Henry James: Washington Square

«Gütiger Himmel, was für ein blödes Weib», rief Morris sich im Stillen zu.

James-Washington-SquareBei Manesse kümmert man sich erfreulicherweise wieder um Henry James, von dem es zwischenzeitlich mal den Anschein hatte, dass er in Deutschland langsam vergessen würde. James nimmt in der englischsprachigen Literatur in etwa die Stelle ein, die Theodor Fontane in der deutschsprachigen besetzt. Das heißt, dass seine Romane oft im gehobenen Bürgertum spielen und typische Probleme der bürgerlichen Gesellschaft darstellen. Hinzukommt bei James, der in Amerika geboren wurde, einen Großteil seines Lebens aber in Europa verbrachte und schließlich sogar englischer Staatsbürger wurde, die Faszination der Amerikaner für das alte Europa bzw. das halb bewundernde, halb kopfschüttelnde Unverständnis der Europäer für ihre nordamerikanischen Kusinen und Vettern.

„Washington Square“ (1881) ist einer von James’ frühen, vergleichsweise kurzen Romanen. Erzählt wird die Geschichte der verhinderten Eheschließung Catherine Slopers etwa zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Catherine ist die Tochter eines angesehen New Yorker Arztes, deren Mutter recht bald nach Catherines Geburt verstorben ist. Aufgezogen wurde Catherine von ihrer Tante Lavinia Penniman, die nach dem Tod ihres Ehemannes vorübergehend in das Haus ihres Bruders ein-, doch nie wieder ausgezogen ist. Catherine ist ein in beinahe jeglicher Hinsicht durchschnittliches Mädchen: Sie enttäuscht ihren Vater, was ihre Intelligenz angeht, und ihre Tante, soweit es ihre Befähigung zu romantischer Leidenschaft betrifft. Den einzigen Vorzug, den sie gesellschaftlich für sich verbuchen kann, ist das mütterliche Vermögen, das ihr 10.000 $ im Jahr einbringt, und das väterliche Erbe, das eines Tages den doppelten Betrag hinzufügen wird. Gesegnet mit diesen herausstechenden Vorzügen wird sie – wie es kommen muss – zum Ziel eines gutaussehenden Mitgiftjägers, Morris Townsend, der sein eigenes kleines Vermögen bei Reisen durch die Welt durchgebracht hat und sich nun eine Ehefrau sucht, um der Notwendigkeit einer Beschäftigung zu entgehen.

Der nüchterne Doktor Sloper durchschaut die Absichten Townsends rasch und teilt seiner Tochter mit, dass er gegen die zwischen den beiden jungen Leuten verabredete Verlobung sei. Da Catherine volljährig sei, könne er sie an der Heirat mit Townsend nicht hindern, er werde sie aber enterben, was dem Enthusiasmus des jungen Mannes sicher einen Dämpfer aufsetzen werde. Da sich Catherine von dieser Drohung unbeeindruckt zeigt, entschließt er sich, sie mit auf eine Europareise zu nehmen, damit die junge Frau Abstand zum obskuren Objekt ihrer Begierde gewinnen kann. Doch auch nach einem Jahr in Europa – das James nur summarisch abhandelt – hat sich weder an Catherines Gefühlslage noch an Slopers hartnäckigem Widerstand gegen den Ehemann in spe etwas geändert. Als Catherine dies ihrem Verlobten mitteilt, macht dieser endgültig einen Rückzieher, lässt seine Geliebte sitzen und verschwindet aus New York. Nach einer relativ kurzen Trauerphase scheint die junge Frau diesen Verrat verwunden zu haben, doch bleibt kein Zweifel daran, dass sie zu heiraten nicht mehr in Betracht zieht. Der Roman endet mit einer späten Wiederbegegnung der beiden Liebesleute nach dem Tod des Arztes, doch wie das ausgeht, soll hier nicht verraten werden.

Der Witz des Romans besteht weniger in der gerade geschilderten Fabel als vielmehr darin, dass seine Protagonistin zwischen zwei gänzlich unterschiedliche Charaktere gestellt wird, die zwei Grundtendenzen des 19. Jahrhunderts repräsentieren: Der wissenschaftlich-rationalistische Vater und die romantisch-gefühlsschwangere Tante. Beide missverstehen die Heldin auf exemplarische Weise: Der Vater, der erwartet, dass seine charakterliche Analyse einen ausreichenden Grund für seine Tochter darstellen muss, von ihrer ersten Verliebtheit in einen Mann überhaupt zu lassen; die Tante, die eine große Romanze mit Flucht und heimlicher Ehe und Liebe, die über alle Schwierigkeiten siegt, inszeniert haben möchte, ja, die von ihrer Nichte erwartet, jene Liebesbeziehung zu Morris Townsend zu leben, die sie sich für ihr eigenes Leben zusammenphantasiert hat. Beides greift an dem durch und durch normalen Erleben Catherines vorbei: Catherine wünscht sich einen Ehemann, sie wünscht sich Aufmerksamkeit und Rechtschaffenheit, eine eigene Familie und einen Menschen, der sie um ihrer selbst willen liebt. Dass auch sie damit an der Realität vorbeilebt, ist die ironische Pointe der von James erfundenen Konstellation. Allerdings erfüllt sie auch im Scheitern nicht die Ansprüche ihrer Umwelt: Weder gesteht sie ihrem Vater zu, dass er Recht hatte und eine Ehe mit Townsend ihr Unglück bedeutet hätte, noch ist sie die große Verweifelte, die in das Weltbild ihrer Tante passen würde. Sie lebt in einem ganz alltäglichen Unglück vor sich hin, fast mit einem Schulterzucken gegenüber der Chance, die sich eröffnet hatte und die nun vertan ist. Es ist sehr schmerzlich gewesen, aber nun ist es vorüber.

Gerade das Ende des Romans kann den zeitgenössischen Lesern kaum gefallen haben und macht in gewisser Weise die Qualität dieses doch sonst weitgehend durchschnittlichen Romans aus. So ökonomisch und nüchtern James auch erzählt, er hat in dieser Phase noch die Tendenz sehr viel von dem zu erläutern, was sich ein aufmerksamer und mit der Zeit vertrauter Leser auch selbst denken könnte. Auch geraten die psychologischen Profile des Doktors und der Tante noch etwas holzschnittartig und übermäßig antagonistisch. Einzig Catherine hat eigentlich gar keinen wirklichen Charakter, was sie eindeutig zur interessantesten Figur des gesamten Romans macht.

Henry James: Washington Square. Aus dem Englischen übersetzt von Bettina Blumenberg. Zürich: Manesse, 2014. Leinenband mit rotem Farbschnitt, Lesebändchen, 277 Seiten. 24,95 €.

Sade

Sade verdient also besondere Beachtung weder als Schriftsteller noch als sexuell Pervertierter.

Simone de Beauvoir

Sade-Rezeption

Die Person und das Werk des Marquis de Sade sorgen seit über 200 Jahren für intellektuelle Nervosität und moralische Aufregung. Von den einen als eine durchtriebene Zuspitzung der Ideologie der Aufklärung ins Absurde, von den anderen als eine Blütenlese von Obszönitäten gelesen, ist es Sade gelungen, kontinuierlich im Gedächtnis einer Moderne zu verbleiben, deren Wahnsinn er am Horizont seines eigenen Dilettantismus nicht einmal erahnen konnte.

Das vorliegende Buch sammelt theoretische Dokumente der Sade-Rezeption von 1789 bis 2014, wenn man das Nachwort der Herausgeberin mit hinzunimmt. Das Haupt- und Schmuckstück ist Max Horkheimers und Theodor W. Adornos Aufsatz „Juliette oder Aufklärung und Moral“ von 1944, der allerdings Sade gleich so maßlos überschätzt, dass an ihm – Sade, nicht dem Aufsatz – bereits das gesamte Projekt der Aufklärung nahtlos in das Morden der Nationalsozialisten übergeht. Das ist ideologisch hübsch gemacht, findet auch auf einem argumentativen Niveau statt, an das keiner der anderen Essays auch nur annähernd heranreicht, ist aber, tritt man einen Schritt zurück und wendet sich einem der Romane zu, die die Grundlage für solch einen Gedankengang bilden sollen, von erhabener Albernheit. Wenigstens muss man den beiden Autoren zugute halten, dass sie die einzigen sind, die den für Sades Phantasien zentralen Zusammenhang zwischen Macht und Sexualität ernst nehmen, der in beinahe allen anderen Texten höchstens am Rande eine Rolle spielt.

Herauszuheben ist ansonsten noch Thomas de Quinceys Vortrag „Der Mord als eine schöne Kunst betrachtet“, der für sich genommen ein sehr witziger Text, allerdings mit der Sade-Rezeption nur im atmosphärischen Sinne verbunden ist. Von allem anderen war ich eher enttäuscht, wenn ich auch hier und da Schlimmeres erwartet hatte. So war mir beispielsweise das etwas selbstgefällige Geschwätz einer Susan Sontag bei weitem nicht so widerständig wie früher – wahrscheinlich werde auch ich altersmilde. Aber zu oft regieren Sätze wie:

Das Frankreich des 18. Jahrhunderts ist für seine Frivolität bekannt. Die Ausschweifungen der reichen Müßiggänger und Müßiggängerinnen [sic!] kannten keine Grenzen. (Viktor Jerofejew)

So etwas beschleunigt die Lektüre natürlich ungemein. Was der Band aber deutlich werden lässt, ist, dass Sades Dilettantismus den eigentlichen Kern seines Werks bildet: Seine zusammengelesenen Philosopheme, die eklektizistischen, flüchtigen und oft krummen Gedankengänge seiner Philosophie der Folterkammer sind der ideale Nährboden, auf dem jedermann (und auch jede Frau, wenn’s beliebt) seine ganz eigenen Pflänzchen anbauen kann. So ist denn vieles, was über Sade geschrieben wurde, wie Sades Werk selbst: letztlich gänzlich belanglos.

Sade. Stationen einer Rezeption. Hg. v. Ursula Pia Jauch. stw 2115. Berlin: Suhrkamp, 2014. Broschur, 469 Seiten. 20,– €.

John le Carré: Tinker Tailor Soldier Spy

LeCarreSmiley.jpgDer erste von drei Romanen um George Smiley, die die Karla-Trilogie (“The Quest for Karla”) bilden. Neben dieser Trilogie existieren noch zwei weitere Romane vom Anfang der 60er Jahre mit Smiley als Protagonisten: Call for the Dead” und “A Murder of Quality” (in denen er allerdings noch etwa zehn Jahre älter ist). Angeregt durch die in jeder Hinsicht brillante Verfilmung durch Tomas Alfredson habe ich mir den knapp 1.600 Seiten umfassenden Sammelband der Trilogie – “Smiley Versus Karla” – zugelegt und nach ungefähr 35 Jahren le Carrés Klassiker “Tinker Tailor Soldier Spy” noch einmal gelesen; die beiden anderen Teile sollen in nächster Zeit folgen.

Le Carrés Spionage-Thriller bilden, ob gewollt oder unfreiwillig, eine exakte Gegenfolie zur Welt des MI6-Agenten Bond, James Bond. George Smiley ist nicht nur äußerlich ein typischer Buchhalter, er ist es auch seiner Methode nach: Langsam, gründlich, unwiderstehlich. Zu Anfang von “Tinker Tailor Soldier Spy” (1974) befindet er sich im Ruhestand; er ist zusammen mit seinem Vorgesetzten, dem Chef des Geheimdienstes MI6 Control, von dem nicht einmal sein vertrautester Mitarbeiter Smiley den bürgerlichen Namen kannte, aus dem Dienst entlassen worden. Anlass der Entmachtung Controls war die missglückte Operation Testify, bei der der Agent Jim Prideaux in der Nähe von Brno (Brünn) in der Tschechoslowakei angeschossen und gefangen genommen wurde. Control ist nur wenige Monate nach seiner Entmachtung gestorben, und George Smiley lebt ein geordnetes, diszipliniertes und vollständig langweiliges Pensionistenleben, nachdem ihn auch seine Frau Ann einmal mehr verlassen hat.

Doch er bekommt unerwartet einen Auftrag durch den für den Geheimdienst zuständigen Staatssekretär Oliver Lacon: Einer der Auslandsagenten des MI6, Ricky Tarr, ist nach sechs Monaten überraschend wieder in London aufgetaucht und hat Kontakt zu seinem Agentenführer Peter Guillam, einem ehemaligen Vertrauten Smileys, aufgenommen. Tarr erzählt die Geschichte der gescheiterten Anwerbung einer sowjetischen Agentin in Istanbul, die vorgegeben hatte, einen Doppelagenten in der Führungsriege des MI6 enttarnen zu können. Tarr hatte dies an die Zentrale in London, den sogenannten Circus (benannt nach seiner Adresse, dem Cambridge Circus) gemeldet, doch bevor er die Agentin in Sicherheit bringen kann, wird sie von den Sicherheitsbeamten der Delegation, der sie angehört, nach Moskau verfrachtet. Tarr ist klug genug, dies rasche Verschwinden als eine Bestätigung des Verdachts zu verstehen, dass sich ein Doppelagent in der Spitze des MI6 befindet, und taucht daher selbst unter. Erst die Befürchtung, dass ihm russische Agenten auf den Fersen sind, veranlasst ihn, nach London zurückzukehren.

Lacon beauftragt nun  Smiley als einen Außenstehenden damit, den möglichen Doppelagenten zu enttarnen; dabei arbeitet Smiley mit Peter Guillam, der die Vorgeschichte ohnehin kennt, und seinem alten Freund Kommissar Mendel zusammen. Ein Großteil seiner Agententätigkeit besteht, wie schon gesagt, aus Aktenstudium, dem Erstellen von Chronologien und dem diskreten Befragen von Zeugen. Stück für Stück erarbeitet er sich ein vollständiges Bild von den Vorgängen in den letzten Monaten unter Controls Führung, bis er schließlich in der Lage ist, dem Doppelagenten eine Falle zu stellen und ihn zu enttarnen.

Dabei geht es le Carré aber weniger um die Methode selbst als vielmehr um die Erinnerungen Smileys, seine Einschätzungen der anderen Mitspieler dieses Spiels, seine eigene berufsbedingte Paranoia und die der anderen, seine Gefühle für seine Frau Ann, die ein Verhältnis mit einem seiner Freunde hatte, Bill Haydon, der zugleich einer der Verdächtigen ist usw. usf. Was die Qualität der Agenten-Romane le Carrés immer ausgemacht hat, war die weitgehende Gleichgültigkeit des Plots – der dennoch immer präzise konstruiert ist – und die differenzierte Darstellung der reduzierten Innenwelt der Protagonisten. Hinzukommt le Carrés gewählte und immer genau auf den jeweils Sprechenden zugeschnittene Sprache. Von daher sind auch le Carrés Romane der 60er und 70er Jahre ein hübsches Beispiel für Dürrenmatts poetologische Formel für den Kriminalroman: Kunst da zu tun, wo sie niemand vermutet.

John le Carré: Tinker Tailor Soldier Spy. In : Smiley Versus Karla. S. 1–422. London: Hodder & Stoughton, 2011. Broschur, 1582 Seiten. Ca. 26,– €.

Philip Roth: Der menschliche Makel

Und so hatte all dies begonnen: Ich stand in der Abenddämmerung allein auf einem Friedhof und ließ mich auf einen beruflichen Wettkampf mit dem Tod ein.

Roth-Makel„Der menschliche Makel“ (2000) ist der dritte Roman der sogenannten Amerika-Trilogie von Philip Roth, der zweiten Trilogie von Romanen, in denen der fiktive Schriftsteller Nathan Zuckerman als Erzähler auftritt. Die Jetzt-Zeit des Romans ist das Jahr 1998, und Zuckerman beginnt seine Erzählung mit einer emotionalen Suada über die bigotten Reaktionen weiter Teile der US-amerikanischen Öffentlichkeit auf die Lewinsky-Affäre. Damit ist mit einem wahrscheinlich allen Lesern Roth’ bekannten Beispiel das Hauptthema des Buches bezeichnet, das Zuckerman an späterer Stelle als „Tyrannei der Schicklichkeit“ (S. 175) benennen wird.

Im Zentrum der Erzählung steht das Leben des emeritierten Professors für klassische Literatur Coleman Brutus Silk. Silk hat eine erfolgreiche akademische Karriere hinter sich, wurde bereits als relativ junger Professor Dekan seiner Fakultät am Athena-College und war federführend dafür verantwortlich, diese Fakultät zu modernisieren und die Professuren mit jungen, motivierten Lehrkräften neu zu besetzen. Er entschließt sich im Jahr 1993, seine Stelle als Dekan aufzugeben und sich in seinen letzten Semestern noch einmal der Lehre zu widmen. Jedoch bereits im ersten Semester, das er wieder unterrichtet, kommt es zu einem Vorfall, der Silk in der Konsequenz dazu bringt, seine Stelle aufzugeben und einen privaten Kleinkrieg gegen seine alte Fakultät zu beginnen: Silk bezeichnet zwei seiner Studenten, die er nie gesehen hat, weil sie an keiner seiner Veranstaltungen teilgenommen haben, obwohl sie auf der Teilnehmerliste stehen, scherzhaft als „spooks“, also in etwa als „Gespenster“ (der Übersetzer Dirk van Gunsteren übersetzt „spooks“ hilfsweise mit „dunkle Gestalten“). Es erweist sich im Nachhinein, dass es sich bei den beiden Studenten um Schwarze handelt, und eine der beiden beschwert sich bei der neuen Dekanin über den von Silk verwendeten Ausdruck, den sie – historisch durchaus begründet – als rassistisch empfindet. Diese Kleinigkeit, die sich von Silk mit ein wenig Demut und einer entschuldigenden Erklärung wahrscheinlich hätte ausräumen lassen, eskaliert, da Silk darauf beharrt, er könne diesen Ausdruck nicht rassistisch verwendet haben, da er die fraglichen Studenten nie gesehen und daher auch nicht gewusst habe, dass es sich um Schwarze handelt.

Wie bereits gesagt führt die Zuspitzung dieser Konfrontation dazu, dass Silk vom College emeritiert; als zudem überraschend auch noch seine Frau stirbt – Silk versteigt sich zu der Auffassung, die ihn verleumdenden bzw. nicht unterstützt habenden Kollegen hätten den Tod seiner Frau zu verantworten–, verbeißt sich Silk in ein Buchprojekt, in dem er seine Unschuld und die ungerechte Behandlung durch sein College entlarven will. In dieser Zeit entfremdet sich Silk von seinen Kindern und lebt allein und gesellschaftlich isoliert. Einzig zu Nathan Zuckerman scheint er sporadischen, freundschaftlichen Kontakt zu pflegen. Nach weiteren zwei Jahren – und damit ist die Jetztzeit der Erzählung erreicht – scheint er seine Krise endlich überwunden zu haben: Er hat sein Buch abgeschlossen und anschließend als gescheitert verworfen. Er hat eine Affäre mit Faunia Farley begonnen, einer Frau, die nur halb so alt ist wie er und unter anderem an seinem alten College als Putzfrau arbeitet. So sehr sich die beiden auch bemühen, ihre sexuelle Beziehung geheim zu halten, sie werden bald entdeckt: Zum einen von Faunia Ex-Ehemann Lester, einem Vietnam-Veteranen, der seine Aggressionen und seine Wut der Welt und besonders seiner Ex-Frau gegenüber, der er die Verantwortung für den Tod zweier gemeinsamer Kinder zuschreibt, nur unvollkommen unter Kontrolle hat; zum anderen von der Dekanin Delphine Roux, die Colemans Beziehung zu der angeblich analphabetischen Putzfrau nur als einen Akt der abscheulichsten sexuellen Ausbeutung begreifen kann.

Coleman und Faunia kommen schließlich in einem ungeklärten Autounfall ums Leben – Nathan Zuckerman hegt die nicht zu beweisende Theorie, dass dieser Unfall von Lester verursacht wurde –, und Zuckerman trifft auf Colemans Beerdigung dessen Schwester, die ihm den eigentlichen Skandal von Coleman Silks Leben offenbart: Bei Silk handelt es sich nämlich nicht, wie seine Familie, alle Kollegen am College und auch Zuckerman angenommen hatten, um einen Juden, sondern tatsächlich um einen Schwarzen, der sich bei seinem Eintritt in die Marine nicht nur ein falsches Geburtsdatum, sondern auch eine falsche Rassenzugehörigkeit zulegt hatte.

Coleman Silk ist allerdings nicht die einzige Figur, die versucht ihrer Herkunft und den sich aus ihr ergebenden Folgen zu entfliehen: Auch Delphine Roux ist aus Frankreich nach Amerika gegangen, um sich dem Einfluss einer übermächtigen Mutter zu entziehen und sich neu zu erfinden, und auch für Faunia Farley gilt, dass sie zumindest ihr Analphabetentum nur vortäuscht, um in der Gesellschaft eine Nische einnehmen zu können, die sie von ihrer eigenen Vergangenheit isoliert. Diese Scheinexistenzen, die sich gegenseitig auf merkwürdige Weise spiegeln und zugleich verhindern, dass diese drei Personen wirklich verstehen, wer der jeweils andere ist, bilden das Widerlager zu der Welt des Klatsches und der Gerüchte, die das Leben der Figuren beherrscht. Selbst für Lester gilt das, den der Erzähler Zuckerman zu einem Mörder macht, ausschließlich weil er gegen ihn ein Vorurteil hegt. Selbst die auf den letzten Seiten geschilderte, einzige persönliche Begegnung zwischen Nathan und Lester führt nicht dazu, dass Zuckerman sein Vorurteil aufgibt; am Ende ist auch er in denselben Strukturen gefangen, die er mit dem Erzählen der Geschichte Coleman Silks anklagt.

„Der menschliche Makel“ ist eine hoch komplexe Erzählung, der es auf eine außergewöhnliche Art und Weise gelingt, die Beziehungen einer Handvoll von Menschen zueinander zu thematisieren. Dabei gelingt es Roth seinen Erzähler als „Mensch mit Menschen“ erscheinen zu lassen, ohne auch nur den Anschein zu erwecken, Nathan Zuckerman verfüge über eine erhabene Moral oder sonst einen seinen Figuren überlegenen Standpunkt. Alles, womit er ihn ausstattet, ist ein moralischer Affekt, dem man zwar nur zu gerne zustimmt, ohne dabei aber über das hinauszukommen, was das Buch kritisiert: ein unbegründetes Ressentiment, das sich überlegen glaubt.

Philip Roth: Der menschliche Makel. Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren. rororo 23165. Reinbek: Rowohlt 252012. Broschur, 400 Seiten. 9,99 €.

Vladimir Nabokov: Das wahre Leben des Sebastian Knight

Aber ich wüßte keinen anderen Dichter zu nennen, der von seiner Kunst einen so verwirrenden Gebrauch macht – verwirrend für mich, der ich versuche, hinter dem Autor den wahren Menschen zu sehen.

Nabokov-Sebastian-KnightDer erste Roman, den Nabokov von Anfang an in Englisch verfasst hat. Die Entscheidung, die Sprache zu wechseln, kann für einen Schriftsteller und noch dazu für einen so sprachbewussten und eigenwilligen wie Nabokov niemals leicht sein. Nabokov sah sich dazu aus ganz praktischen Gründen gezwungen: Er hatte 1937 Deutschland endgültig verlassen und lebte zu der Zeit, als der „Das wahre Leben des Sebastian Knight“ schrieb, mit seiner Familie unter kargen Bedingungen im Süden Frankreichs und später in Paris. Es war ihm klar, dass er das von den Deutschen bedrohte Europa wohl würde verlassen müssen und dass die USA für ihn und seine Familie der sich anbietende Fluchtpunkt sein würden.

Ein US-amerikanischer Verlag hatte sich 1937 an „Gelächter im Dunkel“ interessiert gezeigt, und Nabokov hatte die Gelegenheit genutzt, nach „Verzweiflung“ ein weiteres seiner Bücher selbst ins Englische zu übertragen. Da der deutsche und deutsch-russische Buchmarkt in Zukunft für einen russischen Autor mit einer jüdischen Ehefrau wohl eher eine unsichere Sache darstellen würde, konnte Nabokov nur hoffen, sich auf dem englischsprachigen Markt etablieren zu können. Dazu war es aber allein schon aus Gründen der Effizienz notwendig, die Doppelbelastung von Niederschrift eines russischen Originals und anschließender Übersetzung in die Sprache seiner hauptsächlichen Leserschaft zu vermeiden. Nabokov musste also wohl oder übel in den sauren Apfel beißen und ein englischer bzw. amerikanischer Autor werden.

So entstand um die Jahreswende 1938/1939 herum der kleine Roman „Das wahre Leben des Sebastian Knight“ auf Englisch. Sein Ich-Erzähler ist ein namenlos bleibender Exilrusse, der versucht, eine Biographie seines früh verstorbenen, als Schriftsteller erfolgreichen Halbbruders zu verfassen. Treibendes Motiv ist sein Schuldbewusstsein, dass er sich zu Lebzeiten nicht ausreichend um seinen Halbbruder gekümmert hat, der ihm das allerdings durch seine distanzierte Haltung auch nicht einfach gemacht hatte. Sebastian Knight war der Sohn der ersten Frau des Vaters des Ich-Erzählers, einer eher flatterhaften Frau, die sich vom gemeinsamen Vater der Brüder rasch wieder getrennt hatte. Sebastian und der sechs Jahre jüngere Erzähler waren gemeinsam aufgewachsen, nach dem Tod des Vaters zusammen mit der Mutter bzw. Stiefmutter aus dem kommunistischen Russland nach Finnland und Dänemark geflohen, von wo aus Sebastian zum Studium nach England, die Mutter mit dem Erzähler nach Paris gegangen waren. Seit dieser Zeit ist der Kontakt zwischen den Brüdern immer nur sporadisch, auch wenn sich Sebastian um den finanziellen Unterhalt des Erzählers nach dem Tod von dessen Mutter kümmert.

Sebastian wird ein relativ bekannter Schriftsteller, der alles in allem fünf Bücher veröffentlicht. Er lebt eine gute Weile mit Clare Bishop zusammen – Knight ist das englische Wort nicht nur für den Ritter, sondern auch für den Springer im Schachspiel, Bishop heißt dort der Läufer; Sebastian und Clare gehören also offensichtlich zum selben Spiel (vielleicht gar zu derselben Farbe), müssen aber ebenso offenbar zwangsläufig getrennte Wege gehen –, verliebt sich dann aber bei einem Kuraufenthalt in eine andere Frau, die wahrscheinlich durch ihr emotionale Gleichgültigkeit ihm gegenüber wesentlich mit zu seinem frühen Tod beiträgt; Sebastian Knight leidet – wie sich das für einen anständigen allegorischen Autor gehört – an einem ererbten Herzleiden. Der von einem mit der Familie befreundeten Arzt benachrichtigte Erzähler eilt von Marseille aus an das Krankenbett seines Bruders, kommt aber am Ende doch zu spät. Vom schon erwähnten Schuldgefühl angetrieben, versucht er nun, die Biographie seines Bruders zu rekonstruieren. Der Bericht von diesem letztendlich scheiternden Unterfangen bildet im Wesentlichen den Inhalt des Buches. Ganz am Ende findet sich noch eine zusätzliche, romantisch-nabokovsche Wendung, wenn der Erzähler sich mit seinem Halbbruder für identisch erklärt; man kann dies – wie der Übersetzer und Herausgeber des Bandes – tiefsinnig interpretieren wollen, man kann aber auch schlicht die Schultern zucken und es als das zur Kenntnis nehmen, was es ist: eines der üblichen Spielchen, wie Nabokov sie geliebt hat, um seinen Lesern unter die Nase zu reiben, dass es sich bei allen seinen Büchern immer um Fiktionen handelt. Wir hätten es auch ohne das bemerkt.

Das Buch ist recht witzig geraten: Es ist natürlich kein Zufall, dass Nabokov für seinen ersten englischen Roman einen russischen Möchtegern-Autor erfindet, der ebenfalls dabei ist, sein erstes Buch auf Englisch zu schreiben. Es bietet sich ausgiebig Gelegenheit, prinzipielle poetologische Überlegungen auszubreiten, sich sowohl über eigene Marotten, Vorlieben und Eitelkeiten als auch die anderer Autoren lustig zu machen usw. usf. Dass der Autor in seinem Vorhaben wesentlich scheitert – „Das wahre Leben des Sebastian Knight“ ist weit mehr ein Buch über den namenlosen Erzähler als über das obskure Objekt seiner Liebe –, lässt sich als eine Parodie auf die Parodie einer Biographie in „Die Gabe“ lesen, was, ins Ernste gewendet, nicht weniger als die Zuspitzung von Nabokovs Zweifel daran ist, ob sich die Komplexität des Lebens eines wirklichen Menschen überhaupt angemessen in ein Buch bannen lässt. All das wird mit anscheinend leichter Geste vorgetragen, und selbst dort, wo der Erzähler die moralische Keule zur Verteidigung seines Bruders schwingt, weiß der Leser inzwischen genug, um die für das Verständnis dieser Stellen notwendige Ironie selbst aufzubringen.

Vladimir Nabokov: Das wahre Leben des Sebastian Knight. Deutsch von Dieter E. Zimmer. Gesammelte Werke VI. Reinbek: Rowohlt, 1996. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 299 Seiten. 21,– €.

Novalis: Heinrich von Ofterdingen

Kein Mensch weiß, wo das Land hingekommen ist.

Novalis-Ofterdingen

Angeregt durch die erneute Lektüre von Heinrich Heines „Die romantische Schule“ habe ich auch den Band Novalis wieder einmal aus dem Schrank genommen. Novalis war mir zum ersten Mal zu Schulzeiten bei der Lektüre von Hesses „Der Steppenwolf“ begegnet, der den hübschen Aphorismus zitiert „Die meisten Menschen wollen nicht eher schwimmen, bis sie es können“, in das er seinen Harry Haller zudem noch ein gänzlich unnötiges „als“ einschmuggeln lässt. Damals habe ich zum ersten Mal versucht, den „Heinrich von Ofterdingen“ (1802) zu lesen, ihn aber bald zur Seite gelegt. In den kleinen „Fragmenten“ war das eine oder andere Anregende zu finden, aber der „Ofterdingen“ war mir zu phantastisch und ziellos in seinem Erzählen. Während des Studiums habe ich die gesamte Erzählung dann als Pflichtlektüre hinter mich gebracht, ohne dass davon bis heute viel mehr geblieben wäre als eine sehr vage Erinnerung an eine märchenhafte Reise- und Liebesgeschichte.

Novalis-Werke

So war ich gespannt, was mir begegnen würde, doch ich muss eingestehen, dass es mir auch diesmal – mit dem Abstand von vielen Jahren und einem ungleich größeren Wissen über die Romantik als Stil- und historische Epoche – nicht gelungen ist, das Buch mit wirklichem Vergnügen zu lesen. Der erste Teil, der den Hauptteil des Fragment gebliebenen Romans ausmacht, ist im Wesentlichen genau das, was ich erinnert habe: Der gerade erwachsen gewordene Heinrich reist zusammen mit seiner Mutter von Eisenach aus zu deren Vater nach Augsburg. Man schließt sich zu diesem Zweck einer Gruppe reisender Kaufleute an, mit denen der bis dahin als Gelehrter erzogene Heinrich einige altkluge Gespräche führt. Man tauscht Lieder und Geschichten aus, entdeckt unterwegs einen Einsiedler in einer Höhle, in dessen Büchern einem der junge Heinrich auf geheimnisvolle Weise sein zukünftiges Leben vorgebildet findet. All dies dient wahrscheinlich zur Vorbereitung des zweiten Teils, von dem dann nur der Anfang niedergeschrieben wurde.

In Augsburg angekommen, lernt Heinrich nicht nur seinen Großvater kennen, er trifft bei ihm auch gleich eine der Figuren aus dem Buch des Einsiedlers, den Dichter Klingsohr, der ihn sofort als Schüler unter seine Fittiche nimmt und ihn mit seiner Tochter Mathilde verheiratet. Auch Klingsohr und Heinrich führen wieder jene künstlichsten Gespräche, die in ihrer Abstrusität nur vom Geturtel der beiden Liebenden Mathilde und Heinrich noch übertroffen werden. Den Abschluss des ersten Teils bildet ein von Klingsohr einer Abendgesellschaft vorgetragenes Märchen, eigentlich nichts als eine leere Allegorie, die Tiefe vorspiegelt, jedoch kaum liefert.

Dieses Märchen, das sicherlich nicht zufällig an Goethes „Das Märchen“ (1795) erinnert, dient der Vorbereitung des ganz und gar auf jeglichen Realismus verzichtenden zweiten Teil, von dem nur wenige Seiten des Anfangs niedergeschrieben wurden. Hier begegnet uns Heinrich als Pilger wieder, ohne dass der Leser in der Lage wäre, eine auch nur ungefähre zeitliche Relation zum Geschehen des ersten Teils herzustellen, die über die Feststellung hinausginge, dass Heinrich erheblich gealtert ist. Er scheint Mathilde auf eine nicht näher erklärte Weise verloren zu haben, wandert durch einen Wald irgendwo in der Umgebung Augsburgs, trifft dort auf eine geheimnisvolle Figur mehr, mit der noch weitere abgehobene Gespräche geführt werden, bis ein gnädiges Schicksal dem Schwätzen ein Ende macht. Ergänzt wird der Text Novalis’ traditionell durch einen editorischen Nachbericht des ersten Herausgebers Ludwig Tieck, der aus Erinnerungen an Gespräche mit dem Dichter und aus dessen nachgelassenen Papieren die weitere Handlung rekonstruiert, die umfangreiche phantastische Fahrten an wirkliche und erfundene Örtlichkeiten und sicherlich ausgiebiges weiteres Geschwätz präsentiert hätte. Tieck bedauert sehr, dass der Literatur dieses Werk der reinsten Phantasie verloren gegangen ist; ich kann dem nur in einem sehr abstrakten, poetologischen Sinne zustimmen, wirklich teilen kann ich dieses Bedauern nicht.

Es ist sicherlich überflüssig, sich über Novalis’ phantastisches und im Detail anachronistisches Mittelalter lustig zu machen, in dem Wanduhren ticken und was der Späße mehr sind. Auch Tieck weist in seinem Nachbericht schon darauf hin, dass es dem Autor nicht um ein auch nur wahrscheinliches Abbild des Lebens des historisch ohnehin nicht greifbaren Heinrich von Ofterdingen gegangen ist. Das von Novalis vorgeführte Mittelalter des 13. Jahrhunderts ist schnell als ein ideal überhöhtes 18. Jahrhundert zu durchschauen, das nur dazu dient, in seiner Schlichtheit die Folie für Novalis’ idealen Dichter zu liefern. Ärgerlicher sind aber vollständig von jeglicher menschlichen Wirklichkeit abgehobene Stellen wie etwa diese:

„Der Krieg überhaupt“, sagte Heinrich, „scheint mir eine poetische Wirkung. Die Leute glauben sich für irgendeinen armseligen Besitz schlagen zu müssen, und merken nicht, daß sie der romantische Geist aufregt, um die unnützen Schlechtigkeiten durch sich selbst zu vernichten. Sie führen die Waffen für die Sache der Poesie, und beide Heere folgen einer unsichtbaren Fahne.“
„Im Kriege“, versetzte Klingsohr, „regt sich das Urgewässer. Neue Weltteile sollen entstehen, neue Geschlechter sollen aus der großen Auflösung anschießen. Der wahre Krieg ist der Religionskrieg; der geht geradezu auf Untergang, und der Wahnsinn der Menschen erscheint in seiner völligen Gestalt. Viele Kriege, besonders die vom Nationalhaß entspringen, gehören in die Klasse mit, und sie sind echte Dichtungen. Hier sind die wahren Helden zu Hause, die das edelste Gegenbild der Dichter, nichts anders, als unwillkürlich von Poesie durchdrungene Weltkräfte sind. Ein Dichter, der zugleich Held wäre, ist schon ein göttlicher Gesandter, aber seiner Darstellung ist unsere Poesie nicht gewachsen.“

Wollen wir hoffen, dass wir in diesem Urgewässer nie werden baden müssen!

Novalis: Heinrich von Ofterdingen. In: Werke und Briefe. Hg. von Rudolf Bach. Leipzig: Insel, 1942. S. 113–292. Flexibler Leinenband, Fadenheftung, Dünndruckpapier. (Bücher dieser Art werden heute nicht mehr hergestellt.)

Selbstverständlich ist der Text in diversen Ausgaben lieferbar und auch online verfügbar.

Heinrich Heine: Die romantische Schule

Die Literaturgeschichte ist die große Morgue, wo jeder seine Toten aufsucht, die er liebt oder womit er verwandt ist.

Nachdem sich Heinrich Heine 1831 dem immer drohenden staatlichen Zugriff auf seine Person durch eine Auswanderung nach Frankreich, genauer nach Paris entzogen hatte, sah er sich vor die Aufgabe gestellt, seinen Lebensunterhalt wenigstens teilweise durch seine Schriftstellerei zu finanzieren. Er verfiel auf den naheliegenden Gedanken, seine Kenntnisse der deutschen Kultur den Franzosen und sein wachsendes Wissen über die französische Kultur den Deutschen nahe zu bringen. Er verfasste daher eine ganze Reihe von Essays für französische und deutsche Zeitungen, die später als Zweitverwertung auch in Buchform erschienen, so auch „Die romantische Schule“ aus dem Jahr 1836.

Heine versteht seinen Text als Ergänzung und Korrektur des Bildes von der neuesten deutschen Literatur, das Franzosen aus Germaine de Staëls „Über Deutschland“ (1813), der allein schon aufgrund des napoleonischen Verbotes einflussreichsten französischen Darstellung der deutschen Gesellschaft und Kultur, beziehen konnten. Abgesehen von der publizistischen Wirksamkeit eines Widerspruchs gegen diese Autorität, genügt schon Heines eher kritische Haltung den Brüdern Schlegel gegenüber, um eine ausreichende polemische Distanz zu Staëls Urteilen zu erzeugen.

Heine thematisiert nicht nur die Romantische Schule – darunter versteht er im Wesentlichen das, was Germanisten heute zumeist als Jenaer Romantik bezeichnen –, sondern liefert eine breitere deutsche Literaturgeschichte, deren zweiter und dritter Teil sich auf die Autoren der Romantik konzentriert. Im ersten Teil finden sich Reflexionen über die bis dahin edierte mittelalterliche deutsche Literatur, die Anfänge der bürgerlichen Literatur im 18. Jahrhundert (besonders gelobt werden Lessing und Herder) und Goethe. Zusätzlich gibt es im dritten Teil ein maßvolles Lob Jean Pauls, den Heine mit Laurence Sterne vergleicht:

Wie Lorenz [!] Sterne hat auch Jean Paul in seinen Schriften seine Persönlichkeit preisgegeben, er hat sich ebenfalls in menschlicher Blöße gezeigt, aber doch mit einer gewissen unbeholfenen Scheu, besonders in geschlechtlicher Hinsicht. Lorenz Sterne zeigte sich dem Publikum ganz entkleidet, er ist ganz nackt; Jean Paul hingegen hat nur Löcher in der Hose.

Heinrich von Kleist oder Friedrich Hölderlin kommen als Außenseiter der großen Literaturströmungen in Deutschland beide nicht vor.

Im großen und Ganzen folgt Heine eher der Tendenz, mehr über die Autoren im allgemeinen als über bestimmte Werke zu reden. Zwar erwähnt er immer wieder einzelne Titel, insbesondere vermerkt er für die französischen Leser, welche davon ins Französische übersetzt wurden, aber die Darstellung liefert meist nicht mehr als eine grobe Übersicht der Fabel und vielleicht einige Glanzpunkte, wie sie einem auch nach länger zurückliegender Lektüre noch gewärtig sind. Hauptsächlich aber schreibt Heine mehr oder weniger spitze, aber immer zugespitzte Portraits der behandelten Autoren und eine in beinahe allen Fällen auch heute noch als ziemlich präzise anzusehende literargeschichtliche Einordnung. Heines salopp erscheinende, aber immer exakte Sprache, seine Kunst des Ab- und Ausweichens – so erzählt er etwa über Novalis’ „Heinrich von Ofterdingen“, den er möglicherweise nicht einmal gelesen hat, eine halb sentimentale, halb ironische Liebesgeschichte um ein junges, engelsgleiches Mädchen, in dessen Händen er das Buch immer gesehen habe – bereiten den eigentlich trockenen, akademischen Stoff einer Literaturgeschichte zu einer vergnüglichen Lektüre für den französischen Zeitungsleser auf.

Was mir bei dieser erneuten Lektüre allerdings zum ersten Mal so deutlich aufgefallen ist, ist Heines rabiate Opposition gegen den deutschen Katholizismus (den seines Gastlandes beurteilt er aus verständlichen Gründen weit milder), die sich natürlich aus Heines Konfrontation mit katholischen Kreisen in München erklärt, die gegen die Professur eines protestantisch getauften Juden erfolgreich intrigiert hatten. Heine lässt zwar erkennen, dass er die Motive wohl nachvollziehen kann, aus denen heraus sich die Romantiker der anscheinend dem Mittelalter noch näher stehenden Glaubenswelt des Katholizismus anschlossen, doch lässt er am deutschen Katholizismus selbst kein gutes Haar. Es mag nicht zuviel gesagt sein, dass am Ende die Neigung zum Katholizismus den Haupteinwand Heines gegen die „romantische Schule“ bildet, ja, eventuell sogar das Hauptmotiv dafür liefert, warum Heine sich selbst nur sehr eingeschränkt als Erbe dieser Literaturtradition begreifen möchte.

Wie ich selbst beim Wiederlesen feststellen durfte, taugt Heines „romantische Schule“ nur bedingt für den diejenigen, die sich zum ersten Mal dieser – frei nach Elias Canetti – „Hölle der deutschen Literatur“ nähern und ein solides Bild gewinnen wollen (was insofern keine kleine Kritik darstellt, als der Essay primär für ebensolche Leser geschrieben wurde), aber für alle, die sich selbst dort schon umgetan haben, ist es ein großes Vergnügen, Heine als Führer zu folgen.

Heinrich Heine: Die romantische Schule. In: Sämtliche Schriften, Bd. 3. Hg. v. Klaus Briegleb. u. Karl Pörnbacher. München: Hanser, 31996. S. 357–504. Leinen, Fadenheftung, zwei Lesebändchen. 54,– €.

Selbstverständlich auch in diversen anderen Ausgaben lieferbar.

Vladimir Nabokov: Die Gabe

Er war blind wie Milton, taub wie Beethoven und obendrein dumm wie Beton.

Nabokov-Gabe„Die Gabe“, entstanden in den Jahren 1933 bis 1938 in Berlin und an der Côte d’Azur, ist der letzte Roman, den Nabokov auf Russisch schrieb. Er ist auch so etwas wie ein erster Abschluss seiner Aus­ein­an­der­set­zung mit der russischen Immigranten-Szene Berlins, in der Nabokov von 1922 bis 1937 gelebt hatte. Zudem ist es der bis dahin literarischste Roman Nabokovs, da sein Protagonist ein junger russischer Schriftsteller ist und die russische Literatur seit dem 19. Jahrhundert eine der thematischen Ebenen des Romans bildet.

Erzählt wird die Geschichte des jungen Grafen Fjodor Godunow-Tscherdynzew, der zu Anfang des Romans gerade seinen ersten Gedichtband veröffentlicht hat. Er lebt in der zweiten Hälfte der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts als russischer Exilant in Berlin; seine Mutter und Schwester sind in Paris, sein Vater, ein berühmter For­schungs­rei­sen­der, ist auf seiner letzten Expedition verschollen und muss für tot gehalten werden. Seine sozialen Kontakte sind auf einen kleinen Kreis von Immigranten beschränkt, darunter auch einige Schriftsteller, die wie er selbst mit der kärglichen Bedingungen des Exils zurechtkommen müssen. Handlung hat das Buch nur wenig: Nach einer Zeit der Untätigkeit beginnt Godunow-Tscherdynzew die Biographie seines Vaters zu verfassen, gibt dieses Projekt aber nach einigen Monaten wieder auf, um stattdessen die Biographie Nikolai Gawrilowitsch Tschernyschewskis (1828–1889) zu schreiben. Nabokov lässt es sich nicht nehmen, diese Biographie im 4. Kapitel des Romans auf knapp 150 Seiten vollständig wiederzugeben. Das Buch wird ent­ge­gen der Intention ihres Verfassers weithin als Parodie oder sogar als Satire auf das Leben des frühen russischen Revolutionärs verstanden, weshalb Godunow-Tscherdynzew zuerst einige Schwierigkeiten hat, einen Verlag für das Buch zu finden; als es dann doch erscheint, wird es rasch zum Zentrum eines Sturms im Wasserglas der russischen Exil-Literatur.

Unterdessen hat sich der Protagonist verliebt: Sina, die Stieftochter seines neuen Vermieters, trifft sich täglich mit ihm zu Spaziergängen durch das abendliche Berlin. Sie unterstützt ihn bei der Arbeit an der Biographie, wahrscheinlich aber auch finanziell – sie arbeitet als Schreib­kraft bei einem Rechtsanwalt und gibt Fjodor zumindest ein­mal eine hohe Summe, damit er die ausstehende Miete bei ihren Eltern bezahlen kann. Dass das Paar füreinander bestimmt ist, macht Nabokov im letzten Kapitel klar, als er die Eltern Sinas nach Kopenhagen ziehen lässt; auf den letzten Seiten gehen die beiden Liebenden zur nun leeren Wohnung zurück, um ihre erste Liebesnacht miteinander zu ver­brin­gen. Nabokov wäre allerdings nicht Nabokov, wenn er für die beiden nicht noch eine kleine, böse Überraschung vorbereitet hätte, die am Ende aber unerzählt bleibt.

Das Buch ist sicherlich für Kenner der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts vergnüglicher zu lesen als für den gewöhnlichen deutschen Leser. Besonders die frühen Passagen der Tscher­ny­schew­ski-Bio­gra­phie in Kapitel 4 sind etwas zäh; dagegen ist die von Na­bo­kov detailliert vorgeführte Rezeption des Buches eine hübsche Parodie auf Gepflogenheiten des Literaturbetriebs, die sich bis heute nicht groß geändert haben. Erwähnt werden sollte wohl noch, dass Nabokov auch in diesem Buch mit den Grenzen zwischen Phantasie und Realität spielt: An zahlreichen Stellen des Buches geht die Wahrnehmung des Helden nahtlos in eine seiner Phantasien über; auch Träume spielen wieder eine bedeutende Rolle im Text.

Alles in allem ein routinierter Künstlerroman, der viel von der li­te­ra­ri­schen Kultur der russischen Exilanten in Berlin widerspiegelt; zugleich handelt es sich um eine satirische Auseinandersetzung mit der rus­si­schen Literaturszene, sowohl der des 19. Jahrhunderts als auch der Opposition zwischen den revolutionär orientierten und den kon­ser­va­ti­ven Kräften des Exils. Die deutsche Übersetzung beeindruckt be­son­ders durch die Übersetzungen der Gedichte des Protagonisten, bei denen der Übersetzerin das nicht kleine Kunststück gelingt, einen halb originellen, halb eklektizistischen Tonfall zu erzeugen.

Vladimir Nabokov: Die Gabe. Deutsch von Annelore Engel-Braunschmidt. Gesammelte Werke V. Reinbek: Rowohlt, 42001. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 795 Seiten. 30,– €.

Vladimir Nabokov: Einladung zur Enthauptung

Ich brauche wenigstens die theoretische Möglichkeit, daß ich einen Leser habe, sonst könnte ich das eben­so­gut alles zerreißen.

Nabokov_Enthauptung

„Einladung zur Enthauptung“ ist ein kurzer Roman, den Nabokov 1934 in Berlin sozusagen zwischendurch geschrieben hat: Seine Niederschrift unterbrach die des deutlich umfangreicheren Romans „Die Gabe“. Erzählt werden die letzten Tage des Gefangenen Cin­cin­na­tus, der zu Anfang des Buches als soeben zum Tode Verurteilter in seine Zelle zurückkehrt. Cin­cin­na­tus ist offenbar Opfer eines totalitären Regimes, das ihn wegen eines Persönlichkeitsverbrechens verurteilt hat: Im Gegensatz zu seinen Mitbürgern erscheint Cincinnatus als eine opake Person, die sich an den unter seinen Mitmenschen verbreiteten Aktivitäten und Ver­gnü­gun­gen nur ungern beteiligt.

Die erzählte Zeit umfasst etwas mehr als vierzehn Tage, in denen Cincinnatus auf seinen Hinrichtung wartet. Der Roman enthält ein selbst für die Grundkonstellation sehr reduziertes Personal: Ein Wächter, der Gefängnisdirektor, dessen Tochter Emmi, ein Rechts­an­walt, ein vorgeblicher Mitgefangener, der sich aber bald als der Henker herausstellt, eine Spinne sowie Cincinnatus vorgebliche Mutter und seine Ehefrau bilden im Wesentlichen das Personal. Der Text ufert hier und da ins Phantastische aus und lässt die Grenze zwischen einer ohnehin nur pseudorealistischen und einer Traumwelt immer wieder verschwimmen.

Es ist verführerisch einfach, den Roman als eine Kritik an der Ideologie und am Menschenbild der jungen Sowjetunion zu lesen, die, wie wohl alle totalitären Staaten, grundsätzlich ein stärkeres Interesse an gut funktionierenden Bürgern hatte, die sich ohne Rest in die Ansprüche und Bedürfnisse des Staatswesens eingliedern lassen, als an in­di­vi­du­el­len Charakteren. Dass Nabokov einen Einzelgänger und Eigenbrötler imaginiert, der allein aufgrund seines Charakters gleich zum Tode verurteilt wird, ist eine verständliche Zuspitzung dieses staatlichen Anspruches. Es mag auch sein, dass er vergleichbare Züge auch im Deutschland des Jahres 1934 erkannt hat, doch fehlen im Text jegliche Hinweise auf nichtrussische Verhältnisse.

Ein solche Deutung wäre nicht falsch, würde die Reichhaltigkeit des Textes aber klar un­ter­lau­fen. Wie immer interessieren Nabokov weit mehr Formen der Ge­fan­gen­schaft als diese eine: Die Gefangenschaft in Ehe und Familie, im Körper, in der Zeit und die der Sexualität spielen eine zumindest ebenso große Rolle wie die durch Staat und Gesellschaft.

Insgesamt ist der Roman etwas abstrakt geraten und erinnert – auch wenn sich Nabokov im Vorwort der späteren englischen Ausgabe dagegen verwehrt – unweigerlich an Kafkas Welten. Die be­schrie­be­ne Wirklichkeit bleibt eher undeutlich und kann allein von daher sehr vielfältig ausgedeutet werden. Das Ende wiederum, das die ab­schlie­ßen­de Hinrichtung eher auflöst als durchführt, erinnert stark an „Die Mutprobe“, so dass dieser kleine Roman am Ende als eine Variation bereits bekannter Themen Nabokovs erscheint: der gefangene Autor und sein Entkommen ins Reich der Phantastik.

Vladimir Nabokov: Einladung zur Enthauptung. Deutsch von Dieter E. Zimmer. Gesammelte Werke IV. Reinbek: Rowohlt, 22003. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 267 Seiten. 22,– €.

James Fenimore Cooper: Ned Myers

Wohlmeinende Menschen richten auf dieser Welt oft einfach ebenso viel Schaden an wie die böswilligen.

Cooper-MyersBei „Ned Myers oder Ein Leben vor dem Mast“ handelt es sich um die von Cooper literarisch aufgearbeitete, ihm mündlich erzählte Biografie des Seemanns Edward Meyers (ca. 1793–1849), der einen bedeutenden Teil seines Lebens unter dem angenommenen Namen Ned Myers auf See verbracht hat. Auslöser der Niederschrift dürfte der Erfolg von Richard Henry Danas au­to­bio­gra­phi­schem Bericht „Zwei Jahre vor dem Mast“ (1840) gewesen sein, der zahlreiche Seefahrer-Biografien nach sich zog. Myers war in jungen Jahren gemeinsam mit Cooper auf einem Schiff gefahren und erinnerte sich an seine Bekanntschaft mit ihm, nachdem er durch den Bruch seiner Hüfte nicht länger auf See arbeiten konnte.

Myers wechselte häufig die Schiffe, diente zwischenzeitlich auch in der US-Marine, wurde von den Briten gefangengesetzt, floh mehrfach aus dieser Gefangenschaft und nahm nach dem Friedenschluss zwischen den USA und England sein unstetes Leben als Matrose wieder auf. Cooper will Myers’ Papieren ent­nom­men haben, dass er auf min­des­tens 72 Schiffen angeheuert war und insgesamt – zählt man seine Fahrten als Passagier und Gefangener hinzu – auf mehr als 100 Schiffen gefahren sein muss. Dementsprechend geraten einige Pas­sa­gen der Biographie sehr aufzählend: Myers heuert auf diesem Schiff an, die Fahrt verläuft ohne besondere Ereignisse, Myers heuert auf dem nächsten Schiff an etc. pp. Zwi­schen­durch finden sich aber immer wieder impressive Abschnitte, die von den zahlreichen Stürmen und Schiffsuntergängen berichten, die Myers überlebt hat; auch die Er­zäh­lun­gen von den kriegerischen Auseinandersetzung zwischen der britischen und US-amerikanischen Flotte auf dem Ontariosee und der darauf folgenden Zeit der Kriegsgefangenschaft gehören zu den lebendigen und interessanten Teilen der Erzählung.

Für Leser, die am Leben der Seeleute im frühen 19. Jahrhunderts oder überhaupt an frühen Reiseerzählungen interessiert sind, ist das Büch­lein sehr zu empfehlen; ohne dieses spezielle Interesse dürfte der einen oder dem anderen die Lektüre vielleicht etwas lang werden. Die Ü­ber­set­zung ist bis auf Kleinigkeiten tadellos; ein seemännisches Glos­sa­ri­um, Fußnoten sowie ein Vor- und Nachwort des Übersetzers er­gän­zen und erläutern den Text.

James Fenimore Cooper: Ned Myers oder Ein Leben vor dem Mast. Übersetzt von Alexander Pechmann. Hamburg: Mare, 2014. Bedruckter Leinenband im Schuber, Fadenheftung, Lesebändchen, 389 Seiten. 28,– €.