Arkadi und Boris Strugatzki: Gesammelte Werke 2

Die größte Heldentat der Menschheit besteht darin, dass sie überlebt hat und gewillt ist, das auch weiterhin zu tun …

Strugatzki_Werke_2Der zweite Band der Strugatzki-Werkausgabe enthält zwei kürzere und einen längeren Roman (das Deutsche hat keine richtige Entsprechung zu der russischen Form der Noveletta, der längeren Novelle, die zwischen Erzählung und Roman angesiedelt ist; auch Arno Schmidts Begriff »Kurzroman« passt aufgrund der in Schmidts Poetik damit verknüpften Implikationen nicht gut), die sich mit einigem guten Willen als Variationen eines gemeinsamen Themas lesen lassen: Der Konfrontation der Menschheit mit einem ihr prinzipiell unbegreiflichen Universum. Allgemeines zur Werkausgabe ist bereits anlässlich von Band 1 gesagt worden, deshalb gleich zu den Texten:

»Picknick am Wegesrand« (1972) ist, wie früher schon einmal angemerkt, aufgrund der Verfilmung von Andrei Tarkowskis einer der bekanntesten Texte der Brüder Strugatzki, auch wenn sich der Film auf eine einzelne Sequenz des Textes konzentriert. Die Handlung des Romans ist in der damals näheren Zukunft angesiedelt und spielt im nordamerikanischen Ort Hammond, in dem eine von weltweit sechs Zonen liegt, in der offenbar Außerirdische gelandet waren. Sie haben die Zonen aber nach kurzem Aufenthalt wieder verlassen, ohne mit der Menschheit irgend einen Kontakt aufzunehmen, und haben bei ihrer Abreise eine erhebliche Menge Zivilisationsmüll und extraterrestrische Flora hinterlassen. Alle Zonen sind aufgrund ihrer Gefährlichkeit und Unberechenbarkeit abgesperrt und werden unter Überwachung von UN-Truppen von entsprechenden Regierungsorganisationen untersucht. Neben dieser offiziellen Auswertung der Zonen gibt es aber auch ihre illegale Ausplünderung durch sogenannte Stalker.

Beim Protagonist des Text handelt es sich um den Anfangs 23-jährigen Stalker Roderic Schuchart, der bereits einmal wegen seines Eindringend in die Zone verhaftet und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde. Nach einer kurzen Episode legaler Arbeit für die Regierungsseite beginnt er wieder mit der illegalen Beschaffung von Artefakten aus der Zone für zwielichtige Abnehmer, die sie entweder an Sammler oder auch die Industrie weiterverkaufen. Mit den meisten der Artefakte weiß man zwar nichts anzufangen, da man weder ihren Aufbau noch ihre (auf den ersten Blick oft zu den bekannten Naturgesetzen im Widerspruch stehende) Funktion versteht, doch hegen offenbar viele Interessenten die Hoffnung auf umwälzende technische Entdeckungen, die die Geschäfte der Stalker am Leben erhält. Dies alles liefert das Rückgrat der Fabel des Romans.

Wesentlich für den Erfolg des Textes ist aber wohl die philosophische Ebene: Die Zonen konfrontieren die Menschheit offen mit der Beschränktheit ihres wissenschaftlichen Verständnisses des Universums. Zentrale Metapher für dieses mangelnde Verständnis ist die titelgebende Vorstellung, die von einem der mit der Zone befassten Wissenschaftler ganz nebenbei entwickelt wird: Die Zonen seien die Folge eines Picknicks am Wegesrand. Eine der Menschheit weit überlegene Zivilisation habe auf der Erde kurz Station gemacht, ohne sich für sie oder die Menschheit überhaupt zu interessieren. Ihre Hinterlassenschaft sei für die Menschen ebenso rätselhaft, unbegreiflich und gefährlich, wie es die Überreste eines menschlichen Picknicks für die Insekten auf einer Waldlichtung sind. Ein solches Konzept der Begegnung der Menschheit mit Außerirdischen, in der die Menschen nicht die Rolle einer zwar technologisch unterlegenen, dafür aber geistig mindestens gleichrangigen Zivilisation spielen, sondern von den Besuchern nicht einmal als Wesen gleicher Art wahrgenommen werden, bricht radikal mit den allenthalben gebräuchlichen Klischees des Genres und macht den eigentlichen Reiz dieser Utopie aus. Eine vergleichbar ironische Behandlung der Zukunftsträume der Science-Fiction findet sich wohl sonst nur noch bei Stanislaw Lem.

»Eine Milliarde Jahre vor dem Weltuntergang« (1976) variiert das Thema des unbegreiflichen Universums: Auch in dieser längeren Erzählung wird die Menschheit angesichts des Universums marginalisiert. Im Zentrum steht eine kleine Gruppe miteinander befreundeter Moskauer Wissenschaftler verschiedener Disziplinen um den Astronomen Maljanow, deren Mitglieder zufällig alle vor einem entscheidenden wissenschaftlichen Durchbruch zu stehen scheinen, aber durch diverse äußere Umstände und störende Zufälle an der Vollendung ihrer Arbeit gehindert werden. Nachdem sie sich gegenseitig ihre skurrilen Erlebnisse, die offensichtlich von Bulgakows »Der Meister und Margarita« inspiriert sind, erzählt haben, entwickeln sie diverse Verschwörungstheorien, die in der Theorie des mathematischen Genies der Gruppe gipfeln, dass es wahrscheinlich die Struktur des Universums selbst ist, die der Menschheit Widerstand entgegensetzt, um sie daran zu hindern, Erkenntnisse zu entwickeln, die zur Zerstörung des Universums selbst führen könnten. Dies wiederum führt ihn zu einer Haltung des Trotzdem, die als sowjetische Version des existenzialistischen »Mythos vom Sisyphos« gelesen werden kann:

Euer Bestreben, die Ursachen zu ergründen, ist nichts als eitle Neugier. Ihr braucht aber gar nicht herauszufinden, wer womit Druck auf euch ausübt, sondern wie ihr Euch unter Druck verhalten sollt. Und das wird bedeutend schwerer, […] denn von jetzt an ist jeder von euch auf sich allein gestellt.

»Das Experiment« (entstanden zwischen 1969 und 1975, veröffentlicht 1987; auch unter dem Titel »Stadt der Verdammten« eingedeutscht) wurde von den Brüdern Strugatzki bewusst für die Schublade geschrieben. Es war ihnen während der Niederschrift bereits klar, dass dieser Roman, der mit etwa 475 Seiten mehr als die Hälfte des Bandes einnimmt, unter den politischen Bedingungen der Sowjetunion undruckbar sein würde. Sie hielten ihn sogar für so gefährlich, dass sie ihn nicht einmal als Samizdat oder auch nur als Typoskript unter Freunden kursieren ließen. Insgesamt gab es nur drei Sicherheitskopien des fertigen Romans, die an unterschiedlichen Orten eingelagert waren, um eine vollständige Vernichtung des Textes nach Möglichkeit zu verhindern.

Erzählt wird von einer Gesellschaft im Reagenzglas: Offenbar wirbt eine außerirdische Zivilisation auf der Erde Freiwillige an, die in eine künstliche Welt versetzt werden. Es handelt sich um Menschen aller Nationen und verschiedener Zeitalter, die einander allerdings auf wundersame Weise gegenseitig verstehen könne, weil sie alle glauben, jeder andere spreche ihre Muttersprache. Sie alle wissen, dass sie an einem Experiment teilnehmen, von dem sie allerdings Sinn und Zweck nicht kennen. Im Zentrum steht der jungen Andrej Woronin, seiner Ausbildung nach Astronom und – wenigstens anfänglich – glühender Anhänger einer kommunistischen Gesellschaftsordnung. Zu Beginn der Handlung arbeitet er als Müllmann, da die Gesellschaft des Experiments unter anderem durch regelmäßigen Berufswechsel ihrer Mitglieder in Bewegung gehalten wird. Die Bewohner vermuten, dass das Experiment schon längere Zeit andauert, da sich im Norden der Stadt, in der sie leben, verlassene Ruinen finden; noch weiter nördlich vermutet man eine Eiswüste. Im Süden der Stadt sind Farmer angesiedelt, die für die Ernährung der Stadtbevölkerung sorgen; noch weiter südlich finden sich unpassierbare Sümpfe. Im Osten und Westen ist der Lebensraum durch einen Abgrund bzw. eine steil aufragende Wand begrenzt, die beide nicht besteigbar sind.

Woronin durchläuft, ähnlich wie Maxim Kammerer in »Die bewohnte Insel«, eine Reihe äußerlicher Veränderungen, die ihn langsam, aber sicher zu einer distanzierteren Sicht auf das Experiment führen: Als Kriminalkommissar durchlebt er eine traumhafte phantastische Episode in einem wandernden Haus; nach dem gewaltsamen Umsturz eines ehemaligen faschistischen Offiziers wird er Minister des neuen Diktators und in dieser Funktion mit einer Expedition in den Norden beauftragt. Die Erzählung endet, nachdem beinahe alle Expeditionsmitglieder gewaltsam zu Tode gekommen sind, mit einer visionären Wanderung zum Rand dieser künstlichen Welt, von der unklar bleibt, inwieweit sie sich in der Wirklichkeit oder nur noch in der Phantasie des Protagonisten abspielt.

»Das Experiment« ist sicherlich einer der ambitioniertesten und vielschichtigsten Texte der Brüder Strugatzki; gleichzeitig ist er einer der langatmigsten, ohne dass einfach erkennbar wäre, dass seine Länge und erzählerische Umständlichkeit tatsächlich notwendig sind. Dann und wann hatte ich den Verdacht, dass es nicht allen Schriftstellern gut bekommt, zu wissen, dass der Text, den sie schreiben, wahrscheinlich nie dem kritischen Blick einer breiten Öffentlichkeit ausgesetzt sein wird. Als Allegorie der menschlichen Existenz oder auch spezieller der sowjetischen Gesellschaft gelesen, dürfte sich der Roman aber als überaus ergiebig erweisen. Nur muss der Leser akzeptieren, dass auch die Autoren in dem Experiment, an dem wir alle teilnehmen, keinen Sinn und Zweck zu entdecken vermochten.

Arkadi und Boris Strugatzki: Gesammelte Werke 2. 3 Romane in einem Band. Deutsch von Aljonna Möckel (»Picknick am Wegesrand«), Welta Ehlert (»Eine Milliarde Jahre vor dem Weltuntergang«) und Reinhard Fischer (»Das Experiment«). Nach den ungekürzten und unzensierten Originalversionen ergänzt von Erik Simon. Kindle-Edition, 2010. 912 Seiten (Buchausgabe). 9,99 €.

Mario Vargas Llosa: Die jungen Hunde

Endlich, sagte Fina, jetzt hat’s ihn erwischt, er ist verliebt.

vargas-llosa-hundeDiese Erzählung erschien zum ersten Mal 1967 in Barcelona, da Vargas Llosa damals bereits in Spanien lebte und in seiner Heimat Peru kein Verlag das zumindest für die 60er Jahre sowohl stilistisch als auch thematisch ungewöhnliche Buch drucken wollte. Die Erstveröffentlichung enthielt bereits die jetzt bei Suhrkamp erstmals auch von einem deutschen Verlag realisierte Kombination des Textes von Vargas Llosa und der 35 Schwarz-Weiß-Fotografien Xavier Miserachs’. Zwar dokumentieren die Bilder offensichtlich die frühen 60er Jahre in Spanien während die Erzählung selbst in den späten 20er und den 30er Jahren in Lima spielt, doch bis auf das veränderte Kostüm illustrieren die Bilder das von der Erzählung präsentierte Lebensgefühl ganz exzellent.

Der Text verweigert eine einfache Einordnung seiner Erzählform: Er wird offensichtlich als biografische Erinnerung eines älteren Erzählers an seine Jugend präsentiert, dort schwankt die Erzählperspektive ständig zwischen einer nahen, kollektiven Wir- und einer distanzierteren, auktorialen Position, wobei der Wechsel zumeist mitten im Satz stattfindet. Da zudem die wörtliche Rede nicht ausgezeichnet wird, kann es zumindest anfänglich zu Irritationen beim Leser kommen:

Auch ihnen, die wir anfangs noch aufpassten, Cuéllar, Kumpel, rutschte es immer öfter raus, ganz aus Versehen, Kamerad, ganz automatisch, Amigo: Pichulita, und er knallrot, wie?, oder kreidebleich, du auch, Chingolo?, die Augen aufgerissen, Mann, entschuldige, war keine böse Absicht, er also auch?, sein Freund? …

Doch liest sich der Text nach einer kurzen Eingewöhnungsphase sehr flüssig (was sicherlich auch der Neuübersetzung zu danken ist, die Suhrkamp der Erzählung spendiert hat), und wenn man ihn in einem Zug liest, gewöhnt man sich so vollständig an den ständigen Perspektivwechsel, dass man gegen Ende bewusst nachschaut, ob er denn überhaupt noch benutzt wird. Wenigstens mir erging es so.

Erzählt wird die Geschichte einer Gruppe von fünf Schulfreunden, wobei das Schicksal des jungen Cuéllar im Zentrum steht. Cuéllar wird kurz nachdem er in die Klasse der anderen gekommen ist und sich als ein exzellenter Schüler erwiesen hat, nach einer Sportstunde von einem Hund angefallen und durch einen Biss um sein Geschlechtsteil gebracht. Zwar überlebt er die Attacke, doch ist er von dem Augenblick an ein Außeseiter in der Gruppe, auch wenn das lange Zeit keiner seiner Freunde auch nur wahrnehmen will. Offensichtlich wird Cuéllars Lage aber, als die ersten der Clique Freundschaften mit Mädchen beginnen: Cuéllar, der inzwischen den Spitznamen Pichulita (Schwänzchen) trägt, reagiert zuerst aggressiv, sondert sich dann ab, kehrt jedoch immer wieder zur Gruppe zurück. Er huldigt dem Machismo auf seine Weise, indem er ein herausragender und waghalsiger Sportler und Autofahrer wird, aber er traut sich aus verständlichen Gründen nicht, eine Freundschaft mit einem Mädchen zu beginnen. Als er sich schließlich doch gegen seinen Willen verliebt, wird er für eine Weile geselliger und normaler, doch spitzt sich seine Lage durch diese Verliebtheit nur noch weiter zu, da sie seine Verzweiflung über die Unmöglichkeit einer sexuellen Erfüllung einer Beziehung zum Grundgefühl seiner Existenz werden lässt.

Es macht den Rang Vargas Llosas aus, dass er darauf verzichtet, Cuéllar ein noch tragischeres Ende nehmen zu lassen als ohnehin sein Leben schon war. Die Freunde verlieren sich über Studium, Arbeit und Gründung einer Familie wie zu erwarten mehr und mehr aus den Augen; Cuéllar lebt für eine Weile in den Bergen, geht dann in den Norden Perus und wird Opfer seines riskanten Fahrstils. Der Leser bleibt mit dem Erzähler ratlos zurück, wie diesem Jungen auf Erden zu helfen gewesen wäre; sein Elend ließ sich erzählen, aufzuheben war es nicht.

Ein beeindruckend dicht erzählter Text, dem es wie nebenbei gelingt, das Lebensgefühl wohl einer ganzen Generation junger Männer darzustellen. Unbedingt lesenswert!

Mario Vargas Llosa: Die jungen Hunde. Aus dem Spanischen von Susanne Lange. Mit Fotografien von Xavier Miserachs. Berlin: Suhrkamp, 2011. Pappband, Fadenheftung, 98 Seiten, davon 48 Seiten mit 35 Schwarz-Weiß-Fotografien. 24,90 €.

Hans Werner Wüst: »… wenn wir nur alle gesund sind!«

978-3-15-020240-1Im Jahr 1975 erschien eines der erfolgreichsten Bücher Friedrich Torbergs: »Die Tante Jolesch oder Der Untergang des Abendlandes in Anekdoten«. Darin finden sich unter anderem zahlreiche Anekdoten um den ebenso berühmten wie erfolglosen Wiener Strafverteidiger Dr. Hugo Sperber, dem ein ganzes Kapitel gewidmet ist. Darunter auch folgende:

Der wahrscheinlich populärste dieser Aussprüche [Dr. Sperbers], der jahrelang in allerlei Variationen (und schließlich ohne Quellenangabe) kursierte, fiel in der Verhandlung gegen einen von Sperber ex offo verteidigten Einbrecher. Der Mann hatte zwei Einbruchsdiebstähle begangen, den einen bei Tag, den anderen bei Nacht, und der Staatsanwalt legte ihm als erschwerend im ersten Fall die besondere Frechheit zur Last, mit der er sein verbrecherisches Handwerk sogar bei Tageslicht ausübte, im zweiten Fall die besondere Tücke, mit der er sich das Dunkel der Nacht zunutze gemacht hatte.
An dieser Stelle erdröhnte der Gerichtssaal von Dr. Sperbers Zwischenruf:
»Herr Staatsanwalt, wann soll mein Klient eigentlich einbrechen?«

Das ist nun kein jüdischer Witz, sondern es ist erstens eine Anekdote, und wäre es zweitens ein Witz, so wäre es ein juristischer, für den es unerheblich ist, welcher Herkunft oder religiösen Überzeugung der Verteidiger ist. Das alles hindert Wüst nicht an folgendem:

Einbrecher. Ein Mann steht vor Gericht. Er soll zwei Einbrüche begangen haben, einen tagsüber und den anderen nachts. Der Staatsanwalt wirft ihm deshalb in dem einen Fall besondere Frechheit vor, weil er sogar am hellen Tag eingebrochen sei, und in dem anderen Fall besondere Heimtücke, da er die Tat während der Dunkelheit begangen habe.
Da unterbricht der Verteidiger den Staatsanwalt:
»Herr Staatsanwalt, jetzt frage ich Sie: Wann soll mein Mandant denn eigentlich einbrechen?« [S. 316.]

Ebenso wenig wie so etwas möchte ich Heinrich Heines berühmtes »Dieu me pardonnera. C’est son metier.« anonymisiert und germanisiert als jüdischen Witz wiederfinden (S. 172).

Die Sammlung entgeht auch nicht immer der Gefahr, Witze, die auf der Ausschlachtung antisemitischer Klischees beruhen, für jüdischen Humor auszugeben:

Prozent. David zu seinem Großvater:
»Tate, wie heißt es richtig: drei Perzent oder drei Prozent?«
»Nu, besser sind fünf Prozent!« [S. 232.]

Ganz abgesehen davon, dass Wüst den Witz schlecht erzählt (es sollte heißen: »Tate, was ist besser: drei Perzent oder drei Prozent?« »Nu, besser sind fünf Perzent!«), zweifele ich nicht daran, dass es Juden gibt, die sich diesen Witz erzählen und darüber lachen. Ein jüdischer Witz wird es deshalb noch lange nicht. Ebenso wenig werden lahme politische Witze über die Sowjetunion zu jüdischen Witzen, indem man einen der Akteure Blau, den anderen Grün nennt.

Die Sammlung ist alles in allem mäßig lustig und noch mäßiger gelungen. Wer das Buch von Salcia Landmann noch nicht sein eigen nennt, sollte lieber dazu greifen, die anderen sollten die 10 Euro lieber für etwas besseres ausgeben, zum Beispiel für Torbergs »Die Tante Jolesch«.

Hans Werner Wüst: »… wenn wir nur alle gesund sind!«. Jüdische Witze. Reclam Tb. 2040. Stuttgart: Reclam, 2011. Broschur, 340 Seiten. 9,95 €.

Émile Zola: Germinal

Aber heutzutage erwache der Bergmann in seiner Grube. Es keimte dort unter der Erde wie eine Saat, und eines Tages werde man sehen, wie sie auf dem Felde aufgehe.

zola_rougonMit der  Lektüre von »Germinal« im Jahr 2007 (für eine Übersicht über die Handlung bitte diesem Link folgen) hatte mein Interesse an der Rougon-Macquart begonnen, weshalb ich etwas gezögert habe, ob ich ihn in meinem Durchgang durch den gesamten Zyklus das Buch noch einmal lesen sollte (auch weil der Roman mit etwa 600 Seiten einer der umfangreichsten des Zyklus ist) oder gleich zum 14. Band, »Das Werk«, übergehen sollte. Als eine Art Kompromiss habe ich mich dann entschieden, mir die Verfilmung von Claude Bern aus dem Jahr 1993 anzuschauen, die ich noch nicht kannte. Dann hat mir der Film aber so viel Lust auf das Buch gemacht, dass ich es gleich im Anschluss noch einmal gelesen habe. Und es hat dieser zweiten Lektüre nach nur knapp fünf Jahren sehr gut standgehalten.

»Germinal« schließt in zweifacher Hinsicht an den siebten Band »Der Totschläger« an: Zum einen ist es der zweite Roman des Zyklus, der im Arbeiter-Milieu des Zweiten Kaiserreichs spielt, zum anderen ist der Protagonist Etienne Lantier einer der Söhne der Wäscherin Gervaise Macquart, deren Geschichte »Der Totschläger« erzählt. Die Handlung spielt Mitte der 1860er Jahre im nordfranzösischen Kohlegebiet und umfasst gut ein Jahr. Der ungefähr 23-jährige Etienne, ein arbeitsloser Maschinist auf Wanderschaft, trifft zu Beginn der Erzählung in Montsou ein und bekommt durch einen Zufall Arbeit in der Mine Le Voreux. Wie bereits anlässlich der Erstlektüre gesagt, besteht der Hauptteil der Erzählung aus der Darstellung eines Streiks, der sich über Monate hinzieht und nicht nur zu massiver Verelendung der Streikenden, sondern auch zu erheblichen gewalttätigen Auseinandersetzungen führt.

Zola thematisiert in diesem Roman erstmals explizit die schweren sozialen Verwerfungen, die die Industrialisierung hervorgebracht hat, und er lässt keinen Zweifel an seiner Überzeugung, dass der Konflikt zwischen den ausgebeuteten und hungernden Massen und der dem Elend dieser Menschen mit Unverständnis gegenüberstehenden Bourgeoisie eine Umwälzung der bestehenden Gesellschaftsordnung zwangsläufig hervorbringen wird. In diesem Sinne ist auch der Titel zu verstehen: Germinal bezeichnete den Keim-Monat im französischen Revolutionskalender, in dem die Saat für die zukünftige Ernte ausgebracht wurde.

»Germinal« erweitert auch einmal mehr die stofflichen Grenzen des Naturalismus: Sowohl in der Beschreibung der unmenschlichen Arbeitsbedingungen und des sozialen Elends der Bergarbeiter als auch in der unverblümten Darstellung der Sexualität geht Zola weiter als je zuvor. Das Buch stellt einmal mehr den ungewöhnlichen künstlerischen Mut und das höchste schriftstellerische Vermögen Zolas unter Beweis. Ein weiteres Meisterwerk!

Übersichtsseite zur Rougon-Macquart

Émile Zola: Die Rougon-Macquart. Natur- und Sozialgeschichte einer Familie unter dem zweiten Kaiserreich. Hg. v. Rita Schober. Berlin: Rütten & Loening, 1952–1976. Digitale Bibliothek Bd. 128. Berlin: Directmedia Publ. GmbH, 2005. 1 CD-ROM. Systemvoraussetzungen: PC ab 486; 64 MB RAM; Grafikkarte ab 640×480 Pixel, 256 Farben; CD-ROM-Laufwerk; MS Windows (98, ME, NT, 2000, XP oder Vista) oder MAC ab MacOS 10.3; 256 MB RAM; CD-ROM-Laufwerk.

Arkadi und Boris Strugatzki: Gesammelte Werke 1

Fürwahr: Es gibt Lügen, es gibt schamlose Lügen und es gibt die Statistik. Aber, Freunde, lasst uns dabei die Psychologie nicht vergessen!

Strugatzki_Werke_1Arkadi und Boris Strugatzki waren die erfolgreichsten Autoren von Zukunftsromanen in der Sowjetunion. Ein bedeutender Teil ihrer zahlreichen Romane und Erzählungen sind ins Deutsche übersetzt und sowohl in der BRD als auch in der DDR erfolgreich immer wieder aufgelegt worden. Im Westen dürften ihre beiden populärsten Romane jene sein, die verfilmt wurden: Ein Abschnitt aus »Picknick am Wegesrand« lieferte die Vorlage für Andrei Tarkowskis »Stalker«; die andere halbwegs bekannte Verfilmung basiert auf »Es ist nicht leicht, ein Gott zu sein«.

Seit 2010 legt der Heyne Verlag nun erstmals eine geschlossene Werkauswahl vor, von der gerade der vierte Band erschienen ist. Parallel zu den Taschenbüchern bei Heyne wird auch eine gebundene Ausgabe im Golkonda Verlag gedruckt, die sich allerdings explizit an Liebhaber zu richten scheint, da sie auf den normalen Vertriebswegen des Buchhandels nicht zu finden ist. Soweit ich es beurteilen kann, scheinen die Bände inhaltsidentisch zu sein. Ich selbst lese die Bücher in der Kindle-Edition des Heyne Verlages, zu der aber zu sagen ist, dass sie nicht frei von Kinderkrankheiten ist: So ist der 2. Band derzeit nicht verfügbar, da Amazon ihn derzeit anscheinend auf Fehler prüft (ich konnte auf Anhieb bis auf ein etwas ungeschickt formatiertes Inhaltsverzeichnis keine feststellen); in Band 4 fehlt das Inhaltsverzeichnis der Kindle-Edition komplett, was für ein elektronisches Medium mit mehreren Texten, in dem man nicht eben mal so blättern kann, ein Unding darstellt. Band 1 ist unordentlich bzw. gar nicht lektoriert: An einer Stelle (Position 9664) sind mehrere Varianten einer Passage, die der Übersetzer wohl alternativ formuliert hatte, im Text stehen geblieben. Auch fehlt in allen Bänden eine erschließende Übersicht der Gesamtedition, die deutlich macht, warum welche Texte in gerade dieser Reihenfolge auf die Bände verteilt wurden. Das alles muss man sich mühsam aus verschiedenen Quellen zusammensuchen. Hier muss Heyne noch sehr dazu lernen.

Alle Text sollen in vollständigen und überarbeiteten Übersetzungen erscheinen, wobei die existierenden Übersetzungen anhand der Originalausgaben vom Herausgeber der Ausgabe Erik Simon ergänzt wurden. Dabei konnte oder wollte er bestimmte stilistische Uneinheitlichkeiten und Verwerfungen offenbar nicht vermeiden. Ob Simon tatsächlich die jeweils beste der zumeist zahlreichen Übersetzungen als Grundlage für seine Ausgabe nimmt oder ob er hier lizenzrechtliche Rücksichten nimmt oder nehmen muss, kann ich nicht beurteilen; es wird wohl auch nirgendwo thematisiert. Wie man leicht sieht, ist dies alles Stückwerk, aber es ist eben auch besser als nichts. Durchweg positiv zu bewerten sind dagegen die Anhänge der Bände: Hier finden sich nicht nur Kommentare zu Anspielungen und Zitaten, sondern auch essayistische Texte Boris Strugatzkis zur Entstehung der Romane und solide Nachworte des Herausgebers Erik Simon.

Band 1 der Gesammelten Werke enthält die drei Romane. deren Protagonist der Progressor Maxim Kammerer ist. Progressoren sind im 22. Jahrhundert Angehörige eine Berufsgruppe, die auf fernen Planeten Entwicklungshilfe leisten (»Es ist nicht leicht, ein Gott zu sein«, der in der jetzigen Fassung »Es ist schwer, ein Gott zu sein« heißt, dürfte der bekannteste Roman zu diesem Themenfeld der Strugatzkis sein). Maxim Kammerer bzw. der erste Kammerer-Roman »Die bewohnte Insel« wurde aus einer Trotzreaktion heraus geboren: Nachdem die sowjetischen Zensurinstanzen den Brüdern Strugatzki wieder einmal vorgeworfen hatte, ihre Protagonisten seien nicht sowjetisch genug, nahmen sie sich vor, einen idealen sowjetischen Vollpfosten zum Helden ihres nächsten Buches zu machen. Zum Glück erwiesen sich der Stoff und der Charakter als widerständig genug, um diesen Plan scheitern zu lassen.

In »Die bewohnte Insel« (1969) begegnen wir Maxim Kammerer zuerst als jungem, etwa naivem Kosmonauten, der ins All geflogen ist, um bewohnte Planeten zu entdecken und zu erkunden. Leider hat sein Raumschiff beim Landeanflug auf den Planeten Saraksch eine Panne und wird kurz nach der Landung auf dem Planeten – Maxim hat sich zum Glück schon auf die Suche nach den Bewohnern gemacht – vollständig zerstört. Maxim ist also für unabsehbare Zeit auf dem Saraksch gefangen. Kammerer trifft auf eine Gesellschaft, die vor nicht allzu langer Zeit einen atomaren Krieg hinter sich gebracht hat. Der einzige Kontinent des Planeten ist aufgeteilt in mehrere Reiche, die gegenseitig nur wenig voneinander wissen und in kontinuierlichem, mehr oder weniger akutem Kriegszustand miteinander zu liegen scheinen (Orwell lässt grüßen). Das Reich, auf das Kammerer zuerst trifft, ist daher auch hauptsächlich militaristisch organisiert. An der Regierung ist eine oligarchische Gruppe, die die Öffentlichkeit nur unter dem Titel Unbekannte Väter kennt (Orwell lässt grüßen). Sie regiert in der Hauptsache mit Hilfe einer Propaganda-Strahlung, die den Großteil der Bevölkerung in willenlose Marionetten verwandelt (Orwell … naja: usw.). Es gibt allerdings eine kleine Anzahl von Menschen, die gegen den propagandistischen Einfluss der Strahlung immun sind; aus diesen rekrutiert sich zum einen die Führungselite der Gesellschaft, zum anderen bilden sie die geächtete Gruppe der sogenannten Entarteten, die von der Regierung gejagt wird mit dem Ziel, sie auszurotten.

In dieser Gesellschaft macht Maxim, der als Erdenmensch den Menschen vom Saraksch körperlich und intellektuell deutlich überlegen ist, nun eine Laufbahn durch, die ihn vom Soldaten über den Terroristen und Gefangenen zum Einzelkämpfer gegen die Oligarchie macht, der gegen Ende des Romans die zentrale Steuerungseinheit der Propaganda-Strahlung sprengt, um damit einen gewaltsamen Umsturz der Verhältnisse zu erzwingen. Nachdem diese Zentrale zerstört wurde, wird er von einem der regierenden Funktionäre aufgegriffen, der sich als ein echter irdischer Progressor erweist: Der Wanderer hat die Regierung infiltriert, um von der Führungsebene aus eine Reformation der Gesellschaft zu bewirken. Die Einsicht, dass auf Saraksch längst Erdlinge aktiv an der Gestaltung der dortigen Geschichte arbeiten, bildet die letzte Stufe in Maxims langsam wachsendem Verständnis der dortigen Verhältnisse und beendet vorerst seinen Aufenthalt auf diesem Planeten.

In weiten Teilen handelt es dich bei »Die bewohnte Insel« um eine Allegorie auf die Sowjetunion der späten 60er Jahre und wurde auch offensichtlich so wahrgenommen. Insbesondere die militärischen Strukturen und der zentrale Einfluss der Propaganda auf die Gesellschaft, die oligarchische Führung, die die Propaganda nutzt, ohne selbst an ihren Wahrheitswert zu glauben, sowie die latente Neigung des politischen Systems zur Diktatur dürften die wesentlichen Elemente dieser allegorischen Ebene des Romans darstellen. Ergänzt und überhöht wird sie durch phantastische Elemente wie etwa der Gruppe der Mutanten, die am Rande der Gesellschaft leben oder die – im zweiten Roman eine wichtige Rolle spielenden – halb menschlichen, halb hündischen Kopfler. In Zentrum aber steht die kontinuierlich wachsende Einsicht des anfänglich naiven Kammerers in die politischen und gesellschaftlichen Zusammenhänge, die den eigentlichen Reiz des Romans ausmacht.

»Ein Käfer im Ameisenhaufen« (1979) spielt etwa 20 Jahre später auf der Erde. Maxim Kammerer, der zwischenzeitlich als Progressor gearbeitet hat, ist nun Abteilungsleiter der KomKon 2, einer irdischen Behörde, die in der Hauptsache für die Sicherheit des Planeten Erde zuständig ist. Die Handlung umfasst nur vier Tage im Juni des Jahre 2278. Kammerer erhält zu Anfang der Erzählung vom Leiter der KomKon 2 – dem Wanderer des ersten Romans der Reihe – den Auftrag, den Progressor Lew Abalkin ausfindig zu machen, der vor wenigen Tagen auf dem Saraksch unter verdächtigen Umständen verschwunden ist, sich zur Erde aufgemacht hat, dort aber nach seiner Ankunft untergetaucht ist. Bei seinen Recherchen zur Lebensgeschichte Abalkins stößt Kammerer darauf, dass dieser zu einer Gruppe von dreizehn Menschen gehört, deren Herkunft höchst mysteriös und geheim ist, so geheim, dass nicht einmal Abalkin in sie eingeweiht ist. Er entstammt einem tausende von Jahren alten Brutkasten, auf den irdischen Forscher auf einem fernen Planeten gestoßen sind und in dem sich dreizehn befruchtete menschliche Eizellen befanden, die nach ihrer Entdeckung spontan mit ihrer Entwicklung zu Menschen begannen. Eine damals einberufenen Kommission kam zu dem Schluss, dass es sich bei diesem Brutkasten möglicherweise um den ersten handfesten Beweis für die Existenz einer nichthumanoiden Superrasse, den sogenannten Wanderern (die offenbar bewusst gesetzte Doppelung der Bezeichnungen der Wanderer und die Wanderer wird in keinem der Romane thematisiert) handelt, die auf die Entwicklung der menschlichen Rasse einen vergleichbaren Einfluss nehmen wie die Menschen mit ihren Progressoren auf anderen Planeten. Sollten die Dreizehn tatsächlich Produkte der Wanderer sein, so ist nicht auszuschließen, dass ihnen ein genetisches Programm eingepflanzt wurde, die sie zu einer potenziellen Gefahr für die Erde und die Menschheit machen. Aus diesem Grund ist ihnen ein Aufenthalt auf der Erde grundsätzlich verboten, und deshalb wird Kammerer beauftragt, Abalkin so rasch wie möglich zu finden.

Es ist unnötig, die weiteren Details der Suche Kammerers und der Lebensgeschichte Abalkins nachzuerzählen. Unterbrochen wird der Bericht Kammrerers über seine Recherche aber immer wieder durch einen älteren Bericht Abalkins über eine Expedition auf einem fernen Planeten, auf dem offensichtlich eine immense Katastrophe weite Teile der Bevölkerung vernichtet hat. Abalkin wird auf dieser Expedition von dem Kopfler Wepl begleitet. Wie schon gesagt, handelt es sich bei Kopflern um eine hybride Rasse aus Humanoiden und Hunden, die sich nach dem Atomkrieg auf dem Saraksch entwickelt hat. Auch dieser Bericht enthält Hinweise auf das möglich Wirken der Wanderer, die eventuell einen Teil der Bevölkerung vor der Katastrophe gerettet und auf einen anderen Planeten evakuiert hat, doch bleibt all dies Spekulation. Der eigentliche Reiz des Berichts liegt in der Beschreibung der Freundschaft Abalkins und Wepls und der postapokalyptischen Welt, in der sie sich bewegen.

»Ein Käfer im Ameisenhaufen« spielt offensichtlich mit der Verquickung der beiden Genres der Science-Fiction und des Agenten-Thrillers. Er ist nur lose motivisch mit dem Vorgänger verknüpft. Mit diesem Roman wird das für die weitere Entwicklung des Strugatzkischen Universums wichtige Motiv der Wanderer erstmals breit eingeführt. Aus diesem Motiv entwickeln die Autoren dann das Thema des dritten Teils.

»Die Wellen ersticken den Wind« (1985) ist der dritte und letzte Kammerer-Roman (ein vierter war bereits entworfen, wurde nach dem Tod Arkadi Strugatzkis aber nicht mehr geschrieben) und zugleich der zehnte und letzte der gesamten Serie der Romane des sogenannten Mittags-Universums des 22. Jahrhunderts. In ihm erinnert sich der inzwischen beinahe neunzigjährige Kammerer an die  »Große Of­fen­ba­rung« gegen Ende des 22. Jahrhundert. Kammerer war zu diesem Zeitpunkt Chef der KomKon 2, zu deren wichtigsten Aufgaben inzwischen die systematische Suche nach Beweisen für die direkte Einflussnahme der Wanderer auf der Erde gehört. Kammerers Stab, zu dem auch Tovio Glumov gehört, dessen Mutter eine Nebenfigur in »Ein Käfer im Ameisenhaufen« war, beschäftigt sich dazu mit Ereignissen, für die es auf den ersten und zweiten Blick keine rationale, naturwissenschaftliche Erklärung gibt. Als Tovio endlich auf einen handfesten Beleg für eine Aktion der Wanderer stößt, stellt sich heraus, dass die Wanderer allerdings bereits auf der Erde existieren, aber nicht als außerirdische Agenten, sondern als evolutionäre Weiterentwicklung der Menschheit selbst.

Dieser dritte Kammerer-Roman ist sicherlich der schwächste der Serie: Die Fabel wirkt sehr konstruiert, das Thema des Romans ist recht dünn und das ihm innewohnende Konfliktpotenzial wird nur angerissen, aber nicht konsequent durchgespielt. Das Buch ist nett, die Form der Erzählung nahezu ausschließlich durch Dokumente und Berichte einer Behörde ist originell, aber der Biss, der in »Ein Käfer im Ameisenhaufen« wenigstens noch ab und an zu bemerken war, fehlt dem Buch. Es ist daher kein Wunder, wenn es in den Besprechungen als philosophisch charakterisiert wird.

Arkadi und Boris Strugatzki: Gesammelte Werke 1. 3 Romane in einem Band. Deutsch von Erika Pietraß (»Die bewohnte Insel«) und Mike Noris. Nach den ungekürzten und unzensierten Originalversionen ergänzt von Erik Simon. Kindle-Edition, 2010. 913 Seiten (Buchausgabe). 9,99 €.

Peter Rüedi: Dürrenmatt

In einer beispiellosen autobiographisch-erzählerisch-essayistischen Mischform, einer Art Ruinenbaumeisterei, stößt er zu einer neuen, multiperspektivischen Form von Literatur vor und entkommt mit ihr selbst dem Scheitern, indem er es akzeptiert.

978-3-257-06797-2Die Auseinandersetzung mit Friedrich Dürrenmatts Werk ist heute alles andere als simpel. Sie scheint gespannt zu sein zwischen zwei Polen: Einerseits ist ein Teil seines Werks offenbar obsolet geworden: »Die Physiker« etwa hat sich thematisch überlebt und ist dramaturgisch zu geradlinig, um außerhalb der Schullektüre noch Spannung zu erzeugen. Das Thema der christlichen Stücke – »Die Wiedertäufer«, »Der Blinde« oder »Ein Engel kommt nach Babylon« – ist zumindest in Europa sehr an den Rand der öffentlichen Diskussion geraten. Anderseits erscheint ein anderer, größerer Teil des Werks vielen Lesern nicht zu Unrecht esoterisch, philosophisch und schwer zugänglich. Einzig die Kriminalromane dürften sich noch einiger, ungebrochener Beliebtheit erfreuen. Dementsprechend dünn fällt die essayistische und germanistische Beschäftigung mit Dürrenmatt aus.

Vor diesem Hintergrund muss Peter Rüedis Buch über Dürrenmatt gelesen werden, das vom Verlag wohl aus Hilflosigkeit mit dem phantasielosen Etikett Biographie gekennzeichnet worden ist, die damit verbundenen Erwartungen aber nur unvollkommen erfüllt. Sicherlich handelt es sich auch um eine – unvollständig bleibende – Biographie, vielmehr ist es aber ein weit ausholender Essay über Dürrenmatts Werk, der in der bisherigen Literatur über den Autor, wenigstens soweit ich sehe, völlig einzig dasteht. Für Rüedis Lektüre der Werke sind zwei Aspekte zentral: Er analysiert das Werk in weiten Teilen als das eines Christen, der sich Zeit seines Lebens mit dem Glauben seines Vaters auseinandergesetzt hat, und er liest Dürrenmatt wesentlich von der Selbstreflexion der späten »Stoffe« her. Während der erste Aspekt in der Literatur zu Dürrenmatt traditionell breit vertreten ist, scheint der zweite, besonders so, wie er bei Rüedi erscheint, die Möglichkeit einer grundsätzlichen Neuentdeckung und -bewertung Dürrenmatts zu eröffnen. Wenn Dürrenmatt als deutschsprachiger Autor überhaupt eine Zukunft – im Sinne eines Klassiker des 20. Jahrhunderts – hat, so wird sie hier begründet. In diesem Sinn ist Rüedis Buch wahrscheinlich der wichtigste Text der überhaupt bislang über Dürrenmatt geschrieben wurde.

Trotz dieser im Gesamturteil überwiegenden positiven Einschätzung sollen die schwerwiegenden Schwächen des Textes nicht unterschlagen werden: Das Buch macht einen durch und durch unfertigen Eindruck. Rüedi scheint nicht die Kraft oder Übersicht gehabt zu haben, die mehr als 730 Textseiten zu irgendeiner Form von Abrundung oder zu einem Abschluss zu bringen. Der biographische Anteil bleibt wesentlich in den 50er Jahren stecken; zwar werden auch die späteren Jahre erwähnt, aber ihre Behandlung bleibt im Gegensatz zu den ersten gut fünfzehn Nachkriegsjahren flüchtig und oberflächlich, fast als handele es sich um den ersten Teil einer deutlich umfangreicher konzipierten Biographie, die dann unter dem Druck der Ökonomie oder auch der Zeit gewaltsam zu einem Ende gebracht wurde.

Auch beim essayistischen Gehalt bleiben wesentliche Desiderate: Bestimmte Stücke werden gar nicht oder nur marginal behandelt, so etwa »Frank der Fünfte«, zu dem nur das Schlagwort Shakespeare fällt, oder das wichtige, späte »Achterloo«, mit dem Dürrenmatt entgegen seinen Plänen doch noch einmal zur Bühne zurückkehrt und die Irrenhaus-Metapher, die sich durch das gesamte Werk zieht, einmal mehr durchspielt. Was die Dramaturgie angeht, ist es schade, dass »Das Sterben der Pythia« offenbar unterschätzt wird. In diesem einen Stück hätte Rüedi viele wichtige Themen, Motive und Vorbilder der Dürrenmattschen Dramaturgie beieinander gehabt: Shakespeare, Wedekind und Brecht, die Gegenbildlichkeit von Tragödie und Komödie, die Dramaturgien vom Stoff und von der Idee her, sie alle lassen sich an diesem kurzen Stück Prosa exemplarisch vorführen und analysieren.

Was vollständig fehlt, ist ein literarhistorischer Horizont: Zwar gibt es Auseinandersetzungen mit Frisch – dessen schwieriges Verhältnis mit Dürrenmatt Rüedi bereits an anderer Stelle ausführlich gewürdigt hat – und Brecht, aber es findet sich auch nicht der kleinste Ansatz, Dürrenmatt in den Kanon der europäischen Literatur des 20. Jahrhunderts einzuordnen. Nirgends wird zum Beispiel »Der Tunnels« mit den Romanen des französischen Existenzialismus in Beziehung gesetzt, obwohl hier wie dort die Wirkung Kierkegaards und Nietzsches mit Händen zu greifen ist. Nirgends werden Dürrenmatts Stücke in der Geschichte des deutschen oder gar des europäischen Dramas (Sartre, Ionesco, Beckett) verortet. Auch die sehr spezifische Sprache der Bühnenfiguren Dürrenmatts, ihr verknapptes,karges, emotionales und zugleich distanziertes Sprechen wird nur an einer Stelle kurz erwähnt, der Versuch einer Analyse unterbleibt aber. Das alles mag vielleicht verzeihlich erscheinen, da Rüedi offensichtlich ohnehin zu viel für die ihm zur Verfügung stehenden Seiten zu sagen hatte, ein Mangel bleibt es dennoch.

Doch auch entgegen allen Einwänden ist zu betonen, dass dies wahrscheinlich das Wichtigste Buch über Dürrenmatt ist, das bislang erschienen ist, und es steht zu befürchten, dass dies auch lange so bleiben wird. Ein Muss für jeden, der sich ernsthaft mit der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts auseinandersetzt.

Peter Rüedi: Dürrenmatt oder Die Ahnung vom Ganzen. Zürich: Diogenes, 2011. Leinen, Fadenheftung, zwei Lesebändchen, 960 Seiten. 28,90 €.

Padgett Powell: Roman in Fragen

Sollte ich weggehen? Sie in Frieden lassen? Sollte ich mit meinen Fragen nur mich selbst behelligen?

powell_fragenHandelt es sich bei dieser mehr als 180 Seiten langen Ansammlung unzusammenhängender Fragen tatsächlich um einen Roman? Ist ein Roman nicht ein Werk der erzählenden Literatur? Wäre es nicht besser gewesen, die Übersetzung des Originaltitels »The Interrogative Mood. A Novel?« zu benutzen? Ist ein Konzept, das auf zehn, vielleicht auch auf zwanzig Seiten witzig ist, auf mehr als 180 Seiten nicht nur noch eine Frage der Ausdauer oder eine Manie? Warum mit 180 Seiten aufhören? Sind dem Autor die Fragen ausgegangen, oder hat ein Controller des Verlages das Buch auf die am Markt am besten zu platzierenden Länge zusammengekürzt?

Glauben Autor, Übersetzer und Verlag tatsächlich, dass das witzig ist? Schätzen Sie den Humor von Harry Rowohlt? Glauben Sie nicht auch, dass sich seine Wortspielchen beliebig reproduzieren lassen und seine Gedankenströme eher seichter Natur sind? Ist seine Selbst-Identifikation mit Winnie-the-Pooh nicht vielleicht nur ironisch gemeint?  Könnte es sein, dass gerade Sie deshalb dieses Buch schätzen würden, während ich es nach zwanzig Seiten gähnend langweilig fand? Braucht man tatsächlich irgend wofür ein »kindliches Gemüt«? Und besitzt man eines, wenn man es ständig vor sich her trägt? Sollte man als Leser seine wenige und wertvolle Lesezeit nicht besser auf etwas weniger Beliebiges verwenden?

Heißt der Autor des Buches Padgett Powell? Lautet sein Titel »Roman in Fragen«? Wurde es von Harry Rowohlt aus dem amerikanischen Englisch ins Deutsche übersetzt? Ist es im Jahr 2012 in Berlin im Berlin Verlag erschienen? Handelt es sich um einen Pappband mit Lesebändchen und 191 Seiten? Kostet es 17,90 €?

(Wurde diese Besprechung für
Literaturwelt
geschrieben?)

Martin Rowson: Tristram Shandy (deutsch)

978-3-86873-370-9Etwas verspäteter Hinweis auf die kongeniale Umsetzung von Laurence Sternes »Tristram Shandy« als Comic, die hier schon nachdrücklich empfohlen wurde und die im letzten Jahr nun auch auf Deutsch erschienen ist. Die Übersetzung besorgte Michael Walter, der als Übersetzer und Kenner des Romans natürlich eine exzellente Wahl für diese Aufgabe ist. Jedem Sterne-Leser sei der Band dringend ans Herz gelegt.

Martin Rowson: Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman. Nach Laurence Sterne. Aus dem Englischen von Michael Walter. München: Knesebeck, 2011. Leinenrücken, Fadenheftung, Lesebändchen, 176 unpaginierte Seiten. 24,95 €.

Thomas Mann: Der Zauberberg

»Siehst Du wohl,« sagte Hans Castorp später zu seinem Vetter, »siehst Du wohl, daß es in der Literatur auf die schönen Worte ankommt? Ich habe es gleich gemerkt.«

mann-zauberbergZuletzt habe ich den »Zauberberg« mit großer Begeisterung 1986 während des Studiums gelesen. Während ich zur gleichen Zeit den Glauben an Thomas Mann als bedeutendem deutschen Intellektuellen endgültig durch die Lektüre der »Betrachtungen eines Unpolitischen« verloren habe, hat dieser Roman die Überzeugung verfestigt, dass er einer der besten deutschsprachigen Erzähler war. In den Jahren dazwischen habe ich immer wieder einmal versucht, Mann zu lesen, bin aber damit nie recht fertig geworden: Im »Doktor Faustus« war mir bei der Zweitlektüre der Erzähler nur schwer erträglich, um »Lotte im Weimar« recht zu goutieren verstand ich wohl noch zu wenig von Goethe – da hat sich erst die dritte Lektüre als vergnüglich erwiesen –, der »Joseph« war eindeutig zu geschwätzig für den in weiten Teilen unerheblichen Stoff und an den »Zauberberg« wollte ich dann nicht noch einmal heran, aus Furcht, ihn mir zu verderben. Erst mit dem Erscheinen der Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe stellte sich die Lust wieder ein, es erneut zu versuchen.

Erzählt wird bekanntlich die Geschichte des jungen Hamburger Ingenieurs Hans Castorp, der auf drei Wochen nach Davos reist, um seinen kranken Vetter Joachim Ziemßen zu besuchen. Im internationalen Kurhotel Berghof angekommen, verliebt er sich in eine wenige Jahre ältere Russin, Clawdia Chauchat, deren Augen ihn an eine alte, homoerotische Liebe aus seiner Schulzeit erinnern. So ist er mehr als glücklich als der Chefarzt Dr. Behrens auch bei ihm eine Lungenerkrankung diagnostiziert, die ihn zwingt, seinen Aufenthalt auf unbestimmte Zeit zu verlängern. Dies motiviert seinen letztlich siebenjährigen Aufenthalt auf dem Berghof, der unter der Hand zu einem Bildungsgang gerät. Erst der Ausbruch des Ersten Weltkriegs spült Castorp zusammen mit vielen anderen Insassen des Hotels wieder ins Flachland, wo der Erzähler seine Spur im Schlachtgetümmel verliert.

Was mich bei der ersten Begegnung mit diesem umfangreichen Buch fasziniert hat, war der Eindruck der erstaunlich ausgewogenen zeitlichen Beherrschtheit des Textes: Die Beschleunigung des Erzähltempos von der ausführlichen Schilderung der ersten Tage, Wochen und Monate bis zu dem unmerklichen Verfließen ganzer Jahre am Ende erschien mir so mühe- und bruchlos gestaltet, dass dieser Eindruck damals beinahe jede andere Wahrnehmung überlagerte. Dies hat sich bei der erneuten Lektüre nicht wieder im gleichen Maße eingestellt. Besonders im letzten Drittel empfand ich dieses Mal manche Passage als überdehnt und manches Motiv als zu breit ausgewalzt. So etwa die Auseinandersetzungen zwischen den beiden um die Menschwerdung Castorps ringenden Dämonen Settembrini und Naphtha, die Parodie auf die Mode der Geisterbeschwörung, die sich zugleich über die Psychoanalyse lustig macht, die Ausführungen zur Musik – das alles könnte auch kürzer und konziser gefasst werden und enthält viel Geschwätz, das einfach nur der Verarbeitung von eben angefallenem Stoff dient und weniger einer tatsächlichen Notwendigkeit des Erzählens entspringt.

Das ist aber nur die eine Seite; auf der anderen muss ich sagen, dass ich das Buch durchaus wieder mit großem Vergnügen gelesen habe. Wem es gelingt, den Text insgesamt als ein Spiel mit Motiven, Strömungen und Tendenzen seiner Zeit wahrzunehmen, der kann all dem mit vergnügter Distanz folgen. Das Verweben sowohl einer Bildungsroman- als auch einer Liebesroman-Parodie, die einander zudem auch noch erzählerisch bedingen, ist sehr fein und ungezwungen ausgeführt. Und nicht zuletzt habe ich auch den Genuss an Manns sprachlichem Manierismus wieder gefunden, der mir zwischenzeitlich verloren gegangen war. Natürlich kann es auch leicht geschehen, dass einem die letztlich gänzlich substanzlose Haltung des Erzählers auf die Nerven geht, aber mir ist es wenigstens diesmal gelungen, dass das Vergnügen an der Lektüre weit überwogen hat. Ich bin gespannt, wie meine Lesegeschichte mit Thomas Mann weitergehen wird …

Thomas Mann: Der Zauberberg. Frankfurt/M.: S. Fischer, 2002. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 1103 Seiten. 42,– €. Zusammen mit dem umfangreichen Kommentarband: 84,– €. Der Text der GkFA erscheint im April 2012 erstmals auch im Taschenbuch.

P. S.: Vielleicht doch noch ein paar Worte zum Kommentarband: Mit gut 520 Seiten ist er fast halb so umfangreich wie der Text des Romans. Neben soliden Kapiteln zur Entstehung und Rezeption enthält er einen umfangreichen Einzelstellenkommentar, der in der Hauptsache den ungeheuer umfangreichen stofflichen Resonanzraum des Romans deutlich macht. Hier lassen sich schöne Funde machen, und es wird deutlich, was für ein außergewöhnlicher Organisator großer Stoffmengen Thomas Mann gewesen ist. Für die genießende Lektüre ist der Kommentar durchaus nicht notwendig, aber er hilft sehr beim Entdecken der hinter dem Gobelin verlaufenden Fäden.

Herbert Rosendorfer: Die Goldenen Heiligen oder Columbus entdeckt Europa

Es schwebte ihm eine Lampe vor, die groß, aber gleichzeitig klein, schwarz lackiert, aber nicht dunkel, zart, aber doch stabil, hoch, aber doch eher niedrig wäre.
»Es ist immer angenehm«, sagte Jessica […], »einen Kunden zu haben, der seine eigene Meinung hat.«

Das Buch ist 1992 zum Anlass der (Wieder-)Entdeckung Amerikas vor 500 Jahren erschienen, worauf schon der Titel verweist. Ihm scheint kein sonderlicher Erfolg beschieden gewesen zu sein, da es im Gegensatz zu anderen Titeln Rosendorfs derzeit nicht lieferbar ist. Allerdings scheint man bei dtv eine Neuauflage zu planen.

Das Buch hat zwei deutlich unterschiedene Teile: Während der erste Teil in der Hauptsache eine Satire auf die esoterische Szene der 80-er Jahre enthält, schildert der zweite Teil das Aussterben der Menschheit innerhalb einer menschlichen Lebensspanne, nachdem Außerirdische zuerst in Europa, dann überall auf der Erde gelandet sind. Außer über die Erzählerfigur Menelik Hichter, der an dem Tag der ersten Landung der Außerirdischen geboren wird und das Buch als Erinnerungen des letzten Menschen niederschreibt, werden die beiden Teile in der Hauptsache dadurch verbunden, dass die Mutter Meneliks die Außerirdischen als Goldene Heilige begrüßt und von ihnen die Erlösung erwartet, was wesentlich dazu beiträgt, dass sich ein Widerstand der Menschheit gegen deren Okkupation erst herausbildet, als es bereits zu spät ist.

Doch der Reihe nach: Am 12. Oktober 1992, also genau 500 Jahre nach der Entdeckung Amerikas durch Kolumbus (so ganz genau ist es natürlich nicht, da zwischen den beiden Daten die Umschaltung vom julianischen auf den gregorianischen Kalender stattgefunden hat; aber wir wollen nicht zu kleinlich sein) landet in der Nähe von Paderborn ein Raumschiff, das allerdings nach einigen Stunden wieder verschwindet, ohne dass ein First Contact stattgefunden hätte. Nur ein Schaf und ein paar zufällig auf der Landestelle hausende Alternative werden in Mitleidenschaft gezogen. Als die breitere Öffentlichkeit den Vorfall schon wieder vergessen hat, landen drei weitere Schiffe, denen wiederum nach beträchtlicher Zeit eine regelrechte Invasionsflotte folgt, die den Planeten systematisch unter Kontrolle bringt. Menschen, die versuchen, sich den Schiffen zu nähern, werden kurzerhand mit einer Strahlenwaffe eliminiert. Das einzige Interesse, dass die Außerirdischen vorerst zeigen, ist das für holländische Holzschuhe, an denen sie einen ebenso unerklärlichen wie gigantischen Bedarf zu haben scheinen.

Da die Besatzung der Erde durch Außerirdische mit den rasant eintretenden Folgen der Klimaveränderung zusammenfällt, gleitet die menschliche Zivilisation zuerst ins Chaos ab, um dann zu mittelalterlichen Zuständen zurückzukehren. Da dies die Produktion von Holzschuhen nicht wesentlich einschränkt – der einzige relevante Wirtschaftszweig, der noch für eine Weile Bestand hat –, stört es die Außerirdischen nicht weiter. Sorgen macht ihnen nur, dass ihnen offenbar eine weitere, feindlich gesinnte Gruppe von Außerirdischen Konkurrenz macht. Da zufällig Lärm als eine tödliche Überempfindlichkeit der Außerirdischen entdeckt wurde, wirbt die eine Gruppierung der Fremden menschliche Hilfstruppen an, die einen Lärmfeldzug gegen die andere führt. Nachdem die gegenseitigen Interessensphären geklärt sind und die Herstellung von Holzschuhen automatisiert worden ist, besteht keine weitere Notwendigkeit zur Erhaltung der Menschheit. Man verwendet sie noch als Jagdobjekt, treibt die Reste dann in einem Reservat zusammen, wo man sie gegen Eintritt zur Besichtigung freigibt. Als die Menschheit beinahe nur noch eine Erinnerung darstellt, entsteht sogar eine anthropologische Forschung der Außerirdischen, die schließlich auch die Niederschrift der Erinnerungen Meneliks veranlasst, aus denen das Buch besteht.

Die Parallelen zur Eroberung Amerikas durch die Europäer sind ebenso offensichtlich wie dick aufgetragen, wodurch die Erzählung in der Länge etwas zu vorhersehbar wird. Die Satire auf die Esoteriker scheint ein wenig aufgesetzt, ist aber erzählerisch notwendig, um die eher ereignislose Zeit des ersten Auftauchens der Außerirdischen anzureichern. Alles in allem schon ein witziges und gelungenes Buch, wenn Rosendorfer auch sicherlich besseres abgeliefert hat.

Herbert Rosendorfer: Die Goldenen Heiligen oder Columbus entdeckt Europa. München: Nymphenburger, 1992. Leinen, 277 Seiten. Derzeit nicht lieferbar.