Jonathan Swift: Gullivers Reisen

Jonathan Swift ist in Deutschland und wahrscheinlich leider auch in anderen Ländern der Autor eines halben Buches: Die beiden ersten von Gullivers Reisen (zu den Lilliputanern und den Riesen) werden als Kinderbuch gehandelt, während die zweite Hälfte des Buchs den meisten Lesern schlicht unbekannt bleibt. Allein deshalb ist jede literarische und vollständige Ausgabe des Textes zu begrüßen. Nun legt Manesse zum 350. Geburtstag des Autors am 30. November die Neuübersetzung von Christa Schuenke noch einmal in der Manesse Bibliothek auf. Der Text ist erstmals 2006 in einem Schmuckband erschienen, der auch immer noch lieferbar ist.

Gullivers Reisen (Erstausgabe 1727) liefert gleich eine ganze Reihe anspruchsvoller und zum Teil politisch brisanter Satiren, deren Reduktion auf ein Kinderbuch nur als unglücklich bezeichnet werden kann. Sicherlich ist es so, dass die politische Ebene des Textes den Heutigen nur durch einen Kommentar erschlossen werden kann, doch gerade die beiden Reisen der zweiten, unbekannteren Hälfte des Buchs enthalten satirische Schilderungen, die zeitlos sind und seit dem 18. Jahrhunderts nichts von ihrer Schärfe verloren haben. Doch der Reihe nach.

Lemuel Gulliver ist von Beruf Wundarzt (surgeon) und heuert in dieser Funktion auf mehreren Schiffen an; seine letzte Fahrt bestreitet er sogar als Kapitän des entsprechenden Schiffes, da er sich über die Jahre die nötigen seemännischen Kenntnisse erworben hat. Die vier Reisen, die er beschreibt, umfassen die Jahre 1699 bis 1715, also die unmittelbare Vergangenheit des Autors und seiner zeitgenössischen Leser. Reise- und Abenteuerliteratur stand damals hoch im Kurs (1697 ff.: William Dampier, 1712: Alexander Selkirk, 1719: Daniel Defoe), so dass Swift allein von daher ein hohes Interesse für ein weiteres Reisebuch erwarten durfte. Dass es sich bei Gullivers Reisen nicht um ein alltägliches Reisebuch handeln sollte, stellt bereits die erste Reise klar.

Zuerst erreicht Gulliver nach einem Schiffbruch die Insel Lilliput und findet sich, als er aus seiner Erschöpfung erwacht, von einem Volk winziger Menschlein an den Boden gefesselt. Er erwirbt jedoch bald das Vertrauen der Liliputaner und lebt in der Hauptstadt in der Nähe des Hofes. Der Hof selbst kann als eine konkrete politische Satiren auf den englischen Hof im Allgemeinen und auf den Georges I. im Besonderen gelesen werden, es ergibt sich aber auch das Vexierbild der menschlichen Gesellschaft als Ameisenstaat, betrachtet von der Höhe eines Riesen, dem die Intrigen und Machenschaften der Menschlein nur wenig anhaben können. Ganz logisch ist es, diesen Einfall in der zweiten Reise nach Bobdingnag umzukehren und so den Erzähler in die Rolle des Menschleins zu versetzen. Hier erscheint Gulliver denn auch mehr als Spielzeug von Plänen und Zufällen, die über ihn walten und ihn mit Leichtigkeit vernichten können. Die Satire wird hier fortgesetzt, in dem Gulliver dem König von Brobdingnag die englischen staatlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse schildert, die dann aus Sicht eines vernünftigen Herrschers kommentiert und kritisiert werden.

Die dritte Reise nach Laputa, Balnibarbi, Luggnagg, Glubbdubdrib und Japan liefert in der Hauptsache  eine Gelehrten- und Wissenschaftssatire, während Gullivers letzte Reise zu den Houyhnhnms einen utopischen Gegenentwurf zur zeitgenössischen Gesellschaft enthält, in dem die Pferde als Wesen von wahrer und vollkommener Menschlichkeit geschildert werden, mit denen verglichen die Menschen (Yahoos) nur als wilde Tiere erscheinen.

Im Gegensatz zu den zahlreichen anderen Texten Swifts ist Gullivers Reisen vergleichsweise häufig ins Deutsche übersetzt worden. Ich selbst besitze die älteren, im Großen und Ganzen verlässlichen Übersetzungen von Greve (1910) und Kottenkamp (1918), kenne aber die neueren Übersetzungen etwa von Mummendey (1952?) oder Real und Vienken (1987) nicht. Von daher hatte ich mich auf die Neuübersetzung durch Christa Schuenke durchaus gefreut. Schuenke ist eine der hochgelobten und preisgekrönten deutschen Übersetzerinnen; es war also eine solide und ansprechende Übersetzung zu erwarten. Es ließ sich auch ganz gut an: Schuenke übersetzt Swift zwar etwas in die Breite, aber ihr künstlicher Ton des 18. Jahrhunderts ist durchaus nett und gut getroffen, ohne den Leser zu sehr zu belasten.

Gestutzt habe ich dann aber zum ersten Mal auf Seite 197. Swift hat die in seiner Zeit durchaus geläufige Gepflogenheit, jedes Kapitel mit einer kurzen Zusammenfassung seines Inhalts zu beginnen. So auch beim 3. Kapitel der zweiten Reise:

Der Verfasser wird vor Gericht gestellt.
Die Königin kauft ihn von seinem Herrn, dem Bauern,
los und zeigt ihn ihrem König. Er disputiert mit den großen
Gelehrten Seiner Majestät. Dem Verfasser wird ein Gemach
bei Hofe hergerichtet. Er steht bei der Königin in höchster
Gunst. Er tritt für die Ehre seines Heimatlandes ein.
Sein Zwist mit dem Zwerg des Königs.

Das Problem ist nun, dass im nachfolgenden Kapitel von einem Gericht gar keine Rede ist; ein Blick ins Original klärt die Frage: ‘The author sent for to court.’ bedeutet schlicht: „Der Verfasser wird an den Hof gerufen.“ Das stimmt dann auch mit dem Inhalt des Kapitels überein. So etwas kann immer mal passieren, dass eine automatisch übersetzte Phrase stehen bleibt und nicht korrigiert wird. (Diese empathische Deutung hat sich nicht bewährt, da Frau Schuenke auf S. 425 darauf besteht, dieselbe Phrase auf dieselbe Weise falsch zu übersetzen!) Als ich dann aber auf die nächste Formulierung stieß, die im Deutschen nur wenig Sinn hatte, habe ich mir für gut 20 Seiten den Text von Frau Schuenke einmal genauer angeschaut:

SeiteSwiftSchuenkeDeutsch
318and would permit no man to search me.und keinem Menschen zu erlauben, dass er nach mir suche.und wollte niemandem erlauben, mich zu durchsuchen.
320for I had about me my flint, steel, match, and burning-glass.(Denn meinen Feuerstein und meinen Wetzstahl, mein Zündholz und mein Brennglas hatte ich bei mir.)denn ich hatte Feuerstein, Wetzstahl, Lunte und Brennglas bei mir.

desolategottverlassenwüst
321and could plainly discover numbers of peopleund sah deutlich ein Gewimmel von unzähligen Menschenund entdeckte deutlich zahlreiche Menschen

I was not able to distinguishkonnte ich nicht erkennenkonnte ich nicht unterscheiden
323that these were sent for orders to some person in authority upon this occasiondass diese Leute Abgesandte waren, die irgendeinem hochgestellten Herrn den Vorfall melden solltendass sie zu einer Person, die in diesem Fall zuständig war, um Befehle geschickt worden waren
323 f.not unlike in sound to the Italiandas mich ein wenig an das Italienische gemahntedas so ähnlich wie Italienisch klang.
325At my alightingSobald ich von dem Sitze abgestiegenBei meiner Landung
331obsoletedie nicht mehr in Gebrauch istobsolet

by corruptiondurch die Erweichung der Konsonantendurch Verderb
333eleven o’clockelf Glasen*elf Uhr

capital cityMetropoleHauptstadt
334certainmehrerenbestimmten

which mounted up directly,die alsdann auf geradem Wege hochgezogen wurdendie direkt nach oben stiegen

the beauty of a woman, or any other animal,die Schönheit einer Fraudie Schönheit einer Frau oder eines anderen Tiers
335They are very bad reasonersIm Spekulieren sind sie gar nicht gutSie sind sehr schlecht im Argumentieren
337severalgewissemehrere
338in its absence from the sunin seinem Aphel**bei seinem sich entfernen von der Sonne
339because they want the same endowments.weil sie nicht über die gleichen Geistesgaben verfügenweil sie sich die gleichen Gaben wünschen***
341and that they are much more uniform, than can be easily imaginedund auch viel weniger verschieden sind, als man es sich vielleicht so mir nichts, dir nichts vorstelltund dass sie viel einheitlicher sind, als man sich gemeinhin vorstellt
362metropolisHauptstadtMetropole
* Es gibt in jeder Wache nur acht Glasen!
** Das Wort Aphel rutscht hier in die Übersetzung, weil Frau Schuenke das kurz zuvor im Text stehende Wort Perihel nachgeschaut und die Erklärung beider Begriffe nicht verstanden hat.
*** Frau Schuenke verdirbt hier, wie andere Übersetzer vor ihr, eine sexuelle Pointe, weil sie das Original nicht versteht.
Die Seitenzahlen beziehen sich auf die hier besprochene Ausgabe.

Ich kann aufgrund weiterer Stichproben im übrigen Text versichern, dass Schuenkes Übersetzung durch die oben aufgeführten Beispiele musterhaft charakterisiert ist. Fontane hat es den Kritikern für alle Zeit ins Stammbuch geschrieben: „Schlecht ist schlecht und es muß gesagt werden.“ Von einer Lektüre oder gar dem Erwerb des Buches kann leider nur abgeraten werden.

Jonathan Swift: Gullivers Reisen. Aus dem Englischen von Christa Schuenke.  München: Manesse, 2017. Pappband, Fadenheftung, Lesebändchen, 704 Seiten. 28,– €.

Robert Louis Stevenson: Der Strand von Falesá

Ich fand, Falesá war scheint’s wirklich genau der rechte Ort, und je mehr ich trank, desto leichter wurd mir das Herz.

Diese Erzählung, die 1892 zuerst als Serie in The Illustrated London News erschien und ein Jahr später zusammen mit dem in Deutschland weit bekannteren Der Flaschenkobold und Die Insel der Stimmen auch als Buch erschien, ist wahrscheinlich die realistischste Südsee-Erzählung Stevensons überhaupt: Sie spielt um 1870 auf der fiktiven Südsee-Insel Falesá – vielleicht auch nur an dem fiktiven Ort Falesá auf Samoa – und wird erzählt von dem wenig er­folg­rei­chen britischen Händler John Wiltshire, der dort den verlassenen Posten einer Handelsgesellschaft übernimmt. Empfangen wird er von dem bereits anwesenden Händler Case, der für eine Weile sein einziger An­sprech­part­ner ist, da Case Englisch, Wiltshire aber nicht die lokale Sprache der Eingeborenen spricht.

Das erste, was Case für Wiltshire noch am Tag seiner Ankunft organisiert, ist eine Schein-Hochzeit mit der lokalen Schönheit Uma. Gleich am nächsten Tag bemerkt der Erzähler aber, dass irgend etwas nicht ganz in Ordnung zu sein scheint, denn nahezu den ganzen Tag über wird sein Haus von Schaulustigen umlagert, ohne dass klar würde, warum. Allerdings stellt der Erzähler bald fest, dass das nicht die einzige Schwierigkeit darstellt: Obwohl er mit attraktiven, frischen Waren angekommen ist, besucht niemand seinen Laden. Case zieht vorgeblich Erkundigungen ein, kann aber auch nichts bestimmtes sagen; schließlich führt ein Treffen mit fünf lokalen Häuptlingen zu der Einsicht, dass Uma, selbst eine Fremde auf der Insel, das Problem darstellt: Sie wird von den Inselbewohnern gemieden, seit einer der Häuptlinge bei ihr nicht so zum Zuge gekommen ist, wie er sich das wohl vorgestellt hatte.

Nun wäre es für Wiltshire leicht, Uma einfach aus dem Haus zu werfen, da ihr Trauschein nur ein wertloser Zettel ist. Leider hat sich Wiltshire aber in Uma verliebt, so dass er trotzig versucht, die Situation auf anderem Weg zu bereinigen. Auch ihm wird klar, dass Case, der selbst einmal um Uma geworben hat, ihn absichtlich in diese Lage manövriert hat, um ihn als Konkurrenten rasch und einfach wieder loszuwerden. Bestätigt wird Case als der Bösewicht durch einen von Zeit zu Zeit die Insel besuchenden Missionar, der dann auch zwischen Uma und Wiltshire eine ordentliche Ehe stiftet.

Case hat den lokalen Kopra-Handel monopolisiert und nutzt den Geisterglauben der Eingeborenen aus, um seine Machtposition auf der Insel zu sichern. Dafür hat er einen Teil der Insel zu einer Art Geister- oder Teufels-Refugium ausgebaut, das die Eingeborenen nur unter seiner Begleitung zu betreten wagen. Wiltshire erkundet diesen Teil der Insel und findet auch Wiltshires Teufels-Tempel, den er zu sprengen beschließt. Die nächtliche Expedition zum Tempel, die Sprengung und der anschließende Kampf mit Case bilden den abenteuerlichen Abschluss der Erzählung.

Der Strand von Falesá ist konsequent aus der Sicht eines Briten der Mitte des 19. Jahrhunderts geschrieben: voller Vorurteile, Rassismen und religiöser Gegensätze. Wiltshire hält die Eingeborenen für Untermenschen und der auf Falesá lebende Schwarze ist auch nur insoweit ein Mitglied der Oberschicht, als er gesellschaftlich noch über den Ureinwohnern steht. Natürlich ist es die Aufgabe der Briten, den Inselbewohnern Religion und Zivilisation zu bringen, die Ausbreitung des Katholizismus zu vermeiden und sie möglichst effizient auszubeuten. Sie haben die Kopra herzustellen und bei den Händlern gegen europäische Waren einzutauchen; den doppelten Gewinn streicht selbstverständlich der Brite ein, so wie es von Gott eingerichtet und gewollt ist. Nur aufgrund eines Eides, den ihm der Missionar abnimmt, ist Wiltshire gezwungen, die Inselbewohner nicht geschäftlich zu übervorteilen, weshalb er auch froh ist, die Insel bald wieder verlassen zu haben, um die ihm zustehenden gewöhnlichen Margen zu kassieren. Aber auch die Ureinwohner sind keine frommen Wilden, sondern pflegen ihre eigenen, sehr klaren Vorstellungen davon, was von Weißen zu halten ist und wie man mit ihnen umzugehen hat.

Stevenson vermeidet in dieser Erzählung, auch nur einen einzigen Mythos der Südsee zu bestätigen. Weder seine Weißen noch seine Insulaner sind gute Menschen, wie sie ein zeitgenössischer Leser in einer ordentlichen Erzählung erwarten durfte. Einziger Lichtblick ist die Treue Wiltshires Uma gegenüber, aber selbst als Ich-Erzähler, der jede Gelegenheit hat, sich in ein gutes Licht zu rücken, kann Wiltshire letztendlich nur als Mörder und Ausbeuter angesehen werden, als Schein-Christ, der seinen Unterhalt aus der Übervorteilung der Inselbewohner bezieht. Auch in der Südsee war die Welt nicht mehr in Ordnung, wenn sie es denn je gewesen sein sollte.

Friedhelm Rathjen liefert mit dieser Übersetzung in bewährter Manier im eigenen Verlag die Ergänzung zu den beiden oben genannten Erzählungen des Sammelbandes Island Nights’ Entertainment. Wer Rathjen als Übersetzer kennt und schätzt, weiß, was ihn erwartet; wer ihn nicht kennt, hat hier die Gelegenheit ihn mit einem der besten Texte Stevensons kennenzulernen!

Robert Louis Stevenson: Der Strand von Falesá. Übersetzt von Friedhelm Rathjen. Südwesthörn: Edition ReJoyce, 2017. Auf 99 Exemplare limitierte, nummerierte und vom Übersetzer signierte Auflage. Bedruckter Pappband, 112 Seiten. 25,– €. Bestellung direkt an: rejoyce@gmx.de

E. T. A. Hoffmann: Prinzessin Brambilla

So ist wohl Faust »klassisch« aber Wilhelm Meisters Wanderjahre eine freche Formschlamperei mit durchschnittlichem Inhalt; und die »Prinzessin Brambilla« ist ein Kunstwerk, und »Hanswursts Hochzeit« und dergleichen, säuische Lappalien, nicht wert der Druckerschwärze.

Arno Schmidt

Nur ein Jahr nach Klein Zaches genannt Zinnober lieferte Hoffmann dem Publikum sein nächstes längeres Märchen: Prinzessin Brambilla. Angeregt wurde der Text oder genauer seine Figuren und ihre Verkleidungen durch eine Reihe von Graphiken Jacques Callots, die Hoffmann im Januar 1820 zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Hoffmann hat 8 der 24 Blätter des Albums Balli di Sfessania ausgewählt, sie in Kupfer stechen und dem Märchen beibinden lassen. Dessen Handlung spielt während des Römischen  Karnevals, und im Mittelpunkt steht der Schauspieler Giglio Fava, der sich in die Märchenlandprinzessin Brambilla verliebt und sich wieder geliebt glaubt. Vor diesem Abenteuer war er dem Anscheine nach mit der Putzmacherin Giacinta Soardi beinahe fast schon verlobt, der nun wiederum von dem Prinzen Cornelio Chiapperi der Hof gemacht wird.

Die Prinzessin und der Prinz sind auf etwas undurchsichtige Weise mit den Schicksalen des Zauberreiches Urdargarten verbunden, das leider seinen Herrscher König Ophioch verloren hat, bevor die Thronfolge ausreichend geregelt war. Nun ist die einzige Hoffnung für das Land das Wirken des Zauberers Magus Hermod, der selbstredend auch unter dem Namen Ruffiamonte weitgehend unbekannt ist. Giglio durchläuft in lockerer Folge zahlreiche Abenteuer, versucht seine alte Geliebte aus dem Gefängnis zu befreien, in dem sie gar nicht sitzt, verliert leider seine Anstellung am Theater, erhält aber auf zauberische Weise einen Beutel Dukaten, der sich nie zu leeren scheint, wird vom Tragödiendichter Chiari mit seinem neuen Stück bekannt gemacht, in dem er die Titelrolle des Moro bianco über­neh­men soll, tanzt mit einer geheimnisvoll Maskierten, in der er die Prinzessin vermutet, trägt ein Duell aus, in dem er sich selbst niedersticht und dabei zugleich die Identität wechselt und was der Possen mehr sind. Er schlüpft dabei von Kostüm zu Kostüm und so in die diversen Masken, die Hoffmann in den Blättern Callots gefunden hatte. Auch hier heißt es sicherlich nicht zuviel verraten, wenn man sagt, dass am Ende des Karnevals alles gut endet, sowohl für die beiden Verliebten in Rom als auch für Prinz und Prinzessin in Urdargarten, wobei gar nicht so klar ist, ob es denn wirklich vier Personen waren, die sich da umeinander gedreht haben.

Den meisten Zeitgenossen war das Märchen zu locker gearbeitet und Hoffmann musste neben Lob seiner reichen Phantasie auch einige herbe Kritik einstecken. Erst im vergangenen Jahrhundert ist die Prinzessin Brambilla aufgrund ihrer motivischen Dichte, der zahlreichen Spiegelungen und Wechselbilder, der Wiederaufnahme des Theaterthemas und all der weiteren feinen Vorzüge so geschätzt worden, wie sie es verdient hat. In der leider nur allzu kurzen Entwicklung des Erzählers Hoffmann bildet dies hübsche Märchen eine wichtige Zwischenstufe hin zum leichten und nur scheinbar anspruchslosen Stil seiner letzten Erzählungen.

E. T. A. Hoffmann: Prinzessin Brambilla. Ein Capriccio nach Jakob Callot. In: Sämtliche Werke 3. Hg. v. Hartmut Steinecke. Frankfurt: Deutscher Klassiker Verlag, 22011. Leinen, Fadenheftung, zwei Lesebändchen, 1200 Seiten. Diese Ausgabe ist derzeit nur als Taschenbuch lieferbar.

Shortlists (3) – nicht zu Ende gelesen!

Blogger-Kollege Jürgen Fenn hat auf seiner Schneeschmelze auf eine Umfrage des französischen Radiosenders France Culture hingewiesen, der seine Hörer nach nicht zu Ende gelesenen Romanen gefragt hat. Fenn weicht – kluger Weise? – jeder Diskussion der Ergebnisse aus und listet einfach nur die Top-10 auf:

  1. Ulysses von James Joyce
  2. Die Wohlgesinnten von Jonathan Littell
  3. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit von Marcel Proust
  4. Der Herr der Ringe von J. R. R. Tolkien
  5. Die Schöne des Herrn von Albert Cohen
  6. Der Mann ohne Eigenschaften von Robert Musil
  7. Rot und Schwarz von Stendhal
  8. Madame Bovary von Gustave Flaubert
  9. Hundert Jahre Einsamkeit von Gabriel Garcia Marquez
  10. Reise ans Ende der Nacht von Louis-Ferdinand Céline

Wie bei vielen Fällen statistischer Daten ist die Deutung schwierig: Zwar haben auf die Umfrage immerhin 3.000 Hörer geantwortet, aber sie dürften dennoch kaum eine repräsentative Stichprobe bilden, denn zum einen handelt es sich um Franzosen – wofür sie selbstredend nichts können – und zum anderen sind sie Hörer eines Kultursenders. Jenes führt dazu, dass sechs von zehn Titeln von französischen Autoren stammen, dieses, dass alle Titel zumindest in dem Verdacht stehen müssen, zur Hochkultur zu gehören.

Aber vielleicht liegt die Vorhersehbarkeit der Antworten auch in der Frage begründet: Während kaum jemand auf Fragen wie „Am Fuß welcher 8.000er haben Sie bereits gestanden, ohne sie bestiegen zu haben?“ oder „In welchen Ozeanen haben Sie schon gebadet, ohne sie durchschwommen zu haben?“ antworten würde, machen Kulturmenschen bei der Frage nach abgebrochenen Lektüren sofort Männchen und geben hechelnd genau jene Antworten von sich, die von ihnen erwartet werden; und je anonymer die Befragten, desto stereotyper die Antworten.

Natürlich führt der Joycesche Ulysses das Feld in jeder dieser Umfragen an. Der durchaus begründete Ruf der Bedeutung dieses Romans steht in direkt reziproker Proportionalität zum Glauben des kultivierten Lesers, er müsse ihn einerseits gelesen haben, er – der Roman, nicht der Leser – werde aber andererseits zu Recht für unlesbar gehalten; es versteht sich von selbst, dass beides falsch ist. Nicht der Ulysses ist unlesbar, sondern die meisten seiner Leser begegnen ihm mit zumeist unbewussten Konzepten, wie ein Roman zu funktionieren habe, denen das Buch aber in nur ver­schwin­den­den Anteilen entspricht. Anders gesagt: Die Leser des Ulysses scheitern in der Regel an ihren anderwärts sich bewährenden Vorurteilen, nicht am Buch.

Ganz anders dagegen ein Fall wie Der Mann ohne Eigenschaften: Hier scheitert das Zuendelesen bereits an der Tatsache, dass der Roman gar nicht zu Ende geschrieben worden ist, dass also auch die umfangreichste und gründlichste Lektüre immer den Fall liefert, dass man das Buch nicht zu Ende gelesen hat; was aber naturgemäß die wenigsten der Befragten wissen dürften, da sie lange vor diesem nicht existenten Ende aufgegeben haben. Das wiederum liegt daran, dass Musil für einen impliziten Leser schreibt, der deutlich intelligenter und aufmerksamer ist als der reale. Das meiste, was Musil schreibt, entkommt seinen Lesern also direkt über den Kopf hinweg ins Nichts.

Ganz anders wiederum ein Fall wie Der Herr der Ringe, ein Buch, das, wenn man ehrlich ist, nicht nur von gähnender Langweiligkeit ist, sondern auch seine wichtigste Pointe bereits im Titel des dritten Bandes ausschwatzt: Die Rückkehr des Königs. Ganz abgesehen davon, dass man inzwischen bequem die Verfilmung anschauen kann.

Ganz anders wiederum ein Fall wie Madame Bovary, bei dem es sich nur mit massivster Humorlosigkeit oder Gehirnamputation erklären lässt, wenn einer das Buch nicht zu Ende liest. Man sieht leicht, wohin das führt.

Aber – und deshalb schreibe ich das alles hier– am andersten ein Fall wie Die Schöne des Herrn, zumindest für einen deutschen Leser – für mich: Mir war die Existenz des Buches bis zu dieser Umfrage komplett entgangen, was sich am einfachsten daraus erklärt, dass Elke Heidenreich es empfohlen hat. Etwas verwundert darüber, dass ich dieses eine Buch der Liste so gar nicht einordnen konnte, habe ich mir beim deutschen Verlag eine Leseprobe der Übersetzung her­un­ter­ge­la­den und durfte gleich auf der zweiten Seite  folgendes lesen:

Um den knirschenden Kies zu vermeiden, wagte er einen Sprung in die mit Muschelwerk eingefassten Hortensienbeete.

Was für ein Mann! Nicht nur läuft er seit Textbeginn mit nacktem Oberkörper durch den Roman, er wagt es auch, in mehrere Hortesienbeete zugleich zu springen! Mir läuft es eiskalt den Nasenrücken herunter. Aber gleich geht es weiter: Völlig unvorbereitet und unvorhersehbar hat unser Held etwas in der Hand:

Er lächelte ohne Grund und ging auf und ab, von Zeit zu Zeit seine automatische Pistole in der Hand wiegend.

Ja, seinen Ballermann hat er wohl aus der Hose gefischt, weil der Autor nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen wollte. Und auch die Übersetzung hat es in sich:

In dem Salon, dessen Wände mit rotem Samt ausgeschlagen und mit vergoldetem Holz getäfelt waren, …

Nun kann zwar ein Salon mit Samt ausgeschlagen sein, aber seine Wände können es nicht. Um etwas mit etwas anderem ausschlagen zu können, bedarf das erste Etwas so etwas wie eines Innenraums, was Wände schlechthin nicht haben. Aber es wird noch besser:

Stieß sie sich an irgendeiner Unzulänglichkeit, wie eine brüchige Rampe, ein aus den Fugen geratenes Eisengitter, ein versiegter öffentlicher Brunnen, …

Verzweifelnd nach vorn blätternd, entdecke ich, dass das Buch nicht nur einen Übersetzer, sondern auch noch einen grundlegenden Überarbeiter der Übersetzung hat. Nur damit man es recht versteht: Ein französischer Roman aus dem Jahr 1968 wurde nicht nur 1983 ins Deutsche übersetzt, sondern die Übersetzung war offenbar derart, dass 2012 eine grundlegende Überarbeitung erschien. Dabei ist das Buch zweimal durchs Lektorat gegangen, und dann steht ein Satz wie der oben zitierte auf der achten Textseite. Das ist kein Deutsch! Auch wenn auf der Straße und in der Tagesschau so gesprochen wird, ist das kein Deutsch. Wer mag, kann den Grund gern unter „Kongruenz im Kasus“ nachschlagen. Was auch immer im Original steht, es kann nicht auch nur halbwegs so schrecklich sein wie das, was im Deutschen daraus geworden ist.

Und auch wenn ich kaum angefangen habe, werde ich dieses Buch nicht zu Ende lesen. Weil es fürchterlich ist; weil der Übersetzer oder der Üb­er­ar­bei­ter kein Deutsch kann; weil solche Bücher unerträglich sind. Von Frau Heidenreich empfohlen: „Wenn ich jetzt sagen müsste, welches das schönste Buch ist, was ich in meinem Leben gelesen habe, wäre es dieses.“ – Jo!

Und wie geht sowas jetzt in eine Umfrage ein?

Homer: Ilias

Zehn Jahre nach seiner Odyssee-Übersetzung legt Manesse nun auch die Ilias in der Übertragung durch Kurt Steinmann vor. Das Buch ist – wie schon sein Vorläufer – exquisit ausgestattet: ein großformatiger, geprägter Leinenband in bedrucktem Schuber, zwei Lesebändchen, 16 farbige, zum Teil doppelseitige Illustrationen, die sich dem grausigen Geschehen stellen, das das Epos schildert, eine ebenso aus­ge­such­te wie großzügige Typographie – alles, was man sich von einem repräsentativen Geschenkbuch wünschen kann. Leider ist das ebenso prunkvolle Gegenstück von 2007 lange schon nicht mehr lieferbar; wer also damals nicht vorsorglich eingekauft hat, muss heute die An­ti­qua­ri­a­te bemühen, um zu sehen, wie schön die beiden Bände aufeinander abgestimmt sind: Während die Odyssee mit einem tiefen Blau die Ägäis beschwört, ist der Einband der Ilias farblich zum Violetten hin verschoben worden; schon der Einband deutet die Ströme von Blut an, die in diesem Epos fließen. Leser, so ist zu befürchten, wird Steinmanns Übersetzung in dieser Ausgabe wohl eher wenige finden, aber dafür wird dann später eine preiswerte Ausgabe sorgen, die allein den Text und die Anmerkungen liefert.

Homer – Es ist dem Leser des 21. Jahrhunderts gänzlich unverständlich, warum sich in der Antike niemand besser um die Biographie des ersten europäischen Dichters überhaupt gekümmert hat. Nicht nur soll es dieser mythischen Person gelungen sein, zu einem unbestimmten Zeitpunkt an sieben Orten gleichzeitig geboren worden zu sein, auch hat er blind und ohne Blindenschrift Texte verfasst, die schon im Goldenen Jahrhundert Athens zentraler Inhalt aller Bildung waren. Mir wurde an der Universität noch die Mär erzählt, jeder gebildete Grieche habe beide Epen Homers Zeile für Zeile auswendig gekonnt, und auf meine Rückfrage, woran man denn einen gebildeten Griechen habe erkennen können, geantwortet, eben daran, dass er beide Epen Homers Zeile für Zeile auswendig konnte. O selige Zeit, die solche Definitionen pflegen konnte.

Alles zusammengenommen wissen wir von Homer nichts: Weder wann und ob er überhaupt gelebt hat, ob er, wie schon die Antike glaubte, blind war, ob die beiden Epen tatsächlich das Produkt einer einzigen Person sind oder von zwei Redakteuren oder gar zwei oder mehr Redakteuren pro Epos zu­sam­men­ge­schrie­ben worden sind, wieviel von seinem Stoff aus mündlicher Überlieferung stammt und wie diese Überlieferung ausgesehen haben könnte etc. pp. Zu allen diesen Fragen gibt es ausgiebige wissenschaftliche Spekulationen, verlässliches Wissen aber hatte schon die Antike nicht mehr.

So sollten Leser sich angewöhnen, den Namen Homer als eine Art Platzhalter anzusehen für den- oder diejenigen, die vermutlich im 8. Jahrhundert v.u.Z. die Mühe auf sich genommen haben, aus dem altehrwürdigen Sagenstoff zwei Epen zu schmieden, die am Beginn aller erzählenden Literatur Europas stehen.

Ilias – Die Ilias schildert einen kurzen, nur 51 Tage umfassenden Ausschnitt aus dem zehn Jahre andauernden, mythischen Krieg um Troja. Erzählanlass ist die Beleidigung eines Priesters des Apoll, der im Heerlager der Griechen (man verzeihe mir die saloppe Zusammenfassung der Troja belagernden Volksgruppen unter dieser anachronistischen Bezeichnung) vor Troja erscheint und seine als Kriegsbeute verschleppte Tochter Chryseïs vom griechischen Heerführer Agamemnon zurück erbittet. Aufgrund dieser Beleidigung sendet Apoll eine Seuche ins Lager der Griechen, die nur dadurch abgewendet werden kann, dass man das Mädchen mit großer Gesandtschaft dem Vater wieder zustellt. Zum Ausgleich für das ihm so entgehende Vergnügen, fordert der Heerführer und König ( ἄναξ/βασιλεύς) Agamemnon das Beutemädchen Briseïs aus dem Besitz des Achill; kein sehr geschickter Schachzug, wie sich zeigen wird.

Achill, ob dieser Kränkung seiner Ehre erzürnt, verweigert die weitere Teilnahme am Krieg gegen die Troër, trägt sich sogar mit dem Gedanken, zusammen mit seinen Myrmidonen das griechische Lager zu verlassen und nach Hause zurückzukehren. Achills Verweigerung führt zu wechselhaft verlaufendem Kampfgeschehen, bei dem die Griechen in Gefahr geraten, ihre Schiffe zu verlieren und so für immer von der Heimat abgeschnitten zu sein.

Die Lage wendet sich erst, als Achills engster Freund Patroklos darum bittet, diesen in der Rüstung Achills auf dem Schlachtfeld vertreten zu dürfen. Als Patroklos dabei von der Hand des troischen Helden Hektor fällt, wendet sich der Zorn des Achill von Agamemnon ab und den Troërn zu; mit einer neuen, vom Gott Hephaistos persönlich geschmiedeten Rüstung wirft er sich ins Kampfgeschehen und tötet den trojanischen Vorkämpfer Hektor, dessen Leiche er vom Schlachtfeld zurück ins Lager der Griechen schleift. Es folgt noch eine ausführliche Schilderung der Beisetzung des Patroklos, und das Epos schließt mit der Besänftigung des Achill, als Priamos, der König Trojas und Vater Hektors sich ins griechische Lager schleicht und er­folg­reich die Herausgabe der Leiche seines Sohnes erbittet, um ihn dem Brauch gemäß beisetzen zu können.

Überlagert wird dieses Geschehen von einer ausführlichen Göttererzählung, die die Handlung zu einer Art von Schachspiel der olympischen Götter macht. Auch auf dem Olymp existieren zwei Parteien: Zeus hält es mit Troja, Hera und Athene dagegen mit den Griechen. Aber es ist nicht nur so, dass der Ratschluss der Götter ganz allgemein das Schicksal der Menschen dirigiert, sondern die Götter greifen auch persönlich und handfest in die Kämpfe um Troja ein; es kommt sogar soweit, dass es dem Griechen Diomedes mit Hilfe der Athene gelingt, den Kriegsgott Ares im Zweikampf zu verletzen!

Aus Sicht der heutigen Leser ist die Ilias ein Text von einer erstaunlichen Brutalität. Die Ilias enthält Beschreibungen kriegerischer Gewalt, rasenden Zorns in der Schlacht, brutalster Orgien von Totschlag und Verstümmelung, so dass der Text, wäre er heute geschrieben, wahrscheinlich keine Ju­gend­frei­ga­be erhalten würde. Die beschriebene Welt ist eine kämpfender Män­ner, die dem Feind gegenüber in der Schlacht keine Gnade kennen und von ihm ebensowenig Gnade erwarten, die für sich und den Mann neben sich kämpfen und wissen, dass sie nur mit dem eigenen Leben davonkommen werden, wenn sie sich ohne Kompromiss der Gewalt des Krieges ausliefern und zugleich die Götter mit Wohlwollen auf sie blicken.

Doch was Homer schildert, geht noch darüber hinaus: Er zeigt nur einen Ausschnitt eines zehn Jahre andauernden Ringens zweier Großmächte. Die Griechen sind mit 50.000 Mann vor Troja erschienen und doch wäre es ihnen auch nach zehn Jahren nicht gelungen, die Stadt zu erobern, hätte nicht der listenreichen Odysseus einen Einfall gehabt, wie man Griechen in die Stadt schmuggeln und diese von innen heraus aufbrechen könne. Aber diesen spektakulären Fall der mächtigen Stadt – sicherlich eine Orgie der Gewalt, die selbst in seiner Vorstellung ihres gleichen gesucht hat – schil­dert Homer nicht, sondern nur vier gewöhnliche Tage der Schlacht; und jeder, der nicht vollständig abgestumpft ist, begreift nicht, wie Menschen zehn Jahre so hätten leben sollen. Sicherlich, Homers Zuhörer oder Leser waren zum großen Teil Männer, die selbst die Erfahrung der Schlacht gemacht hatten und einer Gesellschaft angehörten, die regelmäßig ihre Interessen nach außen hin nur dadurch durchsetzen konnte, dass sie in einen Krieg zog. Für nahezu jeden erwachsenen Mann gehörte der Krieg zum unvermeidlichen Erfahrungsschatz. Es ist daher kein Wunder, dass die meisten heutigen Leser vor dem brutalen Realismus des Trojanischen Krieges erschrecken.

Der heutige Leser sollte sich aber zum einen klar machen, dass die Ilias von Vorgängen erzählt, die zu dem Zeitpunkt, als sie abgefasst wurde, min­de­stens 400 Jahre in der Vergangenheit lagen. Dieser zeitliche Abstand ist in etwa vergleichbar mit dem der romantischen Ritterromane zu dem Mittelalter, das ihre historische Folie bildet. Zum anderen ist die Ilias ein Werk der Fiktion, was auch immer die Griechen der Antike geglaubt haben mögen. Einen solchen Krieg um Troja, zumal einen, dessen Grund der Raub einer Ehefrau war, hat es nie gegeben. Und falls es sich bei dem Schutt­hau­fen Hisarlık tatsächlich um die Überreste des antiken Troja handeln sollte, so haben sich dort bislang keinerlei Anzeichen für eine auch nur annähernd so umfangreiche kriegerische Auseinandersetzung finden lassen, wie die Ilias sie beschreibt. Anders gesagt: Der Trojanische Krieg fand und findet nur an einem einzigen Ort statt – auf den Seiten der Ilias, nirgends sonst.

Es ließe sich hier nun eine breite Reflexion darüber anschließen, welchen Status Ilias und Odyssee für die Griechen der Antike hatten, auf welche Weise diese beiden Epen zusammen mit dem, was wir sonst noch griechische Sagen nennen, ihnen eine Art von Ersatz-Historie lieferte für eine Zeit, von der sie wussten, dass es dort bereits Griechen gegeben hatte, die aber geschichtlich für sie komplett verloren gegangen war. Über die Dunklen Jahrhunderte hinweg  zur Zeit der Heroen, als noch Götter und Halbgötter auf Erden wandelten, reichten nur diese Erzählungen, mit denen sich die Griechen ihrer Herkunft und gemeinsamen Geschichte versichern konnten. Aber es wird ohnehin schon lang genug.

Homer auf Deutsch – Mit der Übersetzung der Odyssee durch Johann Heinrich Voß beginnt 1781 eigentlich erst so recht die Geschichte Homers auf Deutsch, obwohl er bei weitem nicht der erste war, der sich dem antiken Epiker gewidmet hat. Seine Übersetzungen machten die Deutschen des 18. Jahrhunderts zuerst und auf Dauer mit Homer bekannt und ließen den Odysseus zu einem der Abenteuerhelden der deutschen gebildeten Jugend werden. Und Voß gab auch den Weg vor, den die meisten Übersetzer nach ihm gehen würden, den des deutschen Hexameters. Es ist eine Ausnahme, dass ein Übersetzer sich entschließt, diesen Widerstand des griechischen Originals zu umgehen und zu versuchen, den homerischen Text in schlichte Prosa zu übertragen; ich kenne drei, genauer zweieinhalb Übersetzungen in Prosa: die der Odyssee von Wolfgang Schadewaldt sowie die beider Epen von Gerhard Schreiber und Karl Ferdinand Lempp, dessen Übersetzung eine Art von Notwehr darstellt, nachdem er den Voßschen Homer vergeblich ver­sucht hatte, im Unterricht zu vermitteln. Für eine Übersetzung in Prosa spricht Homers von allen Kennern des Originals so gelobter Lakonismus, seinen Neigung zu einfachem und unaufgeregtem Ausdruck selbst bei aufgeregtester Textlage. Wie man es und sich auch wendet, so kommt der Hexameter im Deutschen noch in seinem bescheidensten Ausdruck immer etwas zu großartig daher. Doch kann man dem mit einigem Recht ent­ge­gen­hal­ten, dass Homer sich die Mühe des Hexameters nicht umsonst gemacht habe und Übersetzer und Leser eben diese Mühe mit­zu­ma­chen haben, um an das Werk heranzukommen. Und natürlich ist es nur eine Frage der Gewohnheit: Hält man dreißig oder auch vierzig Seiten in einer metrischen Übersetzung durch, ja, kann man sich vielleicht sogar dazu überwinden, sie laut vorzulesen, so wird man sich bald in den Duktus einfinden. Besonders vor den neueren Übersetzungen (etwa die Dietrich Ebeners oder Roland Hampes) braucht man keinerlei Furcht zu haben.

Kurt Steinmanns Übersetzung kann sich in Sachen Eingängigkeit und Ver­ständ­lich­keit mit den besten Vorläufern messen. Auch über die gerade in der Ilias erforderliche Flexibilität im Ausdruck verfügt sein Hexameter, so dass er von der blutigsten und brutalsten Sequenz einer Schlacht über die Beschreibung der Waffen des Achill bis hin zur befreienden Komik des Wettlaufs in Buch 23 allen Tönen des Epos gerecht werden kann. Der angehängte Kommentar und das äußerst nützliche, erläuternde Per­so­nen­re­gi­ster beschränken sich auf das Nötigste, so dass hier sicherlich das eine oder andere ein wenig leichthin abgetan wird, was aber dem Nicht-Fachmann nur entgegenkommt; und die anderen haben sich ohnehin schon anderwärts informiert.

Jedem, der sich auf die Antike und ihre Phantasie einlassen mag, kann dieses Buch nur empfohlen werden, obwohl es für den heutigen Leser sicherlich in einigen Teilen eine Zumutung darstellt; aber dafür ist es nahe an den Erfahrungen antiken Lebens. Diejenigen, die mit Iphigenie „das Land der Griechen mit der Seele suchen“ – was ohne Frage ebenso wichtig und nützlich ist –, sollten sich dem Buch mit Vorsicht nähern; denen aber, die wissen möchten, „wie die Alten den Tod gebildet“ – man entschuldige den doppelten Anachronismus – kann man das Buch mit ruhigem Gewissen auf den Gabentisch legen.

Homer: Ilias. Aus dem Griechischen von Kurt Steinmann. München: Manesse, 2017. Großformatiger Leinenband (29,5 × 19 cm) in bedrucktem Schuber, Fadenheftung, zwei Lesebändchen, 16 großformatige, farbige Illustrationen von Anton Christian, 574 Seiten. 99,– €.

Homer: Odyssee. Aus dem Griechischen von Kurt Steinmann. München: Manesse, 2007. Großformatiger Leinenband (29,5 × 19 cm) in bedrucktem Schuber, Fadenheftung, zwei Lesebändchen, 16 großformatige, farbige Illustrationen von Anton Christian, 446 Seiten. In dieser Ausgabe nur antiquarisch lieferbar. Der Text ist in einer alternativen Ausgabe greifbar.

E. T. A. Hoffmann: Klein Zaches genannt Zinnober

Mit Klein Zaches genannt Zinnober lieferte Hoffmann 1819 eines seiner beliebtesten Märchen. Erzählt wird die Geschichte um den wun­der­li­chen, kleinen und verwachsenen Zaches, Sohn einer Bäuerin, der das Mitleid der Fee Rosabelverde erregt, die ihn mit einem Zauber belegt, dass alle Welt ihn für einen schönen Jüngling halte und alles Gute und Schöne, das in seiner Nähe geschieht, auf sein Konto gerechnet werde. Mit diesem Zauber ausgestattet, stiftet Klein Zaches unter dem Nom de guerre Zinnober in der Universitätsstadt Kerepes große Verwirrung, besonders zu Lasten der beiden vortrefflichen Studenten Balthasar und Fabian. Zinnober erlangt im Handumdrehen die Gunst des lokalen Fürsten, wird Minister, Ordensträger und Bräutigam der schönen Professoren-Tochter Candida, die gerade eben noch in Balthasar verliebt gewesen war. Zum Glück findet sich aber der Zauberer Prosper Alpanus, der sich als mächtiger denn die Fee erweist und alles wieder in Ordnung zu bringen vermag. Es heißt wohl nicht zu viel zu verraten, wenn ich sage, dass alles so gut ausgeht, wie sich das für ein ordentliches Märchen gehört.

Das Märchen ist nicht ohne die für die Gattung übliche Grausamkeit dem Bösewicht gegenüber, wenn der Leser auch geneigt ist, Hoffmanns Behandlung des kleinen Kerls für ein wenig zu arg zu halten, denn immerhin ist auch er nur ein Getriebener, der versucht, seiner natürlichen Benachteiligung zu entkommen. Hoffmann hat dies selbst wohl so empfunden und so am Ende wenigstens einen Teil des Zaubers wieder restituiert und aus dem Unglück des Sohns das Glück der armen Mutter entspringen lassen.

Was das Märchen über die Standardware der Zeit hinaushebt, ist nicht nur seine hübsche und für Hoffmann typische satirische Behandlung der bürgerlichen Gesellschaft, die nur auf Glanz und Äußerlichkeiten zu blicken versteht, der aber das wahre Wesen der Dinge, die sie bejubeln, gänzlich entgeht, sondern auch die damit verknüpfte milde Kritik am Weltbild der Aufklärung: Nicht nur ist das anfängliche Ausrufen der Aufklärung im Lande völlig wirkungslos, was die mächtigsten Feen und Zauberer angeht – diese tarnen sich einfach als Stiftsfräulein oder Gelehrter –, sondern die Aufklärung hinterlässt auch eine Welt, der alle Herrlichkeit und aller Zauber abgeht, die glanzlos wäre, würde Prosper Alpanus nicht doch heimlich bei der Hochzeit für Glitter, Feuerwerk und Regenbogen sorgen.

Ein wirklich hübsch erfundenes und mit Witz verfasstes Märchen, das einmal mehr Hoffmanns Lieblingsthemen im Gewand eines Phantasus-Kindes in die Welt schickt. Alle, die es noch nicht kennen, mögen sich wenigstens das entsprechende Reclamheft zulegen.

E. T. A. Hoffmann: Klein Zaches genannt Zinnober. Ein Märchen. In: Sämtliche Werke 3. Hg. v. Hartmut Steinecke. Frankfurt: Deutscher Klassiker Verlag, 22011. Leinen, Fadenheftung, zwei Lesebändchen, 1200 Seiten. Diese Ausgabe ist derzeit nur als Taschenbuch lieferbar.

Sinclair Lewis: Babbitt

Ihm gefiel keines der Bücher. Er spürte darin einen Geist der Rebellion gegen alles Biedere und Bürgerliche. Diesen Autoren – und er fürchtete, sie waren sogar berühmt – lag offenbar nichts daran, einfach eine gute Geschichte zu erzählen, bei der man seine Sorgen vergessen konnte.

Sinclair Lewis war auch so eine Lücke in meiner Lesegeschichte. Der Mann hatte 1930 als erster US-Amerikaner den Literaturnobelpreis bekommen und war in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts einer der bekanntesten US-Autoren. Sein Babbitt wurde erstmal schon 1925 – nur drei Jahre nach seinem Erscheinen – auf Deutsch vorgelegt in einer Übersetzung, die sich bis zuletzt auf dem Markt gehalten hat (die letzte Auflage bei Rowohlt scheint 1995 gedruckt worden zu sein). Nun legt Manesse eine Neuübersetzung durch Bernhard Robben vor, einem der fleißigsten und im Großen und Ganzen zuverlässigen Übersetzer englischer und amerikanischer Hochliteratur.

Babbitt spielt zu Anfang der 20er Jahre in der von Lewis erfundenen Großstadt Zenith irgendwo an der us-amerikanischen Ostküste. Sein Titelheld Georg F. Babbitt ist eine Null des gehobenen Mittelstandes, Immobilienmakler, Mitte 40, von sehr mäßiger Bildung, verheiratet mit Myra, drei Kinder, von denen  zwei noch zur Schule gehen. Die Fabel des Buches ist das Durcharbeiten dessen, was man gemeinhin eine Mid­life­cri­sis nennt. Babbitt ist dort angekommen, wo es nicht mehr recht vorwärts geht: Die Geschäfte laufen gut, kleinere und mittlere Betrügereien werden erfolgreich abgewickelt, seine Ehe ist so langweilig, wie er das erwarten darf, man gibt hier und da eine kleine Party, aber so richtig bewegt sich nichts im Leben des George F. Babbitt. Aus der Bahn wirft ihn dann, dass sein Freund aus Studientagen Paul Riesling nicht nur eine Geliebte hat, sondern schließlich sogar ins Gefängnis muss, weil er auf seine Gattin geschossen und sie verletzt hat.

Babbitt sieht sich vor die Frage gestellt, ob das alles gewesen sein kann. Er versucht, verzweifelt eine Geliebte zu finden, bis ihn dann eine le­bens­fro­he Witwe nimmt, weil gerade nichts besseres da ist. Er versucht es mit Saufen und durchgemachten Nächten, mit der Flucht in die Natur und wird am Ende ein Liberaler, also ein politisch und gesellschaftliche toleranter Mensch, womit er in seiner näheren Umgebung erheblich aneckt. Zwar wird seine Lebenskrise toleriert, aber als er sich schließlich für einen Anwalt stark macht, der in Sachen Arbeitsrecht und Ge­werk­schaf­ten aktiv ist, hört der Spaß auf: Babbitt wird sozial geächtet und geschäftlich ausgebootet. Eine glückliche Blinddarmentzündung seiner Frau verschafft aber seiner Sentimentalität wieder die Oberhand, so dass es ihm letztendlich gelingt, sich wieder in die Normalität seines alten Lebens einzufinden. Sogar ein besserer Vater ist er durch das Durchlaufen der Krise geworden.

Babbitt ist eine böse und in manchen Teilen scharfe Satire auf den Kult der Normalität in der modernen Gesellschaft. Babbitt ist ein Idiot unter Idioten, die sich alle gegenseitig auf die Schulter klopfen und einander in die Taschen arbeiten. Dieser Kult der Normalität nimmt zum Ende des Buches hin sogar leicht faschistische Züge an, als Babbitt mit wachsendem Druck dazu genötigt wird, einer „Liga Anständiger Bürger“ (im Original die G.C.L., Good Citizens’ League) beizutreten. Der doch noch erfolgende, erleichterte Beitritt Babbitts zum Verein ist das abschließende, ver­nich­ten­de Urteil des Autors über seine Figur.

Das Buch liest sich in der Übersetzung Robben flott weg; der Übersetzer hat auf eine zu deutliche Differenzierung der im Original verwendeten Slangs verzichtet, ja verflacht insgesamt die sprachliche Differenzierung des Buches. Einige wenige Stellen hat er offenbar nur flüchtig gelesen oder auch nicht verstanden; an anderen zeigt er die für ihn üblichen sprachlichen Manierismus: So erscheint es mir etwa fraglich, ob man “chicken croquettes” tatsächlich mit „panierte Hühnerbällchen“ übersetzen sollte. Aber das alles sind Kleinigkeiten, die in der Textmasse verschwinden. Wichtiger ist, dass Robben den satirischen Ton des Textes und seinen Humor genau trifft und so dem deutschen Leser einen ziemlich genauen Eindruck vom amerikanischen Original liefert.

Für mich ist Sinclair Lewis eine echte Entdeckung, und dies wird nicht das letzte Buch sein, das ich von ihm lesen werde.

Sinclair Lewis: Babbitt. Aus dem amerikanischen Englisch von Bernhard Robben. München: Manesse, 2017. Pappband, Fadenheftung, Le­se­bänd­chen, 784 Seiten. 28,– €.

Jean-Yves Ferri / Didier Conrad: Asterix in Italien

obs/Egmont Ehapa Media GmbH„Naja, so lala“, hätte mein Vater gesagt. Der neue Asterix gehört zu den akzeptablen Stücken; dass er derzeit über den grünen Klee gelobt wird, liegt wohl daran, dass sich die Rezensenten nicht mehr an die wirklich guten Asterix-Abenteuer erinnern können.

Die Fabel ist ebenso dünn wie rasch erzählt: Ein korrupter römischer Politiker, der für den Straßenbau in Italien zuständig ist, erfindet ein internationales Auto Wagenrennen, um vom schlechten Zustand der Straßen abzulenken. Wie das funktionieren soll, bleibt unklar. Cäsar besteht darauf, dass ein römischer Wagen gewinnen muss, koste es, was es wolle. In Obelix erwacht durch eine Reihe schicksalhafter Zufälle der Wille, Wagenlenker zu werden. Die Gallier fahren beim Rennen durch Italien mit. Wer gewinnt, verrate ich nicht!

Insgesamt ist der Band ein zweiter Aufguss aus Tour de France mit dem Internationalismus aus Obelix auf Kreuzfahrt aufgekocht und mit einigen übrig gebliebenen Tourismus-Witzen aus Asterix in Spanien abgeschmeckt. Was den Lesern auffallen darf, ist, dass es sich bei Italien wie bei allen europäischen Staaten um einen Vielvölkerstaat handelt, dessen einzelne Völker ihre nationale Eigenständigkeit zwar aufgegeben, ihre Identität aber nicht vergessen haben. Sollte das ankommen, wäre es einen mittelmäßigen Asterix wert. „Wir heißen Euch hoffen“.

Jean-Yves Ferri / Didier Conrad: Asterix in Italien. Asterix Bd. 37. Berlin: Egmont Ehapa, 2017. Bedruckter Pappband, 47 Seiten (28,8 × 22,4 cm). 12,– €.

 

Mary Shelley: Frankenstein oder Der moderne Prometheus

Die schiere Existenz dieser Idee war ein unwiderlegbarer Beweis, dass sie den Tatsachen entsprach.

Frankensteins Monster, das so häufig direkt mit dem Namen seines Schöpfers identifiziert wird, ist eine der Ikonen des Schauders der wissenschaftlichen Laien angesichts der Errungenschaften der modernen Wissenschaft. Sein Schöpfer, Victor Frankenstein (kein „Baron“, kein „von“, kein „Dr.“!), steht stellvertretend für die Hybris der modernen Wissenschaft, die sich von ihren eigenen Schöpfungen verfolgt sieht, nachdem sie sie in die Welt entlassen hat. Natürlich ist das alles nur in den Köpfen der wissenschaftlichen Laien und der Naiven, Idealisten und Gutmenschen so, während die Wissenschaftler ihre objektive Distanz bewahren und die Dinge auch weiterhin so sehen, wie sie wirklich sind.

Nachdem wir auf diese Weise sowohl die metaphysisch als auch die wissenschaftstheoretisch relevanten Zugriffe auf den Stoff erledigt haben, wenden wir uns dem Buch zu: Manesse legt in einer überarbeiteten Übersetzung die Urfassung von Mary Shelleys berühmtem Roman Frankenstein aus dem Jahr 1818 vor. Die Unterschiede zur späteren Überarbeitung von 1831 sind nicht besonders gewichtig, nehmen dem Buch aber die eine oder andere autobiographische, satirische oder kritische Spitze. Dem Interessierten werden die wichtigsten Differenzen zwischen den beiden Versionen in den Anmerkungen zum Text ausreichend erläutert.

Mary Shelley selbst betont in ihrem Vorwort, dass der Roman aus einer Laune heraus entstanden ist: Sie verbrachte zusammen mit ihrem Mann, Lord Byron und Dr. Polidori einige regnerische Tage in der Gegend um Genf. Zur Unterhaltung las man gemeinsam eine Sammlung deutscher Schauergeschichten, die ins Französische übersetzt worden war. Man unterhielt sich mit den und über die Erzählungen und beschloss, jede und jeder einen Beitrag zum Genre zu liefern. Ganz und gar abgeschlossen wurde wohl nur der Roman von Mary Shelley, der spielerisch und um der schauerlichen Wirkung willen einige Themen der zeitgenössischen Wissenschaft aufnimmt und zur Gothic Novel umdichtet.

Der Roman beginnt mit einer Rahmenerzählung um den englischen Abenteurer Robert Walton, der sich auf einer Expedition zum Nordpol befindet, als er eines Tages den abgemagerten und kranken Victor Frankenstein von einer Eisscholle aufliest. Nach einigem Zögern erzählt Frankenstein seinem Retter seine Lebensgeschichte, die dieser aufzeichnet und seiner Schwester in England zusendet. Im Zentrum dieser ersten Binnenerzählung steht, wie schon angedeutet, ein übergeschnappter Wissenschaftler, der aus der Hybris seiner jugendlichen Genialität heraus den Entschluss fasst, das Unmögliche möglich zu machen und Leben aus leblosem Stoff zu erschaffen. Angesichts der damit verbundenen Schwierigkeiten der mikroskopischen Chirurgie fällt sein erstes und einziges Musterstück etwas grob aus, so dass selbst sein Schöpfer sich der spontanen Bezeichnung Monster nicht enthalten kann. Das namenlose Monster entflieht, nachdem es einmal zum Leben erwacht ist, dem Labor seines Schöpfers, der sich angesichts des eigenen Grauens vor seiner Kreatur ins Bett zurückgezogen hat. Als er wieder erwacht und das Monster entflohen findet, versucht er zur Tagesordnung überzugehen.

Von seiner um ihn besorgten Familie ins heimatliche Genf zurückgerufen, findet er bei seiner Rückkehr seinen jüngsten Bruder William ermordet und ein Hausmädchen der Familie des Verbrechens angeklagt. Da er aber in der Nacht seiner Ankunft das Monster in der Nähe des Tatorts gesehen zu haben glaubt, steht für ihn fest, dass er sich selbst die Schuld am Tod seines Bruders und der Verurteilung und Hinrichtung des unschuldig verdächtigten Mädchens zuschreiben muss. Um der Depression, die sich aus diesem Schuldgefühl ergibt, gegenzusteuern, unternimmt die Familie Frankenstein einen Ausflug nach Chamonix. Dort wird Victor bei einer Gletscherwanderung von seiner Kreatur gestellt, die ihm in einer weiteren ausführlichen und seitenschindenden Binnenerzählung ihr Leben nach der Flucht aus dem Laboratorium erzählt. Nach einigem Umherirren wird er zum versteckten Beobachter einer Familie, deren Schicksale nun in einer dritten Binnenerzählung eingeholt werden, die aber gänzlich unerheblich für den Roman ist und nur als eine schlecht erfundene Ausrede dafür herhalten muss, wie das Monster zu seiner intellektuellen und ethischen Erziehung kommt, die es nun befähigt, seinem Schöpfer mit einer Forderung entgegenzutreten: Er will eine Gefährtin erschaffen haben, ein Objekt und Subjekt der Liebe, die er in sich fühlt, aber nicht leben kann, da alle Menschen nur mit Entsetzen auf seine Erscheinung reagieren.

Bedroht von seiner Kreatur, die er zugleich bemitleidet, und beeinflusst von seiner Sorge um seine Familie, die das Monster mit Mord und Totschlag bedroht, stimmt Frankenstein zu, dem Monster eine solche Gefährtin an die Seite zu stellen. Er reist zu diesem Zweck mit seinem Jugendfreund Henry Clerval zuerst nach London und von dort weiter nach Schottland. Dort zieht er sich auf eine der Orkneyinseln zurück, um die zweite Kreatur zu erschaffen. Doch dann besinnt er sich eines anderen gerade in dem Moment, als ihn das Monster auf der Insel aufsucht. Frankenstein verweigert sich nun der Forderung seiner Kreatur, die ihm daraufhin droht, ihn in seiner Hochzeitsnacht wieder aufzusuchen. Das Monster flieht, ermordet unterwegs noch rasch Henry Clerval, ein Mord, der diesmal Victor Frankenstein zur Last gelegt wird, der aber auf wundersame und gänzlich unglaubhafte Weise von dem Verdacht rein gewaschen wird. Es lohnt nicht, die Geschichte noch weiter nachzuerzählen; es endet jedenfalls damit, dass Frankenstein sich selbst zur Jagd auf seine Kreatur verpflichtet und auf diesem Wege im Nordmeer endet, wo er von Robert Walton aufgelesen wird, der seine Lebensgeschichte aufzeichnet und wohl auch für ihre Publikation nach dem Tod des Monsterschöpfers Sorge getragen haben wird.

Sieht man von seiner ungeheuerlichen Berühmtheit und Ungelesenheit ab, so muss der Roman wohl leider als ziemlich miserabel bezeichnet werden. Nahezu alle seine Aspekte sind schlecht konstruiert und unglaubwürdig, an viel zu vielen Stellen merkt man, dass sich die Autorin nur etwas zusammenreimt, ohne auch nur eine geringe Ahnung davon zu haben, wie das, was sie beschreibt, ins Werk gesetzt werden oder auch schlicht nur geschehen sollte. Je tiefer die Binnenerzählungen geschachtelt sind, desto einfältiger und schematischer werden sie. Die Gespräche zwischen der Kreatur und ihrem Schöpfer sind so voller Plattitüden, dass es nur als unfreiwillige Ironie aufgefasst werden kann, dass gerade sie von Victor Frankenstein selbst „korrigiert und verbessert“ worden sein sollen, „hauptsächlich um die Gespräche zwischen ihm und seinem Widersacher lebhafter und geistreicher zu gestalten“. Und was soll man zu einem Buch sagen, das ernsthaft Sätze wie die folgenden enthält:

Landwirte führen ein über aus gesundes Leben, und es ist der am wenigsten schädliche oder eher der zuträglichste aller Berufe.

Ich hatte das unbestimmte Gefühl, dass noch nicht alles überstanden war und dass es abermals ein abnormes Verbrechen verüben würde, dessen Ungeheuerlichkeit die Erinnerungen an das vorherige womöglich gar in den Schatten stellte.

Ach! Victor, wenn Lüge der Wahrheit doch so ähnlich ist, wer kann sich dann noch seines Glücks sicher sein? Mir ist, als ginge ich am Rand eines Abgrunds entlang, an dem sich Tausende versammeln und mich in die Tiefe zu stoßen versuchen.

Auch ich begriff zum ersten Mal, welche Pflichten ein Schöpfer gegenüber seinem Geschöpf hat und dass ich für sein Glück sorgen sollte, bevor ich seine Bosheit beklagte.

Verzagen sie nicht. Keine Freunde zu haben ist wirklich ein großes Unglück. Doch die Herzen der Menschen sind voll brüderlicher Liebe und Güte, wenn sie nicht gerade wegen ihrer eigenen naheliegenden Interessen Vorurteile hegen.

Solche Lebensweisheiten und -einsichten sind leider omnipräsent im gesamten Text. Und das hat sich auch mit der späteren Fassung nicht geändert.

Wer das Genre schätzt, findet hier natürlich einen der ganz großen Klassiker, der die Quelle noch zahlloser Romane des 19. und 20. Jahrhunderts werden sollte. Wer das Genre historisch liest, nimmt das Buch achselzuckend zur Kenntnis als ein Beispiel für einen schwachen Text einer mäßig begabten Autorin, die aufgrund der Tatsache, dass sie zufällig und mehr schlecht als recht eine der mythologischen Unterströmungen unserer Kultur getroffen hat, einen Bestseller und Klassiker landen konnte. Manchmal hilft die Nutzung einer Wünschelrute eben doch.

Mary Shelley: Frankenstein oder Der moderne Prometheus. Urfassung von 1818. Aus dem Englischen von Alexander Pechmann. München: Manesse, 2017. Geprägter Pappband, Fadenheftung, Lesebändchen, 464 Seiten. 22,– €.

E. T. A. Hoffmann: Seltsame Leiden eines Theater-Direktors

Geschmack! Das ist nur eine fabelhafte Idee – ein Gespenst, von dem alle sprechen und das niemand gesehen hat.

Die Ausgabe, in der ich derzeit Hoffmanns Sämtliche Werke zu lesen in der Lage wäre, so ich denn wollte, rühmt sich zu Recht die vollständigste jemals erschienene zu sein. Das liegt unter anderem daran, dass sie neben den hier besprochenen Seltsamen Leiden eines Theater-Direktors (1819) eine frühere und deutlich kürzere Fassung des Textes mit abdruckt, die 1817 im Berliner Dramaturgischen Wochenblatt unter dem Titel Die Kunstverwandten über mehrere Lieferungen hin erschienen war. Der Herausgeber der hier vorliegenden Sämtlichen Werke weist – ebenso zu Recht – darauf hin, dass es sich hier um den von Hoffmann am meisten überarbeiteten und erweiterten Text handelt. Für den Nichtfachmann und den, der nicht Fachmann werden möchte, beweist jene frühere, kürzere Fassung in der Hauptsache eines, nämlich dass die spätere, längere Fassung an einigen Stellen doch unmäßig lang geraten ist, was man aber vielleicht auch ohne den direkten Vergleich hätte herausfühlen können. Aber für den Germanisten taugt alles Fühlen nichts, wenn er etwas geradewegs durch Nachzählen beweisen kann!

Die Seltsamen Leiden eines Theater-Direktors nehmen eine Form auf, die sich bereits in den Fantasiestücken in der Nachricht von den neuesten Schicksalen des Hundes Berganza gefunden hat: der unmittelbare Dialog als Stellvertreter für die fortlaufende Erzählung. Schon in der Nachricht war es in einigen Passagen um das zeitgenössische Theater gegangen, und Hoffmann nimmt diesen Punkt nicht nur formal, sondern auch inhaltlich wieder auf, in dem er in den Seltsamen Leiden gleich zu Anfang von einer Oper die Rede sein lässt, deren Protagonist, der Löwe Gusmann, von einem wohlabgerichteten Hund gespielt werden soll: „Himmel! – wieder ein Hund! – wieder ein Hund!“

In diesem Fall aber unterhalten sich zwei Theaterdirektoren miteinander, die zufällig im Frühstücksraum eines Gasthauses aufeinander treffen. Der Graue ist Direktor der offenbar nicht kleinen Städtischen Bühne, der Braune dagegen Direktor einer reisenden Truppe. Während der Graue ein an dem eigenen, durch Jahre der Erfahrung gestählten Pragmatismus verzweifelnder Macher („Wir machen mal was zusammen!“) ist, erweist sich der Braune dagegen als ein durch keine Beschränkungen eingeschüchterter Idealist, der Autoren, Schauspielern, Intendanz, Publikum und Kritik nur das Beste abverlangt und in seinen Ergüssen immer aufs Neue beweist, dass das Beste nicht nur besonders gut, sondern auch besonders förderlich und nützlich ist („Omne tulit punctum, qui miscuit utile dulci / lectorem delectando pariterque monendo“).

Wie schon gesagt, ist das eine oder andere für den heutigen (wahrscheinlich aber auch für den zeitgenössischen) Leser etwas langatmig geraten. Dafür entschädigen aber alle naselang Theateranekdoten, die man nicht verpassen möchte, weswegen man sich nicht wirklich traut, vom Quer- zum Kreuz-und-quer-lesen überzugehen. Überhaupt hat der Text ein Ende, nachdem sich auch bessere Schriftsteller als Hoffmann (und so sehr viele gibt es da nicht) die Finger geleckt haben würden: Nicht nur wird ein Märchen von Gozzi nacherzählt, das es in sich hat und jeder romantischen Bühne zur Ehre gereicht hätte, sondern die letzten Zeilen warten mit einer Pointe auf, die einen beinahe den Text noch einmal lesen ließe, wenn er nur ein wenig kürzer wäre. Aber das erwähnte ich wohl schon.

Eine durchaus vergnügliche Lektüre, besonders auch für jene, die noch dem Theaterbetrieb, ob innerlich, ob äußerlich, folgen, aber auch für die anderen, denen die romantische Kunstauffassung nahegeblieben oder nahegekommen ist. Und dort, wo sie ungeduldig werden, mögen sie sich sagen: „Geduld! Geduld!“

E. T. A. Hoffmann: Seltsame Leiden eines Theater-Direktors. Aus mündlicher Tradition mitgeteilt vom Verfasser der Fanatsiestücke in Callots Manier. In: Sämtliche Werke 3. Hg. v. Hartmut Steinecke. Frankfurt: Deutscher Klassiker Verlag, 22011. Leinen, Fadenheftung, zwei Lesebändchen, 1200 Seiten. Diese Ausgabe ist derzeit nur als Taschenbuch lieferbar.