Paul Auster: Unsichtbar

978-3-498-00081-3Auster ist schlicht ein großer Routinier der literarischen Fiktion. Unsichtbar enthält im Wesentlichen zwei erzählerische Ebenen, von denen die eine eine Variation der klassischen Herausgeberfiktion darstellt. Im Zentrum des Romans steht der 20-jährige Adam Walker, der 1967 in New York Literatur studiert und Schriftsteller werden will. Er lernt auf einer Party Rudolf Born, einen Schweizer Gastprofessor seiner Universität, und dessen Freundin Margot kennen. Als er Born kurze Zeit später zufällig wieder trifft, macht dieser ihm ein außergewöhnliches Angebot: Born habe geerbt und wolle Geld in ein Projekt investieren, etwa eine literarische Zeitschrift. Ob Walker sich vorstellen könne, eine solche Zeitschrift zu leiten? Obwohl Walker misstrauisch ist, ob es sich nicht um einen Scherz handelt, entwickelt er ein Konzept für eine solche Zeitung, das von Born akzeptiert wird: Born will die Zeitschrift im ersten Jahr mit 25.000 $ finanzieren. Als Born kurz darauf für kurze Zeit nach Paris reist, beginnt seine Freundin eine Affäre mit Walker, die mit Borns Rückkehr endet. Born trennt sich allerdings daraufhin von Margot, auch weil er vorhat in Frankreich zu heiraten. An dem Plan mit der Zeitschrift ändert sich aber nichts: Als Walker Born das nächste Mal trifft, stellt der ihm einen Scheck über das erste Viertel der geplanten Summe aus. Als die beiden dann ausgehen, um etwas zu essen, werden sie von einem Schwarzen überfallen, den Born kurz entschlossen mit einem Messer niedersticht. Walker sucht das nächste Telefon, um eine Ambulanz zu rufen, doch als er zum Tatort zurückkehrt, sind Born und das Opfer verschwunden. Am nächsten Tag erfährt Walker aus der Zeitung, dass die Leiche eines Schwarzen entdeckt wurde, der mit zahlreichen Messerstichen getötet wurde. Am selben Tag findet er in seinem Briefkasten eine Drohung Borns, ihn zu töten, falls er zur Polizei gehe. Als Walker sich nach mehreren Tagen doch dazu entschließt, die Polizei zu verständigen, ist Born inzwischen nach Frankreich geflohen.

Soweit der erste von vier Teilen des Buchs. Im zweiten Teil erfährt der Leser, dass es sich beim ersten um einen Entwurf Walkers zum einem autobiografischen Roman handelt. Walker hat diesen Entwurf an einen ehemaligen Kommilitonen und erfolgreichen Autor, James Freeman, geschickt mit der Bitte, ihm schriftstellerisch etwas auf die Sprünge zu helfen, da er mit dem zweiten Teil nicht recht vorwärts komme. Freeman erfährt, dass der inzwischen 60-jährige Walker an Leukämie erkrankt ist und wahrscheinlich bald sterben wird. Er gibt Walker einige allgemeine Tipps und hält bald den zweiten Teil des Romans in Händen, der von den folgenden Monaten des Jahres 1967 erzählt: Walker arbeitet als Hilfskraft in der Universitätsbibliothek und hat außerdem eine inzestuöse Beziehung zu seiner Schwester, mit der er zusammenlebt. Dieses Verhältnis endet, als Walker ein Auslandsstudienjahr in Paris antritt.

Als Freeman nach der Lektüre des zweiten Kapitels Walker wie verabredet besuchen will, erfährt er, dass der kurz zuvor verstorben ist. Er hat Freeman aber den Entwurf des abschließenden dritten Kapitels hinterlassen. Wie zu erwarten ist, spielt der letzte Teil von Walkers Roman in Paris und bringt eine Wiederbegegnung sowohl mit Margot als auch mit Born. Die Ereignisse der wenigen Wochen, die Walker in Paris zubringt, nachzuerzählen, kann hier unterbleiben. Wichtig ist nur, dass Walker versucht, Borns geplante Eheschließung zu verhindern und auf diese obskure Weise den New Yorker Mord an dem Schwarzen zu rächen. Als Born Walkers Vorhaben erkennt, lässt er Walker kurzerhand wegen Drogenbesitzes festnehmen und ausweisen.

Im vierten und letzten Teil des Buches beschäftigt sich Freeman mit dessen Herausgabe, nachdem Walkers Schwester ihm dazu den Auftrag erteilt hat. Nachdem Freeman von ihr erfahren hat, dass zumindest die inzestuöse Beziehung frei erfunden ist, nutzt er seinen nächsten Paris-Aufenthalt, um zu recherchieren, wie viel von dritten Teil der Erzählung der Wahrheit entspricht. Und tatsächlich kann er eine der Figuren aus Walkers Roman identifizieren. Von ihr erfahren wir zum Abschluss auch von der weiteren Geschichte Rudolf Borns.

Auster beweist einmal mehr, dass die guten alten Muster der Erzählkunst immer noch wirksam sind: Herausgeberfiktion, Spannung zwischen den Ebenen der Fiktion und der fiktiven Wirklichkeit, Liebe, Sex and Crime, eine moralisch fragwürdige Haupt- und eine zwielichtige Nebenfigur – all das wird zu einem gut erfundenen, routiniert erzählten Unterhaltungsroman verarbeitet. Es ist immer wieder erstaunlich, mit welch leichter Hand Auster das Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Ebenen seiner Fiktionen aufrecht erhalten kann. Für meinen persönlichen Geschmack war es in diesem Fall am Ende eine fiktionale Ebene zu viel, aber das mögen andere Leser anders empfinden.

Paul Auster: Unsichtbar. Aus dem Englischen von Werner Schmitz. Reinbek: Rowohlt, 2010. Pappband, Lesebändchen, 316 Seiten. 19,95 €.

Philip Roth: Nemesis

978-0-224-08953-1Sogenannter Kurzroman (Short Novel), der aber mit immerhin 280 Seiten so manche heutzutage schlicht mit Roman betitelte Produktion deutlich übertrifft. Erzählt wird die Geschichte Eugene »Bucky« Cantors, eines jungen Sportlehrers, der im Jahr 1944 während der Sommerferien in Newark einen Sportplatz als Playground director betreut. Cantor leidet darunter, dass er nicht wie andere junge Männer seiner Generation im Krieg ist, da er aufgrund seiner extrem schlechten Augen als untauglich eingestuft wurde. Nichtsdestotrotz ist er ein überdurchschnittlicher Athlet, der Turmspringen und Speerwurf als besondere Disziplinen betreibt. Und er betreut den Sportplatz gern, hat ein herzliches Verhältnis zu den meisten Kindern dort und wird auch von ihnen als Vorbild und wichtige Bezugsperson wahrgenommen. Nur dass er während der Ferien von seiner Freundin Marcia Steinberg, die in dieser Zeit in einem Sommercamp in Pennsylvania arbeitet, getrennt ist, lässt ihn ein wenig mit seiner Situation hadern.

Bereits zu Beginn des Sommers bricht in Newark eine Polio-Epidemie aus, die sich bald schon auf den jüdischen Stadtteil Weequahic, in dem auch Cantors Schule und der Sportplatz liegen, zu konzentrieren scheint. Kurz nach Ausbruch der Epidemie sterben gleich zwei Jungen, die Cantor regelmäßig auf dem Sportplatz betreut hatte. Die Mutter eines anderen erkrankten Kindes macht Cantor Vorwürfe, er schone die Kinder nicht genug und sei deshalb mitverantwortlich an den zahlreichen Erkrankungen. Nahezu gleichzeitig ergibt sich für Cantor die Möglichkeit, seiner Freundin nachzureisen, da im Ferienlager ein Schwimmlehrer gebraucht wird. Obwohl Cantor es für seine Pflicht hält, in der Stadt zu bleiben und seine Kinder nicht im Stich zu lassen, gibt er, einem plötzlichen Impuls folgend, den Bitten seiner Freundin nach, kündigt seine Stelle und flieht vor der Epidemie in die scheinbar heile Welt des Ferienlagers. Dort angekommen macht ihm zwar zuerst noch sein Gewissen zu schaffen, das ihm nicht nur seine Flucht aus Newark, sondern auch seine militärische Untauglichkeit vorhält, doch angesichts des harmonischen Lagerlebens und der Nähe seiner Freundin versucht er diese Gedanken zu verdrängen. Sieben Tage nach seiner Ankunft erkrankt einer der Jungen aus seiner Hütte an Polio. Es folgen rasch weitere Fälle und wiederum ein paar Tage später ist auch Bucky Cantor eines der Opfer der Krankheit.

Bis zu dieser Stelle ist der Roman eher ruhig und in einem weitgehend auktorialen Stil geschrieben. Wir erfahren im ersten Teil zwar kurz, dass der Text einen Ich-Erzähler hat, Arnie Mesnikoff, einen der erkrankten Jungen in Newark. Doch erst im dritten Teil des Buches kommt dieser Ich-Erzähler im eigentlichen Sinne zu Wort. Er berichtet davon, Bucky Cantor viele Jahre nach den geschilderten Ereignissen wiedergetroffen zu haben. Beide befreunden sich erneut, und Cantor erzählt Mesnikoff seine Lebensgeschichte. Wir erfahren, dass er sich nach seiner Erkrankung geweigert hat, wieder Kontakt zu Marcia aufzunehmen. Er wollte seiner Geliebten nicht eine Ehe mit einem Behinderten zumuten und sein eigenes Glück aufopfern, um sie nicht unglücklich zu machen. Gespeist wird die Opferrolle, in die sich Cantor begibt, durch seine ihn überwältigenden Schuldgefühle: Er glaubt sich nicht nur verantwortlich für den Ausbruch der Krankheit im Ferienlager, sondern hält es sogar für wahrscheinlich, dass er auch die Kinder in Newark angesteckt habe. Zusammen mit den ihn sowieso peinigenden Selbstvorwürfen wegen seiner Untauglichkeit und seiner Flucht aus Newark ergibt sich eine psychische Lage, aus der er sich selbst nicht mehr befreien kann. Das Buch endet überraschend mit einer Apotheose Cantors, indem der sich erinnert, seinen Schülern auf dem Sportplatz seine Fähigkeiten als Speerwerfer vorgeführt zu haben: Dabei gerät Bucky beinahe zu einem klassisch-griechischen Helden.

Es handelt sich um einen für Roth außergewöhnlich ruhig erzählten, weitgehend ereignislosen Roman, dem ein echter Höhepunkt fehlt. Die eher ungewöhnliche erzählerische Konstruktion war ähnlich bereits in The Human Stain zu finden, in dem der Ich-Erzähler ebenfalls relativ spät im Text auftritt. Für die Einordnung des Textes erscheint es nicht unwichtig, dass der Verlag dem Buch eine Übersicht der Rothschen Werke mitgegeben hat, in der vier seiner letzten Bücher – Everyman, Indignation, The Humbling und eben Nemesis – unter der Überschrift Nemeses: Short Novels zu einer neuen Gruppe zusammengefasst wurden. Nemesis steht hier wohl in erster Linie für das vom Schicksal dem Einzelnen Zugeteilte, wobei noch zu reflektieren wäre, ob bei Roth das Prinzip der gerechten Strafe nicht durch das einer ausgleichenden Ungerechtigkeit ersetzt worden ist.

Philip Roth: Nemesis. London: Jonathan Cape, 2010. Pappband, 283 Seiten. 11,95 €.

Tom Rachman: Die Unperfekten

978-3-423-24821-1Netter, ein wenig zu lang geratener sogenannter Roman, der in einzelnen Erzählungen um die Mitglieder Redaktion einer namenlos bleibenden Zeitung kreist. Die Redaktion ist in Rom angesiedelt, wurde aber von einem Amerikaner gegründet und erstellt eine englischsprachige Zeitung für den internationalen Markt. Jedes der elf Kapitel dreht sich um jeweils ein Mitglied der Redaktion oder einen Korrespondent; in einem Kapitel steht sogar eine Leserin der Zeitung im Mittelpunkt. Am Ende der einzelnen Kapitel wird in einer kursiv gesetzten Passage die Geschichte der Zeitung aufgerollt von ihrer Gründung in der 50er Jahren des 20. Jahrhunderts bis zu ihrer Auflösung im Jahr 2007. Die meisten Figuren sind witzig oder obskur, die meisten Erzählungen humorvoll und leicht zu konsumieren. Gegen Ende wird es ein wenig dünner, wahrscheinlich auch, weil hier der Bericht vom Niedergang der Zeitung dem Autor gewisse erzählerische Zwänge auferlegt.

Wirklich zu bemängeln ist eigentlich nur der deutsche Titel: Das Original heißt »The Imperfektionists«, also Die Imperfektionisten, was zugleich mit der grammatikalischen Zeitstufe des Imperfekts und der Spannung zwischen dem Anspruch auf Perfektionismus und der immerwährenden Unvollkommenheit im Geschäft des Journalismus spielt. Davon ist im deutschen Titel »Die Unperfekten« mit dem neckisch kursiv gesetzten Un nun leider gar nichts übrig geblieben. Aber man kann nicht alles haben.

Tom Rachman: Die Unperfekten. Aus dem Englischen von Pieke Biermann. dtv 24821. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2010. Broschur, 397 Seiten. 14,90 €.

Daniil Charms: Werke

978-3-86971-025-9Normalerweise werden hier nur Bücher vorgestellt, die bereits gelesen wurden, aber in diesem Fall soll und muss eine Ausnahme gemacht werden, da dieser Werkausgabe soviele Käufer und Leser wie möglich zu wünschen sind. Im Verlag Galiani, Berlin, einem Imprint von Kiepenheuer & Witsch, erscheint in vier Bänden die erste deutsche Werkausgabe der Schriften von Daniil Charms. Die ersten beiden Bände sind bereits erschienen, die beiden fehlenden sollen im kommenden Jahr folgen. Die Bände sind wie folgt aufgeteilt:

  1. Prosa
  2. Gedichte
  3. Theaterstücke
  4. Autobiografisches, Briefe, Essays

978-3-86971-029-7Bei Charms handelt es sich um einen der erstaunlichsten und humorvollsten absurden Autoren des 20. Jahrhunderts. Er hat zu Lebzeiten beinahe ausschließlich seine Geschichten und Gedichte für Kinder veröffentlichen können. Der Großteil seines Werkes lag nur in handschriftlichen Notizbüchern vor, die wie durch ein Wunder von staatlicher Beschlagnahme und Vernichtung im Zweiten Weltkrieg verschont geblieben sind. Charms hat seine Werke unter größten Schwierigkeiten produziert und einen bedeutenden Teil seines kurzen Lebens unter politischer Verfolgung gelitten. Er ist in der Gefängnispsychiatrie während der Belagerung Leningrads durch die Deutsche Wehrmacht verhungert.

978-3-86971-023-5Trotz der staatlichen Versuche, Charms Werke zu unterdrücken, erschienen Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre deutsche und englische Übersetzungen. In der Sowjetunion konnten Charms Schriften aber auch weiterhin nur in einzelnen Abschriften kursieren, und es kam erst ab 1997 zu einer Werkausgabe, die eine solide Textgrundlage lieferte.

Wie bereits gesagt, erscheint nun erstmals eine deutsche Werkausgabe, herausgegeben von Vladimir Glozer, einem Charms-Kenner, der leider bereits 2009 verstarb, und Alexander Nitzberg. Alle Texte werden in Neuübersetzungen vorgelegt. Begleitet wird die Werkausgabe mit einer Biografie, die Glozer aus Gesprächen mit Charms Lebensgefährtin Marina Durnowo zusammengestellt hat.

Wer zwei Paar Hosen hat, mache eins zu Geld und schaffe sich diese Bücher an!

Daniil Charms: Trinken Sie Essig, meine Herren! Werke 1: Prosa. Aus dem Russischen übersetzt von Beate Rausch. Hg. v. Vladimir Glozer und Alexander Nitzberg. Berlin: Galiani, 2010. Bedruckter Pappband, Fadenheftung. 271 Seiten. 24,95 €.

Ders.: Sieben Zehntel eines Kopfs. Werke 2: Gedichte. Übersetzt und hg. von Alexander Nitzberg. Berlin: Galiani, 2010. Bedruckter Pappband, Fadenheftung, Lesebändchen. 313 Seiten. 24,95 €.

Marina Durnowo: Mein Leben mit Daniil Charms. Aus Gesprächen zusammengestellt von Vladimir Glozer. Aus dem Russischen von Andreas Tretner. Berlin: Galiani, 2010. Pappband. 151 Seiten. 16,95 €.

Philip K. Dick: The Three Stigmata of Palmer Eldritch

978-1-59853-009-4Science-Fiction-Roman, der 1965 erschienen ist. Im Zentrum steht der Precog – eine Person, die eine beschränkte Einsicht in zukünftige Entwicklungen hat – Barney Mayerson, der für die monopolistische Firma P.P. Layouts tätig ist. P.P. Layouts produziert und vertreibt die illegale Droge Can-D, die in den Kolonien auf den Planeten und Monden im Sonnensystem an die Kolonisten verkauft wird. Die Droge erzeugt eine mehreren Personen gemeinsame Halluzination, die sich um eine Fantasiewelt dreht, deren materielle Vorlage P.P. Layouts ebenfalls herstellt. Dieses Drogen-Monopol gerät nun in Gefahr durch die Rückkehr Palmer Eldritchs von einer interstellaren Reise nach Proxima Centauri. Er scheint von dort eine Konkurrenz-Droge, Chew-Z, mitgebracht zu haben, deren Vertrieb unmittelbar bevorsteht.

Während der Roman als eine Auseinandersetzung mit einer Gesellschaft, die in weiten Teilen um Drogenkonsum herum organisiert zu sein  scheint, beginnt, schiebt sich, je weiter er fortschreitet, ein anderes Thema in den Vordergrund: Die Person Palmer Eldritchs wurde auf seiner Rückreise zur Erde von einer interstellaren Lebensform übernommen, die mit Hilfe der Droge Chew-Z die Kontrolle über die menschliche Zivilisation übernehmen will.

Wie oft so arbeitet Dick auch in diesem Roman mit einer Fülle von Themen und Motiven, die er letztendlich nicht ausschöpfen kann. Diese motivische Breite soll darüber hinweg täuschen, dass die zentralen Themen jeweils nur angerissen und auch nicht einmal versuchsweise zu Ende gedacht werden. So sind die offenbar gemeinten Parallelen sowohl zwischen dem Drogenkonsum und der christlichen Religion als auch die zwischen Gott und dem interstellaren Wesen jeweils bloß behauptet bzw. angedeutet, entbehren aber jeglicher gedanklicher Durchdringung. Hier mag sich jeder Leser nach Belieben etwas zusammenreimen oder es eben auch bleiben lassen.

Einmal mehr überzeugt Dick mehr durch fantastische Fülle – insbesondere die Passagen, die die veränderte Wahrnehmung der Wirklichkeit unter dem Einfluss von Chew-Z beschreiben, sind faszinierend –, weniger durch Konstruktion oder Gehalt.

Philip K. Dick: The Three Stigmata of Palmer Eldritch. In: Four Novels of the 1960s. New York: Library of America, 2007. Leinen, fadengeheftet, Lesebändchen. 230 von insgesamt 831 Seiten. Ca. 30,– €.

J. D. Salinger: Der Fänger im Roggen

978-3-499-23539-9Beim Suchen im SUB ist mir die Neu-Übersetzung von Salingers »The Cather in the Rye« durch Eike Schönfeld, die seit 2003 vorliegt, in die Hand gefallen. Ich habe nun endlich einmal hinein geschaut und bin einmal mehr enttäuscht. Zwar ist diese Übersetzung der Vorgängerversionen gleich in mehrfacher Hinsicht überlegen, schon allein deshalb, weil sie endlich auf das amerikanische Original zurückgeht anstatt auf englische Bearbeitungen, doch bleibt auch sie deutlich hinter dem Original zurück. Weder die vom Übersetzer erfundene Jugendsprache, die niemals von irgendeinem Jugendlichen zu irgendeiner Zeit gesprochen worden ist, noch die Übersetzung des Erzähltons schlechthin konnten mich überzeugen. Wenn Holden horny ist, ist er bei Schönfeld heiß; ist irgendetwas sexy, ist es bei Schönfeld heiß. Und wenn dann tatsächlich im Original mal jemand hot auf etwas ist, ist er bei Schönfeld scharf darauf. Und auch, wenn Holden crazy about etwas ist, ist er bei Schönfeld scharf darauf. Egal, ob ein Taxifahrer Holden Mac oder buddy nennt, in der deutschen Fassung nennt er ihn Meister, eine übersetzerische Entscheidung, zu der es schon einiger Dumpfheit bedarf. Mädchen, die deep down, gave me a pain in the ass, sind in der Übersetzung solche, die mich tief im Innern nerven. Das ist einerseits nicht falsch und andererseits so falsch, wie es nur sein kann.

Folgendes Zitat von Wilhelm Stekel, das Mr Antolini für Holden auf einen Zettel schreibt

The mark of the immature man is that he wants to die nobly for a cause while the mark of the mature man is that he wants to live humbly for one.

wird ohne erkennbaren Anlass in das grammatikalisch falsche

Der unreife Mensch kennzeichnet sich dadurch aus, dass er edel für eine Sache sterben will, der reife dadurch, dass er bescheiden für eine leben will.

übersetzt. Ganz abgesehen davon, dass hier massiv in die Struktur des Zitats eingegriffen wird und das doppelte das Kennzeichen eines […] Mannes einfach fortgelassen wurde.

Wie vielleicht bekannt sein dürfte, fehlte in der Erstausgabe dieser Neuübersetzung der viel zitierte Satz, dass Holden, wäre er ein Pianist, in the goddam closet spielen würde, um dem Applaus der Idioten zu entgehen. In der von Heinrich Böll durchgesehenen alten Übersetzung war aus dem closet ein Klosett geworden, was nur dem Ton nach und nicht inhaltlich falsch ist; inzwischen hat man in der Neuübersetzung eine verfluchte Wäschekammer ergänzt, was auch inhaltlich nur gerade so eben noch durchgehen dürfte. Dass der Satz in der Erstausgabe der Neuübersetzung gefehlt hatte, hat offenbar nicht zu einer gründlichen Revision des Textes geführt, denn auf S. 194 fehlt in dem nächtlichen Telefongespräch Holdens mit Sally ebenfalls ein kompletter Satz.

Solche Dinge sind ärgerlich, wenn schon der – unbestreitbar notwendige – Aufwand betrieben wird, eines der kanonischen Bücher der US-amerikanischen Literatur neu und besser zu übersetzen. Wenn auch diese Neuübersetzung einen deutlichen Schritt in die richtige Richtung darstellt, ist dennoch Salingers Klassiker auch weiterhin im Deutschen nicht adäquat übersetzt. Wer verstehen will, warum dieses Buch in der US-amerikanischen Kultur eine solche Rolle spielt, muss weiterhin zum Original greifen.

J. D. Salinger: Der Fänger im Roggen. Deutsch von Eike Schönfeld. rororo 23539. Reinbek: Rowohlt, 72007. 270 Seiten. 7,95 €.

Ferdinand von Schirach: Schuld

978-3-492-05422-5 Wie beinahe immer bei einem schnellen Nachschuss zu einem Bestseller kann der Autor auch in diesem Fall das Niveau nicht halten. Weder erreicht er die durchgängige Lakonie des erzählerischen Tons wie im ersten Band, noch halten alle Geschichten das vorgegebene Niveau, noch sind die Erzählungen so dicht und die Stoffe so überraschend. Nun könnte man dem Autor zugute halten, dass man das zweite Buch nicht am ersten messen sollte, aber sowohl Verlag als auch Autor haben es offensichtlich auf den Eindruck angelegt, bei »Schuld« handele es sich um eine unmittelbare Fortsetzung von »Verbrechen«.

Grundthema der meisten Erzählungen scheint die Differenz zwischen dem tatsächlichen Geschehen – also dem, was der Erzähler weiß – und dem zu sein, was davon in der juristischen Abarbeitung relevant ist. Aber auch dies gilt nicht für alle Erzählungen. Insgesamt macht die Sammlung daher einen eher erratischen Eindruck und kann trotz einiger recht guter Stücke nicht so überzeugen wie »Verbrechen«.

Ferdinand von Schirach: Schuld. München: Piper, 2010. Pappband, Lesebändchen. 200 Seiten. 17.95€.

Jules Verne: Die Eissphinx

Verne-Eissphinx Gleich im Anschluss an den »Arthur Gordon Pym« Edgar Allan Poes habe ich auch Jules Vernes sogenannte Fortsetzung, »Die Eissphinx«, noch einmal gelesen und das, obwohl ich an die erste Lektüre alles andere als gute Erinnerungen hatte. Das hat sich denn auch bestätigt. Es handelt sich um einen zweibändigen, über weite Strecken überaus langweiligen Roman. Erzählt wird von einer Antarktis-Expedition, die der Bruder des Kapitäns der Jane aus Poes »Pym« unternimmt, um eben den verschollenen Bruder und mögliche weitere Überlebende zu retten. Erzähler ist ein amerikanischer Geologe namens Jeorling, den es eher zufällig auf das Schiff des Kapitäns Len Guy verschlägt und der diesen zuerst für verrückt hält, da der den »Pym« als einen Tatsachenbericht und nicht als einen Roman liest.

Es ist unnötig die überaus ausführlichen Umstände der Reise nach Tsalal, zum Pol und darüber hinaus nachzuerzählen. Über viele Seiten geschieht spannenderweise gar nichts, was dann aber sicherlich nochmal irgendwo wiederholt wird, um auch ja nichts auszulassen. Die titelgebende Eissphinx kommt zwar am Ende doch noch vor, ist aber ein kompletter McGuffin, dessen Geheimnisse spätere Expeditionen werden lüften müssen.

Das Buch ist ein typisches Produkt des Schnell- und Vielschreibers Verne, der die Niederschrift mit vagen und halbfertigen Ideen beginnt, und, wenn ihm dann im Prozess der Niederschrift die Einfälle ausbleiben, das Geschriebene solange wiederholt und variiert, bis ihm dann doch schließlich ein neuer Gedanke in den Schoß fällt. Das Ergebnis ist ein planloses, redundantes und seitenschindendes Hin- und Herfahren seines Helden, das schließlich darin gipfelt, dass er ankommt, wo er ankommen muss, und dort gar nichts Interessantes vorfindet, was aber auch wieder ausführlich beschrieben wird.

Die anonyme Übersetzung, die 1898 bei Hartleben erschienen ist, ist höchst mäßig und offensichtlich ohne jegliche Ambitionen erstellt worden. Hinzukommt, dass die von mir benutzte elektronische Ausgabe des Textes zahlreiche schwere Scannfehler aufweist, die die Lektüre hier und da doch deutlich stören.

Jules Verne: Die Eissphinx. Wien, Pest, Leipzig: Hartleben, 1898. In: Ders.: Bekannte und unbekannte Welten. Das erzählerische Werk. Hg. v. Wolfgang Thadewald. Digitale Bibliothek Bd. 105. Berlin: Directmedia Publ. GmbH, 2004. 1 CD-ROM. Systemvoraussetzungen: PC ab 486; 32 MB RAM; Grafikkarte ab 640×480 Pixel, 256 Farben; CD-ROM-Laufwerk; MS Windows (98, ME, NT, 2000 oder XP) oder MAC ab MacOS 10.2; 128 MB RAM; CD-ROM-Laufwerk.

Edgar Allan Poe: Arthur Gordon Pym

Zur Vorbereitung der erneuten Lektüre von Arno Schmidts »Zettel’s Traum« habe ich noch einmal Schmidts Übersetzung des einzigen Romans von Edgar Allan Poe gelesen. Bei einer distanzierten Lektüre erweist sich das Buch als als eine ziemlich dreiste kompilatorische Arbeit, die in ihrem ersten Teil rein um des Effekts willen gegen jede Wahrscheinlichkeit alle möglichen Gräulichkeiten von Schiffsunglücken anhäuft. Die Darstellung ist derartig übertrieben, dass dem Leser der Verdacht kommen könnte, der Autor verfolge parodistische Absichten, wofür im Text allerdings sonst jegliche Anzeichen fehlen. Im zweiten Teil verwandelt sich die Erzählung dann in eine phantastische Entdeckungsreise im antarktischen Meer, bei der die Weißen auf der Insel Tsalal einem in steinzeitlichen Verhältnissen lebenden Stamm begegnen, der sich vorerst als freundlich, später dann aber als mörderische Bande erweist. Der Protagonist und Erzähler entkommt einem Massaker zusammen mit seinem Kameraden Dirk Peters, mit dem er schon die Katastrophe des ersten Teils durchlebt hatte, und treibt schließlich in einem Boot der Eingeborenen auf den Südpol zu. In unmittelbarer Nähe des Pols bricht der Bericht mit dem Auftauchen einer riesigen, weißen Gestalt ab, angeblich da der Erzähler Pym verstorben sei, bevor er die abschließenden Kapitel habe zum Druck befördern können.

Das Buch stellt den Versuch Poes dar, sich in die Reihe erfolgreicher Verfasser von Seestücken einzureihen und selbst ein Stück zu liefern, das nicht nur durch die Beschreibung der Gefahren, Entbehrungen und Gräulichkeiten  einer solchen Reise seine Leser fesselt, sondern das sich auch an die gerade in Mode befindlichen Berichte über Entdeckungen auf dem letzten weißen Flecken des Globus anhängen will. Es ist der letztlich gescheiterte Versuch Poes, einen Bestseller zu schreiben.

Die Übersetzung Arno Schmidts ragt in der deutschen Rezeption des »Pym« allein schon dadurch heraus, dass es sich wohl um die früheste vollständige Eindeutschung des Textes handelt. Schmidt hat Poe als Schriftsteller sehr ernst genommen – man kann auch die Meinung vertreten, er habe ihn zu ernst genommen, aber das ist eine Diskussion für einen anderen Ort –, so dass seine Übersetzung deshalb an zahlreichen Stellen dem Originaltext in Grammatik und sprachlichem Duktus ungewöhnlich treu bleibt. Leider wird diese Tendenz durch die sprachlichen und orthographischen Manierismen Schmidts, die er selbst für wesentliche Elemente im Fortschritt der Literatursprache hielt, überlagert. Der Leser muss sich daher an solche Dinge wie die Verwendung des &-Zeichens statt des Wortes und, die Ersetzung des Wortes ein durch die Ziffer 1, die Verwendung des Gleichheitszeichens anstelle des Bindestrichs und was der Dinge mehr sind, gewöhnen. Ist er dazu bereit, findet er eine sprachlich sehr sorgfältige und genaue Übersetzung des Textes vor. Inwieweit Schmidts Übersetzung von seiner sogenannten Etymtheorie beeinflusst war, wird andernorts zu erörtern sein.

978-3-86648-092-6 Im selben Zusammenhang habe ich mir auch die 2008 erschienene kommentierte Neuübersetzung des Texts angeschaut. Hier haben Übersetzer und Herausgeber aus dem doch relativ schmalen Text Poes einen umfangreichen Wälzer von mehr als 500 Seiten gezimmert. Den Umfang machen eine ausführliche Einleitung, die fortlaufende Textkommentierung in Fußnoten, die Dokumentation verschiedener Illustrationen zum »Pym« sowie eine ausführliche Chronologie zu Entstehung und Rezeption des Textes aus. Ergänzt wird dies durch zwei Bibliographien, von denen eine die vermutlichen Quellen Poes dokumentiert, die andere neuere Texte zum »Pym« versammelt, die der Herausgeber benutzt hat.

Die Neuübersetzung ist verglichen mit der Arno Schmidts natürlich eher brav, da sie auf Manierismen verzichtet. Stichprobenhafte Vergleiche mit dem Original lassen keine wirklichen Fehler erkennen; allerdings scheint der Übersetzer eine leichte Neigung zu haben, Poes hier und da etwas verschrobene Grammatik zu glätten, was aber wohl den meisten Lesern entgegenkommen wird.

Der mitgelieferte Apparat zum Text ist alles in allem als sehr gut zu bezeichnen. Die Einleitung zeichnet ein umfassendes Bild sowohl der biografischen als auch der politischen und literarhistorischen Voraussetzungen von Poes Text. Ein gewichtiger Teil der Fußnoten erschöpft sich im Nachweis der für einzelne Passagen verwendeten Quellen; hinzu kommen Anmerkungen zu den inneren Widersprüchen des Textes, die eine aufmerksame Lektüre gleich zu Dutzenden ans Licht fördert. Einige Anmerkungen bleiben wirr, so etwa jene zu Kapitel XVII, in dem Poe an einer Stelle die Position der Jane mit »latitude 73° 15′ E., longitude 42° 10′ W.« angibt, was der Übersetzer stillschweigend in »73° 15′ s. Breite, 42° 10′ w. Länge« korrigiert. Dazu heißt es dann in der Fußnote:

Es sollte besser »73° 15′ ö. Breite« heißen. In Baudelaires französischer Übersetzung und in manchen englischen Ausgaben wurde der Fehler stillschweigend korrigiert; Arno Schmidt behilft sich in seiner Übersetzung damit, dass er die Breite ohne Himmelsrichtung lässt.

Nun gibt es natürlich gar keine östliche Breite, so dass hier der Herausgeber dem Übersetzer, der es wie Baudelaire richtig hat machen wollen, mit einem unsinnigen Kommentar in den Rücken fällt. Sollte der Leser so wenig Ahnung von der Sache haben wie der Kommentator, ist die Verwirrung allseits komplett. Auch sonst macht das Buch an einzelnen Stellen einen unfertigen Eindruck, als habe sich der Herausgeber am Ende sehr beeilen müssen. So fehlen zum Beispiel auf S. 381 in den Fußnoten 9 und 10 offenbar faksimilierte Abbildungen aus dem von Poe verwendeten Hebräisch-Wörterbuch von Gesenius; stattdessen sind die Platzhalter für die Faksimiles stehengeblieben: »[Schriftzeichen]«.

Wen solche Kleinigkeiten nicht stören und wer sich bei der Lektüre darüber hinwegsetzen kann, dass ihm dauernd vom Fuß der Seite her in die Lektüre hinein geplappert wird, für den ist die Marebuch-Ausgabe eine gute Alternative zur etwas manierierten Übersetzung Schmidts.

  • Edgar Allan Poe: Umständlicher Bericht des Arthur Gordon Pym von Nantucket. Aus dem amerikanischen Englisch von Arno Schmidt. In: Ders.: Werke II. Olten u. Freiburg im Breisgau: Walter-Verlag, 1967. S. 112–400. Papband, Fadenheftung.
  • Edgar Allan Poe: Die Geschichte des Arthur Gordon Pym aus Nantucket. Übersetzt von Hans Schmid. Hg. v. Hans Schmid und Michael Farin. Hamburg: Marebuch, 2008. Pappband, Lesebändchen, stabiler, bedruckter Schuber. 526 Seiten, davon 32 Seiten Kunstdruckpapier mit Illustrationen. 39,90 €.

Bernhard Schlink: Sommerlügen

978-3-257-06753-8 Männer lügen. Sie lügen, weil es bequem ist, weil sie glauben, damit durchzukommen, weil sie emotional distanziert oder auch weil sie geile Trottel sind. Trottel sind sie auf jeden Fall. Hier und dann lügt auch einmal eine Frau, aber wahrscheinlich ist es nur eine Alibi-Lüge oder eine Quoten-Lüge, damit der Autor nicht in den Verdacht gerate, er schreibe genau den Unfug, den er schreibt.

Wie entfernt muss ein Autor von der Existenz seiner eigenen Figur sein, um zum Beispiel so etwas zu schreiben:

Auch ihn schlugen seine Eltern manchmal. Aber wenn es geschah, akzeptierte er es als Reaktion auf eine Torheit, die er begangen hatte. (91)

Wie durch und durch taub für Dialoge, um einen Satz wie diesen zu verfassen:

Du willst vielleicht wissen, warum ich dir nicht geglaubt habe und ihr glaube – ich höre in der Stimme einer Frau besser, ob sie die Wahrheit sagt oder lügt, als in der eines Mannes. (79)

Und den Unterschied zwischen »auf« und »offen« sollte ein Autor auch beherrschen, wenn ihn schon nicht eine Wortwiederholung vor einem stilistischen Patzer bewahrt:

Die Tür stand auf, und er setzte sich auf den Fahrersitz. (120)

Wahrscheinlich endgültig das letzte Buch von Bernhard Schlink, das ich lesen werde.

Bernhard Schlink: Sommerlügen. Geschichten. Zürich: Diogenes, 2010. Leinen, Lesebändchen, 279 Seiten. 19,90 €.