James Joyce: Ein Porträt des Künstlers als junger Mann

Wenn es doch bloß aufklaren würde.

Da James Joyce am 13. Januar 1941 gestorben ist, wurde sein Werk Anfang dieses Jahres gemeinfrei, was es vor allen Dingen von den autoritären Verhinderungsaktionen seines Enkels Stephen befreit. Das Freiwerden der Texte gibt nun nicht nur Gelegenheit zum Nachdrucken, sondern natürlich auch zur Neuübersetzung. Überraschend schnell wurde dies mit Joyce’ erstem Roman, »A Portrait of the Artist as a Young Man« realisiert und das, obwohl mit der Übersetzung von Klaus Reichert (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1972) eine sehr gute Übertragung ins Deutsche bereits vorliegt.

Auf die Frage, ob denn angesichts dieser Übersetzung der Aufwand einer neue Übertragung lohne, antwortete der Übersetzer Friedhelm Rathjen bei der Vorstellung seiner Neuübersetzung im Museum Folkwang: »Es gibt Bücher, von denen kann es gar nicht genug Übersetzungen geben.« Dass es sich beim »Porträt« um ein solches Buch handelt, steht, glaube ich, nicht zur Debatte. Rathjen will seine Übersetzung auch nicht als besser als die Reichertsche verstanden wissen, die er selbst sehr schätzt und mit der er, wie er selbst sagt, »aufgewachsen sei«. Nur sei Reicherts Übersetzung eben schon 40 Jahre alt und zeige für den heutigen Leser dieses Alter auch deutlich. Besonders was die Wiedergabe der Umgangssprache angehe, dränge sich eine Aktualisierung für heutige Leser förmlich auf.

Joyce’ erster Roman hat eine lange Entstehungszeit, die Joyce selbst mit den Daten 1904 bis 1914 am Schluss des Textes dokumentiert. Joyce hat in diesen zehn Jahren allerdings nicht kontinuierlich an dem Text gearbeitet, sondern die Entstehung ruhte in langen Phasen dieses Zeitraums. Zuerst entstand jene Fassung, die Joyce-Leser unter dem Titel »Stephen Hero« (deutsch: »Stephen der Held«, ebenfalls von Klaus Reichert, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1972) kennen und die Fragment geblieben ist. Joyce hatte diesen Text als eine große Bekenntnis-Schrift angelegt, als eine Rechtfertigung für sein Sein und Handeln, aus der sich die Gründe für seinen Weggang aus Dublin sollten ablesen lassen. Dem Mythos nach, den Joyce selbst in die Welt gesetzt hat, hat er zu irgendeinem Zeitpunkt versucht, dieses Manuskript zu verbrennen, was aber angesichts seines unbeschadeten Zustands eher unwahrscheinlich erscheint. Joyce bemerkte aber, dass »Stephen Hero« nicht recht gelingen wollte. Erst als er auf den Bekenntnis-und Rechtfertigungs-Charakter des Textes verzichtete und den Erzähler einen deutlichen Abstand zum Protagonisten Stephen Dedalus einnehmen ließ, gelang die Bearbeitung des Stoffs.

»Ein Porträt des Künstlers als junger Mann« erzählt in personaler Perspektive von Aufwachsen des jungen Intellektuellen Stephen Dedalus im Irland der letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts. Die Erzählung ist in fünf große Abschnitte gegliedert, die grob Altersstufen des Heranwachsenden entsprechen. Die Sprache und der Stoff der Erzählung sind dem jeweiligen Alter des Protagonisten angepasst und entwickeln sich von Kapitel zu Kapitel, von Abschnitt zu Abschnitt. Stephen ist ein begabtes Kind, das trotz dem ökonomischen Niedergang seiner Familie eine hervorragende Ausbildung an jesuitischen Schulen und der katholischen Universität Dublins erhält. Als Pubertierender durchläuft er eine Phase großer Verunsicherung und früher sexueller Erfahrung, die von einer Periode übergroßer Frömmigkeit und religiöser Disziplin abgelöst wird. Aufgrund dieser Hinwendung zur Religion wird Stephen aufgefordert, die Ausbildung zum jesuitischen Geistlichen aufzunehmen, doch scheint gerade dieses Angebot den ersten Anstoß zu Stephens letztlicher Abwendung von aller Religion zu liefern. Stephen wird zum Künstler (Joyce und Stephen sind sich des Zusammenhangs des Wortes Artist mit den Septem artes liberales dabei noch sehr bewusst) und beschäftigt sich als Student dementsprechend mit den ästhetischen Theorien des Aristoteles und Thomas von Aquin. Als Künstler wendet er sich nicht nur von der Religion, sondern auch von dem ihm von seinen Kommilitonen zugemuteten irisch-nationalistischen Engagement ab. Ihm wird bewusst, dass er Irland verlassen muss, um seinen eigenen Weg zu Kunst und Dichtung gehen zu können. Unmittelbar bevor Stephen Irland verlassen wird, bricht der Text der Erzählung ab.

Die Erzählung ist besonders im letzten Teil sehr anspruchsvoll: Es wird wohl nicht viele Leser geben, die den intellektuellen Eskapaden Stephens, seinen freien Variationen über Thesen des Aristoteles und des Aquinaten werden folgen, geschweige denn diese mit Vergnügen werden lesen können. Es scheint mir wenig zweifelhaft, dass das »Porträt« heute vergessen wäre, wenn ihm nicht das Jahrhundertbuch »Ulysses« gefolgt wäre, zu dem es so etwas wie eine Vorschule und -geschichte darstellt. Nicht, dass das Buch missraten wäre – das ist es in keinem Sinne –, es wäre für sich aber wohl kaum auf ein breites Interesse oder Verständnis gestoßen.

Die Neuübersetzung Rathjens muss an keiner Stelle den Vergleich mit der Reicherts scheuen. Sie bietet eine sprachlich präzise, gute Alternative an, die all jenen, denen das Original sprachlich unzugänglich bleibt, zur Lektüre empfohlen werden kann. Der kommentierende Anhang beschränkt sich auf das Notwendigste; die in den Text der Erzählung eingefügten Endnotenziffern, die auf den Kommentar verweisen, sind eine etwas vorlaute Lösung, die beim Versuch einer unbefangenen Erstlektüre eher stören werden. Mit dem als Nachwort angeklebten Essay von Marcel Beyer konnte wenigstens ich nichts anfangen.

James Joyce: Ein Porträt des Künstlers als junger Mann. Aus dem irischen Englisch übersetzt von Friedhelm Rathjen. Zürich: Manesse, 2012. Leinen, Lesebändchen, 348 Seiten. 24,95 €.

Albert Meier: Goethe

Meier_GoetheAuf knapp 320 Seiten einen Überblick über das Werk Johann Wolfgang von Goethes zu geben, ist alles andere als eine einfache Aufgabe. So sollte jeder Versuch mit einer gewissen Milde betrachtet werden und eher darauf hin betrachtet werden, was gelungen ist, als was fehlt. Meier liefert eine grob chronologisch geordnete, thematisch gebündelte Einführung in Goethes Schreiben und Denken. Er konzentriert sich auf die wichtigsten, meist rezipierten Werke, fügt aber auch ein Kapitel über Goethes naturwissenschaftliche Versuche ein, bevor er sich am Ende ein wenig in der Begeisterung für den zweiten Teil des »Faust« verliert. Es wird nur ein rudimentäres biographisches Gerüst geliefert; biographische Details erfährt man nur dort, wo sie zum Verständnis eines einzelnen Werks notwendig erscheinen.

Abgesehen von der Frage, ob man Meiers Deutungen und Gewichtungen zustimmt, macht das Buch einen soliden Eindruck und informiert seinen Leser über alle wichtigen Aspekte des Werks. Die historische Einordnung des Werks hätte ich mir detaillierter und kritischer gewünscht, es ist ihr aber prinzipiell nicht widersprechen. Eine durchaus anspruchsvolle Einführung, die aber nicht für sich allein stehen kann und weitere Lektüre notwendig macht.

Albert Meier: Goethe. Dichtung, Kunst, Natur. Stuttgart: Reclam, 2011. Pappband, 346 Seiten. 24,95 €.

Birgit Vanderbeke: Das lässt sich ändern

Vanderbeke_DaslaesstBirgit Vanderbeke ist bei der Gesellschafts-Utopie angekommen. Bereits »Sweet Sixteen« ließ so etwas befürchten, aber nun ist es geschehen. Erzählt wird die Geschichte der Erzählerin, die aus einem betuchten bürgerlichen Haus stammt, und des Handwerkers Adam Czupek, die gegen den Widerstand der bürgerlichen Eltern ein Paar werden und mit zwei Kindern aufs Land ziehen, wo sie zusammen mit einem benachbarten Bauern und einer befreundeten türkischen Familie beginnen, sich ein autarkes Leben aufzubauen. Das Haus, indem sie wohnen, ist geerbt, das Geld von dem sie leben und das Haus renovieren, verdienen sie an Krankenkassenpatienten, der Filz für die autarke Jurte kommt per LKW aus der Türkei und wird mittels einer Telefon-Transaktion bezahlt, aber sonst ist man echt total unabhängig von der Gesellschaft, bis vielleicht auf die Wochenendgäste des Bauern, die man braucht, damit der seinen Hof nicht verkaufen muss. Aber sonst: total autark! Und die Philosophie zum Lebensentwurf liefern die Texte von »Ton Steine Scherben« und »Die Ärzte«. Zum Glück bekommt gerade keines der Kinder einen Hirntumor, denn bis man einen Positronen-Emissions-Tomografen auf dem Sperrmüll findet, das kann dauern.

Stilistisch ist das Buch entgegen den früher sehr disziplinierten und kargen Texten Vanderbekes (»Ich sehe was, was Du nicht siehst« ist wohl immer noch das Muster) ungewöhnlich geschwätzig, ja einzelne Phrasen wiederholen sich ohne jede Notwendigkeit. Den absoluten Tiefpunkt erreicht Vanderbekes Sprache auf Seite 98 beim Wort »Spannkraft«, ein Wort aus der Doppelherz-Reklame, nicht aus dem Ingenieurs-Handbuch.

Ein dummes, überflüssiges Buch aus der Kategorie gut gemeint. 

… solch einen Quark mußt Du mir künftig nicht mehr schreiben; das können die Andern auch.

Birgit Vanderbeke: Das lässt sich ändern. München: Piper, 2011. Pappband, Lesebändchen, 147 Seiten. 16,95 €.

Vladimir Nabokov: Nikolaj Gogol

«Nun ja», sagte mein Verleger …

Nabokov_GogolDas Büchlein über Gogol ist 1942 als zweites auf englisch geschriebenes Buch Nabokovs entstanden und 1944 im selben Verlag wie sein Vorgänger »The Real Life of Sebastian Knight« erschienen. Es ist der erste umfangreiche literaturwissenschaftliche Text Nabokovs, dem später seine Vorlesungen über russische und westeuropäische Literatur folgen sollten. In allen diesen Büchern erweist sich Nabokov als ein – um es positiv zu formulieren – sehr origineller Leser, der oft die Ansätze anderer Interpreten als unsinnig oder irrelevant verwirft und weitgehend nur den ihn selbst interessierenden Zugriff gelten lässt. Dies bedeutet in den meisten Fällen eine unnötige Verengung der Werke auf einzelne Aspekte.

So verwirft Nabokov im Fall Gogols alle gesellschaftskritischen und politischen Aspekte von dessen Texten, auf die sich ein bedeutender Teil der Rezeption konzentriert hat, als Missverständnis. Er weiß sich in dieser Ablehnung einig mit dem Autor, wenn er auch zugleich dessen religiös gefärbte Selbstdeutungen ebenso verwirft. Nabokov schätzt in Gogols Werken wesentlich zwei Aspekte: Die sprachliche Originalität und die Fülle der Randfiguren und nebensächlichen Details, die mit der eigentlichen Handlung wenig oder nichts zu tun haben. Nabokov liest Gogol wesentlich als phantastischen Autor, dessen Bücher eine autarke Realität etablieren, der der Leser nachzuspüren habe. Dem mag man folgen wollen oder nicht, doch wird es in der Exklusivität, mit der es vorgetragen wird, weder der Fülle möglicher Deutungsansätze, die die Texte stützen, noch ihrer tatsächlichen historischen Wirkung gerecht. Am Ende sagen Nabokovs literarhistorische Texte mehr über ihn als Leser und Autor aus als über die Autoren und Werke, über die er schreibt.

Was das Buch nicht enthält, ist eine auch nur einigermaßen vollständige Biographie Gogols oder Inhaltsangaben der behandelten Werke. Dies wurde bereits vor dem Erstdruck kritisch von Nabokovs Verleger angemerkt (was Nabokov im Anhang des Büchleins genauer dokumentiert als irgend ein biographisches Detail aus dem Lebens Gogols) und wurde mehr als notdürftig durch einen Anhang ausgeglichen. Auch hierin zeigt sich deutlich Nabokovs Desinteresse an hergebrachten interpretatorischen Zugriffen auf Autoren. Dass er selbst nach Jahren mit dem Buch nicht mehr sehr zufrieden war, ja, auch betont hat, dass es Gogol sicherlich missfallen hätte, markiert diese Haltung nur noch deutlicher. Das Buch ist daher eher für Nabokov-Leser aufschlussreich als für jene, die eine Einführung zu Gogol suchen.

Vladimir Nabokov: Nikolaj Gogol. Deutsch von Jochen Neuberger. Reinbek: Rowohlt, 1990. Leinen, Lesebändchen, 213 Seiten. 19,– €.

David Foster Wallace: Das hier ist Wasser

Wallace_WasserWas tut man, wenn man einen Autor hat, der ein zwar berühmtes, aber nur schwer lesbares Buch geschrieben hat, das zudem so dick ist, dass man es nur in einer ziemlich teuren Ausgabe verkaufen kann? Man sucht einen kürzeren, eingängigeren Text von ihm und hofft, dass seine Leser anschließend auch den Ziegelstein kaufen, selbst wenn sie ihn dann ungelesen ins Regal stellen.

Und was tut man, wenn der konsumierbarere Text zu kurz ist für ein eigenständiges Buch? Man setzt ihn in einer größeren Schrift. Und wenn er dann immer noch zu kurz ist? Dann macht man eine zweisprachige Ausgabe draus, damit der Buchhandel etwas hat, das im Regal nicht vollständig verloren geht.

So geschehen mit David Foster Wallace’ einziger Abschlussrede für einen College-Jahrgang, die er im Jahr 2005 gehalten hat. Wallace plädiert darin für eine andere Art der Aufmerksamkeit, die die unvermeidliche Routine im Leben eines Erwachsenen wenigstens erträglich machen soll. Der wichtigste Satz der ganzen Rede lautet:

The capital-T Truth is about life before death. It is about making it to thirty, or maybe even fifty, without wanting to shoot yourself in the head.

David Foster Wallace hat sich 2008 im Alter von 46 Jahren erhängt.

David Foster Wallace: Das hier ist Wasser / This is Water. Aus dem amerikanischen Englisch von Ulrich Blumenbach. KiWi 1272. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2012. Broschur, 62 Seiten. 4,99 €.

Nikolaj Gogol: Der Revisor

[…] eine der größten Komödien: Gogols ›Revisor‹.
Friedrich Dürrenmatt

Gogol_Revisor»Der Revisor« wird in der Kritik nahezu durchgehend als eine herausragende Komödie bewertet: Ob Kollegen (s. o.), ob Kritiker (etwa der unvermeidliche Marcel Reich-Ranicki), alle machen ihren Diener vor diesem Theaterstück. Das könnte den Zuschauer einer der immer noch zahlreichen Inszenierungen wundern, denn auf den ersten Blick enthält die Komödie wenig wirklich überraschendes und unterscheidet sich nur unwesentlich von der allgemeinen Durchschnittsware:

Die Handlung der Revisors ist ebensowenig der Rede wert wie die der übrigen Bücher Gogols. […] Darüber hinaus ist im Falle des Stücks die Anlage Gemeinbesitz aller Dramatiker: ein amüsantes Quidproquo bis zum letzten Tropfen auszuquetschen. [Vladimir Nabokov: Nikolaj Gogol, S. 55]

Diese Handlung ist rasch erzählt: In einer russischen Provinzstadt ist die korrupte Exekutive beunruhigt über die mögliche Ankunft eines inkognito reisenden Revisors, dessen Ankunft dem Stadthauptmann durch einen vertraulichen Brief angezeigt wurde. Wie der Zufall es will, wird der sich auf der Durchreise befindliche kleine Beamte Iwan Alexandowitsch Chlestakow, der beim Kartenspiel all sein Geld verloren hat, irrtümlich für den angekündigten Revisor gehalten und daher von den Honoratioren der Stadt entsprechend hofiert. Er nimmt gern alle Gefälligkeiten und Bestechungsgelder an, verführt die Tochter des Stadthauptmanns und verschwindet gerade noch rechtzeitig, bevor als Paukenschlag am Ende des Stücks die Ankunft des tatsächlichen Revisors angekündigt wird.

Innerhalb dieses Rahmens gibt es das übliche Abhaspeln komischer Situationen: vom anfänglichen Aneinandervorbeireden über die zu erwartenden doppelbödigen Dialoge und Situationen bis zur abschließenden Auflösung des Irrtums. Seine außergewöhnliche Wirkung scheint das Stück aber auf drei Ebenen entfaltet zu haben: auf einer satirischen, einer parodistischen und einer dramaturgischen.

Von der ersten Aufführung an ist das Stück als eine Satire auf die Verhältnisse der russischen Provinz verstanden worden, auch wenn sich sein Autor immer wieder gegen diese Deutung ausgesprochen hat. Angesichts der durchgehend negativen Zeichnung der Honoratioren der Provinzstadt als dumme und korrupte Egoisten ist es kein kleines Wunder, dass das Stück überhaupt aufgeführt werden konnte und nicht der Zensur zum Opfer fiel. Da aber der Zar selbst sein Wohlgefallen an dem Stück bekundete, blieben es und sein Autor unbehelligt. Dies ist ein Zeichen dafür, dass schon Mitte des 19. Jahrhunderts die menschliche Ebene des Stücks als stärker empfunden wurde als die politische.

Dieser Aspekt hat unmittelbar mit den parodistischen Tendenzen des Stücks zu tun: Gogols ursprüngliches Publikum war vertraut mit der bürgerlich Komödie des frühen 19. Jahrhunderts, für die nicht nur in Deutschland August von Kotzebue einer der herausragenden Vertreter war. »Der Revisor« erinnert sicher nicht zufällig an Kotzebues »Die deutschen Kleinbürger«, denen ein ähnlicher Verwechslungs-Plot zugrunde liegt. In Ermanglung einer Kenntnis dieser Vorlage bzw. Vorlagen geht der parodistische Gehalt des Stücks für die meisten heutigen Zuschauer natürlich verloren.

Bleibt der dramaturgische Gehalt des Stückes, der wohl dafür verantwortlich ist, dass das Stück heute noch von Theaterleuten und Schriftstellern geschätzt wird. Es ist schwer zu beurteilen, ob Gogols Wahl der Struktur des »Revisors« einer Inspiration oder schlicht mangelhafter Kenntnis der Tradition entsprungen ist, aber diese Unterscheidung ist unerheblich für die Position des Stückes in der historischen Entwicklung der Dramaturgie. Traditionell gehorcht die überwiegende Menge aller Dramen einem sehr abstrakten Grundmuster: Betrachtet man das Personal eines Stücks als Repräsentation einer Gesellschaft, so findet sich diese Bühnengesellschaft zu Anfang des Stückes in einem gestörten, disharmonischen Zustand: Zwei Familien, die miteinander seit langem verfeindet sind, eine Bevölkerung, die von einer nicht weichen wollenden Seuche bedroht ist, ein Königshaus, das durch den unerwarteten Tod des Königs und die rasche Wiederheirat der Königinwitwe seine Balance verloren hat etc. Die Handlung des Theaterstücks dient nun dazu, diese Störung wegzuspielen und am Ende einen neuen stabilen, im besten Fall harmonischen Zustand herzustellen.

Im Gegensatz dazu hinterlässt »Der Revisor« die Bühnengesellschaft in genau dem Zustand, in dem er sie zuerst vorgeführt hat: Die korrupten Honoratioren sehen sich unverändert der Bedrohung durch die Prüfung des allmächtigen Revisors ausgesetzt und sind keinen einzigen Schritt weiter und um einige hundert Rubel ärmer als zuvor. »Der Revisor« verweigert sich der Illusion des Fortschritts und der Auflösung der dramatischen Spannung. Gerade aus dieser Verweigerung gewinnt der Schluss der Komödie, auf den Gogol so stolz war, seine Kraft. Diese Struktur ist wegweisend für die Entwicklung des Dramas der Moderne.

Aus dramaturgischer Sicht ist daher Nabokovs oben zitierter Einschätzung zu widersprechen: »ein amüsantes Quidproquo bis zum letzten Tropfen auszuquetschen«, hätte bedeutet, den echten Revisor bereits in der Mitte des Stückes auftreten zu lassen und die sich daraus entwickelnden Verwerfungen, Verwicklungen und Vertauschungen durchzuspielen, um am Ende alles in einem Happy End aufzulösen, in dem der Betrüger sich als lange verlorener Sohn des Revisors erweist und die verführte Tochter des Stadthauptmanns heiratet, den Dorfrichter auf seiner Position ablöst und die ganze Familie glücklich und korrupt in die Zukunft blickt. Dass Gogol sich dem verweigert, bringt das Stück um viel Klamauk und schenkelklopfendes Gelächter, hat es aber zugleich leuchtend über die oben bereits angeführte Durchschnittsware der Zeit herausgehoben.

Nikolaj Gogol: Der Revisor. Aus dem Russischen von Bodo Zelinsky. RUB 837. Broschur, 188 Seiten. 5,– €.

Émile Zola: Das Werk

Und mit offenem Munde stand er da und hatte Angst vor seinem Werk, zitterte vor diesem jähen Sprung ins Jenseits, verstand gut, daß die eigentliche Wirklichkeit für ihn nicht mehr möglich war, nachdem er so lange gerungen, um sie zu bezwingen und sie mit seinen Manneshänden neu zu formen.

zola_rougonBeim 14. Band der Rougon-Macquart handelt es sich um den Künstlerroman des Zyklus. Im Zentrum steht Claude Lantier, der älteste Sohn der Wäscherin Gervaise Macquart aus »Der Totschläger« und Bruder Etienne Lantiers aus  »Germinal«. Die Handlung setzt im Jahr 1862 ein und beginnt mit der Begegnung Claudes mit Christine, einem jungen, unerfahrenen Mädchen aus der Provinz, die in Paris eine Stelle antreten will, in der fremden Stadt Paris aber beinahe sofort verloren geht. Claude findet sie bei seiner Rückkehr im Eingang des Hauses, in dem er unter dem Dach sein Atelier hat, und nimmt sie mit nach oben, obwohl er den Verdacht hat, dass sie nur eine Prostituierte auf Suche nach einem Kunden ist. Am nächsten Morgen inspiriert ihn die schlafende Schönheit, und er macht eine Skizze für das großformatige Bild Im Freien, an dem er gerade arbeitet und das er zum kommenden Salon einreichen will. Claude gilt als der mutigste, begabteste und hoffnungsvollste der avantgardistischen, jungen Maler von Paris, von dem Kollegen und Kunsthändler eine bedeutende Karriere erwarten.

Aus dieser ersten Begegnung der unerfahrenen Christine und des schüchternen Claude entwickelt sich langsam aber sicher eine Liebesbeziehung, die ihre erste Erfüllung anlässlich der Ausstellung des Salons 1863 findet: Claudes Bild wird zwar von der Jury für den offiziellen Salon abgelehnt, wird aber zusammen mit den anderen abgelehnten Arbeiten im ersten Salon der Refusés gezeigt. Claude muss erleben, dass sein Bild zusammen mit den Werken anderer abgelehnter Künstler vom Publikum öffentlich ausgelacht wird. Er macht zwar gute Mine zum bösen Spiel, als er bei seiner Heimkehr aber die auf ihn wartende Christine antrifft, bricht er weinend zusammen, was zur ersten Liebesnacht der beiden führt.

Da Claude durch eine kleine Erbschaft in Maßen finanziell unabhängig ist, fliehen Christine und er zusammen aufs Land, wo sie eine Zeit gedankenloser und unbeschwerter Liebe durchleben, bis Christine schwanger wird und Claude beginnt, seine Pariser Freunde und das dortige Leben zu vermissen. So kehren beide schließlich nach Paris zurück, wo Claude versucht, an sein früheres Leben anzuknüpfen. Doch scheint er seinen künstlerischen Fokus verloren zu haben; erst als er in einem fast visionären Moment den Einfall für ein monumentales Bild der Île de la Cité bekommt, scheint er sich wenigstens für den Augenblick wiederzufinden. Er greift das Kapital seiner Erbschaft an, um sich ein großes, wenn auch ärmliches Atelier einzurichten, und beginnt sein großes Werk.

Doch je länger Claude an diesem das Bild arbeitet, desto klarer wird, dass es seine Kräfte und sein malerisches Vermögen übersteigt. Selbst seinen engen Freunden, allen voran dem Schriftsteller Sandoz, erscheint die Bildkomposition, die im Zentrum des Bildes einen großen weiblichen Akt auf einem Boot zeigt, fragwürdig und befremdend, und Claude selbst ist mit der malerischen Umsetzung seines Einfalls nie zufrieden, sondern überarbeitet immer und immer wieder das bereits geschaffene. Über dieser monomanischen Arbeit geht die Beziehung zu Christine, die Claude sogar noch heiratet und die bis zum Ende zu ihrem Geliebten hält, in die Brüche.

Als der gemeinsame, von Beginn an kränkliche und zurückgebliebene Sohn stirbt, malt Claude zur Bewältigung seiner Trauer ein Bild des toten Kindes auf dem Sterbebett. Mit diesem Bild kommt er durch den Gnadenakt eines früheren Freundes, der inzwischen als Maler mit gefälligeren Versionen der avantgardistischen Motive und Techniken seiner Kollegen großen Erfolg hat, sogar in die Ausstellung des Salons, doch muss er, als er die Ausstellung besucht, feststellen, dass man sein kleines Bild hoch oben in der Nähe der Decke aufgehängt hat, wo es kaum zu sehen ist. Diese zweite Zurückweisung seiner Malerei durch den offiziellen Kunstbetrieb stürzt Claude endgültig in Depression und Verzweiflung. Nach einer letzten leidenschaftlichen Liebesnacht mit Christine, die beinahe gewaltsam versucht, Claude ins Leben zurückzuholen, erhängt sich der Maler vor seinem unvollendeten Werk. Er wird nur von einigen wenigen Menschen begleitet beinahe anonym beigesetzt. Sein Freund Sandoz zerstört das monumentale Fragment des Bildes der Île de la Cité.

Zola hat für »Das Werk« in weit größerem Umfang auf autobiographisches Material zurückgegriffen als bei den früheren Romanen des Zyklus. Insbesondere liefert er in der Figur des Schriftstellers Sandoz ein offensichtliches Selbstporträt. Dies hat dazu geführt, dass »Das Werk« vielfach als ein Schlüsselroman über den Impressionisten Paul Cézanne gelesen und kritisiert wurde. Auch Cézanne selbst scheint den Roman so wahrgenommen zu haben, denn dessen Veröffentlichung hat zum Bruch der Freundschaft zwischen ihm und Zola geführt. Dem steht nicht nur gegenüber, dass das erste große Bild Claudes offensichtlich eine Variation auf Édouard Manets Das Frühstück im Grünen darstellt, sondern auch, dass viele der biographischen Details für Claude Lantier von anderen zeitgenössischen Malern erborgt wurden. Zola kannte aufgrund seiner Freundschaft mit Cézanne zahlreiche Maler des Impressionismus persönlich und hatte sich als Essayist und Journalist intensiv mit der Malerei seiner Zeit auseinandergesetzt.

Der Ansatz als biographischer Schlüsselroman greift daher zu kurz. Das zentrale Thema des Romans scheint vielmehr das Verhältnis von Kunst und Realität überhaupt zu sein. Zola begreift sein eigenes schriftstellerisches Programm als direkte Entsprechung des Programms der Impressionisten: Primäres Ziel der Darstellung ist nicht eine moralische oder allegorische Bedeutung, sondern ein Bild der materiellen bzw. gesellschaftlichen Wirklichkeit zu geben, insbesondere jener Aspekte dieser Wirklichkeit, die als der künstlerische Darstellung traditionell nicht würdig bzw. deren Darstellung als dem Publikum nicht zumutbar galten. Dazu passt auch die negative Darstellung der Publikumsreaktion auf diese neue Kunst im Roman, wobei Zola gleichzeitig zugesteht, dass sich sowohl seine Romane als auch einige der avantgardistischen Künstler durchaus eines gewissen Erfolgs erfreuen. Dieser Widerspruch bleibt im Roman ebenso wie in der Wirklichkeit unaufgelöst.

In erster Linie aber überzeugt die zentrale Figur Claude Lantiers nicht. Das liegt wohl in der Hauptsache daran, dass Zola versucht, in ihm zwei antagonistische Konzepte gleichzeitig zu realisieren: Zum einen soll Claude ein Glied in der degenerativen Entwicklung der Familie Rougon-Macquart bilden, zum anderen soll sein Scheitern paradigmatisch die Krise der modernen Kunst symbolisieren. Sein Charakter bleibt daher in einer Art von Schwebezustand, der letztlich gar keine handfeste Motivation seines Handelns ergibt: Claude scheitert irgendwie an sich selbst, aus seinem Inneren heraus, ohne dass der Leser den Grund dieses Scheiterns tatsächlich aus der Gestaltung der Figur heraus begreifen kann. Daher ist auch sein Selbstmord, so sehr er auch für den Autor als einziges mögliches Ende erscheinen mag, unzureichend motiviert; ebenso gut hätte er auch aus einer Magenverstimmung heraus erklärt werden können wie aus dem Charakter Claudes. Was bleibt, ist die exakte und stimmige Beschreibung des Kunstbetriebs im Paris des Zweiten Kaiserreichs, die aber eben nur den Hintergrund für einen nicht ganz gelungenen Künstlerroman bildet.

Übersichtsseite zur Rougon-Macquart

Émile Zola: Die Rougon-Macquart. Natur- und Sozialgeschichte einer Familie unter dem zweiten Kaiserreich. Hg. v. Rita Schober. Berlin: Rütten & Loening, 1952–1976. Digitale Bibliothek Bd. 128. Berlin: Directmedia Publ. GmbH, 2005. 1 CD-ROM. Systemvoraussetzungen: PC ab 486; 64 MB RAM; Grafikkarte ab 640×480 Pixel, 256 Farben; CD-ROM-Laufwerk; MS Windows (98, ME, NT, 2000, XP oder Vista) oder MAC ab MacOS 10.3; 256 MB RAM; CD-ROM-Laufwerk.

Arkadi und Boris Strugatzki: Gesammelte Werke 2

Die größte Heldentat der Menschheit besteht darin, dass sie überlebt hat und gewillt ist, das auch weiterhin zu tun …

Strugatzki_Werke_2Der zweite Band der Strugatzki-Werkausgabe enthält zwei kürzere und einen längeren Roman (das Deutsche hat keine richtige Entsprechung zu der russischen Form der Noveletta, der längeren Novelle, die zwischen Erzählung und Roman angesiedelt ist; auch Arno Schmidts Begriff »Kurzroman« passt aufgrund der in Schmidts Poetik damit verknüpften Implikationen nicht gut), die sich mit einigem guten Willen als Variationen eines gemeinsamen Themas lesen lassen: Der Konfrontation der Menschheit mit einem ihr prinzipiell unbegreiflichen Universum. Allgemeines zur Werkausgabe ist bereits anlässlich von Band 1 gesagt worden, deshalb gleich zu den Texten:

»Picknick am Wegesrand« (1972) ist, wie früher schon einmal angemerkt, aufgrund der Verfilmung von Andrei Tarkowskis einer der bekanntesten Texte der Brüder Strugatzki, auch wenn sich der Film auf eine einzelne Sequenz des Textes konzentriert. Die Handlung des Romans ist in der damals näheren Zukunft angesiedelt und spielt im nordamerikanischen Ort Hammond, in dem eine von weltweit sechs Zonen liegt, in der offenbar Außerirdische gelandet waren. Sie haben die Zonen aber nach kurzem Aufenthalt wieder verlassen, ohne mit der Menschheit irgend einen Kontakt aufzunehmen, und haben bei ihrer Abreise eine erhebliche Menge Zivilisationsmüll und extraterrestrische Flora hinterlassen. Alle Zonen sind aufgrund ihrer Gefährlichkeit und Unberechenbarkeit abgesperrt und werden unter Überwachung von UN-Truppen von entsprechenden Regierungsorganisationen untersucht. Neben dieser offiziellen Auswertung der Zonen gibt es aber auch ihre illegale Ausplünderung durch sogenannte Stalker.

Beim Protagonist des Text handelt es sich um den Anfangs 23-jährigen Stalker Roderic Schuchart, der bereits einmal wegen seines Eindringend in die Zone verhaftet und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde. Nach einer kurzen Episode legaler Arbeit für die Regierungsseite beginnt er wieder mit der illegalen Beschaffung von Artefakten aus der Zone für zwielichtige Abnehmer, die sie entweder an Sammler oder auch die Industrie weiterverkaufen. Mit den meisten der Artefakte weiß man zwar nichts anzufangen, da man weder ihren Aufbau noch ihre (auf den ersten Blick oft zu den bekannten Naturgesetzen im Widerspruch stehende) Funktion versteht, doch hegen offenbar viele Interessenten die Hoffnung auf umwälzende technische Entdeckungen, die die Geschäfte der Stalker am Leben erhält. Dies alles liefert das Rückgrat der Fabel des Romans.

Wesentlich für den Erfolg des Textes ist aber wohl die philosophische Ebene: Die Zonen konfrontieren die Menschheit offen mit der Beschränktheit ihres wissenschaftlichen Verständnisses des Universums. Zentrale Metapher für dieses mangelnde Verständnis ist die titelgebende Vorstellung, die von einem der mit der Zone befassten Wissenschaftler ganz nebenbei entwickelt wird: Die Zonen seien die Folge eines Picknicks am Wegesrand. Eine der Menschheit weit überlegene Zivilisation habe auf der Erde kurz Station gemacht, ohne sich für sie oder die Menschheit überhaupt zu interessieren. Ihre Hinterlassenschaft sei für die Menschen ebenso rätselhaft, unbegreiflich und gefährlich, wie es die Überreste eines menschlichen Picknicks für die Insekten auf einer Waldlichtung sind. Ein solches Konzept der Begegnung der Menschheit mit Außerirdischen, in der die Menschen nicht die Rolle einer zwar technologisch unterlegenen, dafür aber geistig mindestens gleichrangigen Zivilisation spielen, sondern von den Besuchern nicht einmal als Wesen gleicher Art wahrgenommen werden, bricht radikal mit den allenthalben gebräuchlichen Klischees des Genres und macht den eigentlichen Reiz dieser Utopie aus. Eine vergleichbar ironische Behandlung der Zukunftsträume der Science-Fiction findet sich wohl sonst nur noch bei Stanislaw Lem.

»Eine Milliarde Jahre vor dem Weltuntergang« (1976) variiert das Thema des unbegreiflichen Universums: Auch in dieser längeren Erzählung wird die Menschheit angesichts des Universums marginalisiert. Im Zentrum steht eine kleine Gruppe miteinander befreundeter Moskauer Wissenschaftler verschiedener Disziplinen um den Astronomen Maljanow, deren Mitglieder zufällig alle vor einem entscheidenden wissenschaftlichen Durchbruch zu stehen scheinen, aber durch diverse äußere Umstände und störende Zufälle an der Vollendung ihrer Arbeit gehindert werden. Nachdem sie sich gegenseitig ihre skurrilen Erlebnisse, die offensichtlich von Bulgakows »Der Meister und Margarita« inspiriert sind, erzählt haben, entwickeln sie diverse Verschwörungstheorien, die in der Theorie des mathematischen Genies der Gruppe gipfeln, dass es wahrscheinlich die Struktur des Universums selbst ist, die der Menschheit Widerstand entgegensetzt, um sie daran zu hindern, Erkenntnisse zu entwickeln, die zur Zerstörung des Universums selbst führen könnten. Dies wiederum führt ihn zu einer Haltung des Trotzdem, die als sowjetische Version des existenzialistischen »Mythos vom Sisyphos« gelesen werden kann:

Euer Bestreben, die Ursachen zu ergründen, ist nichts als eitle Neugier. Ihr braucht aber gar nicht herauszufinden, wer womit Druck auf euch ausübt, sondern wie ihr Euch unter Druck verhalten sollt. Und das wird bedeutend schwerer, […] denn von jetzt an ist jeder von euch auf sich allein gestellt.

»Das Experiment« (entstanden zwischen 1969 und 1975, veröffentlicht 1987; auch unter dem Titel »Stadt der Verdammten« eingedeutscht) wurde von den Brüdern Strugatzki bewusst für die Schublade geschrieben. Es war ihnen während der Niederschrift bereits klar, dass dieser Roman, der mit etwa 475 Seiten mehr als die Hälfte des Bandes einnimmt, unter den politischen Bedingungen der Sowjetunion undruckbar sein würde. Sie hielten ihn sogar für so gefährlich, dass sie ihn nicht einmal als Samizdat oder auch nur als Typoskript unter Freunden kursieren ließen. Insgesamt gab es nur drei Sicherheitskopien des fertigen Romans, die an unterschiedlichen Orten eingelagert waren, um eine vollständige Vernichtung des Textes nach Möglichkeit zu verhindern.

Erzählt wird von einer Gesellschaft im Reagenzglas: Offenbar wirbt eine außerirdische Zivilisation auf der Erde Freiwillige an, die in eine künstliche Welt versetzt werden. Es handelt sich um Menschen aller Nationen und verschiedener Zeitalter, die einander allerdings auf wundersame Weise gegenseitig verstehen könne, weil sie alle glauben, jeder andere spreche ihre Muttersprache. Sie alle wissen, dass sie an einem Experiment teilnehmen, von dem sie allerdings Sinn und Zweck nicht kennen. Im Zentrum steht der jungen Andrej Woronin, seiner Ausbildung nach Astronom und – wenigstens anfänglich – glühender Anhänger einer kommunistischen Gesellschaftsordnung. Zu Beginn der Handlung arbeitet er als Müllmann, da die Gesellschaft des Experiments unter anderem durch regelmäßigen Berufswechsel ihrer Mitglieder in Bewegung gehalten wird. Die Bewohner vermuten, dass das Experiment schon längere Zeit andauert, da sich im Norden der Stadt, in der sie leben, verlassene Ruinen finden; noch weiter nördlich vermutet man eine Eiswüste. Im Süden der Stadt sind Farmer angesiedelt, die für die Ernährung der Stadtbevölkerung sorgen; noch weiter südlich finden sich unpassierbare Sümpfe. Im Osten und Westen ist der Lebensraum durch einen Abgrund bzw. eine steil aufragende Wand begrenzt, die beide nicht besteigbar sind.

Woronin durchläuft, ähnlich wie Maxim Kammerer in »Die bewohnte Insel«, eine Reihe äußerlicher Veränderungen, die ihn langsam, aber sicher zu einer distanzierteren Sicht auf das Experiment führen: Als Kriminalkommissar durchlebt er eine traumhafte phantastische Episode in einem wandernden Haus; nach dem gewaltsamen Umsturz eines ehemaligen faschistischen Offiziers wird er Minister des neuen Diktators und in dieser Funktion mit einer Expedition in den Norden beauftragt. Die Erzählung endet, nachdem beinahe alle Expeditionsmitglieder gewaltsam zu Tode gekommen sind, mit einer visionären Wanderung zum Rand dieser künstlichen Welt, von der unklar bleibt, inwieweit sie sich in der Wirklichkeit oder nur noch in der Phantasie des Protagonisten abspielt.

»Das Experiment« ist sicherlich einer der ambitioniertesten und vielschichtigsten Texte der Brüder Strugatzki; gleichzeitig ist er einer der langatmigsten, ohne dass einfach erkennbar wäre, dass seine Länge und erzählerische Umständlichkeit tatsächlich notwendig sind. Dann und wann hatte ich den Verdacht, dass es nicht allen Schriftstellern gut bekommt, zu wissen, dass der Text, den sie schreiben, wahrscheinlich nie dem kritischen Blick einer breiten Öffentlichkeit ausgesetzt sein wird. Als Allegorie der menschlichen Existenz oder auch spezieller der sowjetischen Gesellschaft gelesen, dürfte sich der Roman aber als überaus ergiebig erweisen. Nur muss der Leser akzeptieren, dass auch die Autoren in dem Experiment, an dem wir alle teilnehmen, keinen Sinn und Zweck zu entdecken vermochten.

Arkadi und Boris Strugatzki: Gesammelte Werke 2. 3 Romane in einem Band. Deutsch von Aljonna Möckel (»Picknick am Wegesrand«), Welta Ehlert (»Eine Milliarde Jahre vor dem Weltuntergang«) und Reinhard Fischer (»Das Experiment«). Nach den ungekürzten und unzensierten Originalversionen ergänzt von Erik Simon. Kindle-Edition, 2010. 912 Seiten (Buchausgabe). 9,99 €.

Mario Vargas Llosa: Die jungen Hunde

Endlich, sagte Fina, jetzt hat’s ihn erwischt, er ist verliebt.

vargas-llosa-hundeDiese Erzählung erschien zum ersten Mal 1967 in Barcelona, da Vargas Llosa damals bereits in Spanien lebte und in seiner Heimat Peru kein Verlag das zumindest für die 60er Jahre sowohl stilistisch als auch thematisch ungewöhnliche Buch drucken wollte. Die Erstveröffentlichung enthielt bereits die jetzt bei Suhrkamp erstmals auch von einem deutschen Verlag realisierte Kombination des Textes von Vargas Llosa und der 35 Schwarz-Weiß-Fotografien Xavier Miserachs’. Zwar dokumentieren die Bilder offensichtlich die frühen 60er Jahre in Spanien während die Erzählung selbst in den späten 20er und den 30er Jahren in Lima spielt, doch bis auf das veränderte Kostüm illustrieren die Bilder das von der Erzählung präsentierte Lebensgefühl ganz exzellent.

Der Text verweigert eine einfache Einordnung seiner Erzählform: Er wird offensichtlich als biografische Erinnerung eines älteren Erzählers an seine Jugend präsentiert, dort schwankt die Erzählperspektive ständig zwischen einer nahen, kollektiven Wir- und einer distanzierteren, auktorialen Position, wobei der Wechsel zumeist mitten im Satz stattfindet. Da zudem die wörtliche Rede nicht ausgezeichnet wird, kann es zumindest anfänglich zu Irritationen beim Leser kommen:

Auch ihnen, die wir anfangs noch aufpassten, Cuéllar, Kumpel, rutschte es immer öfter raus, ganz aus Versehen, Kamerad, ganz automatisch, Amigo: Pichulita, und er knallrot, wie?, oder kreidebleich, du auch, Chingolo?, die Augen aufgerissen, Mann, entschuldige, war keine böse Absicht, er also auch?, sein Freund? …

Doch liest sich der Text nach einer kurzen Eingewöhnungsphase sehr flüssig (was sicherlich auch der Neuübersetzung zu danken ist, die Suhrkamp der Erzählung spendiert hat), und wenn man ihn in einem Zug liest, gewöhnt man sich so vollständig an den ständigen Perspektivwechsel, dass man gegen Ende bewusst nachschaut, ob er denn überhaupt noch benutzt wird. Wenigstens mir erging es so.

Erzählt wird die Geschichte einer Gruppe von fünf Schulfreunden, wobei das Schicksal des jungen Cuéllar im Zentrum steht. Cuéllar wird kurz nachdem er in die Klasse der anderen gekommen ist und sich als ein exzellenter Schüler erwiesen hat, nach einer Sportstunde von einem Hund angefallen und durch einen Biss um sein Geschlechtsteil gebracht. Zwar überlebt er die Attacke, doch ist er von dem Augenblick an ein Außeseiter in der Gruppe, auch wenn das lange Zeit keiner seiner Freunde auch nur wahrnehmen will. Offensichtlich wird Cuéllars Lage aber, als die ersten der Clique Freundschaften mit Mädchen beginnen: Cuéllar, der inzwischen den Spitznamen Pichulita (Schwänzchen) trägt, reagiert zuerst aggressiv, sondert sich dann ab, kehrt jedoch immer wieder zur Gruppe zurück. Er huldigt dem Machismo auf seine Weise, indem er ein herausragender und waghalsiger Sportler und Autofahrer wird, aber er traut sich aus verständlichen Gründen nicht, eine Freundschaft mit einem Mädchen zu beginnen. Als er sich schließlich doch gegen seinen Willen verliebt, wird er für eine Weile geselliger und normaler, doch spitzt sich seine Lage durch diese Verliebtheit nur noch weiter zu, da sie seine Verzweiflung über die Unmöglichkeit einer sexuellen Erfüllung einer Beziehung zum Grundgefühl seiner Existenz werden lässt.

Es macht den Rang Vargas Llosas aus, dass er darauf verzichtet, Cuéllar ein noch tragischeres Ende nehmen zu lassen als ohnehin sein Leben schon war. Die Freunde verlieren sich über Studium, Arbeit und Gründung einer Familie wie zu erwarten mehr und mehr aus den Augen; Cuéllar lebt für eine Weile in den Bergen, geht dann in den Norden Perus und wird Opfer seines riskanten Fahrstils. Der Leser bleibt mit dem Erzähler ratlos zurück, wie diesem Jungen auf Erden zu helfen gewesen wäre; sein Elend ließ sich erzählen, aufzuheben war es nicht.

Ein beeindruckend dicht erzählter Text, dem es wie nebenbei gelingt, das Lebensgefühl wohl einer ganzen Generation junger Männer darzustellen. Unbedingt lesenswert!

Mario Vargas Llosa: Die jungen Hunde. Aus dem Spanischen von Susanne Lange. Mit Fotografien von Xavier Miserachs. Berlin: Suhrkamp, 2011. Pappband, Fadenheftung, 98 Seiten, davon 48 Seiten mit 35 Schwarz-Weiß-Fotografien. 24,90 €.

Hans Werner Wüst: »… wenn wir nur alle gesund sind!«

978-3-15-020240-1Im Jahr 1975 erschien eines der erfolgreichsten Bücher Friedrich Torbergs: »Die Tante Jolesch oder Der Untergang des Abendlandes in Anekdoten«. Darin finden sich unter anderem zahlreiche Anekdoten um den ebenso berühmten wie erfolglosen Wiener Strafverteidiger Dr. Hugo Sperber, dem ein ganzes Kapitel gewidmet ist. Darunter auch folgende:

Der wahrscheinlich populärste dieser Aussprüche [Dr. Sperbers], der jahrelang in allerlei Variationen (und schließlich ohne Quellenangabe) kursierte, fiel in der Verhandlung gegen einen von Sperber ex offo verteidigten Einbrecher. Der Mann hatte zwei Einbruchsdiebstähle begangen, den einen bei Tag, den anderen bei Nacht, und der Staatsanwalt legte ihm als erschwerend im ersten Fall die besondere Frechheit zur Last, mit der er sein verbrecherisches Handwerk sogar bei Tageslicht ausübte, im zweiten Fall die besondere Tücke, mit der er sich das Dunkel der Nacht zunutze gemacht hatte.
An dieser Stelle erdröhnte der Gerichtssaal von Dr. Sperbers Zwischenruf:
»Herr Staatsanwalt, wann soll mein Klient eigentlich einbrechen?«

Das ist nun kein jüdischer Witz, sondern es ist erstens eine Anekdote, und wäre es zweitens ein Witz, so wäre es ein juristischer, für den es unerheblich ist, welcher Herkunft oder religiösen Überzeugung der Verteidiger ist. Das alles hindert Wüst nicht an folgendem:

Einbrecher. Ein Mann steht vor Gericht. Er soll zwei Einbrüche begangen haben, einen tagsüber und den anderen nachts. Der Staatsanwalt wirft ihm deshalb in dem einen Fall besondere Frechheit vor, weil er sogar am hellen Tag eingebrochen sei, und in dem anderen Fall besondere Heimtücke, da er die Tat während der Dunkelheit begangen habe.
Da unterbricht der Verteidiger den Staatsanwalt:
»Herr Staatsanwalt, jetzt frage ich Sie: Wann soll mein Mandant denn eigentlich einbrechen?« [S. 316.]

Ebenso wenig wie so etwas möchte ich Heinrich Heines berühmtes »Dieu me pardonnera. C’est son metier.« anonymisiert und germanisiert als jüdischen Witz wiederfinden (S. 172).

Die Sammlung entgeht auch nicht immer der Gefahr, Witze, die auf der Ausschlachtung antisemitischer Klischees beruhen, für jüdischen Humor auszugeben:

Prozent. David zu seinem Großvater:
»Tate, wie heißt es richtig: drei Perzent oder drei Prozent?«
»Nu, besser sind fünf Prozent!« [S. 232.]

Ganz abgesehen davon, dass Wüst den Witz schlecht erzählt (es sollte heißen: »Tate, was ist besser: drei Perzent oder drei Prozent?« »Nu, besser sind fünf Perzent!«), zweifele ich nicht daran, dass es Juden gibt, die sich diesen Witz erzählen und darüber lachen. Ein jüdischer Witz wird es deshalb noch lange nicht. Ebenso wenig werden lahme politische Witze über die Sowjetunion zu jüdischen Witzen, indem man einen der Akteure Blau, den anderen Grün nennt.

Die Sammlung ist alles in allem mäßig lustig und noch mäßiger gelungen. Wer das Buch von Salcia Landmann noch nicht sein eigen nennt, sollte lieber dazu greifen, die anderen sollten die 10 Euro lieber für etwas besseres ausgeben, zum Beispiel für Torbergs »Die Tante Jolesch«.

Hans Werner Wüst: »… wenn wir nur alle gesund sind!«. Jüdische Witze. Reclam Tb. 2040. Stuttgart: Reclam, 2011. Broschur, 340 Seiten. 9,95 €.