komponist (Th): Dialog in der Manier der Seltsamen Leiden eines Theater-Direktors über die Oper, genauer  die romantische Oper. Reflektiert werden hier wohl die Erfahrungen und Gedanken, die Hoffmann während der Zusammenarbeit mit Fouqué bei der Arbeit an der Oper Undine gemacht hat.
  • Zweiter Abschnitt
    • Ein Fragment aus dem Leben dreier Freunde (Ot): Drei Freunde, Alexander, Marzell und Severin, treffen sich nach langer Zeit wieder in Berlin: Alexander, um eine Erbschaft anzutreten, Marzell und Severin kommen gerade aus dem Krieg zurück. Die Freunde treffen sich im Tiergarten zum Kaffee und erzählen einander Geistergeschichten, angeregt durch Alexanders nächtliche Geistererscheinung seiner toten Tante, die spukt, um ihre Magentropfen einzunehmen! Marzell berichtet von seiner Begegnung mit einem Verrückten, der in seiner Pension im Zimmer gegenüber wohnt und nachts an seinem Bette gestanden habe. (Marzell wird später mit diesem Verrückten verwechselt werden, was zur irrtümlichen Annahme führt, er sei ins Irrenhaus überführt worden.) Severin kommt nicht zu seiner Geistergeschichte, da sich die drei jungen Männer zugleich in ein junges Mädchen verlieben, das mit seinen Eltern ebenfalls die Gaststätte aufsucht. Die Beschäftigung mit ihrer Verliebtheit treibt die drei Freunde auseinander, und erst zwei Jahre später sehen sie sich wieder: Jeder erzählt nun die Geschichte seiner Vernarrtheit und wie sie scheiterte, bis abschließend Alexander enthüllt, dass er das fragliche Mädchen nicht verfolgt, sondern durch Zufall als Nachbarin seiner verstorbenen Tante wieder getroffen und später geheiratet habe. Thema dieser kunstvoll gebauten Erzählung ist einmal mehr die Überschreibung der Wirklichkeit durch die Einbildungskraft, wodurch die Liebes- und Geistergeschichten motivisch miteinander verknüpft werden.
    • Der Artushof (Cy): Erzählung von dem  jungen Danziger Kaufmann Traugott, der eine Berufung zum Maler in sich spürt. Er gibt seine bürgerliche Karriere immer mehr auf, verliebt sich in die Tochter seines alten, verrückten Meisters, die dieser als Knaben getarnt hat, was Traugott aber erst begreift, nachdem Vater und Tochter angeblich nach Sorrent entflohen sind. Traugott reist nach Italien, vollendet dort seine Ausbildung zum Künstler, verliebt sich erneut, sucht aber doch noch in Sorrent nach der Geliebten, nur um bei seiner Rückkehr nach Danzig zu erfahren, dass Sorrent der Spitzname eines Hauses in einem Vorort von Danzig ist. Seine Geliebte Felicitas ist inzwischen eine verheiratete Frau Kriminalrat mit mehreren Kindern, und Traugott kehrt nach Rom zu seiner weltlichen Geliebten Dorina zurück, die er nun heiraten wird.
    • Die Bergwerke zu Falun (Th): Elis Fröbom, ein Seemann im Dienst der Ostindischen Gesellschaft und gerade nach Göteborg zurückgekehrt, wird durch die Nachricht vom Tod seiner Mutter so erschüttert, dass er dem oberflächlichen Leben eines Seemanns entsagt und ein Leben in der Tiefe sucht, indem er Bergmann zu Falun wird. Dort verliebt er sich in Ulla, die Tochter seines Chefs. Der Rest der Erzählung entspricht im Groben und Ganzen der Bearbeitung von Hebel (1809): Elis fährt am Morgen seines Hochzeitstages noch einmal ein, wird durch einen Bergsturz verschüttet und seine Leiche erst 50 Jahre später fast unversehrt geborgen. Erkannt wird er von seiner Braut, die 50 Jahre lang an jedem Hochzeitstag zur Grube von Falun zurückgekehrt ist und hier ihren Geliebten noch einmal so zu sehen bekommt, wie sie ihn erinnert.
    • Nußknacker und Mausekönig (Lo): Ein hoch literarisches und fein gebautes Weihnachtsmärchen um die Erlebnisse der jungen Marie, die zusammen mit ihren Geschwistern von ihrem Patenonkel am Heiligen Abend einen Nussknacker geschenkt bekommt, der aber bereits an diesem ersten Abend aus dem Leim geht. Hoffmann hängt an diesen Erzählanlass einen Reigen von ineinandergreifenden Träumen und erzählten Märchen an, in denen der Nussknacker als Held einer merkwürdigen Geschichte von der Heilung der Prinzessin Pirlipat vom Fluch der Frau Mauserinks und ihres Sohns, des Mausekönigs agiert. Das ganze ist überaus fein konstruiert, und das Hauptgewicht der Erzählung liegt ganz in der Entwicklung der fantastischen Fabel selbst; nur am Rande kommt wieder das Thema der bürgerlichen Welt vor, die sich dem Reich des Phantastischen verweigert, so dass die Protagonistin Marie sich am Ende gezwungen sieht, über ihre Erlebnisse  den Erwachsenen und sogar ihrem Bruder gegenüber zu schweigen.

Auch in dieser Sammlung finden sich zwei Schaustücke Hoffmannschen Erzählens, die der Autor bewusst ans Ende des Bandes platziert: Die Interpretationen zu den Bergwerken zu Falunsowohl in dieser Fassung als auch in der kurzen Paraphrase des Schubertschen Originals bei Hebel dürften inzwischen jeden vernünftigen Rahmen gesprengt haben; und Nußknacker und Mausekönig ist immer noch eine der beliebtesten Erzählungen Hoffmanns, ganz unabhängig von der im Anschluss an das Märchen diskutierten Frage, ob es sich um einen für Kinder geeigneten Text handele oder nicht. Für die Bergwerke spricht ohne Frage die bruchlose Mischung von (Elementar-)Geister-Erzählung und realistischem Rahmen, der seine vorgebliche Authentizität direkt aus Schuberts Bericht und den 1819 bereits vorliegenden Bearbeitungen (Adam Müller/Kleist; Hebel) bezieht. Ähnlich wie im Falle des Sandmanns überbaut Hoffmann das an sich schon merkwürdige Geschehen mit weiteren Ebenen, die es ins Bedeutend-Allgemeine heben: Der Gegensatz von Oberfläche (Seefahrt) und Tiefe (Bergbau), der Tod der Mutter, der den Protagonisten sozusagen in die Tiefe treibt, der Geist des alten Torbern, der Elis anwirbt und magisch an die Grube bindet, und nicht zuletzt die Liebe Elis’ zu Ulla und zugleich zur elementargeistigen Bergkönigin bieten unzähligen Variationen und Kombinationen von Deutungen Nahrung. Auch dies ist einer der Fälle des von Tucholsky markierten Zusammenhangs zwischen Literatur und Suppekochen.

Wird fortgesetzt …

E. T. A. Hoffmann: Die Serapionsbrüder. Sämtliche Werke 4. Hg. v. Wulf Segebrecht. Frankfurt: Deutscher Klassiker Verlag, 2001. Leinen, Fadenheftung, zwei Lesebändchen, 1679 Seiten. Diese Ausgabe ist derzeit nur als Taschenbuch lieferbar.


* – Titel in eckigen Klammern tauchen nicht im Original auf; die Kürzel in Klammern hinter den Titeln zeigen an, welcher der Serapionsbrüder die Erzählung vorträgt.

Jonathan Swift: Gullivers Reisen

Jonathan Swift ist in Deutschland und wahrscheinlich leider auch in anderen Ländern der Autor eines halben Buches: Die beiden ersten von Gullivers Reisen (zu den Lilliputanern und den Riesen) werden als Kinderbuch gehandelt, während die zweite Hälfte des Buchs den meisten Lesern schlicht unbekannt bleibt. Allein deshalb ist jede literarische und vollständige Ausgabe des Textes zu begrüßen. Nun legt Manesse zum 350. Geburtstag des Autors am 30. November die Neuübersetzung von Christa Schuenke noch einmal in der Manesse Bibliothek auf. Der Text ist erstmals 2006 in einem Schmuckband erschienen, der auch immer noch lieferbar ist.

Gullivers Reisen (Erstausgabe 1727) liefert gleich eine ganze Reihe anspruchsvoller und zum Teil politisch brisanter Satiren, deren Reduktion auf ein Kinderbuch nur als unglücklich bezeichnet werden kann. Sicherlich ist es so, dass die politische Ebene des Textes den Heutigen nur durch einen Kommentar erschlossen werden kann, doch gerade die beiden Reisen der zweiten, unbekannteren Hälfte des Buchs enthalten satirische Schilderungen, die zeitlos sind und seit dem 18. Jahrhunderts nichts von ihrer Schärfe verloren haben. Doch der Reihe nach.

Lemuel Gulliver ist von Beruf Wundarzt (surgeon) und heuert in dieser Funktion auf mehreren Schiffen an; seine letzte Fahrt bestreitet er sogar als Kapitän des entsprechenden Schiffes, da er sich über die Jahre die nötigen seemännischen Kenntnisse erworben hat. Die vier Reisen, die er beschreibt, umfassen die Jahre 1699 bis 1715, also die unmittelbare Vergangenheit des Autors und seiner zeitgenössischen Leser. Reise- und Abenteuerliteratur stand damals hoch im Kurs (1697 ff.: William Dampier, 1712: Alexander Selkirk, 1719: Daniel Defoe), so dass Swift allein von daher ein hohes Interesse für ein weiteres Reisebuch erwarten durfte. Dass es sich bei Gullivers Reisen nicht um ein alltägliches Reisebuch handeln sollte, stellt bereits die erste Reise klar.

Zuerst erreicht Gulliver nach einem Schiffbruch die Insel Lilliput und findet sich, als er aus seiner Erschöpfung erwacht, von einem Volk winziger Menschlein an den Boden gefesselt. Er erwirbt jedoch bald das Vertrauen der Liliputaner und lebt in der Hauptstadt in der Nähe des Hofes. Der Hof selbst kann als eine konkrete politische Satiren auf den englischen Hof im Allgemeinen und auf den Georges I. im Besonderen gelesen werden, es ergibt sich aber auch das Vexierbild der menschlichen Gesellschaft als Ameisenstaat, betrachtet von der Höhe eines Riesen, dem die Intrigen und Machenschaften der Menschlein nur wenig anhaben können. Ganz logisch ist es, diesen Einfall in der zweiten Reise nach Bobdingnag umzukehren und so den Erzähler in die Rolle des Menschleins zu versetzen. Hier erscheint Gulliver denn auch mehr als Spielzeug von Plänen und Zufällen, die über ihn walten und ihn mit Leichtigkeit vernichten können. Die Satire wird hier fortgesetzt, in dem Gulliver dem König von Brobdingnag die englischen staatlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse schildert, die dann aus Sicht eines vernünftigen Herrschers kommentiert und kritisiert werden.

Die dritte Reise nach Laputa, Balnibarbi, Luggnagg, Glubbdubdrib und Japan liefert in der Hauptsache  eine Gelehrten- und Wissenschaftssatire, während Gullivers letzte Reise zu den Houyhnhnms einen utopischen Gegenentwurf zur zeitgenössischen Gesellschaft enthält, in dem die Pferde als Wesen von wahrer und vollkommener Menschlichkeit geschildert werden, mit denen verglichen die Menschen (Yahoos) nur als wilde Tiere erscheinen.

Im Gegensatz zu den zahlreichen anderen Texten Swifts ist Gullivers Reisen vergleichsweise häufig ins Deutsche übersetzt worden. Ich selbst besitze die älteren, im Großen und Ganzen verlässlichen Übersetzungen von Greve (1910) und Kottenkamp (1918), kenne aber die neueren Übersetzungen etwa von Mummendey (1952?) oder Real und Vienken (1987) nicht. Von daher hatte ich mich auf die Neuübersetzung durch Christa Schuenke durchaus gefreut. Schuenke ist eine der hochgelobten und preisgekrönten deutschen Übersetzerinnen; es war also eine solide und ansprechende Übersetzung zu erwarten. Es ließ sich auch ganz gut an: Schuenke übersetzt Swift zwar etwas in die Breite, aber ihr künstlicher Ton des 18. Jahrhunderts ist durchaus nett und gut getroffen, ohne den Leser zu sehr zu belasten.

Gestutzt habe ich dann aber zum ersten Mal auf Seite 197. Swift hat die in seiner Zeit durchaus geläufige Gepflogenheit, jedes Kapitel mit einer kurzen Zusammenfassung seines Inhalts zu beginnen. So auch beim 3. Kapitel der zweiten Reise:

Der Verfasser wird vor Gericht gestellt.
Die Königin kauft ihn von seinem Herrn, dem Bauern,
los und zeigt ihn ihrem König. Er disputiert mit den großen
Gelehrten Seiner Majestät. Dem Verfasser wird ein Gemach
bei Hofe hergerichtet. Er steht bei der Königin in höchster
Gunst. Er tritt für die Ehre seines Heimatlandes ein.
Sein Zwist mit dem Zwerg des Königs.

Das Problem ist nun, dass im nachfolgenden Kapitel von einem Gericht gar keine Rede ist; ein Blick ins Original klärt die Frage: ‘The author sent for to court.’ bedeutet schlicht: „Der Verfasser wird an den Hof gerufen.“ Das stimmt dann auch mit dem Inhalt des Kapitels überein. So etwas kann immer mal passieren, dass eine automatisch übersetzte Phrase stehen bleibt und nicht korrigiert wird. (Diese empathische Deutung hat sich nicht bewährt, da Frau Schuenke auf S. 425 darauf besteht, dieselbe Phrase auf dieselbe Weise falsch zu übersetzen!) Als ich dann aber auf die nächste Formulierung stieß, die im Deutschen nur wenig Sinn hatte, habe ich mir für gut 20 Seiten den Text von Frau Schuenke einmal genauer angeschaut:

SeiteSwiftSchuenkeDeutsch
318and would permit no man to search me.und keinem Menschen zu erlauben, dass er nach mir suche.und wollte niemandem erlauben, mich zu durchsuchen.
320for I had about me my flint, steel, match, and burning-glass.(Denn meinen Feuerstein und meinen Wetzstahl, mein Zündholz und mein Brennglas hatte ich bei mir.)denn ich hatte Feuerstein, Wetzstahl, Lunte und Brennglas bei mir.

desolategottverlassenwüst
321and could plainly discover numbers of peopleund sah deutlich ein Gewimmel von unzähligen Menschenund entdeckte deutlich zahlreiche Menschen

I was not able to distinguishkonnte ich nicht erkennenkonnte ich nicht unterscheiden
323that these were sent for orders to some person in authority upon this occasiondass diese Leute Abgesandte waren, die irgendeinem hochgestellten Herrn den Vorfall melden solltendass sie zu einer Person, die in diesem Fall zuständig war, um Befehle geschickt worden waren
323 f.not unlike in sound to the Italiandas mich ein wenig an das Italienische gemahntedas so ähnlich wie Italienisch klang.
325At my alightingSobald ich von dem Sitze abgestiegenBei meiner Landung
331obsoletedie nicht mehr in Gebrauch istobsolet

by corruptiondurch die Erweichung der Konsonantendurch Verderb
333eleven o’clockelf Glasen*elf Uhr

capital cityMetropoleHauptstadt
334certainmehrerenbestimmten

which mounted up directly,die alsdann auf geradem Wege hochgezogen wurdendie direkt nach oben stiegen

the beauty of a woman, or any other animal,die Schönheit einer Fraudie Schönheit einer Frau oder eines anderen Tiers
335They are very bad reasonersIm Spekulieren sind sie gar nicht gutSie sind sehr schlecht im Argumentieren
337severalgewissemehrere
338in its absence from the sunin seinem Aphel**bei seinem sich entfernen von der Sonne
339because they want the same endowments.weil sie nicht über die gleichen Geistesgaben verfügenweil sie sich die gleichen Gaben wünschen***
341and that they are much more uniform, than can be easily imaginedund auch viel weniger verschieden sind, als man es sich vielleicht so mir nichts, dir nichts vorstelltund dass sie viel einheitlicher sind, als man sich gemeinhin vorstellt
362metropolisHauptstadtMetropole
* Es gibt in jeder Wache nur acht Glasen!
** Das Wort Aphel rutscht hier in die Übersetzung, weil Frau Schuenke das kurz zuvor im Text stehende Wort Perihel nachgeschaut und die Erklärung beider Begriffe nicht verstanden hat.
*** Frau Schuenke verdirbt hier, wie andere Übersetzer vor ihr, eine sexuelle Pointe, weil sie das Original nicht versteht.
Die Seitenzahlen beziehen sich auf die hier besprochene Ausgabe.

Ich kann aufgrund weiterer Stichproben im übrigen Text versichern, dass Schuenkes Übersetzung durch die oben aufgeführten Beispiele musterhaft charakterisiert ist. Fontane hat es den Kritikern für alle Zeit ins Stammbuch geschrieben: „Schlecht ist schlecht und es muß gesagt werden.“ Von einer Lektüre oder gar dem Erwerb des Buches kann leider nur abgeraten werden.

Jonathan Swift: Gullivers Reisen. Aus dem Englischen von Christa Schuenke.  München: Manesse, 2017. Pappband, Fadenheftung, Lesebändchen, 704 Seiten. 28,– €.

Robert Louis Stevenson: Der Strand von Falesá

Ich fand, Falesá war scheint’s wirklich genau der rechte Ort, und je mehr ich trank, desto leichter wurd mir das Herz.

Diese Erzählung, die 1892 zuerst als Serie in The Illustrated London News erschien und ein Jahr später zusammen mit dem in Deutschland weit bekannteren Der Flaschenkobold und Die Insel der Stimmen auch als Buch erschien, ist wahrscheinlich die realistischste Südsee-Erzählung Stevensons überhaupt: Sie spielt um 1870 auf der fiktiven Südsee-Insel Falesá – vielleicht auch nur an dem fiktiven Ort Falesá auf Samoa – und wird erzählt von dem wenig er­folg­rei­chen britischen Händler John Wiltshire, der dort den verlassenen Posten einer Handelsgesellschaft übernimmt. Empfangen wird er von dem bereits anwesenden Händler Case, der für eine Weile sein einziger An­sprech­part­ner ist, da Case Englisch, Wiltshire aber nicht die lokale Sprache der Eingeborenen spricht.

Das erste, was Case für Wiltshire noch am Tag seiner Ankunft organisiert, ist eine Schein-Hochzeit mit der lokalen Schönheit Uma. Gleich am nächsten Tag bemerkt der Erzähler aber, dass irgend etwas nicht ganz in Ordnung zu sein scheint, denn nahezu den ganzen Tag über wird sein Haus von Schaulustigen umlagert, ohne dass klar würde, warum. Allerdings stellt der Erzähler bald fest, dass das nicht die einzige Schwierigkeit darstellt: Obwohl er mit attraktiven, frischen Waren angekommen ist, besucht niemand seinen Laden. Case zieht vorgeblich Erkundigungen ein, kann aber auch nichts bestimmtes sagen; schließlich führt ein Treffen mit fünf lokalen Häuptlingen zu der Einsicht, dass Uma, selbst eine Fremde auf der Insel, das Problem darstellt: Sie wird von den Inselbewohnern gemieden, seit einer der Häuptlinge bei ihr nicht so zum Zuge gekommen ist, wie er sich das wohl vorgestellt hatte.

Nun wäre es für Wiltshire leicht, Uma einfach aus dem Haus zu werfen, da ihr Trauschein nur ein wertloser Zettel ist. Leider hat sich Wiltshire aber in Uma verliebt, so dass er trotzig versucht, die Situation auf anderem Weg zu bereinigen. Auch ihm wird klar, dass Case, der selbst einmal um Uma geworben hat, ihn absichtlich in diese Lage manövriert hat, um ihn als Konkurrenten rasch und einfach wieder loszuwerden. Bestätigt wird Case als der Bösewicht durch einen von Zeit zu Zeit die Insel besuchenden Missionar, der dann auch zwischen Uma und Wiltshire eine ordentliche Ehe stiftet.

Case hat den lokalen Kopra-Handel monopolisiert und nutzt den Geisterglauben der Eingeborenen aus, um seine Machtposition auf der Insel zu sichern. Dafür hat er einen Teil der Insel zu einer Art Geister- oder Teufels-Refugium ausgebaut, das die Eingeborenen nur unter seiner Begleitung zu betreten wagen. Wiltshire erkundet diesen Teil der Insel und findet auch Wiltshires Teufels-Tempel, den er zu sprengen beschließt. Die nächtliche Expedition zum Tempel, die Sprengung und der anschließende Kampf mit Case bilden den abenteuerlichen Abschluss der Erzählung.

Der Strand von Falesá ist konsequent aus der Sicht eines Briten der Mitte des 19. Jahrhunderts geschrieben: voller Vorurteile, Rassismen und religiöser Gegensätze. Wiltshire hält die Eingeborenen für Untermenschen und der auf Falesá lebende Schwarze ist auch nur insoweit ein Mitglied der Oberschicht, als er gesellschaftlich noch über den Ureinwohnern steht. Natürlich ist es die Aufgabe der Briten, den Inselbewohnern Religion und Zivilisation zu bringen, die Ausbreitung des Katholizismus zu vermeiden und sie möglichst effizient auszubeuten. Sie haben die Kopra herzustellen und bei den Händlern gegen europäische Waren einzutauchen; den doppelten Gewinn streicht selbstverständlich der Brite ein, so wie es von Gott eingerichtet und gewollt ist. Nur aufgrund eines Eides, den ihm der Missionar abnimmt, ist Wiltshire gezwungen, die Inselbewohner nicht geschäftlich zu übervorteilen, weshalb er auch froh ist, die Insel bald wieder verlassen zu haben, um die ihm zustehenden gewöhnlichen Margen zu kassieren. Aber auch die Ureinwohner sind keine frommen Wilden, sondern pflegen ihre eigenen, sehr klaren Vorstellungen davon, was von Weißen zu halten ist und wie man mit ihnen umzugehen hat.

Stevenson vermeidet in dieser Erzählung, auch nur einen einzigen Mythos der Südsee zu bestätigen. Weder seine Weißen noch seine Insulaner sind gute Menschen, wie sie ein zeitgenössischer Leser in einer ordentlichen Erzählung erwarten durfte. Einziger Lichtblick ist die Treue Wiltshires Uma gegenüber, aber selbst als Ich-Erzähler, der jede Gelegenheit hat, sich in ein gutes Licht zu rücken, kann Wiltshire letztendlich nur als Mörder und Ausbeuter angesehen werden, als Schein-Christ, der seinen Unterhalt aus der Übervorteilung der Inselbewohner bezieht. Auch in der Südsee war die Welt nicht mehr in Ordnung, wenn sie es denn je gewesen sein sollte.

Friedhelm Rathjen liefert mit dieser Übersetzung in bewährter Manier im eigenen Verlag die Ergänzung zu den beiden oben genannten Erzählungen des Sammelbandes Island Nights’ Entertainment. Wer Rathjen als Übersetzer kennt und schätzt, weiß, was ihn erwartet; wer ihn nicht kennt, hat hier die Gelegenheit ihn mit einem der besten Texte Stevensons kennenzulernen!

Robert Louis Stevenson: Der Strand von Falesá. Übersetzt von Friedhelm Rathjen. Südwesthörn: Edition ReJoyce, 2017. Auf 99 Exemplare limitierte, nummerierte und vom Übersetzer signierte Auflage. Bedruckter Pappband, 112 Seiten. 25,– €. Bestellung direkt an: rejoyce@gmx.de

E. T. A. Hoffmann: Prinzessin Brambilla

So ist wohl Faust »klassisch« aber Wilhelm Meisters Wanderjahre eine freche Formschlamperei mit durchschnittlichem Inhalt; und die »Prinzessin Brambilla« ist ein Kunstwerk, und »Hanswursts Hochzeit« und dergleichen, säuische Lappalien, nicht wert der Druckerschwärze.

Arno Schmidt

Nur ein Jahr nach Klein Zaches genannt Zinnober lieferte Hoffmann dem Publikum sein nächstes längeres Märchen: Prinzessin Brambilla. Angeregt wurde der Text oder genauer seine Figuren und ihre Verkleidungen durch eine Reihe von Graphiken Jacques Callots, die Hoffmann im Januar 1820 zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Hoffmann hat 8 der 24 Blätter des Albums Balli di Sfessania ausgewählt, sie in Kupfer stechen und dem Märchen beibinden lassen. Dessen Handlung spielt während des Römischen  Karnevals, und im Mittelpunkt steht der Schauspieler Giglio Fava, der sich in die Märchenlandprinzessin Brambilla verliebt und sich wieder geliebt glaubt. Vor diesem Abenteuer war er dem Anscheine nach mit der Putzmacherin Giacinta Soardi beinahe fast schon verlobt, der nun wiederum von dem Prinzen Cornelio Chiapperi der Hof gemacht wird.

Die Prinzessin und der Prinz sind auf etwas undurchsichtige Weise mit den Schicksalen des Zauberreiches Urdargarten verbunden, das leider seinen Herrscher König Ophioch verloren hat, bevor die Thronfolge ausreichend geregelt war. Nun ist die einzige Hoffnung für das Land das Wirken des Zauberers Magus Hermod, der selbstredend auch unter dem Namen Ruffiamonte weitgehend unbekannt ist. Giglio durchläuft in lockerer Folge zahlreiche Abenteuer, versucht seine alte Geliebte aus dem Gefängnis zu befreien, in dem sie gar nicht sitzt, verliert leider seine Anstellung am Theater, erhält aber auf zauberische Weise einen Beutel Dukaten, der sich nie zu leeren scheint, wird vom Tragödiendichter Chiari mit seinem neuen Stück bekannt gemacht, in dem er die Titelrolle des Moro bianco über­neh­men soll, tanzt mit einer geheimnisvoll Maskierten, in der er die Prinzessin vermutet, trägt ein Duell aus, in dem er sich selbst niedersticht und dabei zugleich die Identität wechselt und was der Possen mehr sind. Er schlüpft dabei von Kostüm zu Kostüm und so in die diversen Masken, die Hoffmann in den Blättern Callots gefunden hatte. Auch hier heißt es sicherlich nicht zuviel verraten, wenn man sagt, dass am Ende des Karnevals alles gut endet, sowohl für die beiden Verliebten in Rom als auch für Prinz und Prinzessin in Urdargarten, wobei gar nicht so klar ist, ob es denn wirklich vier Personen waren, die sich da umeinander gedreht haben.

Den meisten Zeitgenossen war das Märchen zu locker gearbeitet und Hoffmann musste neben Lob seiner reichen Phantasie auch einige herbe Kritik einstecken. Erst im vergangenen Jahrhundert ist die Prinzessin Brambilla aufgrund ihrer motivischen Dichte, der zahlreichen Spiegelungen und Wechselbilder, der Wiederaufnahme des Theaterthemas und all der weiteren feinen Vorzüge so geschätzt worden, wie sie es verdient hat. In der leider nur allzu kurzen Entwicklung des Erzählers Hoffmann bildet dies hübsche Märchen eine wichtige Zwischenstufe hin zum leichten und nur scheinbar anspruchslosen Stil seiner letzten Erzählungen.

E. T. A. Hoffmann: Prinzessin Brambilla. Ein Capriccio nach Jakob Callot. In: Sämtliche Werke 3. Hg. v. Hartmut Steinecke. Frankfurt: Deutscher Klassiker Verlag, 22011. Leinen, Fadenheftung, zwei Lesebändchen, 1200 Seiten. Diese Ausgabe ist derzeit nur als Taschenbuch lieferbar.

Shortlists (3) – nicht zu Ende gelesen!

Blogger-Kollege Jürgen Fenn hat auf seiner Schneeschmelze auf eine Umfrage des französischen Radiosenders France Culture hingewiesen, der seine Hörer nach nicht zu Ende gelesenen Romanen gefragt hat. Fenn weicht – kluger Weise? – jeder Diskussion der Ergebnisse aus und listet einfach nur die Top-10 auf:

  1. Ulysses von James Joyce
  2. Die Wohlgesinnten von Jonathan Littell
  3. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit von Marcel Proust
  4. Der Herr der Ringe von J. R. R. Tolkien
  5. Die Schöne des Herrn von Albert Cohen
  6. Der Mann ohne Eigenschaften von Robert Musil
  7. Rot und Schwarz von Stendhal
  8. Madame Bovary von Gustave Flaubert
  9. Hundert Jahre Einsamkeit von Gabriel Garcia Marquez
  10. Reise ans Ende der Nacht von Louis-Ferdinand Céline

Wie bei vielen Fällen statistischer Daten ist die Deutung schwierig: Zwar haben auf die Umfrage immerhin 3.000 Hörer geantwortet, aber sie dürften dennoch kaum eine repräsentative Stichprobe bilden, denn zum einen handelt es sich um Franzosen – wofür sie selbstredend nichts können – und zum anderen sind sie Hörer eines Kultursenders. Jenes führt dazu, dass sechs von zehn Titeln von französischen Autoren stammen, dieses, dass alle Titel zumindest in dem Verdacht stehen müssen, zur Hochkultur zu gehören.

Aber vielleicht liegt die Vorhersehbarkeit der Antworten auch in der Frage begründet: Während kaum jemand auf Fragen wie „Am Fuß welcher 8.000er haben Sie bereits gestanden, ohne sie bestiegen zu haben?“ oder „In welchen Ozeanen haben Sie schon gebadet, ohne sie durchschwommen zu haben?“ antworten würde, machen Kulturmenschen bei der Frage nach abgebrochenen Lektüren sofort Männchen und geben hechelnd genau jene Antworten von sich, die von ihnen erwartet werden; und je anonymer die Befragten, desto stereotyper die Antworten.

Natürlich führt der Joycesche Ulysses das Feld in jeder dieser Umfragen an. Der durchaus begründete Ruf der Bedeutung dieses Romans steht in direkt reziproker Proportionalität zum Glauben des kultivierten Lesers, er müsse ihn einerseits gelesen haben, er – der Roman, nicht der Leser – werde aber andererseits zu Recht für unlesbar gehalten; es versteht sich von selbst, dass beides falsch ist. Nicht der Ulysses ist unlesbar, sondern die meisten seiner Leser begegnen ihm mit zumeist unbewussten Konzepten, wie ein Roman zu funktionieren habe, denen das Buch aber in nur ver­schwin­den­den Anteilen entspricht. Anders gesagt: Die Leser des Ulysses scheitern in der Regel an ihren anderwärts sich bewährenden Vorurteilen, nicht am Buch.

Ganz anders dagegen ein Fall wie Der Mann ohne Eigenschaften: Hier scheitert das Zuendelesen bereits an der Tatsache, dass der Roman gar nicht zu Ende geschrieben worden ist, dass also auch die umfangreichste und gründlichste Lektüre immer den Fall liefert, dass man das Buch nicht zu Ende gelesen hat; was aber naturgemäß die wenigsten der Befragten wissen dürften, da sie lange vor diesem nicht existenten Ende aufgegeben haben. Das wiederum liegt daran, dass Musil für einen impliziten Leser schreibt, der deutlich intelligenter und aufmerksamer ist als der reale. Das meiste, was Musil schreibt, entkommt seinen Lesern also direkt über den Kopf hinweg ins Nichts.

Ganz anders wiederum ein Fall wie Der Herr der Ringe, ein Buch, das, wenn man ehrlich ist, nicht nur von gähnender Langweiligkeit ist, sondern auch seine wichtigste Pointe bereits im Titel des dritten Bandes ausschwatzt: Die Rückkehr des Königs. Ganz abgesehen davon, dass man inzwischen bequem die Verfilmung anschauen kann.

Ganz anders wiederum ein Fall wie Madame Bovary, bei dem es sich nur mit massivster Humorlosigkeit oder Gehirnamputation erklären lässt, wenn einer das Buch nicht zu Ende liest. Man sieht leicht, wohin das führt.

Aber – und deshalb schreibe ich das alles hier– am andersten ein Fall wie Die Schöne des Herrn, zumindest für einen deutschen Leser – für mich: Mir war die Existenz des Buches bis zu dieser Umfrage komplett entgangen, was sich am einfachsten daraus erklärt, dass Elke Heidenreich es empfohlen hat. Etwas verwundert darüber, dass ich dieses eine Buch der Liste so gar nicht einordnen konnte, habe ich mir beim deutschen Verlag eine Leseprobe der Übersetzung her­un­ter­ge­la­den und durfte gleich auf der zweiten Seite  folgendes lesen:

Um den knirschenden Kies zu vermeiden, wagte er einen Sprung in die mit Muschelwerk eingefassten Hortensienbeete.

Was für ein Mann! Nicht nur läuft er seit Textbeginn mit nacktem Oberkörper durch den Roman, er wagt es auch, in mehrere Hortesienbeete zugleich zu springen! Mir läuft es eiskalt den Nasenrücken herunter. Aber gleich geht es weiter: Völlig unvorbereitet und unvorhersehbar hat unser Held etwas in der Hand:

Er lächelte ohne Grund und ging auf und ab, von Zeit zu Zeit seine automatische Pistole in der Hand wiegend.

Ja, seinen Ballermann hat er wohl aus der Hose gefischt, weil der Autor nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen wollte. Und auch die Übersetzung hat es in sich:

In dem Salon, dessen Wände mit rotem Samt ausgeschlagen und mit vergoldetem Holz getäfelt waren, …

Nun kann zwar ein Salon mit Samt ausgeschlagen sein, aber seine Wände können es nicht. Um etwas mit etwas anderem ausschlagen zu können, bedarf das erste Etwas so etwas wie eines Innenraums, was Wände schlechthin nicht haben. Aber es wird noch besser:

Stieß sie sich an irgendeiner Unzulänglichkeit, wie eine brüchige Rampe, ein aus den Fugen geratenes Eisengitter, ein versiegter öffentlicher Brunnen, …

Verzweifelnd nach vorn blätternd, entdecke ich, dass das Buch nicht nur einen Übersetzer, sondern auch noch einen grundlegenden Überarbeiter der Übersetzung hat. Nur damit man es recht versteht: Ein französischer Roman aus dem Jahr 1968 wurde nicht nur 1983 ins Deutsche übersetzt, sondern die Übersetzung war offenbar derart, dass 2012 eine grundlegende Überarbeitung erschien. Dabei ist das Buch zweimal durchs Lektorat gegangen, und dann steht ein Satz wie der oben zitierte auf der achten Textseite. Das ist kein Deutsch! Auch wenn auf der Straße und in der Tagesschau so gesprochen wird, ist das kein Deutsch. Wer mag, kann den Grund gern unter „Kongruenz im Kasus“ nachschlagen. Was auch immer im Original steht, es kann nicht auch nur halbwegs so schrecklich sein wie das, was im Deutschen daraus geworden ist.

Und auch wenn ich kaum angefangen habe, werde ich dieses Buch nicht zu Ende lesen. Weil es fürchterlich ist; weil der Übersetzer oder der Üb­er­ar­bei­ter kein Deutsch kann; weil solche Bücher unerträglich sind. Von Frau Heidenreich empfohlen: „Wenn ich jetzt sagen müsste, welches das schönste Buch ist, was ich in meinem Leben gelesen habe, wäre es dieses.“ – Jo!

Und wie geht sowas jetzt in eine Umfrage ein?

Homer: Ilias

Zehn Jahre nach seiner Odyssee-Übersetzung legt Manesse nun auch die Ilias in der Übertragung durch Kurt Steinmann vor. Das Buch ist – wie schon sein Vorläufer – exquisit ausgestattet: ein großformatiger, geprägter Leinenband in bedrucktem Schuber, zwei Lesebändchen, 16 farbige, zum Teil doppelseitige Illustrationen, die sich dem grausigen Geschehen stellen, das das Epos schildert, eine ebenso aus­ge­such­te wie großzügige Typographie – alles, was man sich von einem repräsentativen Geschenkbuch wünschen kann. Leider ist das ebenso prunkvolle Gegenstück von 2007 lange schon nicht mehr lieferbar; wer also damals nicht vorsorglich eingekauft hat, muss heute die An­ti­qua­ri­a­te bemühen, um zu sehen, wie schön die beiden Bände aufeinander abgestimmt sind: Während die Odyssee mit einem tiefen Blau die Ägäis beschwört, ist der Einband der Ilias farblich zum Violetten hin verschoben worden; schon der Einband deutet die Ströme von Blut an, die in diesem Epos fließen. Leser, so ist zu befürchten, wird Steinmanns Übersetzung in dieser Ausgabe wohl eher wenige finden, aber dafür wird dann später eine preiswerte Ausgabe sorgen, die allein den Text und die Anmerkungen liefert.

Homer – Es ist dem Leser des 21. Jahrhunderts gänzlich unverständlich, warum sich in der Antike niemand besser um die Biographie des ersten europäischen Dichters überhaupt gekümmert hat. Nicht nur soll es dieser mythischen Person gelungen sein, zu einem unbestimmten Zeitpunkt an sieben Orten gleichzeitig geboren worden zu sein, auch hat er blind und ohne Blindenschrift Texte verfasst, die schon im Goldenen Jahrhundert Athens zentraler Inhalt aller Bildung waren. Mir wurde an der Universität noch die Mär erzählt, jeder gebildete Grieche habe beide Epen Homers Zeile für Zeile auswendig gekonnt, und auf meine Rückfrage, woran man denn einen gebildeten Griechen habe erkennen können, geantwortet, eben daran, dass er beide Epen Homers Zeile für Zeile auswendig konnte. O selige Zeit, die solche Definitionen pflegen konnte.

Alles zusammengenommen wissen wir von Homer nichts: Weder wann und ob er überhaupt gelebt hat, ob er, wie schon die Antike glaubte, blind war, ob die beiden Epen tatsächlich das Produkt einer einzigen Person sind oder von zwei Redakteuren oder gar zwei oder mehr Redakteuren pro Epos zu­sam­men­ge­schrie­ben worden sind, wieviel von seinem Stoff aus mündlicher Überlieferung stammt und wie diese Überlieferung ausgesehen haben könnte etc. pp. Zu allen diesen Fragen gibt es ausgiebige wissenschaftliche Spekulationen, verlässliches Wissen aber hatte schon die Antike nicht mehr.

So sollten Leser sich angewöhnen, den Namen Homer als eine Art Platzhalter anzusehen für den- oder diejenigen, die vermutlich im 8. Jahrhundert v.u.Z. die Mühe auf sich genommen haben, aus dem altehrwürdigen Sagenstoff zwei Epen zu schmieden, die am Beginn aller erzählenden Literatur Europas stehen.

Ilias – Die Ilias schildert einen kurzen, nur 51 Tage umfassenden Ausschnitt aus dem zehn Jahre andauernden, mythischen Krieg um Troja. Erzählanlass ist die Beleidigung eines Priesters des Apoll, der im Heerlager der Griechen (man verzeihe mir die saloppe Zusammenfassung der Troja belagernden Volksgruppen unter dieser anachronistischen Bezeichnung) vor Troja erscheint und seine als Kriegsbeute verschleppte Tochter Chryseïs vom griechischen Heerführer Agamemnon zurück erbittet. Aufgrund dieser Beleidigung sendet Apoll eine Seuche ins Lager der Griechen, die nur dadurch abgewendet werden kann, dass man das Mädchen mit großer Gesandtschaft dem Vater wieder zustellt. Zum Ausgleich für das ihm so entgehende Vergnügen, fordert der Heerführer und König ( ἄναξ/βασιλεύς) Agamemnon das Beutemädchen Briseïs aus dem Besitz des Achill; kein sehr geschickter Schachzug, wie sich zeigen wird.

Achill, ob dieser Kränkung seiner Ehre erzürnt, verweigert die weitere Teilnahme am Krieg gegen die Troër, trägt sich sogar mit dem Gedanken, zusammen mit seinen Myrmidonen das griechische Lager zu verlassen und nach Hause zurückzukehren. Achills Verweigerung führt zu wechselhaft verlaufendem Kampfgeschehen, bei dem die Griechen in Gefahr geraten, ihre Schiffe zu verlieren und so für immer von der Heimat abgeschnitten zu sein.

Die Lage wendet sich erst, als Achills engster Freund Patroklos darum bittet, diesen in der Rüstung Achills auf dem Schlachtfeld vertreten zu dürfen. Als Patroklos dabei von der Hand des troischen Helden Hektor fällt, wendet sich der Zorn des Achill von Agamemnon ab und den Troërn zu; mit einer neuen, vom Gott Hephaistos persönlich geschmiedeten Rüstung wirft er sich ins Kampfgeschehen und tötet den trojanischen Vorkämpfer Hektor, dessen Leiche er vom Schlachtfeld zurück ins Lager der Griechen schleift. Es folgt noch eine ausführliche Schilderung der Beisetzung des Patroklos, und das Epos schließt mit der Besänftigung des Achill, als Priamos, der König Trojas und Vater Hektors sich ins griechische Lager schleicht und er­folg­reich die Herausgabe der Leiche seines Sohnes erbittet, um ihn dem Brauch gemäß beisetzen zu können.

Überlagert wird dieses Geschehen von einer ausführlichen Göttererzählung, die die Handlung zu einer Art von Schachspiel der olympischen Götter macht. Auch auf dem Olymp existieren zwei Parteien: Zeus hält es mit Troja, Hera und Athene dagegen mit den Griechen. Aber es ist nicht nur so, dass der Ratschluss der Götter ganz allgemein das Schicksal der Menschen dirigiert, sondern die Götter greifen auch persönlich und handfest in die Kämpfe um Troja ein; es kommt sogar soweit, dass es dem Griechen Diomedes mit Hilfe der Athene gelingt, den Kriegsgott Ares im Zweikampf zu verletzen!

Aus Sicht der heutigen Leser ist die Ilias ein Text von einer erstaunlichen Brutalität. Die Ilias enthält Beschreibungen kriegerischer Gewalt, rasenden Zorns in der Schlacht, brutalster Orgien von Totschlag und Verstümmelung, so dass der Text, wäre er heute geschrieben, wahrscheinlich keine Ju­gend­frei­ga­be erhalten würde. Die beschriebene Welt ist eine kämpfender Män­ner, die dem Feind gegenüber in der Schlacht keine Gnade kennen und von ihm ebensowenig Gnade erwarten, die für sich und den Mann neben sich kämpfen und wissen, dass sie nur mit dem eigenen Leben davonkommen werden, wenn sie sich ohne Kompromiss der Gewalt des Krieges ausliefern und zugleich die Götter mit Wohlwollen auf sie blicken.

Doch was Homer schildert, geht noch darüber hinaus: Er zeigt nur einen Ausschnitt eines zehn Jahre andauernden Ringens zweier Großmächte. Die Griechen sind mit 50.000 Mann vor Troja erschienen und doch wäre es ihnen auch nach zehn Jahren nicht gelungen, die Stadt zu erobern, hätte nicht der listenreichen Odysseus einen Einfall gehabt, wie man Griechen in die Stadt schmuggeln und diese von innen heraus aufbrechen könne. Aber diesen spektakulären Fall der mächtigen Stadt – sicherlich eine Orgie der Gewalt, die selbst in seiner Vorstellung ihres gleichen gesucht hat – schil­dert Homer nicht, sondern nur vier gewöhnliche Tage der Schlacht; und jeder, der nicht vollständig abgestumpft ist, begreift nicht, wie Menschen zehn Jahre so hätten leben sollen. Sicherlich, Homers Zuhörer oder Leser waren zum großen Teil Männer, die selbst die Erfahrung der Schlacht gemacht hatten und einer Gesellschaft angehörten, die regelmäßig ihre Interessen nach außen hin nur dadurch durchsetzen konnte, dass sie in einen Krieg zog. Für nahezu jeden erwachsenen Mann gehörte der Krieg zum unvermeidlichen Erfahrungsschatz. Es ist daher kein Wunder, dass die meisten heutigen Leser vor dem brutalen Realismus des Trojanischen Krieges erschrecken.

Der heutige Leser sollte sich aber zum einen klar machen, dass die Ilias von Vorgängen erzählt, die zu dem Zeitpunkt, als sie abgefasst wurde, min­de­stens 400 Jahre in der Vergangenheit lagen. Dieser zeitliche Abstand ist in etwa vergleichbar mit dem der romantischen Ritterromane zu dem Mittelalter, das ihre historische Folie bildet. Zum anderen ist die Ilias ein Werk der Fiktion, was auch immer die Griechen der Antike geglaubt haben mögen. Einen solchen Krieg um Troja, zumal einen, dessen Grund der Raub einer Ehefrau war, hat es nie gegeben. Und falls es sich bei dem Schutt­hau­fen Hisarlık tatsächlich um die Überreste des antiken Troja handeln sollte, so haben sich dort bislang keinerlei Anzeichen für eine auch nur annähernd so umfangreiche kriegerische Auseinandersetzung finden lassen, wie die Ilias sie beschreibt. Anders gesagt: Der Trojanische Krieg fand und findet nur an einem einzigen Ort statt – auf den Seiten der Ilias, nirgends sonst.

Es ließe sich hier nun eine breite Reflexion darüber anschließen, welchen Status Ilias und Odyssee für die Griechen der Antike hatten, auf welche Weise diese beiden Epen zusammen mit dem, was wir sonst noch griechische Sagen nennen, ihnen eine Art von Ersatz-Historie lieferte für eine Zeit, von der sie wussten, dass es dort bereits Griechen gegeben hatte, die aber geschichtlich für sie komplett verloren gegangen war. Über die Dunklen Jahrhunderte hinweg  zur Zeit der Heroen, als noch Götter und Halbgötter auf Erden wandelten, reichten nur diese Erzählungen, mit denen sich die Griechen ihrer Herkunft und gemeinsamen Geschichte versichern konnten. Aber es wird ohnehin schon lang genug.

Homer auf Deutsch – Mit der Übersetzung der Odyssee durch Johann Heinrich Voß beginnt 1781 eigentlich erst so recht die Geschichte Homers auf Deutsch, obwohl er bei weitem nicht der erste war, der sich dem antiken Epiker gewidmet hat. Seine Übersetzungen machten die Deutschen des 18. Jahrhunderts zuerst und auf Dauer mit Homer bekannt und ließen den Odysseus zu einem der Abenteuerhelden der deutschen gebildeten Jugend werden. Und Voß gab auch den Weg vor, den die meisten Übersetzer nach ihm gehen würden, den des deutschen Hexameters. Es ist eine Ausnahme, dass ein Übersetzer sich entschließt, diesen Widerstand des griechischen Originals zu umgehen und zu versuchen, den homerischen Text in schlichte Prosa zu übertragen; ich kenne drei, genauer zweieinhalb Übersetzungen in Prosa: die der Odyssee von Wolfgang Schadewaldt sowie die beider Epen von Gerhard Schreiber und Karl Ferdinand Lempp, dessen Übersetzung eine Art von Notwehr darstellt, nachdem er den Voßschen Homer vergeblich ver­sucht hatte, im Unterricht zu vermitteln. Für eine Übersetzung in Prosa spricht Homers von allen Kennern des Originals so gelobter Lakonismus, seinen Neigung zu einfachem und unaufgeregtem Ausdruck selbst bei aufgeregtester Textlage. Wie man es und sich auch wendet, so kommt der Hexameter im Deutschen noch in seinem bescheidensten Ausdruck immer etwas zu großartig daher. Doch kann man dem mit einigem Recht ent­ge­gen­hal­ten, dass Homer sich die Mühe des Hexameters nicht umsonst gemacht habe und Übersetzer und Leser eben diese Mühe mit­zu­ma­chen haben, um an das Werk heranzukommen. Und natürlich ist es nur eine Frage der Gewohnheit: Hält man dreißig oder auch vierzig Seiten in einer metrischen Übersetzung durch, ja, kann man sich vielleicht sogar dazu überwinden, sie laut vorzulesen, so wird man sich bald in den Duktus einfinden. Besonders vor den neueren Übersetzungen (etwa die Dietrich Ebeners oder Roland Hampes) braucht man keinerlei Furcht zu haben.

Kurt Steinmanns Übersetzung kann sich in Sachen Eingängigkeit und Ver­ständ­lich­keit mit den besten Vorläufern messen. Auch über die gerade in der Ilias erforderliche Flexibilität im Ausdruck verfügt sein Hexameter, so dass er von der blutigsten und brutalsten Sequenz einer Schlacht über die Beschreibung der Waffen des Achill bis hin zur befreienden Komik des Wettlaufs in Buch 23 allen Tönen des Epos gerecht werden kann. Der angehängte Kommentar und das äußerst nützliche, erläuternde Per­so­nen­re­gi­ster beschränken sich auf das Nötigste, so dass hier sicherlich das eine oder andere ein wenig leichthin abgetan wird, was aber dem Nicht-Fachmann nur entgegenkommt; und die anderen haben sich ohnehin schon anderwärts informiert.

Jedem, der sich auf die Antike und ihre Phantasie einlassen mag, kann dieses Buch nur empfohlen werden, obwohl es für den heutigen Leser sicherlich in einigen Teilen eine Zumutung darstellt; aber dafür ist es nahe an den Erfahrungen antiken Lebens. Diejenigen, die mit Iphigenie „das Land der Griechen mit der Seele suchen“ – was ohne Frage ebenso wichtig und nützlich ist –, sollten sich dem Buch mit Vorsicht nähern; denen aber, die wissen möchten, „wie die Alten den Tod gebildet“ – man entschuldige den doppelten Anachronismus – kann man das Buch mit ruhigem Gewissen auf den Gabentisch legen.

Homer: Ilias. Aus dem Griechischen von Kurt Steinmann. München: Manesse, 2017. Großformatiger Leinenband (29,5 × 19 cm) in bedrucktem Schuber, Fadenheftung, zwei Lesebändchen, 16 großformatige, farbige Illustrationen von Anton Christian, 574 Seiten. 99,– €.

Homer: Odyssee. Aus dem Griechischen von Kurt Steinmann. München: Manesse, 2007. Großformatiger Leinenband (29,5 × 19 cm) in bedrucktem Schuber, Fadenheftung, zwei Lesebändchen, 16 großformatige, farbige Illustrationen von Anton Christian, 446 Seiten. In dieser Ausgabe nur antiquarisch lieferbar. Der Text ist in einer alternativen Ausgabe greifbar.