Isaac Asimov: Foundation Trilogy

The Seldon Plan is neither complete nor correct.

Diese Erzählungen, die den für sogenannte Science Fiction eher seltenen Ruf eines Klassikers erlangt haben, sind in den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts entstanden und veröffentlicht und dann zwischen 1951 und 1953 zu drei Büchern zusammengefasst worden. Während die einzelnen Erzählungen durchaus traditionellen Erzählmustern des Genres folgen, erzählt der Gesamtzyklus eher die Geschichte einer Idee, was für viele andere Science-Fiction-Zyklen vorbildhaft werden sollte.

Erzählt werden knapp vierhundert Jahre in der Entwicklung des Galaktischen Reichs, einer staatlichen Organisation, die zu Beginn der Erzählungen seit mehr als 10.000 Jahren existiert und auf der Höhe ihrer Macht zu sein scheint. Einzig der Psychohistoriker Hari Seldon, ein Soziologe mit einer sehr fortschrittlichen statistischen Methode, erkennt, dass sich das Reich bereits in einem unaufhaltsamen Prozess des Verfalls befindet. Er sagt den Niedergang innerhalb der nächsten 100 Jahre voraus und zugleich, dass es 30.000 Jahre dauern werde, bis sich ein Nachfolgestaat gleichen Umfangs wieder wird etablieren können. Um diesen Zeitraum auf nur 1.000 Jahre zu verkürzen, entwickelt er einen Plan, der wesentlich die Gründung zweier wissenschaftlicher Kolonien – der Foundations – vorsieht.

Inhalt der Erzählungen ist hauptsächlich die Entwicklung der naturwissenschaftlich geprägten Foundation, die in den Außenbezirken der Galaxie angesiedelt ist, und aufgrund ihrer technischen Überlegenheit das Machtvakuum füllen kann, das das verfallende Empire hinterlässt. Diese Entwicklung ist der Hauptinhalt des ersten Bandes “Foundation”. Der zweiten Band “Foundation and Empire” schildert die letzte Konfrontation zwischen den Kräften der Zentralmacht und der ersten Foundation sowie das Auftauchen einer außergewöhnlichen Einzelperson – des Mule –, der wegen einer Mutation eine ernsthafte Gefährdung des Plans von Hari Seldon darstellt, der mit seiner statistischen Methode nur die Entwicklung großer Menschenmassen voraussagen und den Einfluss eines außerordentlichen Individuums nicht mit einberechnen kann. Jedoch kann auch diese Krise durch das Eingreifen der zweiten Foundation überwunden werden. Der dritte Band “Second Foundation” schließlich schildert zum einen den Versuch des Mules, die zweite Foundation zu finden, und zum anderen einen Versuch der ersten Foundation, dasselbe Ziel zu erreichen. Zugleich ist die zweite Foundation bemüht, die vom Mule verursachten Störungen auszugleichen und die Galaxis auf den Weg von Seldons Plan zurückzusteuern. Diese letzten beiden Erzählungen sind leider die schwächsten Teile der Trilogie, aber unvermeidlich, um die Geschichte der Foundations einigermaßen zu einer Abrundung zu bringen.

Diese drei Bände sind für Science-Fiction-Erzählungen erstaunlich gut gealtert, wenn man von Kleinigkeiten absieht (Rauchen ist immer noch weit verbreitet, es gibt noch Zeitungen und was der Späße mehr sind), und ragen aufgrund der narrativen Spannung zwischen genretypischen Einzelerzählungen und dem ideologischem Gesamtkonzept immer noch weit über die breite Masse des Genres weit hinaus. Ich habe diese Bücher noch einmal angeschaut, weil sie zu meinen frühen prägenden Leseerfahrungen gehört haben (ich habe als Science-Fiction-Leser begonnen) und ich lange schon nachschauen wollte, wie sich die Bücher zu meiner Erinnerung stellen würden. Es ist keine Enttäuschung gewesen, sie noch einmal gelesen zu haben.

Asimov hat sich leider in den 80-er Jahren dazu überreden lassen, vier weitere Bände zu dieser Trilogie hinzuzufügen, die allerdings, falls denn der eine Band “Foundation’s Edge”, den ich gelesen habe, typisch ist, den Charme und die Dichte der ursprünglichen Trilogie auch nicht annährend erreichen.

Isaac Asimov: Foundation / Foundation and Empire / Second Foundation. Everyman’s Library. New York u. a.: Alfred A. Knopf, 2010. Leinenband, Fadenheftung, Lesebändchen, LII + 612 Seiten. Etwa 15,– €.

Arno Schmidt in Schwarze Spiegel gezeichnet von Mahler

Nicolas Mahler hat sich sehr rasch einen Namen damit gemacht, anspruchsvolle literarische Texte auf originelle Weise in sogenannte Graphic Novels zu verwandeln. So auch hier bei Arno Schmidts „Schwarze Spiegel“. Der Roman ist so etwas wie das Tagebuch eines namenlosen Ich-Erzählers, der sich nach einem vernichtenden Atomkrieg als vermeintlich letzter Mensch in Europa in der Lüneburger Heide niederlässt. Statt in eines der verlassenen Häuser einzuziehen, baut er sich lieber eine Hütte im Wald – das Warum dafür ist vielfältig und braucht hier nicht erläutert zu werden; interessant ist aber, dass Mahler gerade diesen Aspekt des Romans unterschlägt –, fährt mit seinem Fahrrad nach Hamburg, um dort Bilder für sein Heim aus der Kunsthalle zu entwenden und sich auch in den dortigen Antiquariaten zu bedienen, und richtet sich so in einer menschenleeren Welt auf seine restlichen Tage ein. Es weist sich, dass er natürlich nicht der letzte Mensch ist, sondern sich noch eine Frau einfindet. Nachdem man vorsichtigerweise erst einmal aufeinander geschossen hat, einigt man sich auf einen Waffenstillstand, der dann kräftig ausgekostet wird. Mehr muss hier gar nicht verraten werden.

Mahlers Version der „Schwarzen Spiegel“ ist sehr anspielungsreich: Bei ihm ist es offenbar der Autor Schmidt selbst, der durch das atomwüste Deutschland radelt; in seinen Träumen spiegeln sich andere seiner Werke wider, die auch in wörtlichen Zitaten hier und da präsent sind. Auch Zeichnungen von Schmidt selbst und von Künstlern, die er schätzte, sind in die Verzeichnung des Romans eingegangen. Herausgekommen ist ein sehr unterhaltsames Werk, das sowohl dem Kenner als auch dem Greenhorn in Sachen Schmidt einiges Vergnügen bereiten kann. Sehr empfehlenswert, auch als Geschenkbuch!

Arno Schmidt in Schwarze Spiegel gezeichnet von Mahler. Bibliothek Suhrkamp 1528. Berlin: Suhrkamp, 2021. Pappband, Fadenheftung, Lesebändchen, 191 Seiten. 24,– €.

Wilhelm Raabe: Fabian und Sebastian

Alle lügen sie, Alle, nach ihrer Art! Ich auch! aber nicht so dumm wie die Anderen alle!

Mit diesem Buch beginnt der Wallstein-Verlag eine neue, kritische Wilhelm-Raabe-Ausgabe, ein weiteres erstaunliches Unternehmen dieses Verlages, denn die Präsenz Raabes in unserer föjetonistischen Kultur dürfte mit „eher dürftig“ noch sehr freundlich beschrieben sein. Angekündigt ist für den kommenden Februar noch der Band „Der Lar“ (1889); wie sich die Sache danach entwickeln wird, müssen wir abwarten und hängt sicherlich auch davon ab, wie erfolgreich der Einstieg gerät. Ein Editionsplan ist wenigstens im Moment auf der Webseite des Verlages noch nicht zu finden.

„Fabian und Sebastian“ stammt vom Anfang der 1880er-Jahre und war keiner der großen Erfolge Raabes, der von seiner Schriftstellerei lebte und daher auf den Zuspruch des Lesepublikums angewiesen war. Erzählt wird die Geschichte dreier Brüder, von den allerdings der jüngste, Lorenz, zu Beginn der Erzählung gerade auf Sumatra im nierderländischen Militärdienst verstorben ist und eine nun verwaiste, 15-jährige Tochter hinterlassen hat, die gerade auf dem Weg nach Europa ist, um bei ihren Onkeln zu leben. Fabian und Sebastian sind Besitzer einer erfolgreichen Konfitüren- und Schokoladenfabrik, wobei Sebastian der Geschäftsführer ist, während sich Fabian um die künstlerische Gestaltung der Ware kümmert. Beide Brüder sind unverheiratet und wohnen auf dem Fabrikgelände, aber in getrennten Wohnung und haben wenig Kontakt miteinander. Sebastian möchte seine neue Nichte Constanze in einer Pension für jungen Mädchen unterbringen, nicht nur, um sie aus dem Haus zu haben, sondern auch um das Problem der Erziehung des Mädchens auf einfachem Weg zu lösen. Fabian dagegen hat zusammen mit seinem philosophischen Faktotum Knövenagel bereits ein Zimmer für sie eingerichtet und reist nach Marseille, um Constanze dort vom Schiff abzuholen.

Nach der Rückkehr in die Heimatstadt passiert erstaunlich wenig: Weder wird die Beziehung zwischen den beiden Brüdern enger, noch erweitert sich das doch sehr beschränkte soziale Umfeld Fabians durch Constanzes Einfluss. Das Mädchen lebt in der Stadt im eingezogenen Zirkel Fabians; als Gegenwelt dient das ländliche Schielau, in dem Constanze einige glückliche Sommerwochen bei dem mit Fabian eng befreundeten Amtmann und seiner Frau durchlebt. Fabian selbst gerät durch die Ankunft des Mädchens in eine künstlerische Krise, die sich auf die saisonale Vorbereitung der Schokoladenfabrikation für das nächste Weihnachtsgeschäft auswirkt.

Ebenso gerät Sebastian in eine zuerst eher unbestimmtere psychische Krise, die offensichtlich mit der unterdrückten Vorgeschichte der drei Brüder zu tun hat, die von Beginn an in Andeutungen die Erzählungen durchwirkt. Ich will hier nicht zu viel verraten, aber auch in dieser Vorgeschichte gibt es eine Tochter, die auf tragische Weise ums Leben gekommen ist, weshalb ihre Mutter seit beinahe zwanzig Jahren im städtischen Gefängnis sitzt. Diese Geschichte tritt erst peu à peu zutage, so wie sie in immer neuen Teilen Constanze erzählt wird.

Den Abschluss der Erzählung bildet eine bitter-süße Auflösung der Spannungen, die zwischen den Brüdern und dem anderen, unterdrückten Teil dieser Familie bestehen. Es kann nicht ohne Tragik abgehen, aber Constanze bewehrt sich hier als gute Wilde auf das Beste. Es wird zwar nicht alles gut, aber doch besser. All das wird in einer absichtlich umständlichen und etwas redundanten Sprache erzählt, wobei die Geschlossenheit der präsentierten kleinen Welt nur einer oberflächlichen Betrachtung standhält.

Der Band ist eine Gelegenheit, Raabe als komplexen und originellen Erzähler der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kennenzulernen. Er ist ein Beispiel für die Neigung des sogenannten literarischen Realismus, auf den ersten Blick eher schlichte Erzählungen mit zahlreichen Bedeutungs-Ebenen zu unterfüttern, ohne damit die Rezeption eines breiteren Lesepublikums zu stören.

Wilhelm Raabe: Fabian und Sebastian. Eine Erzählung. In: Werke. Kritische kommentierte Ausgabe. Göttingen: Wallstein, 2023. Pappband, Fadenheftung, 288 Seiten. 26,– €.

Fabcaro / Didier Conrad: Die weiße Iris

Pünktlich nach zwei Jahren legt die holzverarbeitende Industrie den nächsten Asterix-Band vor, mit einem neuen Texter – über den Grund des Wechsels habe ich nichts finden können, ich habe allerdings auch nicht sehr gesucht –, aber ansonsten entlang der altbewährten Linien: Ein wenig „Streit um Asterix“, ein wenig „Die Lorbeeren des Cäsar“ gewürzt mit Anspielungen auf „Asterix und der Kupferkessel“ und „Das Geschenk des Cäsar“ und fertig ist die Laube. Da kann man sich sogar augenzwinkernd über seine eigene Einfallslosigkeit lustig machen.

Wer so etwas mag, der wird wohl ganz gut bedient: Die Fabel zerfällt in zwei Teile. Im ersten versucht ein intriganter esoterischer Schwätzer, genannt die weiße Iris (im Französischen ist die Iris grammatikalisch maskulin, aber das ist natürlich nicht zu retten), das gallische Dorf mit Geschwätz sturmreif zu machen, indem er einerseits die Gallier in harmoniebedürftige Gutmenschen, im Gegenzug die römischen Legionäre im Lager Babaorum in stets positiv denkende Kampfmaschinen verwandelt. Wie beides mit derselben rhetorischen Strategie gelingen kann, bleibt das Geheimnis des Autors; dies könnte allerdings auch der einzige wirklich subversive Gedanke des Bandes sein; aber das hieße wahrscheinlich doch, dem Autor zu viel zuzutrauen. Natürlich widerstehen Asterix und Miraculix dem Einflüsterer, während Obelix schlicht zu einfältig ist, um auf ihn hereinzufallen. Sowohl der Autor als auch sein Intrigant bemerken bald, dass diese Strategie nirgends hinführt, weshalb die beiden beschließen, Gutemine, die Frau des Häuptlings Majestix zu entführen und Cäsar als Geisel zu übergeben.

Dies bildet den zweiten Teil der Fabel, der mit dem ersten kaum verbunden ist. Merkwürdigerweise wird diese Entführung Gutemine gegenüber als Reise nach Lutetia (Paris) ausgegeben (gereist wird im Thalix, einem der wenigen hübschen Einfälle des Bandes!), da Cäsar sich dort bald einfinden soll. Asterix, Obelix und Majestix folgen der Entführten; unterwegs ergibt sich ausführlich Gelegenheit, immer erneut ein und denselben Witz zu machen. In Lutetia besucht Gutemine ihren Bruder Homöopater, man macht sich ein wenig über das Kulturleben und die Möchtegern-Intellektuellen der Hauptstadt lustig und trifft sich schließlich zum Showdown im Theater, wo das Stück „Warten auf Godos“ gegeben wird, in dem zu meiner nicht zu überbietenden Überraschung die Sätze „Huch, meine Frau! Ab in den Schrank!“ fallen. Auch Cäsar erscheint dort als Deus ex calamo und vereitelt die ohnehin eher schlecht motivierte Intrige. Alles wird gut.

Der Band ist ein Beleg mehr dafür, dass die Reihe ihren Produzenten inzwischen vollständig gleichgültig geworden ist. Es handelt sich nurmehr um ein seriell produziertes Produkt, das mit dem Geist und Witz seiner ursprünglichen Erfindung überhaupt nichts mehr verbindet. Die Handlung ist schlecht konstruiert, die Satire ist extrem flach, die Zitate der alten Bände sind nichts weiter als das und am Ende sind einmal mehr 48 Seiten gefüllt. Die Verkaufszahlen und der erfolgreiche Medien-Hype scheinen dem Konzept Recht zu geben. Wir leben in einer Kultur der Hülsen; aber auch dieser Gedanke ist nicht mehr gänzlich frisch.

Fabcaro / Didier Conrad: Die weiße Iris. Asterix Bd. 40. Berlin: Egmont Ehapa, 2023. Bedruckter Pappband, 48 Seiten (28,8 × 22,4 cm). 13,50 €.

Theodor Fontane: Von Zwanzig bis Dreißig

Der zweite und, wie er bereits im Vorwort explizit schreibt, letzte Band von Fontanes Autobiographie erschien in seinem Todesjahr 1898. Mit seinem 70. Geburtstag Ende 1889 wurde Fontane ein deutschlandweit bekannter und besprochener Romanautor, wodurch ihn auch Anfragen nach seiner Autobiographie – einem damals immer beliebter werdenden Genre – erreichten. Als er nach einer überstandenen Lungenerkrankung unter einer Depression litt, riet auch sein Arzt als Heilmittel zur Beschäftigung mit seiner Jugend und Kindheit. So erschien 1894 zuerst Meine Kinderjahre, dem dann vier Jahre später der hier vorgestellte Band folgte.

Die erzählte Zeitspanne verrät bereits der Titel, wobei als äußerliche Ereignisse Fontanes Eintritt in die Ausbildung zum Apothekergehilfen einerseits und seine Heirat und der Übergang in den beruf des Journalisten andererseits die Grenzen bilden. In diese Zeitspanne fällt nicht nur Fontanes Bekanntschaft mit zahlreichen Literaten seiner Zeit, die durch eine literarische Gesellschaften vermittelt werden, sondern auch sein Erleben der Revolution von 1848 in Berlin. Beiden Bereichen werden ausführliche Abschnitte gewidmet, während Fontane was seine familiären Umstände und auch seine Liebe zu Emilie Kummer eher zurückhaltend ist. So ist ein Gutteil des Buches mit Portraits mehr und weniger bekannter Persönlichkeiten aus dem Tunnel über der Spree gewidmet, die für Literaturinteressierte auch heute noch gewinnbringend zu lesen sind.

Eher ein locker und entspannt erzähltes Zeitbild als eine Autobiographie im engeren Sinne, dem natürlich aufgrund des anekdotischen Stoffes die Dichte der Fontaneschen Romane fehlt. Für Fontane selbst war es wohl wichtiger, dass die Beschäftigung mit seiner eigenen Vergangenheit ihm wieder zum Schreiben zurück verhalf.

Wie alle Bände der Große Brandenburger Ausgabe ist auch dieser Band mit einem umfangreichen, vorzüglichen Anhang versehen, der den Band erläuternd, kommentierend und durch ein ausführliches Register erschließt.

Theodor Fontane: Von Zwanzig bis Dreißig. Große Brandenburger Ausgabe. Das autobiographische Werk. Bd. 3. Berlin: Aufbau, 2014. Geprägtes und bedrucktes Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 967 Seiten. 68,– €.

Theodor Fontane: Die Poggenpuhls

»Arme Verwandte,« sagte Therese mit halblauter Stimme vor sich hin.

Die Poggenpuhls entstanden zwischen 1891 und 1894, was für den sehr effizienten Arbeiter Fontane eine lange Zeit für die etwa 120 Seiten darstellt, die das Buch umfasst. Das liegt wohl in der Hauptsache daran, dass Fontane parallel dazu an seiner Autobiographie arbeitete (Meine Kinderjahre (1893) und Von Zwanzig bis Dreißig (1898)), was ihm von seinem Arzt als Mittel gegen seine Depressionen empfohlen worden war. Es lässt sich diskutieren, ob es sich nach dem Verständnis der Zeit überhaupt um einen Roman handelt, da es dafür recht kurz ist. Andererseits ist der Sammelbegriff „Erzählung“ sehr unspezifisch und eher eine germanistische Notlösung als einen hilfreiche Einordnung. Von Der Stechlin aus betrachtet, handelt es sich bei Die Poggenpuhls um eine Art von Handübung für den späteren Roman: Auch hier wird auf eine spannende Handlung verzichtet, auf Konflikte oder eine Liebesgeschichte, wie es von Romanen der Zeit gern erwartet wurde. Ersetzt wird dies durch eine Art von Panorama – nicht umsonst wird diese populäre zeitgenössische Kunstform gleich zweimal erwähnt – der gesellschaftlichen Schnittstelle zwischen Bürgertum und Adel.

Im Mittelpunkt steht die Familie von Poggenpuhl, genauer der verwitweten Albertine von Poggenpuhl, die allerdings bürgerlich geboren wurde und sich nie so recht in die Rolle als Adelige eingefunden hat. Sie hat fünf Kinder, zwei Söhne, die beide gemäß der Familientradition beim Militär dienen, und drei Töchter, die zusammen mit der Mutter in eher bescheidenen Verhältnissen in Berlin leben. Therese, die Älteste der Töchter, versucht das Adelsbewusstsein der Familie aufrecht zu erhalten, was sie zu einer leicht skurrilen Figur macht, während die bei jüngeren Töchter, Sophie und Manon, sich eher handfest und bürgerlich orientieren. Keine der Töchter hegt Heiratspläne, da die Familie über keinerlei Vermögen verfügt, das sich in eine Mitgift verwandeln ließe. Von den Söhnen hat nur der Ältere, Wendelin, Aussichten auf eine militärische Karriere; demgegenüber entspricht der jüngere Leo dem typischen literarischen Offiziers-Klischee der Zeit: Er gibt sich „schneidig“, schwätzt viel Unfug, macht Schulden (wenn auch nur mäßig) und langweilt sich im Dienst. Offenbar denkt er ernsthaft darüber nach, als Abenteurer nach Afrika zu ziehen, um dort sein Glück zu suchen.

Aus dieser Grundkonstellation entwickelt Fontane ein Nichts von Handlung: Leo besucht seine Mutter zu Ihrem Geburtstag, man trifft den Onkel Eberhard (den Schwager der Mutter), der als Deus ex machina Leos Rückfahrt zu seinem Standort finanziert, Sophie fährt mit Onkel Eberhard nach Hause, um seiner Frau Josephine – ebenfalls einer Bürgerlichen, die in die Familie Poggenpuhl eingeheiratet hat – Gesellschaft zu leisten. Sophie bricht sich ein Bein, bemalt die Wände der örtlichen Kirche und erlebt, wie ihr Onkel binnen weniger Tage an der Tuberkulose verstirbt. Nach der Beerdigung eröffnet Josephine Albertine, dass sie den privaten Teil ihres Vermögens zugunsten von deren Töchtern einsetzen wird, so dass alle drei Schwestern nun Aussicht auf eine Ehe haben werden. Auch Leo soll geholfen werden (Wendelin wird natürlich auch nicht vergessen, aber der spielt ohnehin im Roman kaum eine wirkliche Rolle), auf dass er nicht nach „Afri- od- Ameriko“ entfliehen muss. Insgesamt wird viel geredet, und sonst passiert kaum etwas.

Was im Gegensatz zu Der Stechlin fehlt, sind echte Charaktere: Zwar gehen Onkel Eberhard und seine Gattin gerade noch dafür durch, aber ansonsten ist vieles einfach nur Markierung einer Position oder Karikatur: Therese als eingebildete Adelige, die weder über Einfluss noch Land noch anderes Vermögen verfügt, ist nur eine lächerliche Figur, Leos Status als Klischee ist schon festgestellt worden, Sophie ist leider etwas zu frühklug und volksreligiös geraten und Manon ist eigentlich kaum etwas Eigenständiges und dient nur dazu, den neuen, jüdischen Geldadel wenigstens am Rande mit in den Roman zu bringen. Wer Fontane mag, wird sich unterhalten; alle anderen, so fürchte ich, werden sich langweilen.

Theodor Fontane: Die Poggenpuhls. Große Brandenburger Ausgabe. Das erzählerische Werk. Bd. 16. Berlin: Aufbau, 2006. Geprägtes und bedrucktes Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 292 Seiten. 28,– €.

Theodor Fontane: Der Stechlin

ein Feuerwerk von Anzüglichkeiten und kleinen Witzen

Niemand, der über dieses letzte Buch Fontanes (Mathilde Möhring ist aus dem Nachlass herausgegeben worden) spricht oder schreibt, kommt um das Bonmot herum, mit dem Fontane den Inhalt dieses Buch umriss: „Zum Schluß stirbt ein Alter, und zwei Junge heiraten sich; – das ist so ziemlich alles, was auf 500 Seiten geschieht. Von Verwicklungen und Lösungen, von Herzenskonflikten oder Konflikten überhaupt, von Spannungen und Überraschungen findet sich nichts.“ (Brief-Entwurf an Adolf Hoffmann, Mai/Juni 1897.) So ganz ohne „Konflikte“ ist das Buch zwar nicht, aber es sind weniger persönliche als gesellschaftliche, die tatsächlich nur zu beschreiben, nicht zu lösen sind.

Die Handlung spielt in der Hauptsache am und um den Stechlinsee herum sowie in Berlin. Im Zentrum steht der alternde Dubslav von Stechlin, der als Major a. D. auf Schloss Stechlin residiert. Sein einziger Sohn Woldemar ist als Dragoner in Berlin stationiert und verkehrt viel im Hause des Grafen von Barby, ebenso alt wie Dubslav von Stechlin, weil er die beiden Töchter des Hauses umwirbt – Melusine und Armgard, die schließlich seine Braut werden wird. Die eigentliche Handlung beschränkt sich auf einen Besuch Woldemars zusammen mit zwei Regimentskameraden bei seinem Vater und seiner Tante, der Vorsteherin des nahe gelegenen Kloster Wutz, die Werbungszeit um Armgard, die Hochzeit, die eher summarisch abgehandelt wird, und abschließend die Zeit der Krankheit und des Todes von Dubslav von Stechlin.

Den sozialen Hintergrund bilden die 90er Jahre des 19. Jahrhunderts mit den religiösen und sozialen Verwerfungen der Zeit: der immer noch starke Gegensatz zwischen Protestanten und Katholiken sowie der zwischen den konservativen Kräften (zu denen Dubslav ebenso zählt wie Graf Barby) und den aufkommenden sozialistischen und sozialdemokratischen Bewegungen (mit denen Woldemar zumindest sympathisiert, ohne als deren politischer Anhänger zu erscheinen). Quasi quer zu diesen Kräften wird immer erneut das Verhältnis der Geschlechter zueinander thematisiert, wobei die Sexualität immer wieder mit einer für die Zeit überraschenden Deutlichkeit thematisiert wird:

»Ich verheiratete mich, wie Sie wissen, in Florenz und fuhr an demselben Abende noch bis Venedig. Venedig ist in einem Punkte ganz wie Dresden: nämlich erste Station bei Vermählungen. Auch Ghiberti – ich sage immer noch lieber ›Ghiberti‹ als ›mein Mann‹; ›mein Mann‹ ist überhaupt ein furchtbares Wort – auch Ghiberti also hatte sich für Venedig entschieden. Und so hatten wir denn den großen Apennintunnel zu passieren.«
»Weiß, weiß. Endlos.«
»Ja, endlos. Ach, liebe Baronin, wäre doch da wer mit uns gewesen, ein Sachse, ja selbst ein Rumäne. Wir waren aber allein. Und als ich aus dem Tunnel heraus war, wußt’ ich, welchem Elend ich entgegenlebte.«
»Liebste Melusine, wie beklag’ ich Sie; wirklich, teuerste Freundin, und ganz aufrichtig. Aber so gleich ein Tunnel. Es ist doch auch wie ein Schicksal.«

S. 351

Das Buch lebt ganz und gar von seinen Charakteren – neben Dubslav von Stechlin bilden Melusine von Barby-Ghiberti und der lokale Pastor Lorenzen den Kernbestand, der von zahlreichen Nebenfiguren umstellt ist (auch Woldemar und Armgard müssen unter diese Nebenfiguren eingeordnet werden). Es verzichtet auf jeden Versuch, die zahlreichen anekdotischen Szenen durch irgendeine Form von artistischer Konstruktion einzubinden, sondern gibt sich mit einem lockeren Faden des Nacheinanders vollständig zufrieden (hierin ist der alte Fontane vielen zeitgenössischen Kollegen weit voraus). Es erscheint im formalen Sinne als künstlerisch schlicht und anspruchslos, doch könnte nicht besser sein, als es geworden ist. Ein Zeitbild, wie man es selten findet, aus der Feder eines der besten melancholischen Chronisten des ausgehenden 19. Jahrhunderts.

Theodor Fontane: Der Stechlin. Große Brandenburger Ausgabe. Das erzählerische Werk. Bd. 17. Berlin: Aufbau, 2001. Geprägtes und bedrucktes Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 716 Seiten. 48,– €.

Jorge Luis Borges: Der Erzählungen zweiter Teil

»Handelt es sich um ein Zitat?« fragte ich. »Gewiß doch. Uns bleiben nur noch Zitate. Die Sprache ist ein System von Zitaten.«

Dieser zweite Teil der gesammelten Erzählungen Borges’ enthält drei weitere Erzählbände:

  • David Brodies Bericht (1970)
  • Das Sandbuch (1975) und
  • Shakespeares Gedächtnis (1980/1983)

Man muss leider feststellen, dass diese Bände in der Hauptsache mehr von demselben liefern, das auch schon im ersten Teil vorherrschte: Machistische Messerstecher, Doppelgänger, besonders Doppelgänger von Borges selbst, unmögliche Gegenstände – das titelgebende Sandbuch etwa ist nur eine breitgetretene Fußnote aus der Bibliothek von Babel –, merkwürdige Kulturen und Sekten und Sektierer.

Meine guten Vorsätze hatten die ersten Seiten nicht überdauert; auf den folgenden standen dann die Labyrinthe, die Messer, der Mann, der sich für ein Abbild, das Spiegelbild, das sich für wirklich hält, der Tiger der Nächte, die Schlachten, die im Blut wieder aufleben, Juan Muraña blind und unselig, Macedonios Stimme, das Schiff, gebaut aus den Nägeln der Toten, das Altenglische, wieder aufgesagt an den Abenden.

S. 203

Das Buch ist angenehm zu lesen, doch zeigt es, wie eng der thematische Horizont Borges’ war, in dem er dann allerdings eine erstaunliche Fülle von erfundenen und wirklichen Tatsachen kunstvoll miteinander vermischt.

Jorge Luis Borges: Der Erzählungen zweiter Teil. Aus dem Spanischen übersetzt von Curt Meyer-Clason, Dieter E. Zimmer und Gisbert Haefs. Gesammelte Werke in zwölf Bänden, Band 6. München: Hanser, 42019. Kindle Edition. 258 Seiten. 9,99 €.

Thomas Mann: Frühe Erzählungen (1893–1912)

Die Menschen wissen nicht, warum sie einem Kunstwerke Ruhm bereiten.

Cover

Thomas Mann gilt den meisten Lesern in Deutschland nicht nur als einer der besten Roman-Autoren ihrer neueren Literatur, sondern auch als ein Meister der kürzeren Form. Um es gleich vorweg zu sagen: Ich teile diese Meinung nur sehr eingeschränkt. Zwar glaube ich, dass die Mehrzahl der Mannschen Romane zum Besten gehören, was die Tradition des 19. (sic!) Jahrhunderts hervorgebracht hat (auch hier gibt es durchaus Ausreißer), dagegen fallen jedoch seine Erzählungen im engeren Sinne deutlich ab, wenn man sie in ihrer Gesamtheit betrachtet. Sicherlich finden sich auch hier sorgfältig konstruierte und minutiös ausgeführte Stücke, aber in der Menge sind Manns Erzählungen oft seicht und scheinen geschrieben, um eben etwas geschrieben zu haben und gedruckt zu werden, selbstgefälliges, manieristisches Kunsthandwerk.

Der Weg zum Friedhof lief immer neben der Chaussee, immer an ihrer Seite hin, bis er sein Ziel erreicht hatte, nämlich den Friedhof. An seiner anderen Seite lagen anfänglich menschliche Wohnungen, Neubauten der Vorstadt, an denen zum Teil noch gearbeitet wurde; und dann kamen Felder. Was die Chaussee betraf, die von Bäumen, knorrigen Buchen gesetzten Alters flankiert wurde, so war sie zur Hälfte gepflastert, zur Hälfte war sie’s nicht.

Auch inhaltlich sind einige der frühesten Stücke eher verstörend (etwa Gefallen, Luischen oder Tobias Mindernickel), ohne dass ich erkennen könnte, dass sie auf mehr als einen Effekt abzielen.

Nun bin ich sofort bereit zuzugestehen, dass diese Texte nicht geschrieben wurden, um in einem Zuge und direkt nacheinander gelesen zu werden; die daraus resultierende Wahrnehmung erzeugt wohl ein vergleichendes, ungerechtes Urteil gerade für die schwächeren Stücke, das durch eine Rezeption der Stücke über den längeren Zeitraum hinweg gemildert würde.

Bleiben die beiden zu recht bekannteren Stücke Tonio Kröger (ein Seitenstück zu Buddenbrooks) und Der Tod in Venedig, die bei der jetzigen erneuten Lektüre aber bei weitem nicht mehr die Wirkung auf mich hatten wie vor über 30 Jahren. Doch das liegt natürlich an mir; ich bin einfach nicht mehr geeignet für solch eher gestellten als gekonnten Stücke.

Insgesamt mehr „naja, soso“ als alles andere.

Thomas Mann: Frühe Erzählungen. 1893–1912. In der Textfassung der Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe. Kindle-Edition. Frankfurt: Fischer, 22008. 604 Seiten (in der Druckfassung; die Seitenzählung der Kindle-Ausgabe ist defekt). 9,99 €.

Wird fortgesetzt …

Jorge Luis Borges: Der Erzählungen erster Teil

Noch bin ich, wiewohl nur teilweise, Borges.

Es gibt wohl keinen ernsthaften Leser, der nicht irgendwann in seinem Leben auf Die Bibliothek von Babel stößt oder gestoßen wird. Allein daraus könnte man die These ableiten, dass Jorge Luis Borges einer der bekanntesten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts sein muss, wenigstens unter denen, auf die es ankommt.

Die Bibliothek von Babel beschreibt ein anscheinend unbegrenztes sphärisches Universum, das im Wesentlichen nur aus sechseckigen Räumen, Verbindungsgängen und Treppen besteht. In jedem der Räume bestehen vier der Wände aus jeweils fünf Bücherregalen mit immer 32 Büchern, von denen jedes 410 Seiten hat; „jede Seite hat vierzig Zeilen; jede Zeile etwas achtzig Zeichen von schwarzer Farbe“. Die Bücher sind außen beschriftet, aber es kann in der Regel vom Titel des Bandes, so er überhaupt einen Sinn hat, nicht auf den Inhalt des Buches geschlossen werden. Diese Bibliothek wird von Bibliothekaren bewohnt, deren Hauptaufgabe darin besteht, den ihnen erreichbaren Teil der Bibliothek nach sinnvollen Zeichenkombinationen in den Büchern zu durchsuchen, denn ihr Inhalt besteht aus zufälligen Aneinanderreihungen von 25 alphabetischen Symbolen (22 Buchstaben, Punkt und Komma sowie das Leerzeichen). Wovon diese Bibliothekare leben, wie sie sich ernähren, bleibt unerwähnt.

Es haben sich mit der Zeit unter den Bibliothekaren einige Annahmen über die Bibliothek durchgesetzt; dazu gehört die These, dass die Bibliothek alle möglichen Kombinationen der 25 Symbole enthält; allerdings hat es in früheren Zeiten Versuche gegeben, sich gegen die Hoffnungslosigkeit, die die Bibliothek in den Bibliothekaren erzeugt, dadurch zu erwehren, dass man systematisch Bücher vernichtet hat; doch hat dies kaum Auswirkungen auf den Bestand der Bibliothek, denn zu jedem vernichteten Buch gibt es zahllose Kopien, die von dem vernichteten nur um ein oder zwei Symbole abweichen. Naturgemäß enthalten die meisten Bände unlesbare Zeichenfolgen, wobei nicht ausgeschlossen werden kann, dass diese Zeichenketten in einer vergangenen oder zukünftigen Sprache sinnvolle Texte ergeben. Doch kaum ein Bibliothekar hat in seinem Leben mehr als eine Handvoll lesbarer Einzelstellen zu sehen bekommen.

Eines [der Bücher], das mein Vater in einem Sechseck des Umgangs 1594 erblickte, bestand aus den Buchstaben M C V, in perverser Wiederholung von der ersten bis zur letzten Zeile. Ein anderes (das in dieser Zone oft konsultiert wird) ist ein reines Buchstabenlabyrinth, aber auf der vorletzten Seite steht: O Zeit deine Pyramiden. Man ersieht hieraus: Auf eine vernünftige Zeile oder korrekte Notiz entfallen Meilen sinnloser Kakophonien, sprachlichen Plunders, zusammenhanglosen Zeugs.

S. 161

Eine andere Sicht auf die Bibliothek versteht aber, dass irgendwo in ihr auch alle Meisterwerke der Literatur aller Zeiten verborgen sein müssen und das wiederum unzählige Male. Irgendwo gibt es den unwiderlegbaren Beweis, dass Shakespeare mit Queen Elizabeth identisch war, in einem anderen, dass es sich bei seinen Werke um eine geschickte Fälschung Goethes handelt. Ebenso findet man die schlüssigen Beweise für jede bekannte und unbekannte Verschwörungstheorie ebenso wie deren Widerlegung, ja es muss Bücher geben, in denen Beweise und Gegenbeweise sich in den Sätzen Wort für Wort abwechseln. Und es gibt ein Buch, in dem die Wirklichkeit der Welt enthüllt wird, also einen Katalog der Kataloge der Bibliothek, durch den jedes Buch direkt erreichbar wird. Leider gibt es auch endlos viele Fälschungen dieses Katalogs. Und gleichgültig wie viele Fälschungen es gibt, niemand wird sie je in dem Ozean des Unlesbaren finden.

Je länger man über dieses im Grunde recht einfach entworfene Labyrinth nachdenkt, desto tiefer und desaströser wird es: Wenn man beginnt zu begreifen, dass unsere wirklichen Bücher nur eine verschwindende Teilmenge der Bibliothek von Babel sind und nichts sie davor schützt, gänzlich unerheblich zu sein, weil sich in ihr nicht nur viel größere Meisterwerke mit Notwendigkeit finden, sondern weil es auch ein Buch dort gibt, dass unsere gesamte Kultur unrettbar der Banalität übergibt. Manche Gedankenspiele sind geeignet, einen zur Verzweiflung zu bringen.

Nun ist Die Bibliothek von Babel nur eine von zahlreichen Erzählungen in diesem Buch. Es enthält drei Erzählbände von Borges: Universalgeschichte der Niedertracht (1934), Fiktionen (1944) und Das Aleph (1949). Während die Universalgeschichte der Niedertracht hauptsächlich Biographien von Betrügern, Seeräubern, Mördern und anderen Verbrechern enthält (Borges hat auch später noch eine große Neigung dazu gehabt, obskure Biographien, Fakten und Fiktionen zu sammeln), finden sich auch Paraphrasen von Erzählungen aus anderen Quellen. Fiktionen bringt zahlreiche phantastische Erzählungen, die zumeist einen einzigen zentralen Gedanken oder ein einziges zentrale Motiv in die Konsequenzen ausspinnen; darunter findet sich auch die oben vorgestellte Bibliothek von Babel. Das Aleph kann als eine Fortsetzung und Mischung der Tendenzen der beiden Vorgängerbände angesehen werden.

Borges, der immer nur in kleinen Formen (Erzählung, Anekdote, Lemma, Gedicht) exzelliert hat, muss als einer der ganz großen Meister der Literatur des 20. Jahrhunderts angesehen werden. Die Fülle seines oft entlegenen Wissens, seiner originellen Einfälle und seiner ausgesuchten Sprache machen jedes seiner Bücher zu einem gänzlich eigenen Lese-Abenteuer. Jeder und jedem, der ihn noch nicht gelesen hat, sei geraten, es mit zumindest einem der beiden Erzählbände aus der Hanser-Werkausgabe (insgesamt 12 Bände) zu versuchen; alle Bände der Ausgabe sind zu Taschenbuch-Preisen als eBooks verfügbar.

Jorge Luis Borges: Der Erzählungen erster Teil. Aus dem Spanischen übersetzt von Karl August Horst, Wolfgang Luchting und Gisbert Haefs. Gesammelte Werke in zwölf Bänden, Band 5. München: Hanser, 42019. Kindle Edition. 459 Seiten. 11,99 €.

Wird fortgesetzt …