Karl-Heinz Göttert: Die Ritter

978-3-15-010807-9Eine gut lesbare Überblicksdarstellung zur Geschichte des Rittertums von seinen Anfängen bis zum Aufgehen des Standes in der Reichsritterschaft. Der Autor wertet sowohl literarische als auch historische Quellen im engeren Sinne aus, um jeweils Ideal und Wirklichkeit der einzelnen Entwicklungsphasen einander gegenüber zu stellen. Ergänzt wird der Text durch zahlreiche, gut ausgewählte Abbildungen. Ich hätte mir die Darstellung des literarischen Nachlebens des Motivs umfangreicher gewünscht, aber man kann nicht alles haben. Alles in allem zur ersten Orientierung ausgezeichnet geeignet!

Karl-Heinz Göttert: Die Ritter. Stuttgart: Reclam, 2011. Pappband, 298 Seiten. 22,95 €.

Émile Zola: Ein Blatt Liebe

zola_rougonDer bislang schwächste Band im Zyklus der Rougon-Macquart. Erzählt wird eine sehr konventionelle Ehebruchsgeschichte aus der Sicht der Geliebten: Hélène Grandjean – Tochter Ursule Mourets und Enkelin Adelaïde Fouques – ist als verwitwete Mutter einer 11-jährigen, kränklichen Tochter von Marseilles nach Passy, einem Pariser Vorort, gezogen. Hier baut sie sich nach dem Ende ihrer Trauerzeit langsam einen neuen Bekanntenkreis auf, zu dem auch der in unmittelbarer Nachbarschaft lebende Arzt Henri Deberle und dessen Frau gehören, in deren Garten Hélène mit ihrer Tochter Jeanne viel Zeit verbringt. Zwischen Hélène und Henri entwickelt sich ein unausgesprochenes Liebesverhältnis, um dessentwillen Hélène auch den Heiratsantrag eines anderen Bekannten, Rambaud, vorerst ablehnt. Erst als Hélène erfährt, dass auch Henris Frau eine Affäre hat oder wenigstens kurz davor ist, eine zu beginnen, gibt sie ihrer Leidenschaft nach und beginnt mit Henri ein Verhältnis. Naturgemäß muss aber gerade an diesem Abend ein heftiges Gewitter über Passy niedergehen, das die kleine Jeanne am offenen Fenster überrascht und so durchnässt und schwächt, dass sie binnen Kurzem an der Schwindsucht dahinsicht. Der Tod ihrer Tochter, dem auch Henri nur hilflos zusehen kann, beendet das Verhältnis zwischen den Liebenden. Am Ende zeigt uns der Roman Hélène als um ihre Tochter trauernde Gattin des braven und biederen Rambaud, mit dem zusammen sie inzwischen wieder in Marseilles lebt.

Nahezu alles an diesem Roman ist voraussehbar und banal. Zolas Beschreibungskunst exzelliert einzig in fünf breit angelegten Darstellungen des Pariser Panoramas zu unterschiedlichen Tageszeiten und bei unterschiedlicher Witterung. Zola selbst war mit dem Roman nicht sonderlich zufrieden, hielt die Behandlung dieses Allerweltsthemas aber wohl für unverzichtbar für ein vollständiges Porträt des Zweiten Kaiserreichs.

Übersichtsseite zur Rougon-Macquart

Émile Zola: Die Rougon-Macquart. Natur- und Sozialgeschichte einer Familie unter dem zweiten Kaiserreich. Hg. v. Rita Schober. Berlin: Rütten & Loening, 1952–1976. Digitale Bibliothek Bd. 128. Berlin: Directmedia Publ. GmbH, 2005. 1 CD-ROM. Systemvoraussetzungen: PC ab 486; 64 MB RAM; Grafikkarte ab 640×480 Pixel, 256 Farben; CD-ROM-Laufwerk; MS Windows (98, ME, NT, 2000, XP oder Vista) oder MAC ab MacOS 10.3; 256 MB RAM; CD-ROM-Laufwerk. 10,– €.

Edgar Hilsenrath: Moskauer Orgasmus

978-3-423-13947-2Mein erstes Buch von Edgar Hilsenrath, und – ich gebe es zu – ich habe mich vom Titel verführen lassen, auch in dem Gedanken, dass mein Blog plötzlich in ganz anderen Google-Suchvorgängen auftauchen könnte. Ansonsten war das Buch ein Fehlgriff. Hilsenrath versuchte mit diesem Text, die Vorlage für eine schrille Hollywood-Komödie zu liefern, wovon er wohl eine eher nur vage Vorstellung hatte. So lassen die häufige Verwendung des Wortes »Schwanz« für das männliche Geschlechtsteil sowie die wiederholten Spekulationen einzelner Figuren über die Größe des Schwanzes der männlichen Hauptfigur vermuten, dass Hilsenraths Kenntnisse US-amerikanischer Film-Komödien beschränkt waren.

Alles in allem ein schlicht albernes Buch, das auch durch die wenigen ansprechenden Passagen – etwa über die Bukowina – nicht gerettet wird. Wer literarischen Klamauk mag, wird vielleicht ganz gut bedient, aber ich fürchte auch für diese Leser ist der Stoff zu dünn für die ausgestoßene Seitenzahl.

Edgar Hilsenrath: Moskauer Orgasmus. dtv 13947. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2010. 311 Seiten. 9,90 €.

Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre

Und da ich einmal so im Zuge war, habe ich gleich im Anschluss an Die Wahlverwandtschaften auch die Lehrjahre noch einmal gelesen. Nimmt man die beiden Meisterromane und die Vorstufe Wilhelm Meisters theatralische Sendung zusammen, handelt es sich bei diesem Romanprojekt nicht nur um das umfangreichste, sondern auch das, abgesehen vom Faust, die meiste Lebenszeit umfassende Werk Goethes.

Erzählt wird die Geschichte des jungen Wilhelm Meister, der zu Anfang des Romans gerade in dem Alter ist, dass sein Vater ihn erstmals mit geschäftlichen Aufträgen in die Welt hinausschicken will. Wilhelm stammt aus einer Kaufmannsfamilie, zeigt aber wenig Neigung, selbst Kaufmann zu werden. Seine Neigung gehört in jedem Sinne dem Theater, denn nicht nur will er sich als Schauspieler und Theaterautor etablieren, er hat auch ein zärtliches Verhältnis zu Mariane, einer jungen Schauspielerin, die gerade am Ort gastiert. Den ersten Auftrag seine Vaters, für ihn auf Reisen zu gehen, will er nutzen, um mit seiner Geliebten durchzubrennen, doch sieht er eines Abends kurz vor seiner Abreise einen anderen Mann die Wohnung Marianes verlassen, wähnt sich betrogen und reist verbittert allein ab.

Wilhelm schließt sich bald einer wandernden Theatertruppe an, bei der er nicht nur erste Erfahrungen als Schauspieler macht, sondern durch die er nach einigen umständlichen Verwicklungen auch in den Kontakt zu einer locker gefügten Gesellschaft von Adeligen kommt, die seinen weiteren Lebensweg entscheidend prägen soll. Die einzelnen Abenteuer, Liebesverhältnisse, verwickelten Verwandtschaften und Bekanntschaften nachzuerzählen, von denen sich der Autor vorstellt, dass sie seinen Protagonisten langsam aber sicher zu der den Roman beschließenden, wenn auch vorläufigen Klärung seiner Lebensverhältnisse führt, wäre ermüdend. Nach dem zu Goethes Zeit beliebten Muster des Geheimbund-Romans erweist es sich am Ende, dass Wilhelms Lebensweg von einer Gesellschaft vom Turm, die sich zugleich ironisch und esoterisch Formen der Freimaurerei bedient, seit Längerem beobachtet und in Grenzen auch gelenkt worden ist. Auch dass beinahe das gesamte Figurenensemble am Ende miteinander verwandt, verschwägert oder seit Jahren befreundet ist, entspricht weitgehend dem Zeitgeschmack.

Abgesehen davon ist das Buch motivisch und inhaltlich recht locker angelegt, eine Tendenz, die sich bekanntlich in den Wanderjahren noch verstärken wird, was natürlich auch der Arbeitsweise Goethes geschuldet ist, der diese Texte diktiert hat. (Ich habe mich bei der Lektüre mehr als einmal an das Diktum Arno Schmidts erinnert: »Bei Goethe ist der Roman keine Kunstform, sondern eine Rumpelkiste«. Das mag etwas zu scharf sein, stimmt aber in der Tendenz.) Trotz der zahlreichen Themen und Motive ist das Buch für den heutigen Leser von einer erstaunlichen Weltlosigkeit: Kaum ein Ort wird konkret beschrieben, kein Gebäude und kein Interieur nehmen wirklich Gestalt an, die meisten Figuren sprechen in ein und derselben Diktion, und nur hier und da gewinnt man einen deutlicheren Eindruck der fiktionalen Welt. Im Großen und Ganzen scheint die Handlung mehr Anlass für Reflexion und Dialog zu sein, als dass es Goethe tatsächlich auf das Erzählen ankommen würde. Auch diese Tendenz findet sich in den Wanderjahren wieder.

Das pädagogische Konzept und mithin das Menschenbild, das dem Roman zugrunde liegt, muss heute als hilflos idealisierend bezeichnet werden – ob das eine negative Aussage über Goethe oder über unsere Zeit ist, mag für hier und heute dahingestellt bleiben.

Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre. RUB 7826. Stuttgart: Reclam, 1986. 661 Seiten. 11,60 €.

Johann Wolfgang Goethe: Die Wahlverwandtschaften

Wahrscheinlich der Text Goethes, den ich inzwischen neben dem ersten Teil des Faust am häufigsten gelesen habe, diesmal aus didaktischen Gründen. Das Buch vorstellen, geschweige denn rezensieren zu wollen, stellt angesichts der mehr als hundertjährigen Vernachlässigung und seiner anschließend erfolgten Ausschlachtung durch die Germanistik natürlich eine Verwegenheit dar. Ich habe daher einige Zeit überlegt, meine wiederholte Lektüre hier einfach stillschweigend zu übergehen und mich Unbesprochenerem zuzuwenden. Andererseits ist ja gerade hier der Ort, Lektüre von und Auseinandersetzung mit klassischen Texten zu dokumentieren. Versuchen wir es also:

Erzählt wird die Geschichte des adeligen Ehepaares Charlotte und Eduard, die erst nach der Verheiratung mit jeweils anderen Partnern dazu gekommen sind, sich mehr aus sentimentaler Erinnerung als aus Liebe miteinander zu verheiraten. Sie haben sich nach der Hochzeit aufs Land zurückgezogen, um dort in trauter Zweisamkeit ihrer Idylle zu leben. Gestört wird dies Verhältnis durch einen Jugendfreund Eduards, den Hauptmann Otto, der verarmt und arbeitslos für eine Weile auf dem Schloss des Ehepaars Zuflucht findet. Um der Asymmetrie der Verhältnisse aufzuhelfen, wird dann noch Charlottens Nichte und Pflegekind Ottilie hinzugegeben. Leider bricht nun über die Gesellschaft als eine Naturgewalt die Liebe herein: Eduard und Ottilie verlieben sich ebenso ineinander wie Charlotte und der Hauptmann; während jene ihrem Gefühl weitgehend ausgeliefert sind, üben diese eine strengere Zurückhaltung sich und dem anderen gegenüber. Das fatale Überkreuz-Verhältnis gipfelt in einer Liebesnacht der Ehepartner, in der beide an den jeweiligen Geliebten denken und aus der ein Kind hervorgeht, dass nicht den leiblichen Eltern, sondern den bei der Zeugung nur im Geiste anwesenden Geliebten ähnelt.

Nach dem, von den meisten Zeitgenossen als zutiefst anstößig empfundenen, doppelten geistigen Ehebruch hat Goethe einige Schwierigkeiten, das Tempo des Romans aufrecht zu erhalten. Eduard wird vom Erzähler vorerst fortgeschickt, zuerst auf ein kleines Gut, dann gleich in den Krieg, damit er in der Zeit der Schwangerschaft keine zu großen Dummheiten anstellen kann. Auch der Hauptmann, von dem nur eine geringere Gefahr ausgeht, wird durch eine passende Arbeitsstelle entfernt, und um die Zeit zu füllen, finden sich einige neue Kandidaten ein, die Ottiliens Reizen verfallen: ein junger, romantischer Architekt und ein etwas pedantischer, aber um so vernünftigerer Pädagoge, die aber natürlich bei Ottilie kein Glück haben. Nach so manchem weiteren retardierenden Moment wird das Kind endlich geboren, Eduard kehrt zurück und das Unglück kann endlich seinen Lauf nehmen: Gerade als Charlotte in eine Scheidung einzuwilligen bereit ist, erfüllt sich Ottiliens tragisches Schicksal. Aufgeregt und durch Eduard verwirrt und verspätet, fällt ihr das Kind der Eheleute in den Teich, wo es ertrinkt. Diese tragische Schuld bringt Ottilie zur sittlichen Reife; sie entsagt ihrer Liebe und dann auch gleich noch ihrem Leben und hungert sich zu Tode. Natürlich kann auch Eduard nun nicht mehr leben und folgt der Geliebten, die ganz nebenbei im Tode auch beinahe noch zur Heiligen wird, nach. Am Ende soll der Leser für die beiden nebeneinander aufgebahrten Liebenden auf ein glücklicheres Wiedersehen in einer besseren Welt hoffen. Hienieden war ihnen kein Glück beschieden.

Die Wahlverwandtschaften stehen mit am Anfang der langen Reihe von Eheromanen des 19. Jahrhunderts, in denen das Bürgertum die Spannungen zwischen dem seiner Kultur zentralen Gefühlskult und der traditionellen Form der Partnerschaft zum Ausdruck bringt. Wie in vielen späteren Fällen steht auch bei Goethe letztlich eine tragisch aufgefasste Frauengestalt im Zentrum der Erzählung, für die eine Lösung ihres Konflikts im Leben nicht gefunden werden kann und die deshalb beinahe zwangsläufig sterben muss. Dass Ottilie dabei nicht in einem tragischen Sinne scheitert, sondern von ihrem Autor wenn nicht zur Heiligen so doch zumindest zu einem Engel verklärt wird, muss der Leser als unvermeidliche Folge des Goetheschen Optimismus hinnehmen.

Der Roman ist deutlich dichter erzählt als die sonstige späte fiktionale Prosa Goethes. Die Distanz des Erzählers zu seinen Figuren ist beachtlich, wenn er auch Sympathien für die stark idealisierte Ottilie natürlich nicht ganz verbergen kann. Es ist daher nicht erstaunlich, dass viele Leser den Roman eher verstörend fanden und finden. Lässt man sich allerdings ein auf das zugrunde liegende Konzept der Spannung zwischen elementarer Liebeserfahrung und gesellschaftlicher Konvention, liefert das Buch weit mehr als einen Kommentar zur adeligen Gesellschaft der Zeit nach der Französischen Revolution. Wahrscheinlich handelt es sich um Goethes modernsten Roman überhaupt.

Johann Wolfgang Goethe: Die Wahlverwandtschaften. RUB 7835. Stuttgart: Reclam, 2010. 282 Seiten. 5,60 €.

Christa Wolf: Kein Ort. Nirgends

3-423-11928-4Zweitlektüre, zum einen als mein Einstieg ins Kleist-Jahr 2011, zum anderen aus didaktischem Anlass. Mein Gedächtnis will die erste Lektüre in die Zeit des Studiums verlegen, doch meine Ausgabe belehrt mich eines anderen: Sie stammt aus dem Jahr 1994. Auch sonst ist von damals nicht viel in Erinnerung geblieben, und ich fürchte, dass das auch diesmal nicht viel anders gehen wird.

Erzählt wird eine fiktive Begegnung zwischen Karoline von Günderrode und Heinrich von Kleist im Juni 1804 in Winkel am Rhein im Haus der Brentanos. Karoline ist in Begleitung des Ehepaars Savigny, Kleist in der des Arztes Wedekind, in dessen Haushalt er halb als Patient, halb als Gast lebt. Außerdem anwesend sind Clemens Brentano mit seiner Frau Sophie und seiner Schwester Bettine sowie weitere prominente Gäste. Nach anfänglichem Fremdeln geraten die Günderrode und Kleist schließlich auf einem Spaziergang in ein tiefschürfendes Gespräch, in dem beider Missverhältnis zur Welt ausführlich zur Sprache kommt.

Solche fiktiven Gespräche, in denen sich in der Hauptsache der Autor, in diesem Fall die Autorin mit sich selbst unterhält, wurden klassischerweise als Totengespräche inszeniert. Es ist nicht nur durch das ideologische Umfeld, in dem der Text entstand, verständlich, dass Wolf auf eine derartige metaphysische Szenerie verzichtet. Außerdem fügt es dem Gespräch eine gewisse existentielle Note hinzu, dass ihr Selbstmord den beiden Teilnehmern noch bevorsteht. Ob sich die Günderrode und Kleist tatsächlich in ein derartig spätpubertäres, hochtrabendes Geraune verloren hätten, wie Wolf imaginiert, soll ruhig jeder Leser für sich entscheiden. Hübsch ist natürlich der Titel, bei dem es sich um die Eindeutschung des Wortes »Utopie« handelt.

Christa Wolf: Kein Ort. Nirgends. dtv 11928. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1994. 150 Seiten.

Émile Zola: Der Totschläger

zola_rougonDer siebte Band der Rougon-Macquart. Nachdem Zola in Seine Exzellenz Eugène Rougon die Kreise der Pariser Hochpolitik dargestellt hat, wendet er sich im Nachfolgeband dem Arbeitermilieu zu. Im Zentrum des Romans steht Gervaise Macquart, eine der beiden Töchter Antoine Macquarts, die bereits als junges Mädchen Plassans zusammen mit Jacques Lantier verlassen hatte. Der Roman beginnt, als Gervais von Lantier, von dem sie zwei Kinder hat und mit einem dritten schwanger ist, verlassen wird. Lantier ist ein Säufer und Schmarotzer, und als Gervais und ihm die Mittel auszugehen drohen, orientiert er sich anderweitig. Gervais nimmt sich diese Trennung nicht zu sehr zu Herzen, obwohl sie Lantier noch liebt, sondern fängt an, sich und ihre Kinder durch harte Arbeit zu ernähren. Sehr bald bekommt sie einen Heiratsantrag ihres Nachbarn Coupeau, den sie nach einigem Zögern annimmt.

Coupeau erscheint zuerst als Mustergatte: Im Gegensatz zu Lantier trinkt er nicht, er bringt seinen Lohn brav nach Hause, ist genau wie seine Frau spar- und strebsam, so dass die beiden, die auch eine gemeinsame Tochter – Nana – bekommen, bald daran denken können, dass sich Gervais mit einer Wäscherei selbstständig macht. Doch Coupeau erleidet einen Arbeitsunfall, der ihn monatelang arbeitsunfähig macht. Der Verdienstausfall und die Arztkosten verzehren das angesparte Kapital, so dass Gervais den Plan mit der Wäscherei schon verloren gibt, als sich die Goujets, Nachbarn und ein Muster an Wohlanständigkeit, deren Sohn zudem auch noch in Gervais verliebt ist, bereit erklären, ihr das nötige Startkapital zu leihen.

Gervais’ Traum von einer kleinbürgerlichen Zukunft scheint damit gerettet. Es macht ihr auch nichts aus, dass ihr Ehemann nach seiner Gesundung nicht nach Arbeit sucht, sondern sich an das süße Nichtstun gewöhnt zu haben scheint. Im Gegensatz zu früher beginnt er nun auch, regelmäßig zu trinken, zwar erst nur Wein, mit der Zeit aber auch immer stärker Sachen. Die Lage spitzt sich weiter zu, als auch Lantier wieder auftaucht: Entgegen anfänglicher Befürchtungen von Gervais, ihr eifersüchtiger Ehemann könne einen Skandal heraufbeschwören, verstehen sich die beiden Männer beinahe auf Anhieb, und Lantier mietet sich bei den Coupeaus ein, versteht sich mit dem Ehemann aufs Beste und wird ein Schmarotzer mehr im Haushalt, ja schließlich sogar wieder Gervais’ Liebhaber.

Natürlich hält der Verdienst der kleinen Wäscherei Gervais’ zwei solche Schmarotzer schlecht aus, und da auch Gervais dazu neigt, es sich gut gehen zu lassen, leidet die Familie unter ständiger Geldnot. Der soziale Abstieg ist unvermeidlich; Gervais muss, als sie die Miete nicht mehr zahlen kann, den Laden aufgeben, Lantier wechselt gleich mit zu den neuen Ladenbesitzern, und Gervais und ihr Ehemann geraten in eine Spirale der Verarmung, aus dem sie sich nicht zu befreien verstehen. Als schließlich auch Gervais anfängt zu trinken, ist es mit der Familie endgültig aus: Nana wird Prostituierte, Coupeau verendet im Delirium und schließlich geht Gervais an Hunger und Kälte zugrunde.

Der Totschläger hat seinen Titel von einer Bezeichnung billiger Kneipen, die im Pariser Argot des 19. Jahrhunderts »Assommoir« genannt wurden; Totschläger ist als Übersetzung vielleicht etwas drastisch, trifft aber die Intention Zolas bei der Titelgebung. Der Totschläger ist der erste Roman der Rougon-Macquart, bei dem sich Zola genötigt sah, ihn durch ein Vorwort in Schutz zu nehmen. Schon auf den Zeitungs-Vorabdruck hatte die Kritik mit Vorwürfen reagiert, der Roman verwende eine zu drastische Sprache und schildere Szenen, die so nicht literarturfähig seien. Zola wendet dagegen ein, dass er sorgfältig die Sprache des Volkes gesammelt habe und dass das von ihm geschilderte Elend so tatsächlich vorhanden sei. Bereits die zeitgenössische Kritik hat aber festgestellt, dass Der Totschläger bei allem Realismus doch weit entfernt von sozialer Kritik bleibt. Sicherlich schildert Zola unmenschliche soziale Verhältnisse, aber seine Figuren bleiben im Wesentlichen Opfer ihrer selbst. Es sind nicht gesellschaftliche Verhältnisse, die sie scheitern lassen, sondern Zufälle und die Unzulänglichkeiten ihrer Charaktere. Diese Einschränkung der Perspektive wird erst in Zolas späteren Romanen aufgehoben werden.

Übersichtsseite zur Rougon-Macquart

Émile Zola: Die Rougon-Macquart. Natur- und Sozialgeschichte einer Familie unter dem zweiten Kaiserreich. Hg. v. Rita Schober. Berlin: Rütten & Loening, 1952–1976. Digitale Bibliothek Bd. 128. Berlin: Directmedia Publ. GmbH, 2005. 1 CD-ROM. Systemvoraussetzungen: PC ab 486; 64 MB RAM; Grafikkarte ab 640×480 Pixel, 256 Farben; CD-ROM-Laufwerk; MS Windows (98, ME, NT, 2000, XP oder Vista) oder MAC ab MacOS 10.3; 256 MB RAM; CD-ROM-Laufwerk. 10,– €.

Ian McEwan: Der Zementgarten

978-3-257-20648-7 McEwans erster Roman, der zuerst 1978 erschienen ist. Erzählt wird von einem Haushalt mit vier Kindern, in dem zuerst der Vater und wenig später auch die Mutter stirbt. Die Kinder verschweigen den Tod der Mutter, die zuvor schon einige Zeit bettlägerig gewesen war, zementieren ihre Leiche in eine Metallkiste ein und leben einen Sommer lang unbehelligt von Erwachsenen. Erzähler ist Jack, der mit 14 Jahren ältere der beiden Jungen, der sich nicht nur in die veränderte Situation seines Elternhauses einfinden muss, sondern auch mit seiner Pubertät zu kämpfen hat. Als seine 17-jährige Schwester einen Freund mit ins Haus bringt, reagiert Jack mit Eifersucht und Rivalität. Gleichzeitig verarbeitet sein Bruder Tom, der noch zur Grundschule geht, das Mobbing durch seine Schulkameraden, indem er in die Rolle eines Mädchens schlüpft, worin seine beiden Schwestern ihn unterstützen.

Der Roman enthält wenig Handlung im klassischen Sinne, sondern legt den Schwerpunkt der Darstellung auf die soziale und psychische Entwicklung seines Protagonisten. Inwieweit man das überzeugend findet, hängt wohl sehr stark vom einzelnen Leser ab. Mir war das Erzählte über weite Strecken zu statisch und zu impressionistisch. Der vorliegende Stoff scheint mir nur für eine weit kürzere Erzählung ausreichend, der Roman überdehnt ihn.

Ian McEwan: Der Zementgarten. Kollektivübersetzung, Endredaktion: Christian Enzensberger. detebe 20648. Zürich: Diogenes, 1982. 206 Seiten. 8,90 €.

Paolo Giordano: Die Einsamkeit der Primzahlen

978-3-89667-397-8Ungewöhnlich erfolgreiches Roman-Debut eines jungen italienischen Autors. Erzählt wird die Geschichte zweier Beschädigter: Alice, die sich als junges Mädchen beim verhassten Skitraining ein Bein bricht und deshalb hinkt und die sich außerdem eine Magersucht zuzieht. Mattia, der als hochbegabter Zwilling einer lernbehinderten Schwester geboren wird und beim ersten Mal, dass er auf einem Kindergeburtstag eingeladen wird, seine ihm peinliche Schwester auf dem Weg dorthin in einem Park zurücklässt und nicht mehr wiederfindet. Beide Lebenswege werden abwechselnd erzählt, wobei sich der Erzähler nur auf bestimmte Zeitabschnitte konzentriert. Beide lernen sich als Schüler kennen, beide entwickeln eine Freundschaft, die nicht intim wird, obwohl beide offenbar mehr füreinander empfinden. Nach seinem Mathematik-Studium bekommt Mattia die Chance, an eine bedeutende amerikanische Universität zu wechseln, und Alice, die inzwischen als Fotografin arbeitet, lernt gleichzeitig einen jungen Arzt kennen, der sich ernsthaft für sie interessiert. Mattia bleibt an seiner neuen Universität lange Zeit ein Einzelgänger; Alice durchlebt das, was man wohl eine normale Ehe nennen muss, bis ihr Mann endlich ein Kind haben will, was Alice in die missliche Lage bringt, ihre Magersucht eingestehen, vielleicht sogar aufgeben zu müssen. Stattdessen trennt sie sich lieber von ihrem Ehemann.

Es ist das Ende, das das Buch zu etwas Ungewöhnlichem macht: Giordano konstruiert ein erzählerisch gut vorbereitetes Happy End für seine behinderte Liebesgeschichte und hat dann den Mut, das angesteuerte Klischee nicht zu bedienen: Es wird eben nicht alles wieder gut! Im Gegenteil sind beide Figuren nach dieser letzten Chance für den Erzähler nicht mehr interessant. Es spricht für die Qualität des Originals, dass das Buch trotz dieser außergewöhnlichen Entscheidung seines Autors einen solchen Erfolg hatte. Leider ist die deutsche Übersetzung sprachlich etwas lax geraten.

Das Buch wurde 2010 in die Auswahlliste der Jury zum Deutschen Jugendliteraturpreis aufgenommen, ist aber nicht das, was man sich normalerweise unter einem Jugendbuch vorstellt.

Paolo Giordano: Die Einsamkeit der Primzahlen. Aus dem Italienischen von Bruno Genzler. München: Karl Blessing, 2009. Pappband, 365 Seiten. 19,95 €.

Janne Teller: Nichts

978-3-446-23596-0Bereits im Jahr 2000 in Dänemark erschienen, ist das Buch im skandinavischen Raum angeblich kontrovers diskutiert worden und nun auch auf Deutsch erschienen. Erzählt wird die Geschichte einer 7. Schulklasse im kleinen Ort Tæring, in der der Schüler Pierre Anthon zur Entdeckung der Konsequenzen des Nihilismus vordringt: »Nichts bedeutet irgendwas, das weiß ich seit Langem. Deshalb lohnt es sich auch nicht, irgendetwas zu tun.« Wie die meisten nihilistischen Schwätzer geht Pierre Anthon nun aber nicht zum Nichtstun über, sondern wird zum Propheten des Nihilismus, der seinen Mitschülern auf die Nerven geht.

Da seine Mitschüler philosophisch ebenso unbelehrt sind wie der Prophet (und wahrscheinlich auch die Autorin), entwickeln sie ein Projekt zu seiner Widerlegung: In einem aufgegebenen Sägewerk tragen sie einen Haufen von Gegenständen zusammen, die Bedeutung haben. Damit niemand schummelt, legt jeder Schüler jeweils für einen anderen fest, was für denjenigen von Bedeutung ist und was er hergeben muss. Zu Anfang sind die Opfer am Altar der Bedeutung harmlos, aber mit der Zeit übertrumpfen sich die Vorschläge: Die Unschuld von Sophie, der Sarg mit dem toten Bruder von Elise, ein abgeschnittener Hundekopf und zum Schluss der abgeschnittene Zeigefinger Jan-Johans, des Gitarrenspielers der Klasse.

Nach diesem letzten Opfer fliegt das Projekt der Schüler auf. Nun muss der Leser eine wahrscheinlich satirisch gemeinte Darstellung der modernen Medienlandschaft durchlaufen. Nachdem die Autorin auch das abgekaspert hat, kommt es zum Showdown: Der Prophet Pierre Anthon wird mit dem – inzwischen vom New Yorker MOMA als Kunstwerk angekauften – »Berg der Bedeutung« konfrontiert, aber da er (und wahrscheinlich die Autorin) kein ganz so großer Schwachkopf ist wie seine Mitschüler, macht er sich über deren hilflosen Versuch, Bedeutung anzuhäufen, zu Recht lustig. Er wird daraufhin von seinen Mitschülern ebenso zu Recht erschlagen und Leiche und Berg der Bedeutung anschließend verbrannt. Um ihren Kult um die Bedeutung abzuschließen, sammeln die Schüler schließlich die Asche ihrer Jugend ein und jeder kriegt ’ne Flasche.

Der Text funktioniert überhaupt nur, da er im pseudonaiven Ton einer der Mitschülerinnen erzählt ist. Jeder Hauch nur einer ernsthaft erwachsenen Perspektive würde den ganzen Unfug des Buches augenblicklich zusammenbrechen lassen. Es ist kein Wunder, dass ein solches Buch in einem Land, das Peter Sloterdijk für einen Philosophen hält, auf den Bestsellerlisten landet.

Janne Teller: Nichts. Was im Leben wichtig ist. Aus dem Dänischen von Sigrid C. Engeler. München: Hanser, 2010. Broschiert, 140 Seiten. 12,90 €.