Albert Camus: Die Pest

978-3-499-22500-0Der zweite Roman Camus’, der seit 1947 seinen Ruhm zuerst in Frankreich und dann auch rasch europaweit begründete. Erzählt wird von einer fiktiven Pestepidemie in Oran während der 1940er-Jahre. Die Mischung aus der weitgehend realistischen Handlung und den mitgelieferten philosophischen Deutungsangeboten macht sicherlich auch heute noch die Attraktivität des Buches aus. Camus versucht seine philosophische Auffassung nicht zu beweisen, sondern durch Illustration zu verdeutlichen.

Im Gegensatz zu Der Fremde steht diesmal ein sozialer Charakter im Zentrum des Romans: Dr. Rieux, der zugleich als Figur und als Erzähler agiert. Umgeben hat Camus seinen Protagonisten mit einem Ensemble unterschiedlicher Typen, die weniger Personen als vielmehr ethische bzw. soziale Positionen repräsentieren: Der Individualist Rambert, der Christ Paneloux, der politisch Engagierte Tarrou, der Schriftsteller Grand etc. Camus konfrontiert diesmal nicht den Vereinzelten mit seinem gewissen Tod, sondern eine differenzierte Gruppe mit einer Lotterie des Todes, die für die meisten einen negativen Ausgang bereit hält.

Diese existenzielle Grundstruktur des Romans wird offensichtlich von Beginn an unterwandert durch eine Allegorisierung der französischen Gesellschaft unter deutscher Besatzung; nicht nur der zeitliche Rahmen, sondern auch das Defoe entnommene Motto weisen deutlich darauf hin. Nun nützt Ambiguität Romanen oft mehr als sie schadet, und so auch in diesem Fall. Während im Fremden die ideologische Konstruktion den Roman bis auf einige wenige Passagen beherrscht und letztlich alles von der Auflösung der letzten Seiten abhängt, atmet in Die Pest eine deutlich größere Freiheit. Wie entspannend sind etwa die Entwicklung der Freundschaft zwischen Rieux und Tarrou oder die Suche Grands nach dem perfekten ersten Satz für seinen Roman. Insgesamt zeigt das Buch ein deutlich größeres Vertrauen des Autors in das Erzählen selbst als sein Vorgänger.

Albert Camus: Die Pest. Deutsch v. Uli Aumüller. rororo 22500. Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 752008. 350 Seiten. 8,95 €.

Herta Müller: Atemschaukel

978-3-446-23391-1Mein erstes Buch der Literatur-Nobelpreis-Trägerin. Bekannt sein dürfte, dass es sich um ein Buchprojekt handelt, das Müller zusammen mit Oskar Pastior entwickelt hatte, aber wegen des Todes von Pastior im Jahr 2006 schließlich alleine schreiben musste. Erzählt wird die Geschichte Leopold Aubergs, der 1945 nach der Befreiung Rumäniens als Siebenbürger Sachse durch die Rote Armee nach Russland deportiert wird. Er muss in Russland fünf Jahre lang Zwangsarbeit leisten, bevor er in seine Heimat zurückkehren kann.

Erzählt wird das in kurzen Episoden aus der Ich-Perspektive Aubergs, wobei der Text parallel unterschiedliche zeitlichen Ebenen präsentiert, ohne dass diese scharf voneinander getrennt wären: Der Erzähler kann an einigen stellen auf 60 Jahre Vergangenheit zurückblicken, ohne dass die Ereignisse im Arbeitslager als aus dieser zeitlichen Distanz geschildert erscheinen. Besonders diejenigen Teile, die in der Zeit nach der Rückkehr spielen, schildern nicht nur die Folgen der Deportation, sondern auch die aus der Homosexualität des Erzählers resultierenden Schwierigkeiten. Inwieweit diese zusätzliche »Belastung« des Protagonisten für die Erzählung notwendig ist, lässt sich nach einer ersten Lektüre schlecht beurteilen.

Wie man sich denken kann, ist das Buch nur eingeschränkt wegen des präsentierten Materials wichtig. Zwar gab es wohl bislang keine erzählende Darstellung dieser besonderen Verschleppung, aber abgesehen davon sind die Details aus anderen Quellen bekannt: Die Entmenschlichung der Opfer wie der Aufseher, das Nebeneinander von Hoffnung und Verzweiflung, der Hunger als Zentrum der täglichen Existenz etc. Was das Buch heraushebt, ist seine literarische Sprache und die Reflexion des Erzählers auf das Erzählen. Das beginnt bereits mit den ersten Sätzen:

Alles, was ich habe, trage ich bei mir.
Oder: Alles Meinige trage ich mit mir.

Das ist natürlich zuerst einmal ein literarisches Zitat; das Omnia mea mecum porto mag uns an Seneca denken lassen oder an Cicero, an Bedürfnislosigkeit als Ideal oder an die Verehrung hoher Tugenden, es wird in jedem Fall sogleich gekontert:

Getragen habe ich alles, was ich hatte. Das Meinige war es nicht.

Es mag dem Leser später klar werden, dass diese ersten Sätze nicht nur aus der Situation heraus verstanden werden sollten, sondern dass sie zugleich eine Lebensbilanz ziehen. In diesem Anfang steckt schon der Blick auf die Gesamtheit des geschilderten Schicksals.

Wie schon gesagt, ist der Hunger selbstverständlich eines der zentralen und immer wiederholten Themen dieses Buches. Aber wo konnte man je zuvor solche Sätze lesen:

Kochrezepte erzählen ist eine größere Kunst als Witze erzählen. Die Pointe muss sitzen, obwohl sie nicht lustig ist. Hier im Lager beginnt der Witz schon mit: MAN NEHME. Dass man nichts hat, das ist die Pointe. Aber die spricht niemand aus. Kochrezepte sind die Witze des Hungerengels.

Als dem Erzähler im russischen Dorf in der Nähe des Lagers von einer alten Frau, die sich um ihren Sohn sorgt, ein weißes Spitzentaschentuch geschenkt wird, wird dieses Taschentuch zu einer Reliquie der Hoffnung für ihn:

Ich schäme mich nicht, wenn ich sage, das Taschentuch war der einzige Mensch, der sich im Lager um mich kümmerte. Ich bin mir sicher, auch heute noch. Manchmal kriegen die Dinge eine Zartheit, eine monströse, die man von ihnen nicht erwartet.

Oder diese Stellen über die Erinnerung:

Schau, wie der heult, dem läuft was über.
Diesen Satz habe ich mir oft überlegt. Dann habe ich ihn auf eine leere Seite geschrieben. Am nächsten Tag durchgestrichen. Am übernächsten wieder darunterge-schrieben. Wieder durchgestrichen, wieder hingeschrieben. Als das Blatt voll war, habe ich es herausgerissen. Das ist Erinnerung.

Dass mich das Lager nach Hause gelassen hat, um den Abstand herzustellen, den es braucht, um sich im Kopf zu vergrößern. […] Immer mehr streckt sich das Lager vom Schläfenareal links zum Schläfenareal rechts. So muss ich von meinem ganzen Schädel wie von einem Gelände sprechen, von einem Lagergelände. Man kann sich nicht schützen, weder durchs Schweigen noch durchs Erzählen.

Das Buch hat mich überrascht und trotz meines besserwisserischen Vorurteils ihm gegenüber – »nur noch eine Deportationsgeschichte mehr« – überzeugt  und berührt.

Herta Müller: Atemschaukel. München: Hanser, 2009. Pappband, 299 Seiten. 19,90 €.

Émile Zola: Die Beute

zola_rougonDer zweite Band der Rougon-Macquart erzählt vom gesellschaftlichen Aufstieg Aristide Rougons, der in Das Glück der Familie Rougon nur eine Nebenrolle gespielt hatte. Dort war er als leidenschaftlicher Republikaner und Sohn von Félicité und Pierre Rougon am Ende als einer der Verlierer des Umsturzes erschienen, als jemand, der nicht rechtzeitig die Fahne nach dem Wind gehängt hatte. In Die Beute finden wir ihn unter dem angenommenen Namen Saccard in Paris wieder. Er ist mit seiner ersten Frau dorthin geeilt, weil er sich von seinem Bruder Eugène Unterstützung und Protektion erhofft, der beim Staatsstreich eine entscheidende Rolle gespielt und es bis zum Minister gebracht hat. Eugène bleibt allerdings vorerst distanziert und verschafft seinem Bruder nur eine kleine Anstellung im Bauamt von Paris, die sich aber als Sprungbrett für Aristides ambitioniertes Streben nach Reichtum und Einfluss erweist.

Da seine erste Frau gerade zur rechten Zeit stirbt, gelingt es Aristide durch eine einträgliche Neuheirat das Startkapital für eine Reihe schwindelerregender Spekulationen zu erhalten: Durch ebenso riskante wie illegale Immobiliengeschäfte im Zusammenhang mit dem großangelegten Umbau von Paris unter Napoleon III. erwirtschaftet sich Aristide ein Vermögen. Seine junge Frau Renée schwelgt derweil im Wohlleben und beginnt eines Tages eine Affäre mit Maxime, dem Sohn Aristides aus dessen erster Ehe. Dieses leidenschaftliche Verhältnis führt beinahe, aber eben auch nur beinahe zu einer häuslichen Tragödie. Zola verweigert am Ende selbst der unglücklichen Renée jegliche Tragik: Der letzte Satz des Romans nennt die Höhe der von ihr hinterlassenen Schneiderrechnung.

Der Roman ist gleich zweifach eine Dokumentation der gesellschaftlichen Dekadenz des Zweiten Kaiserreichs: Zum einen demonstriert es in der Karriere Aristides die schamlose Bereicherung der Bauspekulanten am Staatsvermögen, zum anderen führt es den sittlichen Verfall und die innerliche Leere des Großbürgertums vor. Dabei gelingt Zola bei der Beschreibung des Verhältnisses von Renée und Maxime ein beeindruckendes Bild vom sinnlichen Reiz, den diese inzestuöse Beziehung auf Renée ausübt. Der Freibeuter-Stimmung der Spekulanten stellt Zola so die sinnliche Atmosphäre eines Tropen-Treibhauses an die Seite und erschafft auf diese Weise ein erstaunlich einprägsames Bild der Pariser Gesellschaft zwischen 1855 und 1860.

Übersichtsseite zur Rougon-Macquart

Émile Zola: Die Rougon-Macquart. Natur- und Sozialgeschichte einer Familie unter dem zweiten Kaiserreich. Hg. v. Rita Schober. Berlin: Rütten & Loening, 1952–1976. Digitale Bibliothek Bd. 128. Berlin: Directmedia Publ. GmbH, 2005. 1 CD-ROM. Systemvoraussetzungen: PC ab 486; 64 MB RAM; Grafikkarte ab 640×480 Pixel, 256 Farben; CD-ROM-Laufwerk; MS Windows (98, ME, NT, 2000, XP oder Vista) oder MAC ab MacOS 10.3; 256 MB RAM; CD-ROM-Laufwerk. 10,– €.

Karl Kraus: Die chinesische Mauer

3-518-37812-0 Der Band schließt unmittelbar an Sittlichkeit und Kriminalität an, weist aber insgesamt eine wesentlich größere thematische Bandbreite auf. Die gesammelten Aufsätze stammen aus den Jahren 1907–1910. Es finden sich hier einige Kraus-Klassiker wie zum Beispiel »Das Ehrenkreuz« oder »Der Biberpelz«, aber auch ungebrochen aktuelle pressekritische Stücke wie etwa »Die Entdeckung des Nordpols« oder »Das Erdbeben«, letzteres allerdings nur als Vorspiel zum späteren legendären Grubenhund. Erstmals finden sich auch zwei positive Stücke: »Girardi« und »Peter Altenberg« sind umfangreiche Lobreden.

Der Band vermittelt sicher ein realistischeres Bild vom Inhalt der Fackel als der Vorläufer, wenn auch die Gewichtungen der Themen in Zeitschrift und Buch immer noch deutlich voneinander abweichen.

Karl Kraus: Die chinesische Mauer. st 1312. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1987. 338 Seiten. Derzeit anscheinend nur innerhalb der kompletten Werkausgabe lieferbar.

Ferdinand von Schirach: Verbrechen

978-3-492-05362-4 Stilistisch erstaunlicher Erstling. Der Band enthält elf kurze Kriminalerzählungen, die in einem markanten, lakonischen und sehr präzisen Stil erzählt sind. Nicht alle Erzählungen können die Stilhöhe halten, aber die besten zeigen einen abgeklärten Erzähler, der keinen Satz zu viel gebraucht. Alle sind aus der Ich-Perspektive eines Strafverteidigers heraus erzählt, wobei die Schilderung der Fälle in einer weitgehend auktorialen Perspektive geschieht, die die deutliche Distanz des Erzählers zum Geschehen noch weiter erhöht.

Die meisten Erzählungen scheinen mir zudem auch stofflich originell zu sein, wobei ich als Nicht-Krimileser zugestehen muss, das nicht gut beurteilen zu können; mich jedenfalls haben die meisten überrascht. Auch die kurzen Darstellungen exzessiver Gewalt haben mich wahrscheinlich mehr berührt, als dies dem abgeklärten Krimileser passieren wird.

Ein bisschen ärgerlich fand ich die Verlagswerbung, die penetrant auf die Wahrheit der geschilderten Fälle abhebt. Das Buch selbst ist zum Glück deutlich intelligenter als diese Sensationsmache: Es schließt mit dem schönen Satz René Magrittes »Ceci n’est pas une pomme.«

Ferdinand von Schirach: Verbrechen. München: Piper, 2009. Pappband, Lesebändchen, 208 Seiten. 16,95 €.

Horst Tappe: Nabokov

3-85616-152-XNetter, kleiner Bildband mit 24 Schwarz-Weiß-Fotos Vladimir Nabokovs aus den Jahren 1962 bis 1973, jeweils garniert mit einem Nabokov-Zitat in Englisch, Deutsch und Französisch. Sowohl der Schriftsteller als auch der Lepidopterologe werden ins Bild gesetzt; auch zwei Bilder mit Ehefrau Vera finden sich. Unter den Fotos sind einige klassische Nabokov-Ikonen, so etwa die Silhouette des Schreibenden vor dem Fester im Montreux Palace.

Horst Tappe: Nabokov. Hg. v. Tilo Richter. Basel: Christoph Merian Verlag, 2001. 64 Seiten. Derzeit nicht im Druck.

Michael Chabon: Die Vereinigung jiddischer Polizisten

Nur auf den allerersten Blick handelt es sich um einen gewöhnlichen Kriminalroman. Meyer Landsman, ein heruntergekommener Inspektor der Mordkommission, wird in dem nicht weniger heruntergekommenen Hotel Zamenhof, in dem er seit seiner Scheidung wohnt, vom Portier gebeten, sich einen Toten anzuschauen: Der Gast, der anscheinend von einem professionellen Killer erschossen wurde, nannte sich Emanuel Lasker. Er war drogenabhängig und offenbar tatsächlich, wie schon sein Deckname vermuten lässt, Schachspieler, denn unter seinen wenigen Habseligkeiten findet sich auch ein Schachbrett, auf dem Meyer Landsman eine komplizierte Stellung aufgebaut findet, die später noch eine entscheidende Rolle spielen wird.

Während Landsman mit seiner Untersuchung beginnt, entfaltet sich zugleich vor dem Leser eine eigentümliche Alternativwelt, die die Geschichte seit dem Zweiten Weltkrieg neu erfindet. Noch im Zweiten Weltkrieg beginnen die USA europäischen Juden Asyl zu gewähren. Sie werden in einem eigenen District an der Südküste Alaskas, in Sitka, untergebracht. Umschlossen von den indianischen Tlingit bildet die Enklave Sitka das einzige zusammenhängende jüdische Siedlungsgebiet der Welt. Der Staat Israel ist in Michael Chabons Fassung der Weltgeschichte nur wenige Monate nach seiner Gründung im Krieg gegen die Araber wieder untergegangen. Aber auch der jüdische District Sitka steht unmittelbar vor seiner Auflösung: Seine Existenz wurde nur für 60 Jahre garantiert, und die US-Behörden bereiten die Rückgabe des Gebietes an die einheimischen Tlingit vor.

Auch die Mordkommission wird – unter Leitung von Meyer Landmans Ex-Frau Bina Gelbfish – abgewickelt. Noch gibt es einige ungelöste Fälle, und Bina möchte so viele wie möglich abschließen, bevor die Amerikaner übernehmen. Und obwohl Bina den neuen Fall des Toten im Zamenhof umgehend als abgeschlossen kennzeichnet, ermittelt Landsman mit seinem Partner Berko Shemets in der Sache weiter. Die Spur führt ihn  über den lokalen Schachtreff Sitkas zu den Verbover Juden. Emanuel Lasker erweist sich als Sohn des mächtigsten Verbover Rabbis Shpilman. Aufgewachsen als ein echtes Wunderkind, besonders auch fürs Schachspiel begabt, wurde Mendel Shpilman von vielen für den Messias seiner Generation gehalten. Und während Landsman zu verstehen versucht, wie es dazu gekommen ist, dass Mendel Shpilman tot in einer Absteige geendet ist, kommt er zugleich Schritt für Schritt einer weitreichenden politischen Verschwörung auf die Spur …

Chabons Kriminalroman ist gleich in mehrfacher Hinsicht ungewöhnlich: Auf der einen Seite handelt es sich um ein offensichtliches und souverän geführtes Spiel mit den überlieferten Formen und Klischees des klassischen Detektivromans. Auf der anderen Seite erschafft Chabon überzeugend eine alternative Weltgeschichte, um seine jüdische Enklave mit ihrer eigenen Kultur und Sprache real erscheinen zu lassen. Dieser Reichtum an erfundener Welt hat zu einem ungewöhnlichen Umfang für einen Detektivroman geführt. Der Leser muss aber nicht befürchten, von Chabon eine Geschichtslektion übergestülpt zu bekommen, sondern die Details dieser Welt fließen peu à peu in den Erzähltext ein. Nur einem sorgfältigen Leser wird sich der ganze Reichtum dieses Buchs erschließen.

Die Schachspieler schließlich wird freuen, hier einmal einen Roman zu finden, in dem das Schachspiel nicht von einem weitgehend ahnungslosen Autor als dekorativer Zierrat missbraucht wird, sondern seine Darstellung aus genauen Kenntnissen des Autors entspringt. Die Darstellung sowohl der Patzer im Hotel Einstein als auch des Wunderkinds Mendel Shpilman, ja des Schachspiels insgesamt als integralem Bestandteil jüdischer Kultur überzeugt aufgrund der offensichtlich engen Vertrautheit Chabons mit dem Spiel und seiner Geschichte. Und nicht zuletzt steht ein Schachproblem im Zentrum des Buches, das von einem der bedeutendsten Romanciers des 20. Jahrhunderts stammt:

nabokov-matt-in-2

Matt in 2

Dieses Problem wurde von Vladimir Nabokov im Jahr 1940 in Paris komponiert, kurz bevor er Frankreich in Richtung USA verließ (vgl. Nabokovs Memoiren »Speak, Memory«, Ende des 14. Kapitels). Die Lösung wird hier natürlich nicht verraten.

Wer im Übrigen zu faul ist, den fast 500-seitigen Roman zu lesen, darf sich auf seine Verfilmung durch die Coen-Brothers freuen. Man kann sich für dieses Buch wohl keine besseren Drehbuch-Autoren und Regisseure wünschen.

Und da wir gerade beim Kino sind: Ab dem 7. Januar 2010 soll die Verfilmung der Schachschmonzette »Die Schachspielerin« (Joueuse) in die deutschen Kinos kommen. Das Buch von Bertina Henrichs hatte es 2006 auf die Bestsellerlisten geschafft und erzählt von der wundersamen Selbstfindung eines in die Jahre gekommenen griechischen Zimmermädchens, das durch das Erlernen des Schachspiels zu einer gänzlich neuen Weltsicht findet. Wollen wir hoffen, dass sich Regisseurin Caroline Bottaro einen ordentlichen Berater in Sachen Schach besorgt hat, denn die Buchvorlage zeugte ausschließlich von der schachlichen Ahnungslosigkeit ihrer Autorin.

Michael Chabon: Die Vereinigung jiddischer Polizisten. Aus dem Englischen von Andrea Fischer. dtv 13793. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2009. 496 Seiten. 9,90 €.

(geschrieben für den Schachkalender 2010)

Karl Kraus: Sittlichkeit und Kriminalität

978-3-518-37811-3 Start eines weiteren Langzeit-Projekts: Da es nur wenigen Fachleuten gegeben ist, in ihrem Leben wenigstens einmal Die Fackel komplett durchzulesen, hält man sich als normaler Kraus-Leser – falls es so etwas tatsächlich gibt – mehr aus Resignation, als dass man eine wirkliche Wahl hätte, an die insgesamt 20-bändige Werkausgabe, die von Christian Wagenknecht herausgegeben wurde und die sich in ihrer ersten Abteilung an den von Kraus selbst zusammengestellten Büchern orientiert.

Sittlichkeit und Kriminalität erschien erstmals 1908 und versammelt in weitgehend chronologischer Reihenfolge Aufsätze und Notizen, in denen sich Kraus mit der Gerichtspraxis im Österreich der Jahre 1902 bis 1907 auseinandersetzt, insbesondere mit Fällen, in denen das Sexualleben der Angeklagten thematisiert wurde. Dazu gehören natürlich sogenannte Unsittlichkeits- oder Prostitutions-Prozesse, aber auch Raub- oder Tötungsdelikte, in denen das Sexualleben der Angeklagten herangezogen wurde, um diese zu charakterisieren. Kraus’ Kritik an der Rechtspraxis ist gekoppelt mit starken Forderungen nach einer Legalisierung der Homosexualität und der Prostitution, die aber nur als Aspekt seiner zugrunde liegenden Ansicht erscheinen, dass Sexualität, solange sie aus freiem Entschluss zwischen erwachsenen Menschen stattfindet, niemanden anderen etwas angeht, am allerletzten die Gerichte. Dabei richtet sich seine Kritik nicht nur gegen Richter und Staatsanwälte, sondern auch gegen eine Presse, die die intimen Details der Prozesse zur Hebung ihrer Auflagenzahlen in der Öffentlichkeit breit tritt.

Kraus hat die Texte dieses Bandes für die Buchveröffentlichung noch einmal stark überarbeitet. Dies und die thematische Verdichtung, die der Band im Gegensatz zu den verstreuten Publikationen in der Fackel erreicht, lohnt allein die Lektüre. Er ist aber auch eine gute Einführung in das Werk von Kraus überhaupt. Nicht nur lernt man Kraus’ Ton kennen, der seine Texte aus der Menge der Veröffentlichungen vom Anfang des 20. Jahrhunderts deutlich heraushebt, sondern deutlich wird auch die tiefe moralische Haltung, aus der heraus seine Kritik stets erwächst.

Karl Kraus: Sittlichkeit und Kriminalität. st 1311. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1987. 382 Seiten. 10,– €.

Émile Zola: Das Glück der Familie Rougon

zola_rougon Beginn eines Langzeit-Projekts: Nach der begeisternden Lektüre von Germinal hatte ich mir vorgenommen, den gesamten Zyklus der Rougon-Macquart zu lesen. Leider ist derzeit keine geschlossene Ausgabe des Zyklus im Druck; allerdings ist die Ausgabe des Verlages Rütten & Loening, die zwischen 1952 und 1976 in der DDR gedruckt worden ist und die auch in der BRD mehrere Nachdrucke erfahren hat, im Jahr 2005 als digitale Ausgabe innerhalb der Digitalen Bibliothek erschienen. Diese Ausgabe kann auch heute noch für sage und schreibe 10,– €  erworben werden. Nach der jüngsten Anschaffung eines eBook-Readers wird diese digitale Ausgabe nun peu à peu gelesen werden.

Der Zyklus beginnt mit Das Glück der Familie Rougon, dessen Handlung in der Hauptsache im Jahr 1851 spielt, in dem der französische Staatspräsident Louis Napoleon durch einen Staatsstreich den Weg zum Zweiten Kaiserreich ebnet, das genau in dem Jahr enden sollte, in dem Zola diesen ersten Band seines Zyklus herausgeben wird. In seinem Zentrum steht die Familie Pierre Rougons, der als Sohn aus der Ehe zwischen Adélaïde Fouque und einem Gärtner hervorgeht. Nach dem frühen Tod des Gärtners wählt Adélaïde den Schmuggler Macquart zu ihrem Geliebten, mit dem sie zwei Kinder hat: Antoine und Ursule.

Der heranwachsende Pierre betrügt seine beiden Halbgeschwister um ihren Anteil am Erbe der Mutter, noch bevor diese gestorben ist, und verschafft sich durch das Geld eine Chance zum sozialen Aufstieg: Er heiratet die Tochter eines Kaufmanns, ist aber nur eher schlecht als recht in der Lage, das ererbte Geschäft über Wasser zu halten. Daher versucht er, seine Stellung auf politischem Wege zu verbessern. Die große Chance bietet sich ihm während der Unruhen, die durch den Staatsstreich Louis Napoleons ausgelöst werden, in denen es dem intriganten und im Grunde feigen Pierre schließlich gelingt, sich als Retter seiner Heimatstadt zu inszenieren.

Der Roman ist für den heutigen  Geschmack sicherlich in einigen Passagen zu langatmig, zeigt in seinen Kernpassagen aber schon die erzählerische Präzision und boshafte Beobachtungsgabe, die Germinal zu einem Meisterstück machen werden.

Übersichtsseite zur Rougon-Macquart

Émile Zola: Die Rougon-Macquart. Natur- und Sozialgeschichte einer Familie unter dem zweiten Kaiserreich. Hg. v. Rita Schober. Berlin: Rütten & Loening, 1952–1976. Digitale Bibliothek Bd. 128. Berlin: Directmedia Publ. GmbH, 2005. 1 CD-ROM. Systemvoraussetzungen: PC ab 486; 64 MB RAM; Grafikkarte ab 640×480 Pixel, 256 Farben; CD-ROM-Laufwerk; MS Windows (98, ME, NT, 2000, XP oder Vista) oder MAC ab MacOS 10.3; 256 MB RAM; CD-ROM-Laufwerk. 10,– €.

William Shakespeare: Titus Andronicus

dvd-titus Bei Titus Andronicus handelt es sich um eines der unbekannteren Stücke Shakespeares, das allerdings in den letzten Jahren ein etwas merkwürdiges Interesse gefunden hat. Auch die hier vorgestellte Verfilmung ist ein Produkt dieser dramatischen Modewelle. Beim Stück handelt es sich um eine Horror-Tragödie im elisabethanischen Geschmack; es ist wahrscheinlich die erste Tragödie Shakespeares überhaupt, wie die Forschung heute überwiegend meint. Für die frühe Einordnung spricht nicht nur die krude, eher unwahrscheinliche und nicht widerspruchsfreie Fabel des Stücks, sondern auch die etwas grobe Figurenzeichnung und der übertriebene Einsatz schauerlichster Szenen.

Die Fabel spielt im Rom einer fiktiven Kaiserzeit: Der gerade von einem siegreichen Feldzug gegen die Goten nach Rom zurückgekehrte Titus Andronicus erweist sich als treuer und aufrechter Staatsbürger, als er die ihm angetragene Kaiserkrone ausschlägt und sich für einen der beiden Söhne des verstorbenen Kaisers, Saturninus, stark macht. Der, kaum zum Kaiser gewählt, ehrt den alten General mit der Idee, dessen Tochter Lavinia zur Kaiserin zu machen. Der Geehrte muss allerdings erfahren, dass seine Tochter bereits mit dem Bruder des Kaisers, Bassianus, verlobt ist. Bassianus entführt Laviania, woraufhin Saturninus die als Gefangene nach Rom geführte Königin der Goten Tamora zur Kaiserin macht. Titus aber hat sich Tamora zum Feind gemacht, als er ihren ältesten Sohn als Sühneopfer für seine im Krieg gefallenen Söhne geopfert hat.

Aus dieser Konstellation entwickelt Shakespeare ein äußerst grausames Kammerspiel der Rache mit fürchterlichsten Toden, einer Vergewaltigung, Hinrichtungen, einer Selbstverstümmelung, Kannibalismus und schließlich der Ermordung Lavinias, Titus und des Kaiserpaares. Der Film tut ein Übriges, indem er dem Verbrechen auch eine ordentliche Portion Sex hinzufügt.

Dem Film kann man nicht vorwerfen, die Vorlage mit Blick auf das moderne Publikum zu übertreiben; man hält sich im Gegenteil, was die Grausamkeiten angeht, recht eng an die Vorlage. Die ist so deftig, dass man sich einerseits fragen kann, wie derartiges zu Shakespeares Zeit auf der Bühne realisiert wurde, sich auf der anderen Seite doch sehr bemühen muss, die Frage zu vermeiden, warum man sich solch eine Orgie des schlechten Geschmacks eigentlich anschauen soll. Die Verfilmung wird sicherlich gerettet durch die hervorragenden Leistungen der Schaupieler (Anthony Hopkins als Titus, Jessica Lange als Tamora, aber auch Colm Feore als Marcus Andronicus und Harry Lennix als Haupt-Bösewicht Aaron), und Shakespeare-Kenner finden natürlich auch hier schon Elemente, die sich erst in späteren Tragödien Shakespeares entfalten werden, aber den Film als solchen kann man kaum empfehlen.

Titus. Regie: Julie Taymor. ems, 2003. 1 DVD. Laufzeit ca. 162 Minuten. Sprache: Englisch, Deutsch. FSK: ab 16 Jahren. Ca. 7,– €.