Arnold Zweig: Die Zeit ist reif

Zweig-Der-grosse-KriegMit sechs vollendeten Bänden und insgesamt knapp 2.900 Seiten stellt Arnold Zweigs Zyklus „Der große Krieg der weißen Männer“ die umfangreichste literarische Aus­ein­an­der­set­zung eines deutschsprachigen Schriftstellers mit dem Ersten Weltkrieg dar. Den Keim des Zyklus bildete der 1927 erschienene (auf 1928 vordatierte) Roman „Der Streit um den Sergeanten Grischa“, den Zweig schon während der Niederschrift zu einer Trilogie des Übergangs auszubauen plante. „Der Streit um den Sergeanten Grischa“ war einer der erfolgreichsten deutschen Antikriegsromane und erreichte bis 1933, als der Autor ins Exil ging und seine Schriften in Deutschland verboten und verbrannt wurden, immerhin eine Auflage von 300.000 Exemplaren.

Während der Entstehung des ersten Bandes der geplanten Trilogie wurde Zweig klar, dass er den Stoff werde auf zwei Bände aufteilen müssen. So erschien 1931 „Junge Frau von 1914“ und – bereits aus dem Exil in Haifa heraus im Querido Verlag – 1935 „Erziehung vor Verdun“. Diese drei Bände sollten die bekanntesten und erfolgreichsten des Zyklus bleiben. Wie geplant, schloss Zweig 1937 die nun zur Tetralogie gewachsene Serie mit „Einsetzung eines Königs“ (ebenfalls im Querido Verlag) vorerst ab.

Erst nach der Rückkehr aus dem Exil nach Ostberlin erweiterte Zweig den Zyklus: Er sollte nach seiner Planung letztendlich acht Bände umfassen, doch konnte Zweig nur noch zwei weitere fertigstellen. Im  Jahr 1954 erschien im Aufbau-Verlag der Roman „Die Feuerpause“, dessen Handlung chronologisch zwischen „Der Streit um den Sergeanten Grischa“ und „Einsetzung eines Königs“ angesiedelt ist und der noch einmal auf Material zurückgreift, das bereits in „Erziehung vor Verdun“ verarbeitet worden war. Anschließend plante Zweig um die nun fünf Bände einen weiteren Ring zu legen: 1957 wurde „Die Zeit ist reif“ gedruckt, der die Vorgeschichte der beiden Hauptfiguren Werner Bertin und Lenore Wahl lieferte. Unveröffentlichtes Fragment blieb der Band „Das Eis bricht“, der die Handlung über die eigentliche Kriegszeit hinaus in die entstehende Weimarer Republik verlängern sollte; darüber hinaus plante Zweig noch einen Band „In eine bessere Zeit“, der wohl eine Anbindung des Zyklus an die Jetztzeit des Autors liefern sollte.

Nach der inneren Chronologie der Erzählung ergibt sich also folgendes Bild des Zyklus:

  1. „Die Zeit ist reif“ (1957)
  2. „Junge Frau von 1914“ (1931)
  3. „Erziehung vor Verdun“ (1935)
  4. „Der Streit um den Sergeanten Grischa“ (1927)
  5. „Die Feuerpause“ (1954)
  6. „Einsetzung eines Königs“ (1937)
  7. „Das Eis bricht“ (unveröffentl. Fragment)
  8. „In eine bessere Zeit“ (nicht verwirklichter Plan)

Ich werde die Romane des Zyklus hier in den kommenden Monaten entlang der Chronologie der Handlung vorstellen. Meiner Lektüre liegen Einzelausgaben des Aufbau-Verlages zwischen 1959 und 1980 zugrunde, die ich während meiner Studienzeit antiquarisch erworben habe. Derzeit sind beim Aufbau Verlag (jetzt nur echt ohne Bindestrich) nur vier der sechs Titel ( die Nummern 2, 3, 4 und 6 der oben stehenden Liste) im Taschenbuch lieferbar. Warum es der Verlag bislang versäumt hat, den Zyklus in diesem Jahr wieder vollständig aufzulegen und entsprechend zu bewerben, ist mir unbekannt. Aber das Jahr ist ja noch lang.

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„Die Zeit ist reif“ (1957) ist also der zuletzt entstandene, in der Chronologie der Ereignisse aber früheste Roman des Zyklus. Erzählt wird in der Hauptsache die Geschichte des deutsch-jüdischen Liebespaares Lenore Wahl und Werner Bertin vom August 1913 bis zum beginnenden Frühjahr 1915, die sich als Kommilitonen in München kennengelernt haben. Sie befinden sich im August 1913 auf einer Ferienreise in Tirol und Norditalien, verbringen einige glückliche Tage in Venedig und reisen dann wieder nach Deutschland zurück.

Lenore Wahl stammt aus großbürgerlichen Verhältnissen in Berlin: Ihr Vater Hugo ist Mitinhaber einer zusammen mit ihrem Großvater Markus geführten Bank. Lenore studiert Kunstgeschichte und verheimlicht ihre Liebesbeziehung mit Werner vor ihren Eltern, nicht aber vor ihrem deutlich liberaleren Großvater. Werner Bertin stammt aus einer schlesischen Handwerker-Familie und ist offiziell Jura-Student. Er steht seit längerer Zeit kurz vor dem Abschluss seines Studiums mit der Promotion. Tatsächlich arbeitet er aber schon mehrere Jahre an einer Karriere als Schriftsteller, hat auch bereits einen Roman – „Liebe auf den letzten Blick“ – veröffentlicht, der ihm von allen vernünftigen Leuten in der Erzählung Lob und Anerkennung einbringt. Zur Zeit der Italien-Reise mit Lenore arbeitet er an einem Drama um einen mittelalterlichen jüdischen Bischof [sic!], der in einen Konflikt mit einem deutschen Hauptmann gerät. Außerdem wird er von Lenores Großvater auf eine Preisaufgabe der Freimaurerloge in St. Peterburg aufmerksam gemacht, die „eine Abhandlung über Gott und die Gegenwart“ mit einem erheblichen Geldbetrag prämieren will. Zwar steht Werner diesem Thema vorerst fern, doch der Geldbetrag und die mit dem Gewinn verbundene Publizität, die die Hochzeitspläne des Paares befördern könnten, sind als Anreize stark genug.

Nachdem die beiden Hauptfiguren nach Deutschland zurückgekehrt sind, trennt sie der Autor vorerst: Werner übernimmt, um Geld zu verdienen, stellvertretend einen Posten als Redakteur einer Zeitschrift in Breslau, während Lenore von ihrem Großvater mit Geschäften nach Straßburg geschickt wird, wo sie einen jungen Bankier kennenlernt, mit dem sie Karneval 1914 in München eine kurze Affäre haben wird. Anschließend werden beide für ein Semester wieder in München vereint, wo sie in einem Vorort als Studenten praktisch in wilder Ehe leben. Die Julikrise und der Kriegsausbruch am 1. August 1914 treffen sie so überraschend wie die meisten anderen Deutschen. Werner ist aufgrund seiner schwachen körperlichen Konstitution und seiner starken Sehbehinderung nur eingeschränkt tauglich und muss vorerst nicht damit rechnen, zur Reichswehr eingezogen zu werden. Beide beschließen, ihre Studien in Berlin fortzusetzen, da Lenore angesichts des Krieges in die Nähe ihrer Familie zurück soll.

Nach einer weiteren kurzen Trennung treffen sich die Liebenden also in Berlin wieder. Von nun an werden die Hochzeitspläne zwischen den beiden die Hauptrolle spielen: Werner wird auch von Lenore ihren Eltern vorgestellt, aber hauptsächlich aufgrund seiner offen geäußerten Kritik am hohenzollerschen Kaiserhaus nehmen beide Eltern Wahl, die über den Status der Beziehung zwischen Lenore und Werner immer noch im Unklaren sind, gegen den jungen Mann eine sehr ablehnde Haltung ein. Die Preisschrift über „Gott und die Gegenwart“ stellt Werner zwar fertig, aber der Kriegsausbruch und der Autor verhindern gemeinsam, dass sie St. Petersburg erreichen kann. Werner plant daher, sie als Dissertation einzureichen, da seine ursprüngliche Dissertation auch weiterhin nicht fertiggestellt ist; doch auch dieser Plan zerschlägt sich aufgrund der mangelhaften formalen Ausbildung Werners.

Der Roman schließt mit den Gedanken Werners, ob es nicht seine Pflicht sei, sich freiwillig zum Militärdienst zu melden. Als ironische Spitze inszeniert Zweig schließlich eine Begegnung zwischen dem jungen Paar und zwei preußischen Militärs, die in einer Nebenhandlung des Romans eine Rolle spielen und auch im weiteren Romanzyklus Schlüsselstellen einnehmen werden. Bei dieser zufälligen Begegnungen legen die beiden Militärs den jungen Leuten die Frage vor, ob man der italienischen Forderung nach dem Anschluss Südtirols an Italien nachgeben oder eine dritte, südliche Front riskieren solle. Mit dem begeisterten Bekenntnis der beiden Studenten dazu, dass Südtirol eine alte deutsche Kulturlandschaft darstelle und nicht aufgegeben werden dürfen, entlässt sie der Autor in die sich anbahnende Katastrophe.

Sowohl Lenore Wahl als auch Werner Bertin sind als Typen angelegt: Während Lenore als positives Exempel einer nach Unabhängigkeit und Selbstständigkeit strebenden jungen Frau gestaltet ist, die sich besonders durch körperliche und sexuelle Freizügigkeit (alles gemessen an den bürgerlichen Standards des Kaiserreiches) auszeichnet und mehr und mehr zu einem realistischen Bild ihres Freundes Werner gelangt, ist Werner Bertin der typische unpolitische, bürgerliche Intellektuelle, der zwar große weltpolitische Reden führt, von der Sache und den realen Zusammenhängen letztlich aber wenig versteht. Er wird zwar immer wieder als intellektuell und schriftstellerisch begabt geschildert, zugleich wird er aber von mehreren Figuren des Romans explizit als „Dummkopf“ eingeschätzt.

Die beide in den Protagonisten angelegten Dichotomien überzeugen nur bedingt: Bei Lenore bleiben ihr emanzipatorisches Streben und ihre romantische Bindung an Werner bis zum Ende unvermittelt nebeneinander stehen, wobei besonders ihre romantischen Gefühle in einer Sprache geschildert werden, die die Grenze zum Kitsch gefährlich streift:

Und so fortan, dachte sie, in einer Formel des alten Goethe ihrer beider ganzes junges Leben umfassend. Und hingewendet zum Schicksal, dessen Gegenwart sie auf kindliche Weise hinter die unendliche Bläue des Himmels setzte: Sollte einer von ihnen die Bürden des Bündnisses tragen, so sie, deren Rücken bisher von der Schwere des Irdischen verschont geblieben. Nimm mich an, bat sie, stumm vor Liebe; ein weitgeöffnetes Auge von jenseits der Luft blickte, schien ihr, Gewährung; es überrann sie heiß, sie straffte die Schultern, ballte die kleinen Fäuste, griff gleichsam zu. Sie wußte nicht, was alles sie damit auf sich nahm.

(Zu Zweigs Verteidigung muss betont werden, dass nur ein kleiner Teil des Romans in stilistischem Schulst wie diesem verfasst ist.) Auch Werner Bertins Gestaltung kommt über die Spannung zwischen einer von den harten Realitäten unbeleckten Intellektualität und den angeblich tatsächlichen Anforderungen der Zeit nicht hinaus. Hinzu kommt, dass sich der heutige Leser des Romans kaum des Eindrucks erwehren kann, dass sich das alles auch knapper und prägnanter hätte darstellen lassen. Zwar ist das Bestreben Zweigs verständlich, seinen Zyklus in die Vor- bzw. Nachkriegszeit hinein zu ergänzen, es bleibt aber kritisch zu fragen, ob die immerhin 600 Seiten dieses Spätwerks wirklich genug Zugewinn bringen, um seine Lektüre zu empfehlen.

Arnold Zweig: Die Zeit ist reif. Berlin: Aufbau-Verlag, 31959. Leinen, Fadenheftung, 600 Seiten. Derzeit nicht lieferbar.

Elias Canetti: Das Buch gegen den Tod

Der fröhliche Selbstmörder, der sich schon dreißig Jahre vorher darauf freut.

Zu Beginn von Woody Allens „Annie Hall“ erzählt Alvy Singer zwei Witze; der erste geht so:

Es gibt da einen alten Witz. Äh: Zwei ältere Damen sitzen in einem Catskill-Berghotel – sagt die eine: »Gott, das Essen hier ist wirklich schrecklich!« – sagt die andere: »Stimmt, und diese kleinen Portionen!« – Naja, und im wesentlichen sehe ich so auch das Leben.

Canetti_TodDas Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit und die Versuche zur Überwindung des Todes – mystisch als individuelle Unsterblichkeit, metaphorisch in der Erinnerung der Lebenden oder im Werk oder biologisch in den Nachkommen – sind bereits früh als entscheidende Antriebe menschlichen Handelns verstanden worden. Es wird aber wohl nur wenige Beispiele einer so ausgeprägten Todfeindschaft geben, wie sie „Das Buch gegen den Tod“ dokumentiert. Elias Canetti begriff sich als radikalen Gegner des Skandalons Tod und plante spätestens seit 1942 ein Buch gegen den Tod zu schreiben, zu dem aber letztendlich nie mehr als umfangreiche Notizen entstanden sind.

Sven Hanuschek, Peter von Matt und Kristian Wachinger haben nun aus den bereits veröffentlichten Notizen Canettis und dem Nachlass eine Auswahl zusammengestellt, die eine wenigstens ungefähre Vorstellung davon geben können, wie „Das Buch gegen den Tod“ hätte aussehen können. Etwa zwei Drittel des präsentierten Materials war bislang noch unveröffentlicht; angeordnet ist es chronologisch, wobei in jedem Jahr die bereits gedruckten Notizen den ungedruckten vorangestellt sind. Das Material bewegt sich vom aphoristischen Einzeiler über Zitate aus Zeitungen und Büchern bis hin zu autobiographischen Einträgen und Briefentwürfen, so etwa diejenigen, die sich um die Begegnungen und Auseinandersetzung mit Thomas Bernhard drehen.

Aus all dem ergibt sich kein einheitliches Bild, sondern eine Gemengelage diverser mythologisch und rationalistischer Zugriffe, die immer wieder neu gewendet und durchdacht werden. Hin und wieder finden sich ganz unvermittelt Gedanken von einer bemerkenswerten Originalität:

Zum Mond
Vielleicht fehlen noch Tote auf dem Mond. Mit den ersten Menschen, die dort zugrundegehen, mit seinen ersten Toten, wird er uns vertrauter werden. (S. 133)

Wer das zu Ende denken kann, wird sowohl dem Begriff der Heimat als auch dem Sinn von Friedhöfen ein ganzes Stück näher sein.

Interessanterweise fehlt der biologische Zugriff auf den Tod als eine notwendige Voraussetzung höherer Evolution beinahe vollständig. Ob dies an der Auswahl liegt oder ob dieser Aspekt erst sehr spät im Denken Canettis auftaucht, kann aus dem vorliegenden Material nicht beurteilt werden. Erst unter den Notizen aus dem Jahr 1993 taucht das folgende Fragment eines Gedankens auf:

Der Darwinismus, der aus dem Tod etwas Fortschrittliches macht. (S. 304)

Wenigstens ich finde es sehr schade, dass dies als Gegengewicht zu dem mythologischen Denken Canettis erst so spät, zu spät wirksam zu werden scheint.

Kein Buch für eine systematische Lektüre, aber eine anregende und in allen Teilen interessante Materialsammlung.

Elias Canetti: Das Buch gegen den Tod. Hg. v. Sven Hanuschek, Peter von Matt und Kristian Wachinger. München: Hanser, 2014. Pappband, 352 Seiten. 24,90 €.

Nathaniel Hawthorne: Der scharlachrote Buchstabe

Es gibt keinen Weg, der uns aus diesem trostlosen Labyrinth herausführt.

Hawthorne_BuchstabeHanser legt einen der ersten nordamerikanischen Klassiker in einer neuen Übersetzung vor. Hawthornes romantische Erzählung war nicht nur beim Publikum ein kontrovers diskutierter Erfolg, sondern wurde auch von Schriftsteller-Kollegen gelobt. Für ein romantisches Schaustück war das Buch 1850 etwas spät erschienen; um den Text literarhistorisch richtig einzuordnen, muss man sich klar machen, dass nur sieben Jahre später Flauberts „Madame Bovary“ erscheint.

Erzählt wird die Geschichte Hester Prynnes, die ursprünglich mit einem älteren Gelehrten in England verheiratet war und von diesem in die jungen Staaten Nordamerikas vorausgeschickt wurde. Nachdem ihr Ehemann als auf See verschollen gilt, lässt sich Hester auf eine außereheliche Beziehung ein, aus der eine Tochter hervorgeht. Die Erzählung setzt damit ein, dass Hester mit ihrer Neugeborenen an den Bostoner Pranger gestellt wird; sie weigert sich aber auch dort, den Vater ihres Kindes zu benennen. Wie der Zufall und die Forderungen der romantischen Dramatik es wollen, trifft an jenem Tag, als Hester als Sünderin öffentlich zur Schau gestellt wird, auch ihr tot geglaubter Ehemann in Boston ein. Die Eheleute erkennen einander, doch der Ehemann sagt sich von Hester los und verpflichtet sie, sein Inkognito – er nennt sich jetzt Roger Chillingworth – als Geheimnis zu bewahren.

In den kommenden Jahren lebt Hester, die zur Kennzeichnung ihres Status als Sünderin ein rotes A auf ihrem Kleid tragen muss, ein Leben am Rand der Bostoner Gesellschaft und beschäftigt sich in der Hauptsache mit Näharbeiten und dem Aufziehen ihrer Tochter Pearl, die als ein etwas wundersames, wildes und naturnahes Kind dargestellt wird. Roger Chillingworth dagegen praktiziert als Arzt und befreundet sich mit dem kränklichen Priester Arthur Dimmesdale, von dem er auf nicht näher erklärte Weise weiß, dass dieser der Vater Pearls ist. Chillingworth, der in der Zeit, in der er verschollen war, bei den Indianern die Geheimnisse der Naturmedizin erlernt hat, hegt einen verborgenen Hass auf Dimmesdale und verlängert und verschlimmert dessen Krankheit, während er vorgibt, ihn zu behandeln.

Erst nach sieben Jahren entschließt sich Hester, dieser Quälerei ein Ende zu machen, indem sie Dimmesdale die Identität Chillingsworth’ verrät. Dimmesdale und Hester entschließen sich daraufhin, Amerika gemeinsam zu verlassen und in Europa ein neues, gemeinsames Leben zu beginnen. Kurz vor der Abfahrt muss Hester allerdings erfahren, dass auch Chillingworth auf dem selben Schiff eine Passage gebucht hat, das Martyrium der beiden Liebenden sich also fortzusetzen droht. Doch am Tag vor der Abreise, am Tag der Gouverneurswahl, bekennt sich Dimmesdale vor der versammelten Bevölkerung Bostons zu seiner Vaterschaft und Sünde, bevor er in den Armen Hesters stirbt.

Man könnte nun meinen, dass diese Zusammenfassung der Fabel wesentliche Teile auslässt, aber ganz im Gegenteil ist es so, dass bis auf zwei, drei Episoden die Handlung des Buches damit vollständig beschrieben ist. Um aber die immerhin gut 320 Seiten zu füllen, scheint das etwas wenig zu sein, und so ist es auch. Hawthorne setzt zum einen eine mit der Erzählung nur sehr locker verbundene Einleitung von 60 Seiten vor die eigentliche Fabel, die aus der autobiographischen Skizze „Das Zollhaus“ besteht und Hawthornes Tätigkeit im Zollhaus von Salem und seine Entlassung aus diesem Dienst thematisiert. Nebenbei liefert diese Einleitung eine typisch romantische Herausgeberfiktion: Hawthorne behauptet, auf dem Dachboden des Zollhauses auf alte Notizen gestoßen zu sein, die die Geschichte Hesters erzählen und die Grundlage seines Buches liefern. Zum anderen kann man Hawthorne den Vorwurf der Geschwätzigkeit nicht ersparen. Dieser Eindruck verdichtet sich soweit, dass es als unfreiwillige Ironisierung des eigenen Stils erscheint, wenn er an einer Stelle einen seiner Ergüsse mit der Wendung „mit einem Wort“ zusammenzufassen sucht.

Wirklich genießen kann man das Buch wahrscheinlich nur in historischer Perspektive: Der romantische Ton, der das Buch prägt, ist offenbar eine bewusst gewählte Stilposition des Autors, wie besonders die vorgeschaltete Einleitung klar macht, in der die unverstellte Stimme des Autors zu hören ist. Das europäischen Mittelalters der romantische Ritterromane muss auf dem neuen Kontinent durch die frühe Neuzeit ersetzt werden, der aber ausreichend Züge des Dunklen Zeitalters beigegeben werden, um das romantische Bild zu vervollständigen. Ansonsten machen außer der schon erwähnten Geschwätzigkeit Hawthornes weitere manieristische Entscheidungen einen unmittelbares Genuss des Buches schwer: die Reduktion auf praktisch nur vier handelnde Figuren, die zudem kaum zum Handeln kommen, aber in jedem Moment exaltiert und unnatürlich erscheinen. Am schrecklichsten zeigt sich diese kontinuierlich überspannte Grundstimmung in der direkten Rede:

»Na, was ist das, Mutter?« rief sie. »Warum ließen die Leute ihre Arbeit heute liegen? Ist das ein Spieltag für die ganze Welt? Schau, dort ist der Hufschmied! Er hat sein rußiges Gesicht gewaschen und zieht sich Sabbatkleider an und sieht aus, als wäre er gerne fröhlich, wenn einer nur so nett wäre, es ihm beizubringen! Und da ist Herr Brackett, der alte Kerkermeister, der mir zunickt und mich anlächelt. Warum tut er das, Mutter?« (S. 283)

Auch Hawthorne wird bewusst gewesen sein, dass keine Siebenjährige im Lauf der Erdgeschichte jemals so geredet hat oder jemals so reden wird.

Was die neue Übersetzung angeht, so stellt man bereits durch einen ersten Vergleich mit dem Original fest, dass Übersetzer Jürgen Brôcat, der für seine Übersetzung von Walt Whitmans „Grasblätter“ 2009 sehr gelobt wurde, an grammatikalischen Strukturen kaum interessiert zu sein scheint. Er greift durchweg massiv in Wortstellung und Satzstruktur ein, ohne dass dabei ein Prinzip erkennbar wäre. Auch sonst fallen einige merkwürdige übersetzerische Entscheidungen auf: Hawthornes Gattungsbezeichnung für den Roman „A Romance“ (etwa „eine romantische Erzählung“) übersetzt Brôcan mit „Eine Phantasie“ (was vielleicht an E.T.A. Hoffmann erinnern soll, meiner unmaßgeblichen Meinung nach aber wenig passt); die Beschreibung Pearls als „elf-child“ wird bei ihm zu einen „Koboldkind“, was zu der nicht minder seltsamen Entscheidung führt, das später im Text tatsächlich vorkommende englische „imp“ (Kobold) mit „Wicht“ zu übersetzen, was im Deutschen doch sehr etwas anderes ist als der „Wichtel“, was das englische „elf“ durchaus auch bedeuten könnte. Als im Haus des Gouverneurs Pearls christliche Erziehung geprüft und sie dabei nach ihrem Schöpfer gefragt wird, antwortet sie, ihre Mutter habe sie von einem wilden Rosenbusch gepflückt, ein Einfall, den Hawthorne gleich im nächsten Satz mit der sehr merkwürdigen Wendung begründet, „Pearl stood outside of the window“, was im Kontext wohl bedeuten soll, Pearl stehe direkt neben dem Fenster; Brôcat entschließt sich dazu, das mit „da Pearl draußen vor dem Fenster stand“ zu übersetzen, was zwar semantisch richtig, ansonsten aber weitgehend sinnfrei erscheint. Und „a row of venerable figures, sitting in old-fashioned chairs, which were tipped on their hind legs back against the wall“ mit „eine Reihe ehrwürdiger Gestalten auf altmodischen Stühlen, die mit den Hinterbeinen gegen die Wand kippen“ zu übersetzen, kann nur als mittlerer Unfall bezeichnet werden. Dies und viele weitere Kleinigkeiten haben wenigstens mir das Vergnügen an der Übersetzung verdorben; hier wäre ein schlichterer Zugriff auf den ohnehin stilistisch exaltierten Text wahrscheinlich glücklicher gewesen.

Alles in allem eine sehr anspruchsvolle Lektüre, die vom Leser einiges an historischem Einfühlungsvermögen und stilistischer Toleranz verlangt. Davon, dass sich wohl nur den wenigstens deutschen Lesern der tatsächlich geschichtliche Gehalt des Textes, der wesentlich zu seinem Status als Klassiker beiträgt, erschließen wird, muss dabei ganz abgesehen werden.

Nathaniel Hawthorne: Der scharlachrote Buchstabe. Aus dem Englischen von Jürgen Brôcat. München: Hanser, 2014. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, bedrucktes Vorsatzpapier, 480 Seiten. 27,90 €.

Uwe Johnson: Jahrestage 4

Nun fing ich an, wegzugehen.

Johnson-Jahrestage-4Erst 1983, also zehn Jahre nach dem dritten Band, erschien der Abschluss der „Jahrestage“. Wahrscheinlich wäre der Roman aufgrund Lebenskrise Johnsons nicht zu Ende geschrieben worden, hätten den Autor nicht massive finanzielle Probleme zu dem Versuch gezwungen, an den Erfolg der früheren Bände anzuschließen. Das Erscheinen des Bandes wurde denn auch entsprechend aktiv vom Verlag beworben, so dass der Band als eine der wichtigsten Neuerscheinungen der Buchmesse 1983 wahrgenommen wurde.

Inhaltlich schließt auch dieser Band nahtlos an den Vorgänger an. Allerdings ist festzustellen, dass das Thema des Kriegs in Viet Nam (um Johnsons Schreibweise zu übernehmen) in den Hintergrund tritt. Ob dies einer bewussten poetologischen Entscheidung des Autors geschuldet ist oder schlicht der Tatsache, dass dieser Krieg nach 10 Jahren im Bewusstsein des Autors schlicht an Bedeutung verloren hat, kann auf die Schnelle nicht entschieden werden. Die Erzählung der Nachkriegszeit setzt den Schwerpunkt auf die Schulkarriere Gesines unter den politischen und ideologischen Bedingungen der frühen DDR – hier ist ein Glanzstück die Behandlung von Fontanes „Schach von Wuthenow“ im Deutschunterricht der „Elf A Zwei“ (2. August 1968 ff.) –, die alles andere als harmlos verläuft, sondern gleich mehrere politische Prozesse gegen Schüler umfasst. Heinrich Cresspahl, der im Mai 1948 als körperlich gebrochener, kranker Mann aus russischer Gefangenschaft zurückkehrt, bleibt im letzten Teil der Erzählung nur eine Nebenfigur. Die Chronologie des Lebens Gesines in der Nachkriegszeit wird gegen Ende des Buches in einem eher summarischen Verfahren bis an den Beginn der erzählerischen Jetztzeit herangeführt und so das Ende mit dem Anfang des Buches zu einem Zirkel geschlossen.

Die zwei Monate des Jahres 1968, die erzählt werden, sind hauptsächlich bestimmt vom Näherrücken des 21. August, an dem Gesine in Prag ihrer neue Stelle antreten soll. Die Entwicklung hin zur Zerschlagung des Prager Frühlings wird täglich der New York Times entnommen, wobei Gesine bis zum Ende optimistisch bleibt, dass das Prager Experiment eines humanen, demokratischen Sozialismus gelingen könnte.

Allerdings hat auch dieser Band seinen zentralen Todesfall: Gesines Geliebter D.E., den zu heiraten sie sich inzwischen entschlossen hatte, stirbt bei einem Absturz mit einer Cessna, die er selbst flog, in Finnland. Gesine verheimlicht diesen Todesfall ihrer Tochter, da sie befürchtet, Marie würde sich ansonsten weigern, mit nach Europa zu kommen. Sie selbst beherrscht ihre Trauer nach wenigen Tagen; von ihrer Bank wegen des Trauerfalls freigestellt, reist sie mit Marie in einer Art Abschiedstournee durch verschiedene Städte der USA.

Das Buch endet mit einem Treffen zwischen Gesine und Dr. Kliefoth, ihrem ehemaligen Lehrer und Schulrektor, am 20. August 1968 in Kopenhagen. Johnson lässt offen, ob Gesine tatsächlich am nächsten Tag in Prag in die Wirren des beginnenden Endes des Prager Frühlings gerät. Spekulieren darf der Leser aber, dass ihr die Wiederholung auch dieses Musters (man bedenke die Rückkehr ihres Vaters ins nationalsozialistischen Deutschland) nicht erspart bleiben wird.

Auch nach der zweiten Lektüre, die diesmal in wesentlich kürzerer Zeit abgeschlossen wurde als beim ersten Mal (von den Veränderungen des Lesers in 30 Jahren wollen wir schweigen), bleibt dies einer der ganz großen Zeitromane der deutschen Literatur. Johnsons Fähigkeit, nicht nur das Leben der Einzelnen, sondern zugleich seine Verflechtung mit und Bedingtheit durch die politische und gesellschaftliche Entwicklung zu erzählen, macht die „Jahrestage“ nicht nur zu einem bedeutenden Roman, sondern auch zu einem einmaligen Dokument deutscher Lebenswirklichkeit.

Uwe Johnson: Jahrestage 4. Aus dem Leben der Gesine Cresspahl. Juni 1968 – August 1968. Frankfurt: Suhrkamp, 1983. Leinen, Fadenheftung, 502 Seiten. Kindle-Edition. Berlin: Suhrkamp, 2013. 814 KB. 11,99 €.

Benjamin Stein: Das Alphabet des Rabbi Löw

Stein-Alphabet-3Der erste Roman von Benjamin Stein, der 1995 beim Ammann unter dem Titel „Das Alphabet des Juda Liva“ erschienen war, wird nun in einer sprachlich komplett überarbeiteten Neuausgabe erneut vorgelegt. Es handelt sich um einen phantastischen Roman in der Traditionslinie von E. T. A. Hoffmann, Michail Bulgakow, Gustav Meyrink und Karel Čapek. Die Handlung ist in der Hauptsache in Berlin und Prag angesiedelt, aber auch Wien kommt drin vor. Den erzählerischen Rahmen bildet die Begegnung des Ich-Erzählers mit dem anscheinend etwas aus der Bahn geratenen Jacoby, der sich eines Abends in einem Lokal an den Tisch des Erzählers setzt und sich ihm als Erzähler anbietet, der ihn und seine Ehefrau einmal pro Woche abends mit einer Geschichte unterhalten will.

Die Kern-Erzählung setzt allerdings erst mit dem Tod Jacobys ein, den dieser per Telegramm aus einer Irrenanstalt heraus ankündigt. Jacoby vermacht seinen Gastgebern testamentarisch eine Reihe von Tonband- und Videoaufzeichnungen, die die Fortsetzung seiner Geschichte enthalten, was den Erzähler dazu bringt, seinen Beruf aufzugeben und der Schriftsteller der Erzählung Jacobys zu werden.

Erzählt wird die ebenso ausschweifende wie phantastische Geschichte von Großmutter, Mutter und Tochter Marková und ihrer Liebhaber, von denen sie in schöner Reihe in der ersten und jeweils einzigen Liebesnacht geschwängert werden, wonach sich die Herren alle im Handumdrehen aus dem Staub machen, verfolgt vom durchaus nicht harmlosen Fluch ihrer Geliebten. Nach viel zu kurzer Schwangerschaft bringen die Mütter jeweils eine Tochter zur Welt, mit der es offenbar eine mehr als irdische Bewandtnis hat. Jacoby wird in diese Geschichte verwickelt, da er mit Alex Rottenstein, dem Liebhaber von Eva, der Jüngsten der Markovás, befreundet ist. Von der komplexen Fabel hier mehr nachzuerzählen, ist ganz unnötig; überhaupt gilt für das Buch, dass der Leser sich seinem lebendigen und verwickelten Gang schlicht anvertrauen sollte, um alle seine Wunder und Zeichen kennen zu lernen. (Wem die Beziehungen der Figuren allerdings über den Kopf zu wachsen drohen, der findet auf der Webseite des Autors eine kleine, interaktive Hilfe-Stellung.)

Das Buch ist nicht nur aufgrund seiner stofflichen Fülle für einen Erstling erstaunlich, sondern überzeugt auch durch die Beherrschung der phantastischen Erzähltradition, die auf ganz natürlich Weise mit Motiven und Mythen der jüdischen Kultur durchflochten wird. Wie auch bei den späteren Büchern Steins entsteht aus diesen Traditionslinien ein durch und durch außergewöhnlicher und origineller Text.

Benjamin Stein: Das Alphabet des Rabbi Löw. Berlin: Verbrecher Verlag, 2014. Bedruckter Leinenband, Lesebändchen, 286 Seiten. 24,– €.

Uwe Johnson: Jahrestage 3

Als Kinder, noch bei Gewitter in einer Kornhocke, haben wir uns gedacht: uns sieht einer. Wir werden alle gesehen.

Johnson-Jahrestage-3Der dritte Band der „Jahrestage“ ist der schmalste der Tetralogie und markiert die Lebens- und Schreibkrise in Johnsons Leben. Er umfasst nur zwei Monate aus dem Leben der Protagonistin im Jahr 1968 statt der vier der beiden vorangegangenen Bände. In Gesines Leben gibt es keine bedeutenden Änderungen: Sie beobachtet auch weiterhin im Auftrag der Bank, bei der sie angestellt ist, die Entwicklung in der ČSSR zu dem Ende, dass sie als Vertreterin der Bank nach Europa wechseln soll.

Für ihre Tochter Marie sind es Monate der politischen Desillusionierung: Ihr Idol John Vliet Lindsay, der Bürgermeister von New York, fällt bei ihr als Opportunist in Ungnade, und auch ihre Trauer um den am 5. Juni 1968 niedergeschossenen und tags darauf verstorbenen New Yorker Senator und Präsidentschaftskandidaten Robert F. Kennedy wird erheblich getrübt durch ihre Einsicht in die Inszenierung dieses Todes durch Politik und Familie. Marie ist zudem gegen den bevorstehenden Umzug nach Europa und will ihre Mutter zum Bleiben in den USA überreden, indem sie ihr ein Haus und eine geruhsame Zukunft verspricht, sobald sie selbst Geld verdienen wird.

Ganz kurz taucht an einem Urlaubswochenende mit zwei Kolleginnen aus der Bank die Alternative einer Frauen-WG vor den Toren New Yorks auf, die es Marie eventuell ermöglichen würde, in den Staaten zu bleiben, während ihre Mutter in Europa arbeitet, doch zerschlägt sich dieser Plan nach kurzer Zeit, weil eine der Frauen doch wieder zu ihrem Mann zurückkehrt. Und auch die Beziehung zwischen Gesine und dem bislang wohl noch gar nicht erwähnten D. E., bürgerlich Professor Dietrich Erichson, einem für die Rüstungsindustrie tätigen Physiker Mecklenburger Herkunft, der Gesine regelmäßig Heiratsanträge macht, die anzunehmen sie sich fürchtet, da sie ihrer eigenen Befähigung zu einem bürgerlich ruhigen Leben misstraut, macht keine wirklichen Fortschritte.

Im Gegensatz dazu entwickelt sich das Leben Heinrich Cresspahls im Nachkriegsdeutschland dramatisch: Zwar übt er auch unter der russischen Besatzung zunächst weiterhin das Amt des Bürgermeisters von Jerichow aus, doch wird er eines Tages aus für ihn nicht durchschaubaren Gründen verhaftet, wochenlang verhört und schließlich ins Lager Fünfeichen überführt und dort anscheinend vergessen. Die dreizehnjährige Gesine lebt nun im väterlichen (eigentlich eigenem) Haus unter der Aufsicht von Jakob Abs und seiner Mutter, ist in Jakob verliebt, ohne es ihm zu zeigen, besucht wieder die Schule und versucht, ohne ihre wichtigste Vertrauensperson, ihren Vater in den ärmlichen Zeiten zurechtzukommen. Der Band schließt mit der Beschreibung des Wiederaufbaus nicht nur der Infrastruktur der russischen Besatzungszone, sondern auch des politischen Lebens durch von der Besatzungsmacht angeregte Gründungen von bürgerlichen Parteien, die die Entstehung eines deutschen Sozialismus vorbereiten sollen.

Uwe Johnson: Jahrestage 3. Aus dem Leben der Gesine Cresspahl. April 1968 – Juni 1968. Frankfurt: Suhrkamp, 1973. Leinen, Fadenheftung, 357 Seiten. Kindle-Edition. Berlin: Suhrkamp, 2013. 593 KB. 11,99 €.

Wird fortgesetzt …

Alexander Schimmelbusch: Die Murau Identität

[…] als sei generell alles, was aus meinem Mund komme, abwegig, ja, idiotisch sogar.

Schimmelbusch-MurauDas Buch beruht auf einem netten, wenn auch banalen Einfall: Thomas Bernhard ist 1989 nicht gestorben, sondern hat seinen Tod nur vorgetäuscht. Seitdem lebt er unter dem Pseudonym Murau als Ehemann, Vater und Freizeitler auf Mallorca und in New York. Allerdings dreht sich das aus dieser Idee entwickelte Buch nur sehr am Rande um Bernhard, wahrscheinlich deshalb, weil seinem Autor zu Bernhard nicht so recht viel einfallen will. Stattdessen füllt er viele, viele Seiten mit etwas, was er wohl für eine Satire des Lebens eines Jet-Set-Journalisten hält, in der ein überzeichnetes Alter Ego in der Welt herumfliegt, seine Obsession für Fellatio aus- und dem finanziellen Ruin entgegen lebt.

Das Rückgrat der Erzählung bildet eine mäßig gelungene Stil-Parodie auf die Notate Siegfried Unselds aus dem Briefwechsel-Band Bernhard/Unseld. In insgesamt fünf Lieferungen durch das ganze Buch hindurch berichtet in ihnen Unseld von seinen Treffen mit Bernhard nach dessen fingiertem Tod. Was sich im ersten Teil noch ganz witzig liest, verflacht bald zu einer öden Wiederholung des immer gleichen Superman-Habitus, ohne dass etwas anderes als eben zusätzliche Seiten gewonnen würde. An einer einzigen Stelle schwingt sich dieser Text zu einer wirklich witzigen Pointe auf, als nämlich Unseld bei einem Besuch in einem Bordell erkennen muss, dass Bernhard die chinesische Vase, die er ihm Ende 1974 in Ohlsdorf geschenkt hat (vgl. Briefwechsel S. 453), zuvor offenbar aus eben diesem Puff entwendet hat (S. 98 ff.). Leider fällt alles andere gegen diesen Höhepunkt steil ab.

Da die ohnehin zu lang geratene Parodie allein kein Buch füllen würde, schreibt Schimmelbusch die oben schon angedeutete Schickimicki-Handlung drumherum und zwischenrein. Ganz zum Schluss tritt dann noch ganz kurz der Leibhaftige selbst auf, redet aber auch nur das, was wir nach der Lektüre des Buches ohnehin erwarten konnten. Ansonsten ist der Text gespickt mit sachlichen Fehlern (um von dem im Titel fehlenden Bindestrich einmal ganz abzusehen), alle natürlich sorgsam absichtsvoll im Text platziert und an entsprechender Stelle (S. 141 f.) poetologisch gerechtfertigt. Wer einen dummen Text schreibt, muss inzwischen offensichtlich nur noch die Klugheit als obsoletes Konzept deklarieren, um mit allem im Reinen zu sein.

Ein Text mehr, der die von ihm selbst aufgelegte Latte mühelos unterspringt. Schade …

Alexander Schimmelbusch: Die Murau Identität. Berlin: Metrolit, 2014. Bedruckter Pappband, 208 Seiten. 18,– €.

Max Frisch: Aus dem Berliner Journal

Der Wärter in einem Leuchtturm, der nicht mehr in Betrieb ist; er notiert sich die durchfahrenden Schiffe, da er nicht weiß, was er sonst tun soll.

Frisch-Berliner-JournalBeim sogenannten Berliner Journal handelt es sich um ein Tagebuch Max Frischs aus den Jahren 1973 bis 1980. Frisch hatte es zuerst für eine Veröffentlichung vorgesehen und entsprechend ausgearbeitet, es dann aber, hauptsächlich aufgrund der Tatsache, dass in dieser Zeit seine Ehe mit Marianne Oellers scheiterte, mit einer 20-jährigen Sperrfrist belegt. Da er es aber in einigen Interviews erwähnt hatte, handelte es sich bei diesem Tagebuch um das bekannteste Desiderat der Frisch-Forschung.

Die Max-Frisch-Stiftung Zürich hat sich nach Öffnung des Manuskripts im Jahr 2011 nun dazu entschlossen, Auszüge aus den ersten beiden von fünf Heften (es handelt sich tatsächlich um Ringbücher, der Herausgeber verwendet aber Frischs eigene Bezeichnung), also den Jahren 1973 und 1974 zu veröffentlichen. Es wurden nur jene Passagen ausgewählt, die nicht Gefahr laufen, Persönlichkeitsrechte anderer zu verletzen. Aus diesen Gründen ist es sehr wahrscheinlich, dass das komplette Journal niemals direkt der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden wird.

Das „Berliner Journal“ beginnt mit dem Umzug von Max und Marianne Frisch nach Berlin im Februar 1973. Die Auszüge konzentrieren sich in der Hauptsache auf Begegnungen mit Schriftstellern in West- und Ostberlin, darunter prominent Uwe Johnson, Günter Grass, Christa Wolf, Jurek Becker, Günter Kunert und Wolf Biermann. Der Kontakt zu den DDR-Schriftstellern kommt zuerst über den Verlag Volk und Welt zustande, der zu dieser Zeit an einer kleinen Frisch-Werkauswahl interessiert ist.

Neben den zahlreichen literarischen Begegnungen zeichnet das Tagebuch ein bedrückendes Bild von Frischs häuslicher Situation: Die Ehe kriselt, und Frisch fehlt jegliche Inspiration zu einem neuen Roman oder Theaterstück, so dass das Schreiben am Tagebuch seine einzige literarische Arbeit in dieser Zeit darstellt. Da Frisch inzwischen ein finanziell sehr erfolgreicher Autor ist, fehlt auch jeder materielle Zwang zur Arbeit. Erst die Begegnung mit Alice Locke-Carey im April 1974 führt Frisch aus dieser Phase heraus. Aber das liegt schon jenseits der Auszüge aus dem Journal.

Für viele Frisch-Leser dürften die nun veröffentlichten Teile daher eher eine Enttäuschung darstellen, da in ihnen gerade das autobiographische Widerlager zu „Montauk“, das das Hauptinteresse am „Berliner Journal“ bildet, fehlt. Gelingt es aber, davon abzusehen, so liefert das Buch einige interessante Autoren-Porträts und einen guten, wenn auch schmalen Einblick in den Literaturbetrieb der DDR. In diesem Sinne ist es den 2010 aus dem Nachlass erschienenen „Entwürfen zu einem dritten Tagebuch“ deutlich vorzuziehen. Allerdings erbt auch diese Nachlassveröffentlichung die Marotte der nur spärlich bedruckten Seiten, als gäbe es keine anderen typographischen Mittel, den Seitenumbruch des Originals wiederzugeben.

Max Frisch: Aus dem Berliner Journal. Hg. v. Thomas Strässle. Berlin: Suhrkamp, 2014. Pappband, 235 Seiten. 20,– €.

Uwe Johnson: Jahrestage 2

Wahrheit. Wahrheit. Schietkråm.

Johnson-Jahrestage-2Zur Struktur des Romans und den allgemeineren Umständen der Fabel ist bei der Besprechung des ersten Bandes schon das Wichtigste gesagt worden. Der zweite Band schließt nahtlos an: In New York bereitet sich Gesine Cresspahl auch weiterhin darauf vor, Ihre Bank in unbestimmter Zeit bei der Prager Regierung zu vertreten. Sie wird deshalb befördert, bekommt ein Büro in einer höheren Etage und auch der Kontakt zum Vizedirektor der Bank de Rosny intensiviert sich. Parallel dazu erfahren wir aus Gesines Lektüre der New York Times von der politischen Entwicklung in der ČSSR und des Vietnam-Krieges. Das einschneidende Ereignis der zweiten Hälfte des Bandes bildet die Ermordung Martin Luther Kings am 4. April 1968, dem am 11. April die Schüsse auf Rudi Dutschke in Berlin folgen.

Auf der historischen Ebene umfasst die Erzählung die Zeit von 1936 bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges und dem Einzug der Russen in das zuerst britisch besetzte Jerichow. Das bewegendste Ereignis in der ersten Hälfte ist sicherlich der Selbstmord Lisbeth Cresspahls, die sich in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 das Leben nimmt. Lisbeth Cresspahl leidet unter einem immer anwachsenden Schuldgefühl: Sie sieht die Entwicklung, die Deutschland nimmt, sie glaubt den Voraussagen ihres Mannes, dass es bald Krieg geben wird, und macht sich Vorwürfe, weil Mann und Kind auf ihren Wunsch hin in Deutschland leben. Und sie hat den Anspruch an sich, dass sie etwas gegen das Böse in dieser Welt tun müsste, Christin, als die sie sich begreift. Ihr Schuldbewusstsein geht soweit, dass ihre Tochter beinahe durch ihre Untätigkeit ums Leben kommt, als sie auf eine volle Regentonne steigt und hineinfällt:

Sie hätte das Kind sicher gewußt, fern von Schuld und Schuldigwerden. Und sie hätte von allen Opfern das größte gebracht. [19. Januar 1968]

Zur Katastrophe kommt es, als Lisbeth am 9. November 1938 im nahe gelegenen Gneez das Niederbrennen der Synagoge erlebt und dann im heimischen Jerichow dazukommt, wie der nationalsozialistische Bürgermeister bei der Plünderung eines jüdischen Geschäftes die kleine Tochter der Eigentümer, Marie Tannebaum, niederschießt. Lisbeth ohrfeigt den Bürgermeister mehrfach und geht dann heim, wo sie allein ist, da Heinrich mit seiner Tochter zu Besuch bei Schwester und Schwager in Wendisch Burg ist. In der Nacht legt Lisbeth Feuer in der Werkstatt Heinrichs und verbrennt dabei selbst. Cresspahls stumme Trauer und Pastor Wilhelm Brüshavers Erwachen zum Widerstand an diesem Todesfall gehören mit zum Besten der deutschen Literatur.

Wie bereits gesagt, wird die Geschichte Cresspahls in diesem Band bis zum Kriegsende fortgeführt: Cresspahl beginnt – mehr gezwungen als freiwillig – für den britischen Geheimdienst zu arbeitet, hält sich aber sonst so weit es geht aus der Welt heraus, ja macht den Eindruck eines über dem Tod seiner Frau merkwürdig gewordenen Kauzes. Er kümmert sich um das Erwachsenwerden Gesines, schmiedet mit ihr ein Schutz- und Trutzbündnis gegen die Welt und übersteht damit den Krieg. Die zuerst in Jerichow einrückenden Briten machen ihn zum Bürgermeister, räumen dann aber aufgrund des Gebietstausches für die drei Westzonen Berlins Mecklenburg komplett und die Russen übernehmen die Stadt.

Herausgehoben werden sollte vielleicht noch die Passage über Hans Magnus Enzensberger und sein von ihm öffentlich inszeniertes Verlassen der USA, das in einiger Breite und mit schöner Ironie präsentiert wird:

– Mrs. Cresspahl, warum macht dieser Deutsche Klippschule mit uns?
– Er freut sich, daß er so schnell gelernt hat; er will uns lediglich von seinen Fortschritten unterrichten, Mr. Shuldiner.
– Sollten wir nun auch nach Cuba gehen? Hat er in Deutschland nichts zu tun?
– Man soll anderer Leute Post nicht lesen, und böten sie einem die an.
– Aber Ihnen, da Sie eine Deutsche sind, hat er gewiß ein Beispiel setzen wollen.
– Naomi, deswegen mag ich in Westdeutschland nicht leben.
– Weil solche Leute dort Wind machen?
– Ja. Solche guten Leute. [29. Februar 1968]

Uwe Johnson: Jahrestage 2. Aus dem Leben der Gesine Cresspahl. Dezember 1967 – April 1968. Frankfurt: Suhrkamp, 1971. Leinen, Fadenheftung, 544 Seiten. Kindle-Edition. Berlin: Suhrkamp, 2013. 807 KB. 11,99 €.

Wird fortgesetzt …

Uwe Johnson: Jahrestage (1)

Wenn ich gewußt hätte wie gut die Toten reden haben. Die Toten sollen das Maul halten.

Johnson-Jahrestage-1Zum ersten Mal wahrgenommen habe ich Uwe Johnsons „Jahrestage“ in meinem ersten Semester an der Universität Tübingen. Da kam der Autor zu seiner allerletzten öffentlichen Lesung, denn zur Buchmesse war endlich der vierte und abschließende Band des Romans erschienen, und Johnson las in einem der großen Hörsäle im Tübinger Brechtbau vor einem übervollen Haus aus den Abschnitten, in denen Gesine Cresspahl von ihrem Deutschunterricht und Theodor Fontanes „Schach von Wuthenow“ erzählt. Anschließend wollte oder konnte kein einziger der Zuhörer auch nur eine einzige Frage stellen – mir ist bis heute nicht so ganz genau klar, warum nicht –, so dass sich Johnson selbst was fragte und es beantwortete. Ich vermute fast, es ist ihm im Leben oft so ergangen.

Danach habe ich mir die vier Bände, die es damals noch nur im Leineneinband gab, peu à peu zugelegt und mich hineingelesen in die Welt und die Tage der Gesine Cresspahl und ihrer Tochter Marie, die – darauf bestand ihr Autor bei allen Gelegenheiten – keine Figuren sind, sondern Personen waren und mit denen man demgemäß Umgang zu pflegen hatte. Jetzt, 30 Jahre später, sind die vier Bände nicht nur erneut im Taschenbuch aufgelegt worden, sondern auch als eBook; allerdings auch hier immer noch in vier Teilen anstatt als der eine große Roman, als den Johnson den Text gelesen haben wollte. Wahrscheinlich will man bei Suhrkamp Rücksicht auf die Leser nehmen, sich nicht um den Gewinnst bringen von vier Verkäufen statt einem, und wer bei Suhrkamp mag sich überhaupt noch auskennen mit dem, was ein alter Sturkopf ehemals so alles gewollt haben mag. Ich jedenfalls habe die Dateien zum Geburtstag geschenkt bekommen, und die zweiten Lektüre denke ich mehr oder weniger in einem Zug zu vollenden, falls sich bei über 1.800 Seiten von einem solchen Zug überhaupt sprechen lässt.

Zur Entstehung ist anzumerken, dass es wohl ursprünglich eine Trilogie werden sollte, dreimal vier Monate, dass dann aber das dazwischen gekommen ist, was in den Kurzbiographien des Autors „eine Krise“ heißt und eine Zeit der Depression, der Paranoia und des Alkoholismus war. Und so erschien 1973 ein kurzer dritter Band und erst zehn Jahre später dann der abschließende vierte. Manche Kritiker wollten in dem stilistische Brüche entdeckt haben, als hätten sie zur Kritik des letzten die vorherigen tatsächlich noch einmal gelesen oder könnten sich an sie noch erinnern oder was. Es wird sich zeigen, was davon zu halten ist.

Das Roman hat mindestens vier Erzählebenen: Seine Jetztzeit bilden die 367 Tage vom 20. August 1967 bis zum 20. August 1968. Die hauptsächliche Erzählerin ist Gesine Cresspahl, am 3. März 1933 im fiktiven Jerichow in Mecklenburg geboren als Tochter des Tischlers Heinrich Cresspahl und seiner Frau Lisbeth, einer geborenen Papenbrock. Gesine lebt mit ihrer anfangs neunjährigen Tochter Marie seit sechs Jahren in New York. Sie arbeitet als Auslandskorrespondentin bei einer Bank und steht wohl vor einem Karrieresprung, der im Zusammenhang mit den politischen Reformen der Tschechoslowakei zu stehen scheint. Maries Vater ist jener Jakob, über den der Autor zuvor schon einige Mutmassungen niedergeschrieben hatte; überhaupt ist hervorzuheben, dass die Gesamtheit der sogenannten fiktionalen Texte Uwe Johnsons einen einzigen großen Zusammenhang bildet, den im Gedächtnis zu behalten nicht immer einfach ist. Jedenfalls bilden Gesines Leben und das ihrer Tochter die umfassende Erzählung des Romans.

Die zweite Ebene liefert die Erzählung Gesines von der Geschichte ihrer Eltern, die sie ihrer Tochter Marie erzählt, teils direkt, teils auf Tonband, „für wenn sie tot ist“. Gesines Vater Heinrich, Jahrgang 1888, hatte sich im August 1931, bereits wieder auf dem Weg nach England, wo er als Tischlermeister einen Betrieb leitete, in ein junges Mädchen verguckt: Lisbeth Papenbrock, 18 Jahre jünger als er, der er nach Jerichow folgt und mit der er rasch einig wird, dass sie sich heiraten. Sie gehen dann gemeinsam fort aus Deutschland, in dem der Aufstieg der Nazis schon zu begonnen hat, denen der halbe Sozialdemokrat Cresspahl den Willen nicht nur zur Abschaffung der Republik, sondern auch den zum Krieg schon anmerkt. Doch Lisbeth hat Heimweh, nicht nur nach ihrer Familie, sondern auch nach ihrer Mecklenburgischen Landeskirche, und so nutzt sie die bevorstehende Geburt ihres ersten (und letztlich einzigen) Kindes zur Flucht zurück nach Deutschland. Und Cresspahl folgt ihr, widerwillig, aber er folgt ihr und bleibt dort, wo er nur um ihretwillen lebt. Doch auch damit wird Lisbeth nicht glücklich.

Die dritte Ebene bildet die tägliche Zeitungslektüre Gesines: Jeden Tag erwirbt sie die New York Times, aus der heraus die jeweils aktuelle politische und gesellschaftliche Wirklichkeit in den Roman gelangen: der Rassenkonflikt, politische Umtriebe und Skandale, der Krieg in Viet Nam und die Proteste gegen ihn, die Mafia und die alltägliche Kriminalität schlechthin etc. pp. Diese Ebene bietet zum einen Anlass zur Auseinandersetzung zwischen Gesine und Marie, wobei Marie – die erstaunlich klug und redegewandt für ihr Alter ist – im Vergleich zu ihrer Mutter nicht nur einen amerikanischeren Standpunkt einnimmt, sondern aufgrund ihres Alters natürlich auch eine opportunistischere Grundhaltung zeigt.

Die vierte Ebene besteht aus zumeist kurzen Gedankendialogen Gesines mit Lebenden und Toten, in denen sich Gesine oft selbst in ein kritisches Licht setzt. Hier werden die Kompromisse deutlich, die sie eingeht, oft um ihrer Tochter willen, aber sie kritisiert auch ihre eigene Bequemlichkeit, ihre Furcht, als Ausländerin in den USA negativ aufzufallen, ihre Bindungsängste und vieles mehr.

Sowohl das New York des Jahres 1967 als auch das Mecklenburg der 30er Jahre zeichnen sich durch einen großen Reichtum an handelnden Personen aus, wobei es Johnson oft gelingt, eine Person auf wenigen Seiten markant zu charakterisieren. Wer sich einen kurzen Eindruck von Johnsons Erzählkunst verschaffen will, lese zum Beispiel die Charakterisierung des Jerichower Rechtsanwaltes Dr. Avenarius Kollmorgen auf den Seiten 305 ff. (17. November 1967).

Johnson reduziert das Erzählte zumeist auf das Notwendigste, liefert auch häufig zum Verständnis wesentliche Details erst später in anderen Zusammenhängen nach, so dass vom Leser ein gehöriges Maß an Aufmerksamkeit gefordert wird, um den komplexen Beziehungen der Figuren untereinander zu folgen. Dies wird ein wenig dadurch gemildert, dass ab und zu kurze Zusammenfassungen eingeschoben werden, die die Orientierung erleichtern. Auch sprachlich setzt der Text dem Leser einigen Widerstand entgegen: Neben vereinzelten Dialogen im Mecklenburger Platt, fallen heute besonders jene Stellen auf, an denen Johnson englische Wendungen ins Deutsche übersetzt, die heute als Amerikanismen geläufig sind; interessanterweise merkt man gerade an diesen Stellen dem Text am deutlichsten sein Alter an. Und auch sonst ist Johnsons Deutsch eher kantig als eingängig, was wohl als Abbildung eines Deutsch gelesen werden muss, das nicht nur mecklenburgische Wurzeln hat, sondern auch durch den jahrelangen Gebrauch des Englischen verändert wurde.

Der Roman liefert ein außergewöhnlich reiches und differenziertes Bild sowohl des Lebens im Deutschland der ersten Hälfte der 30er Jahre als auch im New York der 60er Jahre. Johnsons prinzipielles Misstrauen gegen Ideologien und eindimensionale Erklärungen sowie seine klare Haltung gegen Rassismus, Diktaturen und Unfreiheit bilden das Fundament der Erzählung, ohne dass der Autor seine Figuren, pardon, Personen mit dieser Grundhaltung überfrachtet. Johnson erzählt, soweit das überhaupt möglich ist, das Leben selbst. Es ist daher nicht verwunderlich, dass im vierten Band Theodor Fontane als Schirmherr dieses Romans herbeizitiert wird.

Was die derzeit verkaufte Kindle-Edition des Romans angeht, so sollte vielleicht nicht unerwähnt bleiben, dass Suhrkamp das Erstellen der betreffenden Dateien noch ein wenig üben muss: Bei Verwendung der sogenannten Verleger-Schriftart zeigt mein Kindle Paperwhite nur graphischen Müll an; bei Wahl einer anderen Schriftart wird auf dem Paperwhite nur Flattersatz angezeigt, während bei Anzeige über die App auf dem iPad die kursive Textauszeichnung komplett verloren geht. Zudem werden die meisten Gedankenstriche nur als Bindestriche dargestellt. Da Suhrkamp derzeit für eBooks nur 1 Cent weniger verlangt als für das entsprechende Taschenbuch, darf man als Käufer wohl ein wenig mehr Sorgfalt bei Herstellung und der Prüfung der Dateien erwarten.

Uwe Johnson: Jahrestage. Aus dem Leben der Gesine Cresspahl. August 1967 – Dezember 1967. Frankfurt: Suhrkamp, 1970. Leinen, Fadenheftung, 478 Seiten. Kindle-Edition. Berlin: Suhrkamp, 2013. 732 KB. 11,99 €.

Wird fortgesetzt …