Theodor Fontane: Die Poggenpuhls

»Arme Verwandte,« sagte Therese mit halblauter Stimme vor sich hin.

Die Poggenpuhls entstanden zwischen 1891 und 1894, was für den sehr effizienten Arbeiter Fontane eine lange Zeit für die etwa 120 Seiten darstellt, die das Buch umfasst. Das liegt wohl in der Hauptsache daran, dass Fontane parallel dazu an seiner Autobiographie arbeitete (Meine Kinderjahre (1893) und Von Zwanzig bis Dreißig (1898)), was ihm von seinem Arzt als Mittel gegen seine Depressionen empfohlen worden war. Es lässt sich diskutieren, ob es sich nach dem Verständnis der Zeit überhaupt um einen Roman handelt, da es dafür recht kurz ist. Andererseits ist der Sammelbegriff „Erzählung“ sehr unspezifisch und eher eine germanistische Notlösung als eine hilfreiche Einordnung. Von Der Stechlin aus betrachtet, handelt es sich bei Die Poggenpuhls um eine Art von Handübung für den späteren Roman: Auch hier wird auf eine spannende Handlung verzichtet, auf Konflikte oder eine Liebesgeschichte, wie es von Romanen der Zeit gern erwartet wurde. Ersetzt wird dies durch eine Art von Panorama – nicht umsonst wird diese populäre zeitgenössische Kunstform gleich zweimal erwähnt – der gesellschaftlichen Schnittstelle zwischen Bürgertum und Adel.

Im Mittelpunkt steht die Familie von Poggenpuhl, genauer der verwitweten Albertine von Poggenpuhl, die allerdings bürgerlich geboren wurde und sich nie so recht in die Rolle als Adelige eingefunden hat. Sie hat fünf Kinder, zwei Söhne, die beide gemäß der Familientradition beim Militär dienen, und drei Töchter, die zusammen mit der Mutter in eher bescheidenen Verhältnissen in Berlin leben. Therese, die Älteste der Töchter, versucht das Adelsbewusstsein der Familie aufrecht zu erhalten, was sie zu einer leicht skurrilen Figur macht, während die bei jüngeren Töchter, Sophie und Manon, sich eher handfest und bürgerlich orientieren. Keine der Töchter hegt Heiratspläne, da die Familie über keinerlei Vermögen verfügt, das sich in eine Mitgift verwandeln ließe. Von den Söhnen hat nur der Ältere, Wendelin, Aussichten auf eine militärische Karriere; demgegenüber entspricht der jüngere Leo dem typischen literarischen Offiziers-Klischee der Zeit: Er gibt sich „schneidig“, schwätzt viel Unfug, macht Schulden (wenn auch nur mäßig) und langweilt sich im Dienst. Offenbar denkt er ernsthaft darüber nach, als Abenteurer nach Afrika zu ziehen, um dort sein Glück zu suchen.

Aus dieser Grundkonstellation entwickelt Fontane ein Nichts von Handlung: Leo besucht seine Mutter zu Ihrem Geburtstag, man trifft den Onkel Eberhard (den Schwager der Mutter), der als Deus ex machina Leos Rückfahrt zu seinem Standort finanziert, Sophie fährt mit Onkel Eberhard nach Hause, um seiner Frau Josephine – ebenfalls eine Bürgerliche, die in die Familie Poggenpuhl eingeheiratet hat – Gesellschaft zu leisten. Sophie bricht sich ein Bein, bemalt die Wände der örtlichen Kirche und erlebt, wie ihr Onkel binnen weniger Tage an der Tuberkulose verstirbt. Nach der Beerdigung eröffnet Josephine Albertine, dass sie den privaten Teil ihres Vermögens zugunsten von deren Töchtern einsetzen wird, so dass alle drei Schwestern nun Aussicht auf eine Ehe haben werden. Auch Leo soll geholfen werden (Wendelin wird natürlich auch nicht vergessen, aber der spielt ohnehin im Roman kaum eine wirkliche Rolle), auf dass er nicht nach „Afri- od- Ameriko“ entfliehen muss. Insgesamt wird viel geredet, und sonst passiert kaum etwas.

Was im Gegensatz zu Der Stechlin fehlt, sind echte Charaktere: Zwar gehen Onkel Eberhard und seine Gattin gerade noch dafür durch, aber ansonsten ist vieles einfach nur Markierung einer Position oder Karikatur: Therese als eingebildete Adelige, die weder über Einfluss noch Land noch anderes Vermögen verfügt, ist nur eine lächerliche Figur, Leos Status als Klischee ist schon festgestellt worden, Sophie ist leider etwas zu frühklug und volksreligiös geraten und Manon ist eigentlich kaum etwas Eigenständiges und dient nur dazu, den neuen, jüdischen Geldadel wenigstens am Rande mit in den Roman zu bringen. Wer Fontane mag, wird sich unterhalten; alle anderen, so fürchte ich, werden sich langweilen.

Theodor Fontane: Die Poggenpuhls. Große Brandenburger Ausgabe. Das erzählerische Werk. Bd. 16. Berlin: Aufbau, 2006. Geprägtes und bedrucktes Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 292 Seiten. 28,– €.

Theodor Fontane: Der Stechlin

ein Feuerwerk von Anzüglichkeiten und kleinen Witzen

Niemand, der über dieses letzte Buch Fontanes (Mathilde Möhring ist aus dem Nachlass herausgegeben worden) spricht oder schreibt, kommt um das Bonmot herum, mit dem Fontane den Inhalt dieses Buch umriss: „Zum Schluß stirbt ein Alter, und zwei Junge heiraten sich; – das ist so ziemlich alles, was auf 500 Seiten geschieht. Von Verwicklungen und Lösungen, von Herzenskonflikten oder Konflikten überhaupt, von Spannungen und Überraschungen findet sich nichts.“ (Brief-Entwurf an Adolf Hoffmann, Mai/Juni 1897.) So ganz ohne „Konflikte“ ist das Buch zwar nicht, aber es sind weniger persönliche als gesellschaftliche, die tatsächlich nur zu beschreiben, nicht zu lösen sind.

Die Handlung spielt in der Hauptsache am und um den Stechlinsee herum sowie in Berlin. Im Zentrum steht der alternde Dubslav von Stechlin, der als Major a. D. auf Schloss Stechlin residiert. Sein einziger Sohn Woldemar ist als Dragoner in Berlin stationiert und verkehrt viel im Hause des Grafen von Barby, ebenso alt wie Dubslav von Stechlin, weil er die beiden Töchter des Hauses umwirbt – Melusine und Armgard, die schließlich seine Braut werden wird. Die eigentliche Handlung beschränkt sich auf einen Besuch Woldemars zusammen mit zwei Regimentskameraden bei seinem Vater und seiner Tante, der Vorsteherin des nahe gelegenen Kloster Wutz, die Werbungszeit um Armgard, die Hochzeit, die eher summarisch abgehandelt wird, und abschließend die Zeit der Krankheit und des Todes von Dubslav von Stechlin.

Den sozialen Hintergrund bilden die 90er Jahre des 19. Jahrhunderts mit den religiösen und sozialen Verwerfungen der Zeit: der immer noch starke Gegensatz zwischen Protestanten und Katholiken sowie der zwischen den konservativen Kräften (zu denen Dubslav ebenso zählt wie Graf Barby) und den aufkommenden sozialistischen und sozialdemokratischen Bewegungen (mit denen Woldemar zumindest sympathisiert, ohne als deren politischer Anhänger zu erscheinen). Quasi quer zu diesen Kräften wird immer erneut das Verhältnis der Geschlechter zueinander thematisiert, wobei die Sexualität immer wieder mit einer für die Zeit überraschenden Deutlichkeit thematisiert wird:

»Ich verheiratete mich, wie Sie wissen, in Florenz und fuhr an demselben Abende noch bis Venedig. Venedig ist in einem Punkte ganz wie Dresden: nämlich erste Station bei Vermählungen. Auch Ghiberti – ich sage immer noch lieber ›Ghiberti‹ als ›mein Mann‹; ›mein Mann‹ ist überhaupt ein furchtbares Wort – auch Ghiberti also hatte sich für Venedig entschieden. Und so hatten wir denn den großen Apennintunnel zu passieren.«
»Weiß, weiß. Endlos.«
»Ja, endlos. Ach, liebe Baronin, wäre doch da wer mit uns gewesen, ein Sachse, ja selbst ein Rumäne. Wir waren aber allein. Und als ich aus dem Tunnel heraus war, wußt’ ich, welchem Elend ich entgegenlebte.«
»Liebste Melusine, wie beklag’ ich Sie; wirklich, teuerste Freundin, und ganz aufrichtig. Aber so gleich ein Tunnel. Es ist doch auch wie ein Schicksal.«

S. 351

Das Buch lebt ganz und gar von seinen Charakteren – neben Dubslav von Stechlin bilden Melusine von Barby-Ghiberti und der lokale Pastor Lorenzen den Kernbestand, der von zahlreichen Nebenfiguren umstellt ist (auch Woldemar und Armgard müssen unter diese Nebenfiguren eingeordnet werden). Es verzichtet auf jeden Versuch, die zahlreichen anekdotischen Szenen durch irgendeine Form von artistischer Konstruktion einzubinden, sondern gibt sich mit einem lockeren Faden des Nacheinanders vollständig zufrieden (hierin ist der alte Fontane vielen zeitgenössischen Kollegen weit voraus). Es erscheint im formalen Sinne als künstlerisch schlicht und anspruchslos, doch könnte nicht besser sein, als es geworden ist. Ein Zeitbild, wie man es selten findet, aus der Feder eines der besten melancholischen Chronisten des ausgehenden 19. Jahrhunderts.

Theodor Fontane: Der Stechlin. Große Brandenburger Ausgabe. Das erzählerische Werk. Bd. 17. Berlin: Aufbau, 2001. Geprägtes und bedrucktes Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 716 Seiten. 48,– €.

Jorge Luis Borges: Der Erzählungen zweiter Teil

»Handelt es sich um ein Zitat?« fragte ich. »Gewiß doch. Uns bleiben nur noch Zitate. Die Sprache ist ein System von Zitaten.«

Dieser zweite Teil der gesammelten Erzählungen Borges’ enthält drei weitere Erzählbände:

  • David Brodies Bericht (1970)
  • Das Sandbuch (1975) und
  • Shakespeares Gedächtnis (1980/1983)

Man muss leider feststellen, dass diese Bände in der Hauptsache mehr von demselben liefern, das auch schon im ersten Teil vorherrschte: Machistische Messerstecher, Doppelgänger, besonders Doppelgänger von Borges selbst, unmögliche Gegenstände – das titelgebende Sandbuch etwa ist nur eine breitgetretene Fußnote aus der Bibliothek von Babel –, merkwürdige Kulturen und Sekten und Sektierer.

Meine guten Vorsätze hatten die ersten Seiten nicht überdauert; auf den folgenden standen dann die Labyrinthe, die Messer, der Mann, der sich für ein Abbild, das Spiegelbild, das sich für wirklich hält, der Tiger der Nächte, die Schlachten, die im Blut wieder aufleben, Juan Muraña blind und unselig, Macedonios Stimme, das Schiff, gebaut aus den Nägeln der Toten, das Altenglische, wieder aufgesagt an den Abenden.

S. 203

Das Buch ist angenehm zu lesen, doch zeigt es, wie eng der thematische Horizont Borges’ war, in dem er dann allerdings eine erstaunliche Fülle von erfundenen und wirklichen Tatsachen kunstvoll miteinander vermischt.

Jorge Luis Borges: Der Erzählungen zweiter Teil. Aus dem Spanischen übersetzt von Curt Meyer-Clason, Dieter E. Zimmer und Gisbert Haefs. Gesammelte Werke in zwölf Bänden, Band 6. München: Hanser, 42019. Kindle Edition. 258 Seiten. 9,99 €.

Thomas Mann: Frühe Erzählungen (1893–1912)

Die Menschen wissen nicht, warum sie einem Kunstwerke Ruhm bereiten.

Cover

Thomas Mann gilt den meisten Lesern in Deutschland nicht nur als einer der besten Roman-Autoren ihrer neueren Literatur, sondern auch als ein Meister der kürzeren Form. Um es gleich vorweg zu sagen: Ich teile diese Meinung nur sehr eingeschränkt. Zwar glaube ich, dass die Mehrzahl der Mannschen Romane zum Besten gehören, was die Tradition des 19. (sic!) Jahrhunderts hervorgebracht hat (auch hier gibt es durchaus Ausreißer), dagegen fallen jedoch seine Erzählungen im engeren Sinne deutlich ab, wenn man sie in ihrer Gesamtheit betrachtet. Sicherlich finden sich auch hier sorgfältig konstruierte und minutiös ausgeführte Stücke, aber in der Menge sind Manns Erzählungen oft seicht und scheinen geschrieben, um eben etwas geschrieben zu haben und gedruckt zu werden, selbstgefälliges, manieristisches Kunsthandwerk.

Der Weg zum Friedhof lief immer neben der Chaussee, immer an ihrer Seite hin, bis er sein Ziel erreicht hatte, nämlich den Friedhof. An seiner anderen Seite lagen anfänglich menschliche Wohnungen, Neubauten der Vorstadt, an denen zum Teil noch gearbeitet wurde; und dann kamen Felder. Was die Chaussee betraf, die von Bäumen, knorrigen Buchen gesetzten Alters flankiert wurde, so war sie zur Hälfte gepflastert, zur Hälfte war sie’s nicht.

Auch inhaltlich sind einige der frühesten Stücke eher verstörend (etwa Gefallen, Luischen oder Tobias Mindernickel), ohne dass ich erkennen könnte, dass sie auf mehr als einen Effekt abzielen.

Nun bin ich sofort bereit zuzugestehen, dass diese Texte nicht geschrieben wurden, um in einem Zuge und direkt nacheinander gelesen zu werden; die daraus resultierende Wahrnehmung erzeugt wohl ein vergleichendes, ungerechtes Urteil gerade für die schwächeren Stücke, das durch eine Rezeption der Stücke über den längeren Zeitraum hinweg gemildert würde.

Bleiben die beiden zu recht bekannteren Stücke Tonio Kröger (ein Seitenstück zu Buddenbrooks) und Der Tod in Venedig, die bei der jetzigen erneuten Lektüre aber bei weitem nicht mehr die Wirkung auf mich hatten wie vor über 30 Jahren. Doch das liegt natürlich an mir; ich bin einfach nicht mehr geeignet für solch eher gestellten als gekonnten Stücke.

Insgesamt mehr „naja, soso“ als alles andere.

Thomas Mann: Frühe Erzählungen. 1893–1912. In der Textfassung der Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe. Kindle-Edition. Frankfurt: Fischer, 22008. 604 Seiten (in der Druckfassung; die Seitenzählung der Kindle-Ausgabe ist defekt). 9,99 €.

Jorge Luis Borges: Der Erzählungen erster Teil

Noch bin ich, wiewohl nur teilweise, Borges.

Es gibt wohl keinen ernsthaften Leser, der nicht irgendwann in seinem Leben auf Die Bibliothek von Babel stößt oder gestoßen wird. Allein daraus könnte man die These ableiten, dass Jorge Luis Borges einer der bekanntesten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts sein muss, wenigstens unter denen, auf die es ankommt.

Die Bibliothek von Babel beschreibt ein anscheinend unbegrenztes sphärisches Universum, das im Wesentlichen nur aus sechseckigen Räumen, Verbindungsgängen und Treppen besteht. In jedem der Räume bestehen vier der Wände aus jeweils fünf Bücherregalen mit immer 32 Büchern, von denen jedes 410 Seiten hat; „jede Seite hat vierzig Zeilen; jede Zeile etwas achtzig Zeichen von schwarzer Farbe“. Die Bücher sind außen beschriftet, aber es kann in der Regel vom Titel des Bandes, so er überhaupt einen Sinn hat, nicht auf den Inhalt des Buches geschlossen werden. Diese Bibliothek wird von Bibliothekaren bewohnt, deren Hauptaufgabe darin besteht, den ihnen erreichbaren Teil der Bibliothek nach sinnvollen Zeichenkombinationen in den Büchern zu durchsuchen, denn ihr Inhalt besteht aus zufälligen Aneinanderreihungen von 25 alphabetischen Symbolen (22 Buchstaben, Punkt und Komma sowie das Leerzeichen). Wovon diese Bibliothekare leben, wie sie sich ernähren, bleibt unerwähnt.

Es haben sich mit der Zeit unter den Bibliothekaren einige Annahmen über die Bibliothek durchgesetzt; dazu gehört die These, dass die Bibliothek alle möglichen Kombinationen der 25 Symbole enthält; allerdings hat es in früheren Zeiten Versuche gegeben, sich gegen die Hoffnungslosigkeit, die die Bibliothek in den Bibliothekaren erzeugt, dadurch zu erwehren, dass man systematisch Bücher vernichtet hat; doch hat dies kaum Auswirkungen auf den Bestand der Bibliothek, denn zu jedem vernichteten Buch gibt es zahllose Kopien, die von dem vernichteten nur um ein oder zwei Symbole abweichen. Naturgemäß enthalten die meisten Bände unlesbare Zeichenfolgen, wobei nicht ausgeschlossen werden kann, dass diese Zeichenketten in einer vergangenen oder zukünftigen Sprache sinnvolle Texte ergeben. Doch kaum ein Bibliothekar hat in seinem Leben mehr als eine Handvoll lesbarer Einzelstellen zu sehen bekommen.

Eines [der Bücher], das mein Vater in einem Sechseck des Umgangs 1594 erblickte, bestand aus den Buchstaben M C V, in perverser Wiederholung von der ersten bis zur letzten Zeile. Ein anderes (das in dieser Zone oft konsultiert wird) ist ein reines Buchstabenlabyrinth, aber auf der vorletzten Seite steht: O Zeit deine Pyramiden. Man ersieht hieraus: Auf eine vernünftige Zeile oder korrekte Notiz entfallen Meilen sinnloser Kakophonien, sprachlichen Plunders, zusammenhanglosen Zeugs.

S. 161

Eine andere Sicht auf die Bibliothek versteht aber, dass irgendwo in ihr auch alle Meisterwerke der Literatur aller Zeiten verborgen sein müssen und das wiederum unzählige Male. Irgendwo gibt es den unwiderlegbaren Beweis, dass Shakespeare mit Queen Elizabeth identisch war, in einem anderen, dass es sich bei seinen Werke um eine geschickte Fälschung Goethes handelt. Ebenso findet man die schlüssigen Beweise für jede bekannte und unbekannte Verschwörungstheorie ebenso wie deren Widerlegung, ja es muss Bücher geben, in denen Beweise und Gegenbeweise sich in den Sätzen Wort für Wort abwechseln. Und es gibt ein Buch, in dem die Wirklichkeit der Welt enthüllt wird, also einen Katalog der Kataloge der Bibliothek, durch den jedes Buch direkt erreichbar wird. Leider gibt es auch endlos viele Fälschungen dieses Katalogs. Und gleichgültig wie viele Fälschungen es gibt, niemand wird sie je in dem Ozean des Unlesbaren finden.

Je länger man über dieses im Grunde recht einfach entworfene Labyrinth nachdenkt, desto tiefer und desaströser wird es: Wenn man beginnt zu begreifen, dass unsere wirklichen Bücher nur eine verschwindende Teilmenge der Bibliothek von Babel sind und nichts sie davor schützt, gänzlich unerheblich zu sein, weil sich in ihr nicht nur viel größere Meisterwerke mit Notwendigkeit finden, sondern weil es auch ein Buch dort gibt, dass unsere gesamte Kultur unrettbar der Banalität übergibt. Manche Gedankenspiele sind geeignet, einen zur Verzweiflung zu bringen.

Nun ist Die Bibliothek von Babel nur eine von zahlreichen Erzählungen in diesem Buch. Es enthält drei Erzählbände von Borges: Universalgeschichte der Niedertracht (1934), Fiktionen (1944) und Das Aleph (1949). Während die Universalgeschichte der Niedertracht hauptsächlich Biographien von Betrügern, Seeräubern, Mördern und anderen Verbrechern enthält (Borges hat auch später noch eine große Neigung dazu gehabt, obskure Biographien, Fakten und Fiktionen zu sammeln), finden sich auch Paraphrasen von Erzählungen aus anderen Quellen. Fiktionen bringt zahlreiche phantastische Erzählungen, die zumeist einen einzigen zentralen Gedanken oder ein einziges zentrale Motiv in die Konsequenzen ausspinnen; darunter findet sich auch die oben vorgestellte Bibliothek von Babel. Das Aleph kann als eine Fortsetzung und Mischung der Tendenzen der beiden Vorgängerbände angesehen werden.

Borges, der immer nur in kleinen Formen (Erzählung, Anekdote, Lemma, Gedicht) exzelliert hat, muss als einer der ganz großen Meister der Literatur des 20. Jahrhunderts angesehen werden. Die Fülle seines oft entlegenen Wissens, seiner originellen Einfälle und seiner ausgesuchten Sprache machen jedes seiner Bücher zu einem gänzlich eigenen Lese-Abenteuer. Jeder und jedem, der ihn noch nicht gelesen hat, sei geraten, es mit zumindest einem der beiden Erzählbände aus der Hanser-Werkausgabe (insgesamt 12 Bände) zu versuchen; alle Bände der Ausgabe sind zu Taschenbuch-Preisen als eBooks verfügbar.

Jorge Luis Borges: Der Erzählungen erster Teil. Aus dem Spanischen übersetzt von Karl August Horst, Wolfgang Luchting und Gisbert Haefs. Gesammelte Werke in zwölf Bänden, Band 5. München: Hanser, 42019. Kindle Edition. 459 Seiten. 11,99 €.

Wird fortgesetzt …

Friedhelm Rathjen: Joyce

Cover

Es gibt einige Autoren, bei denen es sinnvoll ist, sich einer Art von Reiseführer zu bedienen, um ihr Werk zu erkunden; Joyce gehört sicherlich zu ihnen. Joyce hatte von Anfang an und je länger je mehr eine besondere Auffassung von der Funktion poetischer Sprache, ein Bewusstsein dafür, dass Sprache in gewisser Weise unsere Wahrnehmung der Welt mitbestimmt und die Verwendung eines bestimmtem Stils – sei er etwa romantisch, idealistisch oder realistisch – einen ebenso bestimmten Blick auf die Welt zu erzeugen vermag. Er selbst fand in sich eine Souveränität in der Verfügung über diese Stile und Stilebenen vor, ein Verfügen über die Sprache und Sprachen, und so schrieb er sein vermutlich wichtigstes Buch Ulysses von diesem Standpunkt der sprachlichen Vielfalt aus: Der Inhalt des Buches hatte sich der Sprache des bzw. den Sprachen der Erzähler anzupassen, nicht umgekehrt, und das große Kunststück war es, dennoch einen Roman daraus entstehen zu lassen.

Da die meisten Leser von diesem Verfahren wenig ahnen, wenn sie beginnen, den Ulysses zu lesen, scheitern die meisten; sehr oft im dritten Kapitel, in dem Stephen Dedalus am Strand spazieren geht und über die unumgehbare Visualität der Welt philosophiert – ihm ist am Tag zuvor seine Brille zerbrochen, aber das erführe der Leser erst viel, viel später im Buch, wenn er denn nicht hier und jetzt aufgeben würde –, und der unbedarfte Leser weder begreift, was er da liest (was auch gar nicht so wichtig ist; wichtig ist viel mehr, Stephen als einen studierten Philosophen vorzuführen, der auf konkrete Probleme mit sehr abstrakten Gedanken zu reagieren neigt) geschweige denn, warum er das lesen soll.

Nun ist Joyce keiner jener freundlichen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, die ihre Leser an der Hand nehmen und durch den Roman führen, sie auf dies aufmerksam machen, ihnen jenes erklären, ihnen bei einem Dritten nahelegen, es sich gut zu merken, denn er werde es später noch einmal gebrauchen können. Bei Joyce stürzt der Roman auf uns ein wie eine neue Welt, vieles kommt gleichzeitig und das meiste fügt sich erst sehr viel später zu einem sinnvollen Gebilde. Und aus all diesen Gründen ist es nützlich, sich vor der Lektüre der Joyceschen Werke zuerst einmal eine kurze Einführung einzuführen.

Eine dieser Einführungen hat der Joyce-Kenner und -Übersetzer Friedhelm Rathjen nun erneut im eigenen Verlag aufgelegt. Das Buch ist eine Überarbeitung der im Jahr 2004 bei Rowohlt erscheinen Bild-Monographie mit dem Vorteil, dass die Neuausgabe die Lebensbeschreibung und die Einführung ins Werk entzerrt und sie auf diese Weise leichter einer gezielten Lektüre dienen kann. Nach einer für den Einstieg vollständig ausreichenden Biographie, die zugleich auch die Entwicklung der Joyceschen Ästhetik nachzeichnet, folgen Kapitel zu einzelnen Werken, wobei auch eher unbekannten wie dem frühen Gedichtband Kammermusik oder auch dem Text Giacomo Joyce eigene Abschnitte gewidmet sind. Dabei ist allen Werkbesprechungen zu eigen, dass sie nur behutsame Hinweise geben, ohne einer selbstständigen Lektüre im Weg zu stehen.

Allen, die einen ersten Überblick über Joyce gewinnen wollen, bevor sie sich in das Abenteuer der Lektüre dieses Weltautors stürzen, sei der Band anempfohlen.

Friedhelm Rathjen: Joyce. Einführung in Leben und Werk. Südwesthörn: Ǝdition RejoycE, 2023. Bedruckte Broschur, 152 Seiten. 17,– €. Bestellung per E-Mail direkt beim Verlag.

Adalbert Stifter: Der Nachsommer

Drei starke Bände! Wir glauben nichts zu riskieren, wenn wir demjenigen, der beweisen kann, daß er sie ausgelesen hat, ohne als Kunstrichter dazu verpflichtet zu sein, die Krone von Polen versprechen.

Friedrich Hebbel

Von Stifter kannte ich bislang nur einige Erzählungen, die zwar etwas konstruiert, aber sonst ganz angängig zu sein schienen. Seine beiden Romane hatte ich – unter dem Vorurteil der Verrisse Arno Schmidts stehend – gemieden. Doch Ende des letzten Jahres war ich im Bücherschrank durch Zufall in die Nähe der kleinen Werkausgabe geraten und hatte, aufgrund des schlechten Gewissens wegen meines schlecht begründeten Vorbehalts, den Band mit Der Nachsommer herausgezogen und auf den Schreibtisch gelegt. Ich habe mich nun durch den ersten Band hindurchgequält und dann die Lektüre aufgegeben. Kurz gesagt: Es ist fürchterlich!

STIFTER’s ›Nachsommer‹ liest sich, zumal im Dialog der ›Gestalten‹, so steiff, als sei das Buch von einem schlechten Übersetzer, um 1850, nach einem nicht guten Original übertragen: Deine Tochter, mein Freund, hat eine schöne Stirn. (Tja, man müßte ihn tatsächlich übersetzen. Stell’n Sie sich ma vor: ›STIFTER, ›Nachsommer‹, Deutsch von Arno Schmidt‹ – capitaler Einfall; ich lach’ jetz schon!)

Arno Schmidt: Julia, oder die Gemälde. BA IV/4, S. 49

Das Ding will einen Entwicklungsroman nach Goethescher Manier vorstellen und übersteigert dabei die abstrakte Prosa des Weimarer Meisters aufs Äußerste. Beinahe alles bleibt im Allgemeinen stecken (ich gebe zu: Hier und da werden einige Blumen und Bäume konkret benannt):

Mein alter Gastfreund saß in einem Lehnsessel und erzählte. Er beschrieb eine Erscheinung, er machte die Erscheinung recht deutlich, zeigte sie, wenn es möglich war, mit den Vorrichtungen seiner Sammlung, oder wo dies nicht möglich war, suchte er sie durch Zeichnung oder Versinnbildlichung darzustellen. Dann erzählte er, auf welchem Wege die Menschen zur Kenntnis dieser Erscheinung gekommen waren. Wenn er dieses vollendet hatte, tat er das gleiche mit einer zweiten, verwandten Erscheinung. Und wenn er nun einen Kreis von zusammengehörigen Erscheinungen, der ihm hinlänglich schien, ausgeführt hatte, dann hob er dasjenige, was allen Erscheinungen gleichartig ist, hervor und stellte die Grunderscheinung oder das Gesetz dar.

S. 190

Wenigstens an einem einzigen konkreten Beispiel wünschte man sich diese Unterrichtsmethode vorgeführt, aber nichts dergleichen ist zu erwarten.

Der Erzähler ergeht sich in zeilenschindenden Wiederholungen, als rede er zu einer Versammlung von Deppen:

Wir stiegen gegen jene Wiese hinan, von der mir mein Gastfreund gestern gesagt hatte, daß sie die nördliche Grenze seines Besitztums sei, und daß er sie nicht nach seinem Willen habe verbessern können. Der Weg führte sachte aufwärts, und in der Tiefe der Wiese kam uns in vielen Windungen ein Bächlein, das mit Schilf und Gestrippe eingefaßt war, entgegen. Als wir eine Strecke gegangen waren, sagte mein Begleiter: »Das ist die Wiese, die ich Euch gestern von dem Hügel herab gezeigt habe, und von der ich gesagt habe, daß bis dahin unser Eigentum gehe, und daß ich sie nicht habe einrichten können, wie ich gewollt hätte. […]«

S. 121

Und dann der gesellige Umgang der Figuren miteinander:

Die Gespräche waren klar und ernst, und mein Gastfreund führte sie mit einer offenen Heiterkeit und Ruhe.

S. 215

Mit Inhalten oder gar verschiedenen Meinungen zu einer konkreten Sache werden wir nicht behelligt; überhaupt sind in den meisten Fällen alle Pappkameraden des Romans einer einzigen, ganz und gar vernünftigen Meinung. Dass es eine andere bei anderen geben könne, ist ihnen wohl als Möglichkeit bewusst, aber solcher Leute Erwähnung zu tun, würde eine Zumutung und Störung darstellen, die weder den Figuren noch dem Leser zugemutet werden kann.

Sie begab sich auch gerne in die Speisekammer, in den Keller oder an andere Orte, die wichtig waren.

S. 222

Man denke nur, sie hätte sich an Orte begeben, die unwichtig waren! Der Roman wäre sogleich in Stücke gesprungen.

Mir fiel es auf, daß er die Frau als ersten Gast zu dem Platze mit den Tellern geführt hatte, den in meiner Eltern Hause meine Mutter einnahm, und von dem aus sie vorlegte. Es mußte aber hier so eingeführt sein; denn wirklich begann die Frau sofort die Teller der Reihe nach mit Suppe zu füllen, die ein junges Aufwartemädchen an die Plätze trug.
Mich erfüllte das mit großer Behaglichkeit. Es war mir, als wenn das immer bisher gefehlt hätte.

S. 215

Wohlgemerkt: Die Teller wurden wirklich (!) der Reihe nach (!) mit Suppe gefüllt! Kein Wunder, dass dem Erzähler dies bislang gefehlt hatte.

Und so geht es in einem fort: Ein sinnloses Durch- und Nacheinander von überflüssigen Details und abstraktester Ungegenständlichkeit, von sinnlosestem Durch-die-Gegend-Laufen, um wenigstens so etwas wie den Anschein einer Handlung zu simulieren, und anderen bei der Arbeit zuschauen. Dann fährt man irgendwelche Nachbarn besuchen, die ebensolche Abziehbilder darstellen wie die bisherigen Figuren und die in der Hauptsache dazu dienen, einen Kontrast zu dem höchst idealen Haushalt des alten Gastfreundes zu liefern. Und das alles wird geschildert, ohne eine einzige erzählerische Mine zu verziehen, vollständig ironie- und humorfrei.

Ich habe mich aus der Literarhistorie schlau gemacht, was in den beiden nachfolgenden Bänden noch als Handlung herhalten muss; lesen muss ich das nicht. Und wahrscheinlich auch niemand sonst.

Adalbert Stifter: Der Nachsommer. Zürich: Ex Libris, o. J. [1978]. Lizenzausgabe der Ausgabe beim Winkler Verlag, 1949. Kunstleder, Fadenheftung, Lesebändchen, 766 Seiten Dünndruck. In dieser Ausgabe selbstverständlich nicht mehr lieferbar.

William Beckford: Träume, Gedankenspiele und Begebenheiten

Dieses Buch hat eine recht merkwürdige Entstehungs- und Publikationsgeschichte: Beckford wurde 1780 im Alter von 20 Jahren von seiner Familie auf die unter Adeligen und reichen Bürgern nicht unübliche Grand Tour geschickt, bei der die jungen Männer Europa kennenlernen, sich eine gewisse Weltläufigkeit und eventuell auch eine sexuelle Vorschule für ihr späteres Eheleben aneignen sollten. Beckford füllte auf der Reise eine Reihe von Notizbüchern, auf deren Grundlage er dann eine Art Gedächtnisprotokoll in Form von Briefen an einen fiktiven Freund, einen Maler entwarf. Das Buch wurde 1783 abgeschlossen und gedruckt, dann aber auf Druck der Familie zurückgezogen und eingestampft; 5 von 500 Exemplaren haben überlebt. Beckford hat das Material dann in seinem sehr viel kon­ven­tio­nel­le­ren Reisebuch Italy, with sketches from Spain and Portugal (1834) verwendet. Die ursprüngliche Fassung wurde erst 1891 im Umfeld der Wiederentdeckung von Beckfords Vathek publiziert. Nun liegt die erste deutsche Übersetzung des Buches vor.

Beckford erweist sich auch hier als ein durchweg origineller Kopf. Im Text zeigt er sich als einen klassisch breit gebildeten Autor, der in der Hauptsache an Malerei interessiert ist und das für seine reisenden Zeitgenossen übliche Abklappern der anerkannten Sehenswürdigkeiten eher für Zeitverschwendung hält. Reizvoll ist die Lektüre besonders im Vergleich mit anderen Reiseberichten der Zeit (Smollett, Sterne (der vom Verlag auf dem Pappschuber zum Buch unternommene Versuch, Beckfords Buch mit dem Sternes in Verbindung zu bringen, ist natürlich Unfug), Goethes Vater, Herder, Goethe, Goethes Sohn etc. pp.), wobei Beckford durchaus eine sehr bestimmte und eigenständige Stimme liefert.

Eine recht vergnügliche Lektüre, wenn man keine konventionelle Reiseliteratur erwartet. Zu empfehlen ist, das Buch in eher kleinen Portionen zu sich zu nehmen, um nicht die Geduld mit dem sprunghaften und selbstverliebten Erzähler zu verlieren.

William Beckford: Träume, Gedankenspiele und Begebenheiten in einer Reihe von Briefen aus verschiedenen Gegenden Europas. Aus dem Englischen von Wolfram Benda. Berlin: Aufbau, 2022. Bedruckter Pappband, Fadenheftung, Lesebändchen, 351 Seiten. 44,– €.

Joseph Conrad: Lord Jim (2)

Vor knapp vier Jahren habe ich Lord Jim in der Übersetzung durch Manfred Allié hier vorgestellt und das Buch, mit Ausnahme der Ausstattung, sehr gelobt. Nun hat in diesem Jahr der Hanser Verlag eine Neuübersetzung durch Michael Walter, einen der besten Übersetzer aus dem Englischen, vorgelegt. Ich habe Walters Übersetzung jetzt kursorisch gelesen und stichprobenhaft beide Übersetzungen und das Original miteinander verglichen.

Auf Manfred Allíe war ich zuerst durch seine Übersetzung von Das Herz der Finsternis gestoßen, die sich als erste Übersetzung erfolgreich darum bemühte, den Ton des englischen Originals ins Deutsche zu transportieren. Nun stellt Lord Jim andere Anforderungen an den Übersetzer, aber ich fand, auch hier hatte sich Allíe aufs Beste bewährt. Trotzdem muss ich nun zugeben, dass die Lektüre von Walters Übersetzung eine reine Freude ist. Sein Deutsch ist von einer erstaunlich schlichten Eleganz, mit nautischen Begriffen durchsetzt, so wie es sich auch bei Conrad findet; vielleicht ist die Lektüre ein wenig zu widerstandslos, wenn man es mit dem Original vergleicht, aber es ist hier ein her­aus­ra­gen­des Sprachkunstwerk gelungen. Beim Vergleich mit dem Original fällt auf, dass Walter im Zweifel immer versucht, in Struktur und Wortwahl sehr nah am Original zu bleiben. Ich würde von der Übersetzung Allíes nicht abraten, aber wer es sich leisten kann, sollte – auch weil er das unvergleichlich viel schönere und besser gemachte Buch erhält–, unbedingt zur Übersetzung von Michael Walter greifen.

Joseph Conrad: Lord Jim. Aus dem Englischen von Michael Walter. München: Hanser, 2002. Leinen, Fadenheftung, zwei Lesebändchen, 640 Seiten Dünndruck. 36,– €.

William Beckford: Vathek

Jedermann fiel ohne den geringsten Widerstand oder Kampf: so daß Vathek sich schon innerhalb weniger Augenblicke von den Leichen seiner getreusten Untertanen umgeben sah; welche sämtlich auf den Haufen geworfen wurden.

Da gerade William Beckfords italienisches Reisebuch Dreams, Waking Thought, and Incidents zum ersten Mal auf Deutsch erschienen ist, habe ich seinen sogenannten Roman Vathek noch einmal aus dem Bücherschrank geholt und die nur noch vage Erinnerung aufgefrischt. Der Text soll nach einer vom Autor kolportierten Legende im Jahr 1782 (Beckford war gerade 21 Jahre alt) innerhalb von nur drei schlaflosen Tagen auf Französisch niedergeschrieben worden sein, was man angesichts der gelieferten literarischen Qualität durchaus glauben mag. Erstmals veröffentlicht wurde er 1786 anonym in englischer Übersetzung, wobei der Übersetzer gleich die nächste Legende aufsetzte, in dem er behauptete, er habe den Text direkt aus dem Arabischen übersetzt. Obwohl das Buch durchaus dem modischen Interesse an orientalischen Erzählungen entgegenkam, war das Buch kein Erfolg und wurde in der Hauptsache von anderen Schriftstellern rezipiert. Beckford blieb den meisten seiner Zeitgenossen eher als verrückter Exzentriker bekannt, denn als Künstler oder Schriftsteller.

Seine eigentliche Karriere machte Vathek erst nach seiner Wie­der­ver­öf­fent­li­chung 1891. Er bediente perfekt die Faszination an und das phantastische Spiel mit der Dichotomie von Gut und Böse – das vom Autor ohnehin nur apologetisch angeklebte „moralische“ Ende ließ sich bequem ignorieren – und den westeuropäischen Geschmack an orientalischer Üppigkeit. So wurde Vathek nachträglich als Quelltext einer bösen Phantastik kanonisiert.

Erzählt wird die Geschichte des Kalifen Vathek, der in einem sehr erfundenen Orient sich dem Bösen verschreibt und versucht, die absolute Macht zu erreichen, über die er – zumindest nach Ausweis der Erzählung – ohnehin bereits verfügt. Der Text ist vollständig anekdotisch gebaut, widerspricht sich auch auf kurzen Strecken gern selbst und exzelliert einzig in einer üppigen, grausamen, aber auch gern sexuellen Phantasie, die ihn für die meisten zeitgenössischen Leser sicherlich unzumutbar machte. Nicht dass nun jemand zu viel erwartet: Nach dem heutigen Geschmack ist der Text so dezent, dass gerade das Sexuelle nur andeutungsweise zu finden ist; aber das 18. Jahrhundert hatte da noch gänzlich andere Em­pfind­lich­kei­ten.

Die Handlung ist kaum der Rede wert und muss daher auch nicht nacherzählt werden. Der Protagonist ist ein brutaler Aufschneider und Verschwender, der unter dem Pantoffel seiner machthungrigen und vom Bösen faszinierten Mutter steht, die ihn geradewegs im wörtlichen Sinne zur Hölle schickt. Am Ende werden, wie schon angedeutet, die Bösen zwar bestraft, aber das hat mit dem vorherigen Text kaum etwas zu tun und ist erzählerisch auch in keiner Weise vorbereitet.

Wer Lust am Zelebrieren des Bösen um des Bösen willen hat, wird hier sein Vergnügen finden; alle, die derartigen Mummenschanz eher albern finden, können sich die Lektüre beruhigt sparen. Warnen möchte ich aber vor der Übersetzung Franz Bleis (1907), die über Strecken nur so ungefähr etwas mit dem Original zu tun hat.

Willam Beckford: Vathek. Eine orientalische Erzählung. Aus dem Englischen von Wolfram Benda. Mit 11 Illustrationen von Gottfried Helnwein. München: Artemis/Winker, 1987. Leinen, Fadenheftung, 196 Seiten. Diese Ausgabe ist nur noch antiquarisch greifbar, der Text selbst aber leicht im Internet zu finden.