José Saramago: Das Todesjahr des Ricardo Reis

3-498-06215-8Roman um eines der Heteronyme Fernando Pessoas: Ricardo Reis wurde am 19. September 1887 in Porto geboren. Er besuchte dort eine Jesuitenschule und erhielt eine klassische Schulbildung. Reis wurde Mediziner und verdiente seinen Lebensunterhalt wahrscheinlich als praktizierender Arzt. Nach Gründung der portugiesischen Republik 1919 ging er nach Brasilien ins Exil. Seine Dichtung folgt klassischen Vorbildern; sein Lieblingsbuch waren dementsprechend die Satiren des Horaz.

José Saramagos Buch lässt Ricardo Reis in den letzten Tagen des Jahres 1935 nach Portugal zurückkehren; Fernando Pessoa ist etwa einen Monat zuvor verstorben. Reis kommt in einem kleinen Hotel mit Blick auf den Tejo unter, und sein erster Gang durch die Stadt führt ihn zum Grab Fernando Pessoas, dessen Tod wohl der eigentliche Anlass seiner Rückkehr ist. Sehr bald nach dem Besuch am Grab stellt sich zum ersten Mal der Geist Pessoas leibhaftig im Hotelzimmer Ricardos ein. Pessoa legt Reis gegenüber eine etwas spöttische Grundhaltung an den Tag; besonders mokiert er sich darüber, dass der lebenslange Einzelgänger nun gleich mit zwei Frauen anbändelt bzw. anzubändeln versucht: Reis beginnt eine Affäre mit Lídia, einem Zimmermädchen des Hotels, das zufällig denselben Namen trägt wie die fiktive Geliebte seiner Gedichte, und verliebt sich außerdem in Marcenda, ein junges, körperlich leicht behindertes Mädchen, das zusammen mit seinem Vater regelmäßig im Hotel zu Gast ist.

Reis, der in Brasilien zu einigem Wohlstand gekommen zu sein scheint, lässt sich eine Weile lang treiben, durchstreift Lissabon, betrachtet Denkmäler, liest Zeitungen, dichtet auch hin und wieder einige Verse. Erst eine Vorladung der Polizei, die erfahren möchte, welche Absichten der Herr Doktor mit seiner Rückkehr nach Portugal verbindet, rüttelt ihn auf. Er beschließt sich wenigstens zeitweilig in Lissabon niederzulassen, sucht sich eine Wohnung am Miradouro de Santa Catarina, nicht nur, weil sich dort eine Statue des Adamastor findet, sondern auch, weil der Blick auf den Hafen Lissabons für das letzte Kapitel des Romans von Bedeutung ist. Zudem sucht er sich eine Stelle als Vertretungsarzt, da er sich noch nicht entschließen kann, eine eigene Praxis zu eröffnen.

Auch in der neuen Wohnung führt er das Verhältnis mit Lídia weiter, die an ihren freien Tagen nicht nur mit dem Senhor Doktor das Bett teilt, sondern ihm auch den Haushalt führt. Ebenso verfolgt er seine Verliebtheit zu Marcenda weiter, so weit sogar, dass er ihr schließlich einen Heiratsantrag macht, den sie ablehnt, um sich von Ricardo auf Nimmerwiedersehen zu trennen. Die einzige andere Person, von der Reis regelmäßig Besuch bekommt, ist der Geist Pessoas, der aber immer mehr schwindet und ihm erklärt, es brauche nicht nur neun Monate, um zur Welt zu kommen, sondern ebenso lange um endgültig aus ihr zu verschwinden. Als Lídia schwanger wird und sich entschlossen zeigt, das Kind auszutragen, zeigt sich einmal mehr Ricardos Zögerlichkeit: Eine Heirat mit Lídia kommt für ihn gar nicht in Betracht, aber auch für eine Adoption kann er sich nicht entscheiden.

Der Roman endet in der Nacht vom 8. auf den 9. September 1936: Am 8. September unternahmen die Matrosen dreier portugiesischer Kriegsschiffe den Versuch einer Meuterei gegen das Regime Salazar, die aber bereits im Hafen von Lissabon blutig scheiterte. Einer der getöteten Matrosen ist Lídias Bruder, ein aktiver Kommunist und einer der Anführer der Meuterei. Bevor Ricardo Lídia noch einmal wiedersieht, holt ihn in der Nacht Fernando Pessoa ab und beide begeben sich gemeinsam zum Friedhof.

Diese alles in allem sehr schlichte, bruchlos zwischen Realismus und Fantastik wechselnde Fabel stellt Saramago vor den Hintergrund der politischen Entwicklung Portugals, Spaniens und Europas im Jahr 1936. In Spanien gewinnen die Kommunisten die Wahl, was innerhalb kurzer Zeit zu einem Militärputsch und dem Spanischen Bürgerkrieg führt. In Deutschland und Italien herrschen Faschisten, mit denen das Salazar-Regime weitgehend sympathisiert. Die portugiesische Öffentlichkeit ist von nationalem Pathos und Sendungsbewusstsein durchdrungen, fürchtet aber auch, dass die spanischen Unruhen auf Portugal übergreifen könnten. Zugleich ist die zivile Gesellschaft Portugals von Furcht und polizeilicher Gewalt gezeichnet.

Sprachlich ist das Buch über weite Strecken von erstaunlich langen, schwingenden und musikalischen Sätzen geprägt, die nach kurzem Einlesen zumindest bei mir einen regelrechten Sog entwickelten. Ich kann die Wirkung des Originals aufgrund mangelnder Sprachkenntnis nicht beurteilen, muss aber auch ohne das dem Übersetzer Rainer Bettermann das Kompliment machen, dass hier ein beeindruckendes und hoch originelles Sprachkunstwerk gelungen ist.

Für mich eine echte Entdeckung, die meine stofflich begründeten Vorurteile gegen Saramago nahezu vollständig über den Haufen geworfen hat. Dies wird in meiner Lesegeschichte nicht das letzte Buch von ihm bleiben.

José Saramago: Das Todesjahr des Ricardo Reis. Aus dem Portugiesischen von Rainer Bettermann. Reinbek: Rowohlt, 21998. Pappband, 496 Seiten. Derzeit nur als rororo 22308 für 9,90 € lieferbar.

Fernando Pessoa: Ein anarchistischer Bankier

978-3-8031-1236-1Kleiner dialogischer Essay um einen Anarchisten, der aus lauter Konsequenz zum Egoisten und aus lauter Egoismus zum Bankier geworden ist. Wahrscheinlich ist es ironisch gemeint, wahrscheinlich auch politisch, vielleicht sogar humoristisch. In jedem Fall ist es aber unerheblich, da keiner der verwendeten Grundbegriffe – Natur, Freiheit, Gesellschaft, Fiktion, Anarchie, Tyrannei, Egoismus – auch nur im Ansatz definiert wird. Von daher bleibt alles im Bereich der Beliebigkeit kaffeehäuslichen Intellektuellengebrummels. Wer sowas mag, um sich einen sonnigen Nachmittag im Garten seines Häuschens in der Toscana zu vertreiben, dem sei es empfohlen. Die anderen mögen die Zeit sinnvoller nutzen.

Fernando Pessoa: Ein anarchistischer Bankier. Übersetzt von Reinhold Werner. Berlin: Wagenbach, 2006. Leinen, Fadenheftung, 89 Seiten. 13,90 €.

Antonio Tabucchi: Die letzten drei Tage des Fernando Pessoa

978-3-446-23107-8Kurze biografische Erzählung, deren Inhalt der Titel bereits umreißt. Die Erzählung beginnt mit der Fahrt Pessoas ins Krankenhaus am Abend des 28. November 1935 und endet mit seinem Tod aufgrund einer Leberzirrhose am 30. In dieser Zeit wird er von den wichtigsten seiner Heteronyme besucht: Álvaro de Campos, Alberto Caeiro, Bernardo Soares, Ricardo Reis und António Mora kommen einer nach dem anderen, um sich von ihrem Autor zu verabschieden. Dabei erlaubt sich Tabucchi besonders bei Ricardo Reis massive Eingriffe in dessen Biografie: Er sei gar nicht, wie Pessoa bestimmt hat, nach Brasilien ausgewandert, sondern sei aufs Land gezogen und habe sein Leben als Provinzarzt verbracht. Warum Tabucchi versucht, Reis als Angeber hinzustellen, wird aus der Erzählung heraus nicht klar; ich bezweifle auch sehr, dass er erhebliche Gründe dafür hat.

Wie in vielen Fällen von biografischen Fiktionen überzeugt auch diese am Ende nicht. Das beginnt mit der immer problematisch bleibenden Notwendigkeit, die Voraussetzungen der geschilderten Situation in den personal gehaltenen Text einzuflechten, was dazu führt, dass man den Protagonisten lauter Sachen denken und sagen lässt, die normalerweise in seinem Kopf nichts zu suchen hätten. Und das endet nicht bei der Frage, für wen – außer dem Autor – eine solche Erzählung eigentlich gedacht sein soll: Der uniformierte Leser versteht den Witz nicht, der informierte zuckt mit den Schultern und vergisst es gleich wieder.

Antonio Tabucchi: Die letzten drei Tage des Fernando Pessoa. Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl. Edition Akzente. München: Hanser, 1998. Broschur, 67 Seiten. 9,90 €.

Antonio Tabucchi: Wer war Fernando Pessoa?

978-3-446-20963-3Kleine, aber höchst nützliche Aufsatzsammlung zu Fernando Pessoa, die auch zum Einstieg in die Auseinandersetzung mit diesem Autor sehr geeignet ist. Die meist kurzen Aufsätze sind thematisch vom Allgemeinen zum Besonderen hin sortiert: Es beginnt mit einer recht ausführlichen Darstellung von Pessoas Leben und Werk, gefolgt von einer Übersicht über die Heteronyme und ihre Werkanteile, Porträts einiger der Dichterpersönlichkeiten,  die Pessoa in sich erzeugt hat, und geht schließlich zu spezielleren Fragen über. Und obwohl Tabucchi Literaturwissenschaftler ist, sind diese Aufsätze frei von Jargon und theoretischem Gehabe. Ergänzt wird das Büchlein durch eine kleine Auswahl von Texten Pessoas, auf die in den Aufsätze Tabucchis Bezug genommen wurde.

Alles in allem ein musterhaftes kleines Büchlein, das einen schnellen und kompetenten Zugang zum Werk dieses anspruchsvollen, portugiesischen Schriftstellers eröffnet.

Antonio Tabucchi: Wer war Fernando Pessoa? Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl. Edition Akzente. München: Hanser, 1992. Broschur, 156 Seiten. 14,90 €.

Helmut Siepmann: Kleine Geschichte der portugiesischen Literatur

3-406-49476-5Eine für eine kleine Geschichte schon recht umfangreiche und, soweit ich das beurteilen kann, vollständige Darstellung der portugiesischen Literatur mit dem üblichen Schwergewicht auf dem 20. Jahrhundert. Alle wichtigen Autoren werden ausführlich behandelt, zentrale Werke sowohl inhaltlich referiert als auch kultur- und geistesgeschichtlich verortet. Eine gute Einführung, die aber deutlich für Studenten der Romanistik geschrieben wurde, so dass der Laie vielleicht für einzelne Begriffe den Übersetzer von Google zur Hilfe nehmen muss.

Dass dieses Buch weit und breit die einzige umfangreiche Darstellung zur Geschichte der portugiesischen Literatur ist und offensichtlich nach dem Erstdruck nicht noch einmal aufgelegt wurde, zeigt einmal mehr, welch stiefmütterlichen Platz die Literatur Portugals im Bewusstsein der sonst so weltoffenen deutschen Leser immer noch einnimmt.

Helmut Siepmann: Kleine Geschichte der portugiesischen Literatur. Beck’sche Reihe 1547. München: C. H. Beck, 2003. 320 Seiten. Zurzeit nur antiquarisch lieferbar.

Ángel Crespo: Fernando Pessoa

3-250-10282-2 Crespos Buch ist die umfangreichste Biografie des portugiesischen Schriftstellers Fernando Pessoa, die auf Deutsch vorliegt. Sie ist erstmals 1988 in Barcelona erschienen und wurde 1996 auf Deutsch vorgelegt, wohl schon mit Blick auf die Frankfurter Buchmesse 1997, bei der Portugal Gastland war. Die von mir gelesene deutsche Erstausgabe ist sprachlich an einigen Stellen sehr mangelhaft; ob und wie weit das in der »korrigierten« Taschenbuchausgabe bei Fischer 1998 behoben wurde, entzieht sich meiner Kenntnis.

Das Buch ist für einen deutschen Leser, der sich nicht schon zuvor mit der portugiesischen Literatur auseinandergesetzt hat, keine leichte Kost, da Crespo einige literarhistorische Kenntnisse schlicht voraussetzt. So werden Begriffe wie z. B. Saudosismus oder Paulismus weitgehend als bekannt vorausgesetzt. Dem gemeinen deutschen Leser empfehle ich daher, sich durch die Lektüre einer portugiesischen Literaturgeschichte (etwa der von Helmut Siepmann) etwas vorzubereiten. An anderen Stellen gewinnt man allerdings den Eindruck, dass auch Crespo nicht so genau weiß, worüber Pessoa gerade redet, was ihn  allerdings nicht hindert, sich seitenweise darüber auszulassen.

Auch was die Darstellung des Werks Pessoas angeht, wünschte man sich an vielen Stellen weniger abgehobenes Palaver und mehr konkrete Information. So findet sich an keiner Stelle eine systematische Darstellung aller von Pessoa verwendeten Heteronyme. Der Leser würde gerne erfahren, welche Heteronyme Pessoa überhaupt verwendet hat, in welcher Reihenfolge sie wahrscheinlich entstanden sind, welche biografischen Daten über sie vorliegen und welche Charakteristika ihre Werke voneinander unterscheidet. Ich will nicht sagen, dass sich nicht ein bedeutender Teil dieser Informationen im Buch finden lässt, nur eben hier und da, so wie es dem Autor gerade in den Sinn gekommen ist.

Wie schon angedeutet, verbessert sich diese Lage auch dadurch nicht, dass zumindest die deutsche Erstausgabe sehr flüchtig übersetzt und produziert worden ist. Es finden sich zahlreiche schlicht ungrammatikalische Sätze, die weder dem Übersetzer noch dem Lektorat hätten entgehen dürfen.

Insgesamt ein recht schlechtes Buch, das aber leider im deutschen Sprachraum konkurrenzlos geblieben zu sein scheint. Beide Ausgaben sind inzwischen lange vergriffen und nur noch antiquarisch erhältlich.

Ángel Crespo: Fernando Pessoa. Das vervielfältigte Leben. Aus dem Spanischen und Portugiesischen von Frank Henseleit-Lucke. Zürich: Ammann, 1996. Pappband, 496 Seiten, davon 16 mit Abbildungen.

Volker Hage (Hg.): Max Frisch

978-3-518-42212-0Umfangreiche Bild-Biografie anlässlich des 100. Geburtstags Frischs. Der Band enthält rund 300 Fotos, großteils in Schwarz-Weiß, die die gesamte Lebensspanne Frischs dokumentieren. Begleitet werden die Fotos durch sparsame, aber informative Texte, die einmal mehr Hages Kennerschaft belegen. Außerdem findet sich im Anhang drei umfangreiche Interviews, die Hage 1981 und 1982 mit Frisch geführt hat.

Im Gegensatz zu den üblichen Biografien, die in einem Jubiläumsjahr erscheinen, erschöpft sich dieses Buch nicht in der Wiederholung des längst anderswo schon Gesagten, sondern liefert einen kurzen und präzisen Überblick über das Leben Frischs.

Volker Hage (Hg.): Max Frisch. Sein Leben in Bildern und Texten. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2011. Pappband, Fadenheftung, 259 Seiten Kunstdruckpapier mit rund 300 Abbildungen. 24,90 €.

Émile Zola: Nana

zola_rougonNach dem doch etwas schwächelnden achten Band der Rougon-Macquart trumpft Zola im neunten Band auf: Mit »Nana« liefert er einen ersten Höhepunkt des Zyklus, der nicht nur als Skandalbuch bereits bei der Auslieferung der ersten Auflage komplett verkauft war, sondern sich bis heute als einer der bekanntesten Romane Zolas durchgesetzt hat. Die Erzählung schließt direkt an »Der Totschläger« an: Nana ist die Tochter des Ehepaars Coupeau, deren Niedergang dieser siebte Band des Zyklus thematisiert hatte. Die Handlung setzt im Jahr 1867 ein; Nana ist – so behauptet es wenigstens der Roman – achtzehn Jahre alt (gemäß der inneren Chronologie der Romane dürfte sie allerdings erst 15 sein, da sie 1852 geboren wurde) und feiert einen Skandalerfolg auf der Bühne des Théâtre des Variétés in einer etwas wirren Parodie auf Offenbachs »Orfeus in der Unterwelt«, allerdings nicht aufgrund ihrer schauspielerischen oder sängerischen Begabung, sondern weil sie als Venus beinahe nackt auf der Bühne erscheint.

Den aus diesem Skandal folgenden Ruhm nutzt sie allerdings vorerst nur für kurze Zeit, denn sie verliebt sich in einen Kollegen, für den sie zeitweilig alle anderen Männer ignoriert und mit dem sie eine gemeinsame Wohnung bezieht. Nachdem allerdings ihr Geld aufgebraucht ist, erweist sich dieser Liebhaber rasch als tyrannischer und meistens schlecht gelaunter Patron, der Nana zudem auch noch betrügt. Als von ihr finanziell nichts mehr weiter zu erwarten ist, setzt er sie von jetzt auf gleich vor die Tür.

Nana kehrt noch einmal kurz und erfolglos auf die Bühne zurück, wo sie sich vergeblich als ernsthafte Schauspielerin in der Rolle der Dame von Welt zu etablieren versucht, vom Publikum aber schlicht ausgelacht wird. Allerdings gelingt es ihr zugleich, sich einen neuen, finanzkräftigen Verehrer zu sichern: Graf Muffat, ein bislang tugendhafter und gut katholischer Spießer verfällt Nana komplett:

Jeder Kampf in ihm hatte aufgehört. Eine Woge von neuem Leben ertränkte seine Vorstellungen und seine Glaubenssätze von vierzig Jahren. Während er die Boulevards entlangging, dröhnte ihm beim Rollen der letzten Wagen Nanas Name in den Ohren, ließen die Gaslampen nackte Stellen, die geschmeidigen Arme und die weißen Schultern Nanas, vor seinen Augen tanzen; und er fühlte, daß er ihr verfallen war; er hätte alles verleugnet, alles verkauft, um sie noch an diesem Abend eine Stunde lang zu besitzen. Seine Jugend war es, die endlich erwachte, eine gierige jünglinghafte Pubertät, die plötzlich in seiner Kälte eines Katholiken und in seiner Würde eines reifen Mannes brannte.

Mit dem Vermögen des Grafen und einiger anderer Männer tritt Nana nun ihren gesellschaftlichen Siegeszug an: Dem Stand nach immer noch eine Prostituierte wird sie innerhalb weniger Monate durch eine maßlose Verschwendung zum Mittelpunkt der Pariser Gesellschaft. Als schließlich auch noch ein auf ihren Namen getauftes Pferd unerwartet den Großen Preis von Paris gewinnt, steigt sie zu einer bis dahin unbekannten Prominenz auf. Sie betrügt nun den Grafen in aller Offenheit, nimmt ihn und seine Nebenbuhler systematisch aus, wobei ihr das Geld von einem Augenblick zum anderen zwischen den Fingern verrinnt – so ist sie in einer Sequenz nicht in der Lage, einem Bäcker seine Rechnung über 133 Francs zu bezahlen, obwohl sie gleichzeitig zehntausende für ein neues Bett ausgibt – und treibt ihr Spiel aus Gier und Langeweile am Ende soweit, dass sie nicht nur mehrere der ihr zu Füßen liegenden Herren komplett ruiniert hat, sondern von dem ihr hörigen Grafen auch noch beim Geschlechtsakt mit seinem Schwiegervater, einem musterhaften Adeligen alter Schule, überrascht wird.

Gleich jenen antiken Ungeheuern, deren gefürchteter Bereich mit Gebeinen bedeckt war, setzte sie die Füße auf Schädel; und Katastrophen umgaben sie: der wilde Flammentod Vandeuvres, die Schwermut Foucarmonts, der in den Meeren Chinas umherirrte, der völlige Bankrott Steiners, der gezwungen war, als ehrbarer Mensch zu leben, der befriedigte Schwachsinn La Faloises, der tragische Zusammenbruch der Muffats und der weiße Leichnam Georges, an dem Philippe, der gestern aus dem Gefängnis gekommen war, Wache hielt. Ihr Zerstörungs- und Todeswerk war vollbracht; die vom Unrat der Vorstädte aufgeflogene Fliege, die den Gärungsstoff der gesellschaftlichen Fäulnis mit sich führte, hatte alle diese Männer durch ihre bloße Berührung vergiftet. Das war gut, das war gerecht; sie hatte ihre Welt, die Bettler und die Verlassenen, gerächt. Und während ihr Geschlecht in einem Glorienschein emporstieg und gleich einer aufgehenden Sonne, die die Stätte eines Blutbades bescheint, über seinen hingestreckten Opfern strahlte, bewahrte sie, stets gutmütig, ihre Ahnungslosigkeit eines prächtigen Tieres, das nichts von dem weiß, was es angerichtet hat. Sie blieb dick, sie blieb fett, bei guter Gesundheit und strahlender Heiterkeit. Das alles zählte nicht mehr, ihr Haus erschien ihr blöde, zu klein und voller Möbel, die sie behinderten. Eine Erbärmlichkeit, gerade gut genug für den Anfang. So träumte sie denn auch von etwas Besserem; und sie brach in großer Toilette auf, um Satin ein letztes Mal zu küssen, sauber, kräftig, ganz frisch aussehend, als sei sie völlig unverbraucht.

Doch ist dies der letzte Höhepunkt vor dem Untergang. Nana verkauft all ihren Besitz und verschwindet aus Paris, nur um im Juli 1870, am Fuß des deutsch-französischen Krieges zurückzukehren, sich bei ihrem in Paris zurückgebliebenen Kind mit Blattern anzustecken und binnen Kurzem das Zeitliche zu segnen. Mit ihrem Tod geht auch das Zweite Kaiserreich seinem Ende entgegen: Während Nana in einem Hotelzimmer umgeben von ihren alten Kolleginnen mit dem Tod kämpft, erschallen unten auf der Straße die Rufe »Nach Berlin! Nach Berlin! Nach Berlin!«

Ohne jede Einschränkung ist dieser bitterböse Gesellschaftsroman ein Meisterstück zu nennen. Er verfügt trotz seiner beinahe 500 Seiten über ein furioses Tempo, ist von einer brillanten Konstruktion und einer bis dahin wohl unerreichten Wahrhaftigkeit in der Darstellung der gutbürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Es ist daher kein Wunder, dass selbst Gustave Flaubert, der alles andere als leicht zu beeindrucken war, diesen Roman in den höchsten Tönen gelobt hat. Oder um es mit Lichtenberg zu sagen: »Wer zwei Paar Hosen hat, mache eins zu Geld und schaffe sich dieses Buch an.«

Übersichtsseite zur Rougon-Macquart

Émile Zola: Die Rougon-Macquart. Natur- und Sozialgeschichte einer Familie unter dem zweiten Kaiserreich. Hg. v. Rita Schober. Berlin: Rütten & Loening, 1952–1976. Digitale Bibliothek Bd. 128. Berlin: Directmedia Publ. GmbH, 2005. 1 CD-ROM. Systemvoraussetzungen: PC ab 486; 64 MB RAM; Grafikkarte ab 640×480 Pixel, 256 Farben; CD-ROM-Laufwerk; MS Windows (98, ME, NT, 2000, XP oder Vista) oder MAC ab MacOS 10.3; 256 MB RAM; CD-ROM-Laufwerk. 10,– €.

Robert Louis Stevenson: St. Ives

Einer der letzten Romane Stevensons, den er nicht hat zu Ende schreiben können. Wie unentdeckt Stevenson insgesamt im deutschen Sprachraum noch ist, zeigt sich auch daran, dass der Verlag weitgehend ungestraft behaupten darf, es handele sich hier um eine deutsche Erstausgabe des Textes. Das trifft nur in einem sehr speziellen Sinne zu: Für den Erstdruck 1896/1897 aus dem Nachlass heraus versuchte man den Roman für den normalen Leser zu retten, indem man die letzten sechs Kapitel von einem anderen Autor, A. T. Quiller-Couch, ergänzen ließ, um der Handlung einen Abschluss zu geben. Dabei handelt es sich immerhin um gute 20 % des Textes. In der Tat handelt es sich allein bei diesem nicht von Stevenson stammenden Nachklapp um eine deutsche Erstausgabe; den Text Stevensons hatte bereits Curt Thesing Anfang der 30er Jahre übersetzt. Ich habe auf die Lektüre des Nachklapps gänzlich verzichtet, da ohnehin klar ist, was geschehen wird, und die zusammengeklapperte Handlung durch eine Verlängerung sicherlich nicht besser wird.

Das Buch erzählt die Abenteuer eines französischen Adeligen, der zur Zeit der Napoleonischen Kriege in Edinburgh auf der Festung inhaftiert ist. Er verliebt sich, wie es sein muss, in eine mitleidige junge Schottin, kann fliehen, sucht seinen in England im Exil lebenden Onkel auf, der ihm sein Vermögen vermachen will, gerät darüber in Streit mit seinem als Doppelspion arbeitenden Cousin, geht unter Gefahr für Leib und Leben zurück nach Edinburgh, wo er, kurz bevor der Text abbricht, knapp einer Verhaftung entgeht. Dass es am Ende alles gut ausgehen, der etwas eitle und leichtlebige Protagonist sich zum Besseren bekehren und sein Mädchen bekommen wird, ist daher so klar, wie die sprichwörtliche Kloßbrühe.

Stevenson, der damals schon schwer krank war, hat diesen Roman diktiert und wohl nicht mehr abschließend redigieren können, was besonders im ersten Teil einige Verwerfungen erzeugt hat. Ansonsten hangelt sich die Handlung sehr konventionell von Abenteuer zu Abenteuer, und es ist mehr als verständlich, dass sich bis dato niemand entschließen konnte, an diesen Text die Mühe einer erneuten Übersetzung zu wenden. Dass es nun gerade Andreas Nohl ist, der uns zuletzt mit einem glatt gehobelten »Huckleberry Finn« beglückt hat und nun versucht, dieses etwa dünne Fähnchen in den Rang eines bedeutenden Spätwerks zu heben, passt zumindest in mein Bild.

Gesamturteil: Eher enttäuschend. Hervorgehoben werden muss allerdings einmal mehr die exzellente Buchausstattung des Hanser Verlages: ein flexibler Leinenband, Dünndruckpapier mit Fadenheftung, ein passendes Lesebändchen! So sollten alle Bücher aussehen! Wenn nur der Inhalt etwas besser wäre …

Robert Louis Stevenson: St. Ives. Aus dem Englischen von Andreas Nohl. München: Hanser, 2011. Leinen, Lesebändchen, 520 Seiten Dünndruckpapier. 27,90 €.

Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil

978-3-446-23634-9Ein Buch vom Sterben des Vaters. Arno Geiger erzählt von der Entwicklung der Demenzerkrankung seines Vaters und von seinem langsam Schwinden aus der Welt. Es ist zugleich eine berührende Liebeserklärung an den Vater, den Arno Geiger schon fast für sich verloren geglaubt hatte, zu dem aber aber durch die Krankheit einen Weg zurück findet. Was die Krankheit des Vaters den Sohn lehrt, ist Geduld zu haben und die Bereitschaft zu entwickeln, in der Welt des Vaters zu leben, da der nicht mehr in die des Sohnes wechseln kann. Der Schriftsteller lernt die aus der Demenz heraus entwickelte neue Sprache des Vaters schätzen, findet in ihr schließlich auch den ursprünglichen Charakter des Vaters wieder, den er schon verloren geglaubt hatte. Ja, es ist sogar so, dass die Familie, die sich schon weit auseinandergelebt hatte, aufgrund der Krankheit des Vaters wieder näher zusammenrückt.

Nebenbei fallen natürlich auch einige Betrachtungen über Krankheit und Tod im allgemeinen ab:

Das Alter als letzte Lebensetappe ist eine Kulturform, die sich ständig verändert und immer wieder neu erlernt werden muss. Und wenn es einmal so ist, dass der Vater seinen Kindern sonst nichts mehr beibringen kann, dann zumindest noch, was es heißt, alt und krank zu sein. Auch dies kann Vaterschaft und Kindschaft bedeuten, unter guten Voraussetzungen. Denn Vergeltung am Tod kann man nur zu Lebzeiten üben.

Oder:

In der Zeitung heißt es, dass Kakerlaken auf dem Bikini-Atoll Atombombentests überlebt haben und dass sie am Ende auch die Menschheit überleben werden. Schon wieder etwas, das mich überleben wird. Ich hatte mich schon damit abgefunden, dass mich der Wein und die Mädchen überleben werden. Aber dass es Kakerlaken geben wird, die sich ihres Lebens erfreuen, während ich habe abtreten müssen, das schmerzt ein wenig.

Ein berührendes Buch, das die Vorwürfe, die ihm in einigen Feuilletons gemacht wurden, durchaus nicht verdient hat.

Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil. München: Hanser, 2011. Pappband, 189 Seiten. 17,90 €.