Walter Scott: Ivanhoe

Der Verlag bezeichnet diese Neuausgabe von Scotts berühmtem Roman dreist als »vollständige Ausgabe«. Tatsächlich handelt es sich um eine wurschtige Kompilation von vier Übersetzungen aus dem 19. Jahrhundert, bei der nicht einmal deutlich gemacht wird, welche Teile welcher der Übersetzungen entstammen. Ziel ist es, die englische Erstausgabe vollständig wiederzugeben; um die späteren Ergänzungen Scotts mag sich der Kompilator Günter Jürgensmeier, der zumindest im VLB als Übersetzer genannt wird, nicht kümmern, da diese Ergänzungen in den von ihm verarbeiteten Vorlagen keine Rolle spielen.

Die alten Übersetzungen wurden ohne Rücksicht auf ihre Qualität dem Buch eingepflanzt und nicht weiter bearbeitet. Da die Übersetzungen des 19. Jahrhunderts sehr frei mit ihren Vorlagen umgegangen sind, kann auch auf der Ebene der präsentierten Texte nicht von Vollständigkeit die Rede sein. Auch lässt das Textverständnis der kompilierten Übersetzer an einigen Stellen so sehr zu wünschen übrig, dass der deutsche Text das blanke Gegenteil dessen sagt, was im Original steht. So heißt es, um nur ein Beispiel anzuführen, im 21. Kapitel bei der Beschreibung des Schlosses von Reginald Front-de-Bœuf:

It was a fortress of no great size, consisting of a donjon, or large and high square tower, surrounded by buildings of inferior height, which were encircled by an inner courtyard.

Daraus wird in der Neuausgabe:

Es war eine Feste von bescheidener Größe und bestand aus einem Bergfried, einem hohen viereckigen Turm, den wieder hohe Gebäude [»Gebäude von niederer Höhe« steht bei Scott] umgaben, die den inneren Hofraum umschlossen [»die von einem inneren Burghof umschlossen waren« steht bei Scott].

Die hier demonstrierte Qualität der Übersetzung ist charakteristisch für das gesamte Buch. Allenthalben wimmelt der Text von willkürlichen Auslassungen, Reformulierungen, Missverständnissen und was der Übersetzer-Späße mehr sind. Diese Neuausgabe ist eine editorische und verlegerische Zumutung, für die niemand auch nur einen Cent ausgeben sollte.

Walter Scott: Ivanhoe. dtv Literatur 13765. München: dtv, 2009. 608 Seiten. 9,90 €.

Sophie von La Roche: Fräulein von Sternheim

Die Geschichte des Fräuleins von Sternheim ist eines der Muster für die in Deutschland eher dünn besetzte Epoche der Empfindsamkeit. Es handelt sich um einen Briefroman, der nur hier und da von einem erzählerischen Rahmen durchbrochen wird. Allerdings ist die erzählerische Fiktion, der Roman biete Abschriften der Briefe der Protagonisten, nur wenig tragfähig, so dass der Leser rasch das Gefühl bekommt, die Autorin hätte auf diesen Rahmen besser ganz verzichtet.

Der Inhalt ist rasch skizziert: Die schöne, überaus tugendhafte und in bürgerlichem Geiste erzogene Sophie von Sternheim gerät nach dem Tode ihres Vaters in höfische Zirkel, wo sich nahezu augenblicklich mehrere Intrigen um sie herum entspinnen, die alle letztlich auf die Zerstörung ihrer Tugend und Ehre hinauslaufen. Natürlich verfällt Sophie einer der Intrigen, indem sie versucht, eine andere zu meiden. Sie wird in eine vorgetäuschte Ehe verstrickt, die sie letztendlich zwingt, Deutschland zu verlassen, findet am Ende aber doch zu jenem Mann, der sie aufrichtig liebt und glücklich macht.

So weit, so unerheblich. Das Buch ist für den heutigen Leser nur insoweit interessant, als es ein weiteres Dokument dafür ist, wie der Gegensatz von höfischer und bürgerlicher Sphäre zu Ende des 18. Jahrhunderts wahrgenommen wurde. Dazu kann die Lektüre allerdings nach der angeblichen Hochzeit Sophies abgebrochen werden. Man glaube mir einfach, dass alles gut endet, der Böse bestraft wird und sich die bekommen, die von Anfang an füreinander bestimmt waren.

Soweit ich sehe, ist das Buch derzeit nicht im Druck, kann aber problemlos im Internet gefunden werden (z. B. bei zeno.org).

Vladimir Nabokov: Das Modell für Laura

978-3-498-04691-0 Entgegen dem Anschein, den der Verlag offensichtlich erwecken möchte, dass es sich bei diesem Buch um einen Roman handelt, ist festzustellen, dass es sich nicht einmal um einen Romanentwurf handelt, sondern nur um Fragmente eines solchen Entwurfs. Es ist die Wiedergabe von 138 Karteikarten, die Nabokov für sein letztes Romanprojekt benutzt hat. Auf diesen Karten finden sich der Entwurf zu einigen Kapiteln, unverbundene Fragmente und Notizen sowie einzelne Wörter. Nabokov hatte verfügt, dass die Karteikarten nach seinem Tode vernichtet werden sollten, und seit dem 2. Juli 1977 gab es einen teils öffentlich teils im Verborgenen geführten Streit darum, ob dieser Verfügung nachzukommen sei oder nicht. Nabokovs Frau jedenfalls ist dem Wunsch nicht nachgekommen, so dass die Karten nach deren Tod in den Besitz des Sohns Dmitri gelangten, der sich nun also endlich entschlossen hat, das Material auch einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Die Distanz zwischen dem Vorgelegten und dem daraus zu extrapolierenden Werk ist für den Nicht-Fachmann, geschweige denn für einen normalen Leser in keiner Weise abzuschätzen. Da wir auch bei anderen Werke Nabokovs keine Anhaltspunkte dafür haben, wie weit ein erster Entwurf und das spätere Werk auseinanderlagen, ist eine Beurteilung des Materials, die über die Dokumentation der reinen Kenntnisnahme hinausgeht, kaum möglich. Eine Zusammenfassung des Inhalts des Romanprojekts hat Nabokov selbst geliefert:

Bei Das Modell für Laura handelt sich um die vertrackt komplexe Geschichte eines weltberühmten Neurologen namens Philip Wild – fett, gelehrt, um seine Füße besorgt und mit der jungen Flora verheiratet, die Gegenstand eines meisterlichen Schlüsselromans (‹kiss-and-tell› – küsse sie und rede darüber) mit dem Titel Meine Laura geworden war. Da er nicht nur Wissenschaftler, sondern auch Schriftsteller ist, arbeitet Wild insgeheim an einem Werk, in dem er seine ekstatischen Experimente mit dem Tod beschreibt, nur um von einem gewissen Dr. Aupert – jung, sonnengebräunt und aufgeräumt – zu erfahren, dass er ernstlich krank ist.

Die Präsentation des Materials durch den Rowohlt Verlag ist prätentiös und seitenschindend: Auf jeder Doppelseite stehen sich links die Reproduktion einer Karteikarte und rechts die Übersetzung dieser Karte gegenüber. Nicht nur hätte man ohne Verlust zwei Karten pro Seite wiedergeben, sondern auch die Übersetzung zumindest der ersten Hälfte der Karten als Fließtext präsentieren können. Von der manieristischen Idee, dem Leser die Karteikarten zusätzlich als Kartenset zum Selbstmischen zu liefern, wollen wir hier ganz schweigen.

Insgesamt eine enttäuschende Publikation angesichts der Erwartungen, die seit Jahrzehnten von den Nabokov-Forschern, die Einsicht in das Manuskript hatten, geschürt wurden. Nicht, dass ich dafür plädieren würde, dass man doch besser dem Wunsch Nabokovs nachgekommen wäre, aber den Zirkus, der seit Jahren um diesen Nachlass gemacht wurde, hätte man den Lesern Nabokovs ohne weiteres ersparen können. Parturient montes, nascetur ridiculus mus.

Valdimir Nabokov: Das Modell für Laura. Aus dem Englischen von Dieter E. Zimmer und Ludger Tolksdorf. Reinbek: Rowohlt, 2009. Pappband, Lesebändchen, 319 Seiten. 19,90 €.

Effi Briest (2009)

Eine weitere Verfilmung des Romans von Theodor Fontane mit einer deutlich zu alten Schauspielerin in der Titelrolle. Nichts gegen Julia Jentsch, aber sie ist in keinem Augenblick des Films auch nur annähernd ein siebzehnjähriges Mädchen. Der Film fängt auch gleich schlecht genug an, da er die erste Begegnung Effis und Instettens auf einen Ball verlegt. Nicht nur ändert das den Charakter der Bewerbung Instettens komplett, der nun Effi bereits einmal getroffen hat, als er um ihre Hand anhält, es verdirbt auch die Pointe Fontanes, bei dem Effi von einem Augenblick auf den anderen aus der Welt ihrer Kindheit in die der Erwachsenen wechselt.

Auch der Rest des Films kann in keinem Augenblick die Subtilität Fontanes auch nur erahnen lassen: Major Crampas wirkt hauptsächlich durch seine Männlichkeit, anstatt mit seinem Esprit um Effi werben zu müssen; Effi fährt wegen angeblicher Schwächeanfälle zur Kur, nicht wegen ihrer anhaltenden Kinderlosigkeit; der Chinese steht nach der Scheidung plötzlich an Effis Badewanne und nicht am Kessiner Ehebett, wohin er einzig gehört, und last not least erspart uns Regisseurin Hermine Huntgeburth auch nicht die Peinlichkeit, dem ersten Geschlechtsverkehr des Ehepaars Instetten beiwohnen zu müssen, der natürlich nichts anderes sein darf als ein gespieltes Klischee. Am Ende stirbt Effi auch nicht, sondern geht als gestärkte, beinahe schon gänzlich emanzipierte Amazone aus der Krise hervor. Alles andere, so belieben uns Regisseurin und Hauptdarstellerin mitzuteilen, sei nicht zeitgemäß. – »O brave new world, that has such people in’t!«

Gegen all das ist natürlich gar nichts einzuwenden, denn jedefrau darf mit dem Stoff machen, was ihr beliebt. Nur Kenner und Liebhaber Fontanes sollten es sich eben ersparen, diese Perlenkette von Banalitäten, die sich für eine Verfilmung des wundervollen Buchs ausgibt, anzuschauen.

Effi Briest. Regie: Hermine Huntgeburth. Constantin Film, 2009. 1 DVD. Laufzeit ca. 113 Minuten. Sprache: Deutsch. FSK: ab 12 Jahren. Extras: Making-of, Deleted Scenes, Interviews u. a. Ca. 16,– €.

Dorothea Dieckmann: Termini

978-3-608-93660-5Ein Roman, der zur Zeit des ersten Prozess gegen Erich Priebke in Rom spielt. Der junge Journalist Ansgar Weber trifft am 30. Juli 1996 im Rom ein, um im Auftrag des Spiegel als Reporter das Ende des Prozesses zu beobachten. Tatsächlich aber fährt er nach Rom, weil er ein Interview mit der für tot geltenden deutschen Autorin Lydia Marin führen will. Den Kontakt zu der anonym in Rom lebenden Schriftstellerin hat ihm die Tochter seines Chefredakteurs, Ellinor Just, vermittelt, die zufällig in Marins Nachbarschaft lebt und sie so kennengelernt hat. Ellinor ist in Ansgar verliebt und versucht ihn durch die Vermittlung dieses Interviews für sich zu gewinnen. Ansgar wiederum macht sich Hoffnung, durch die Wiederentdeckung der bekannten Schriftstellerin, die ihren eigene Tod nach einem Unfall im Gebirge vorgetäuscht hat, als Journalist berühmt und unabhängig zu werden, um sich von dem Druck, dem er sich beim Spiegel ausgesetzt fühlt, endlich befreien zu können.

Insgesamt verbringt Ansgar vier Tage in Rom, in denen er allerdings den Gerichtssaal des Priebke-Prozesses nicht ein einziges Mal betritt. Zwar gelingt es ihm, das Interview mit Lydia Marin zu führen, aber die Bänder werden von der Schriftstellerin vernichtet und sie selbst verschwindet letztlich wieder von der Bildfläche. Zum Ausgleich durchlebt Ansgar durch die Bekanntschaft mit dem Wahrsager Walter Haymon eine albtraumhafte Nacht in der Unterwelt, die nicht nur höchstwahrscheinlich seine berufliche Karriere beendet, sondern ihn auch an den Rand eines Nervenzusammenbruchs bringt.

Dieckmann gelingt es, mit einem relativ kleinen Figurenensemble einen dichten Roman zu liefern, der zugleich Variation und Parodie auf den deutschen Bildungsroman ist. Nicht umsonst schickt sie ihren Protagonisten nach Rom, dem klassischen Ziel der Bildungsreise des 19. Jahrhunderts. Der Roman ist in einer überraschend dichten Prosa abgefasst, der es gelingt, selbst inhaltlich etwas dünne Passagen interessant zu gestalten. Die Figur Ansgar Webers ist so offen und beweglich gestaltet, dass ich mir einen weiteren Roman um dieselbe Figur gut vorstellen könnte.

Ein ungewöhnlicher Roman, der die momentan übliche Romanproduktion inhaltlich und stilistisch deutlich überragt.

Dorothea Dieckmann: Termini. Stuttgart: Klett-Cotta, 2009. Pappband, 317 Seiten. 21,90 €.

Albert Camus: Der Fremde

978-3-499-22189-7Eine weitere Lektüre, die nach beinahe 30 Jahren wiederholt wurde. Die äußerliche Geschichte Meursaults dürfte so bekannt sein, dass ich sie hier nicht noch einmal nacherzählen brauche. Mir sind diesmal besonders zwei Dinge aufgefallen: Die Positionen von Staatsanwaltschaft und Verteidigung während des Prozesses und die allgemeine Belanglosigkeit, mit der der ermordete Araber behandelt wird. Weder treten im Prozess Zeugen von Seiten des Ermordeten auf, noch verschwendet Meursault, der in seiner Zelle mit großer Sorgfalt und Geduld immer wieder die Ausstattung seiner Wohnung in Gedanken rekapituliert, viel Zeit mit Grübeln über seine Tat, geschweige denn über sein Opfer. Von da aus ergibt sich mir die Frage, welche der Figuren dieses Buch überhaupt Menschen repräsentieren.

Wenn der Fall Meursault mehr sein soll als eine Obskurität, wenn er denn tatsächlich etwas besagen soll, was über die Behauptung zufälliger Ereignisse hinaus geht – und so wird das Buch doch gemeinhin gelesen –, so habe ich den Verdacht, dass es sich am Ende um Banalitäten handelt. Die Justiz sucht weder dem Angeklagten noch dem Fall gerecht zu werden, sondern bestätigt im Akt der Verurteilung die öffentliche Moral. Deshalb stempelt sie Meursault zum »moralischen Ungeheuer«. Selbst die Verteidigung spielt nur eine Rolle in diesem Spiel, um den Anschein der Gerechtigkeit aufrecht zu erhalten.

Andererseits kann Camus nichts weniger gebrauchen als Gerechtigkeit für seinen Protagonisten: Ein wegen Totschlags zu Zuchthaus verurteilter Meursault ist gänzlich unnütz für die existentialistische Zuspitzung des Textes. Nur der zum Tode Verurteilte kann sich heroisch vom transzendenten Trost des Anstaltgeistlichen abwenden, nur er kann seine Erfüllung im Hass der Menge gegen ihn finden, nur er kann die Gewissheit des Todes als Befreiung empfinden usw. usf.

Meursault bleibt bis zum Ende des Buchs ein Einzelner, kein »Mensch mit Menschen«. Selbst die Freundschaft Célestes oder die Liebe Maries berühren ihn nur für einen Moment, bevor er wieder in seine Egozentrik versinkt. Meursault ist letztlich nicht viel mehr als ein Soziopath, der nach der Intention des Autors als Exemplum des Menschen schlechthin dienen soll. Tut er aber nicht.

Albert Camus: Der Fremde. Deutsch v. Uli Aumüller. rororo 22189. Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 612008. 159 Seiten. 6,95 €.

Brigitte Sändig: Albert Camus

978-3-499-50635-2Aus didaktischem Anlass arbeite ich mich gerade noch einmal in den frühen Camus ein. Die rororo-Monographie von Brigitte Sändig ist eine kurze und präzise Darstellung von Leben und Werk. Die des Lebens folgt dabei weitgehend den autobiographischen Notizen Camus’, wobei die Autorin  zu deren Sentimentalität nur wenig Distanz entwickelt. Die Zusammenfassung und Einordnung der Werke ist angesichts der erforderlichen Kürze einwandfrei. Ich hätte mir eine etwas breitere Behandlung der Rezeption Camus gewünscht, besonders da die gut ausgewählten »Zeugnisse« (ab S. 146) Lust auf mehr machen. Dafür hätte ich gern etwas weniger Wüsten-Sentimentalität in Kauf genommen.

Insgesamt eine gelungene Kurzbiographie.

Brigitte Sändig: Albert Camus. Rowohlt Monographie 50635. Reinbek: Rowohlt, 2000. 159 Seiten. 7,90 €.

Markus Werner: Am Hang

978-3-596-16467-7 Nach der angenehmen Lektüre von Festland war ich auf einen weiteren Text von Markus Werner gespannt. Am Hang, mit dem Werner ja immerhin einen Bestseller gelandet hatte, konnte allerdings die hohen Erwartungen nicht erfüllen. Erzählt wird von einem Pfingstwochenende im Tessin, an dem sich der Scheidungsanwalt Thomas Clarin und der Studienrat Thomas Loos kennenlernen. Clarin ist in sein Ferienhaus gekommen, um einen Artikel über die historische Entwicklung des Scheidungsrechts zu schreiben, Loss wohnt in einem Hotel im nächsten Ort und trauert angeblich um seine vor einem Jahr in einer nahe gelegenen Klinik verunglückte Frau.

Die Konfrontation der beiden Männer selbst ist der geglückte Teil dieser Erzählung. Clarin, nicht nur aus beruflichen Gründen ein zynischer Kritiker der Institution der Ehe, sondern auch ein Don Juan, der keine Gelegenheit ungenutzt vorübergehen lässt, stößt in Loos auf einen kontaktscheuen Einzelgänger, der um seine verstorbenen Frau eine Art von Götzenkult betreibt. Die Gespräche der beiden vermeiden es zu moralisieren und sind eine nette Variation des Don-Juan/Faust-Themas. Sie sind allemal intelligenter und lesenswerter als der Versuch von Robert Menasse zu diesem Stoff.

Recht übel ist allerdings die Rahmenerzählung, die Werner glaubt, konstruieren zu müssen: Natürlich erweist es sich, dass die beiden Männer nicht nur zufällig miteinander verkettet sind. Als Clarin dies klar wird, schleicht sich leider auch die Moral in den Text ein: Clarin steht am Ende als ein Täter da, der mit einer seiner Affären großes Unglück über zwei Menschen gebracht hat. Damit verdirbt der Autor leider die schwebende Position, die der Stoff im Gespräch der beiden Männer angenommen hatte, und reduziert das Gedankenspiel auf die plumpen Ereignisse eines – noch dazu grob erfundenen – konkreten Falls. Leider ist diese Konsequenz aber vollständig beliebig und ihre Konstruktion gänzlich unglaubwürdig.

Ich rate dringend dazu, die Lektüre des dritten Teils der Erzählung zu unterlassen.

Markus Werner: Am Hang. Fischer Taschenbuch 16467. Frankfurt/M.: Fischer, 102009. 190 Seiten. 7,95 €.

Michail Bulgakow: Der Meister und Margarita

978-3-630-62093-0 Der Roman scheint mir, obwohl er als einer der bedeutendsten russischsprachigen des 20. Jahrhunderts gilt und die deutsche Übersetzung seit 1975 konstant im Druck gewesen zu sein scheint, immer noch so etwas wie ein Geheimtipp zu sein. Ich habe ihn vor fast genau 23 Jahren während des Studium zum ersten Mal gelesen, wobei ich jetzt feststellen musste, dass von der Erstlektüre nur eine äußerst vage Erinnerung geblieben war.

Erzählt wird von der Ankunft des Teufels und seines Anhangs von Dienern im atheistischen Moskau der 1930-er Jahre. Was er eigentlich dort will, außer einmalig in einem Varietee auftreten und anschließend einen Teufelsball zu veranstalten, bleibt unklar. Allerdings verursacht er unter den Einwohnern Moskaus ein ziemliches Chaos: Zahlreiche Bürger enden im Irrenhaus, zwei verlieren sogar ihr Leben. Diese Ereignisse scheinen aber nur den Hintergrund zu bilden für die Erzählung, die der Titel des Romans bezeichnet: die Liebesgeschichte zwischen einem Schriftsteller, genannt »Der Meister«, und seiner Geliebten Margarita. Der Meister hat einen Roman über Pontius Pilatus geschrieben, für den er aber keinen Verleger gefunden und ihn aus Verzweiflung darüber verbrannt hat. Scheinbar nur ein einziges Kapitel hat Margarita aus den Flammen retten können; allerdings ist der Teufel letztlich in der Lage, das komplette Werk aus den Flammen zurückzuholen.

Verknüpft werden die beiden Erzählstränge dadurch, dass Margarita vom Teufel zur Königin seines Balls erwählt wird, zur Hexe wird und am Ende des Balles einen Wunsch frei hat. Sie wünscht sich ihren Meister zurück, den sie verloren glaubt, der aber tatsächlich ebenfalls in der Moskauer Irrenanstalt einsitzt. Der Meister und Margarita finden schließlich gemeinsam Frieden, wenn auch auf eine eher überraschende Art und Weise.

Durchsetzt ist die phantastische Erzählung mit Kapiteln aus dem Pilatus-Roman des Meisters, die die Verurteilung Jesu, seine Hinrichtung und weitere Ereignisse in der Folge seines Todes umfassen. In ihnen erscheint Jesus als ein Mensch mit der Gabe außergewöhnlicher Einfühlung, nicht als Prophet oder Sohn Gottes. Diese Kapitel stehen mit ihrem melancholischen Ton in einem deutlichen stilistischen Kontrast zur humoristisch-phantastischen Rahmenerzählung.

Auch wenn einem als Nichtkenner der russischen Geschichte sicherlich die ganze satirische Schärfe des Romans entgeht, ist die Lektüre allen engagierten Lesern auf jeden Fall uneingeschränkt zu empfehlen.

Michail Bulgakow: Der Meister und Margarita. Aus dem Russischen von Thomas Reschke. Sammlung Luchterhand 62093. München: Luchterhand, 2005. 512 Seiten. 10,– €.

Michael Chabon: Wonder Boys

978-3-462-04027-2Ein weiterer Pittsburgh-Roman von Michael Chabon, diesmal aus der Perspektive eines Creative-Writing-Professors erzählt, der an einem Wochenende die Zuspitzung und Lösung seiner Lebenskrise durchlebt. Hintergrund bildet ein Literaturfestival des Colleges, an dem der Ich-Erzähler Grady Tripp arbeitet. Er hat vor einigen Jahren eine Reihe erfolgreicher Romane geschrieben, sitzt aber nun schon seit sieben Jahren an seinem nächsten Buch mit dem Titel Wonder Boys. Er ist ihm etwas aus den Fugen geraten, denn obwohl sein Ende noch in weiter Ferne zu liegen scheint, hat Tripp bereits mehr als 2.600 Seiten geschrieben.

Für das Wochenende des Literaturfestivals hat sich nun Tripps Lektor angesagt, der auf Tripps Roman zur Rettung seiner Karriere hofft. Am selben Tag, an dem Tripp seinem Lektor also wahrscheinlich gestehen muss, dass es vom Ende seines Romans weiter entfernt zu sein scheint als je zuvor, verlässt ihn außerdem noch seine Frau und seine Geliebte, die Rektorin seines Colleges, teilt ihm mit, dass sie schwanger von ihm ist. Und als sei dies nicht genug, muss er sich der Annäherungsversuche einer seiner Studentinnen erwehren und sich um einen seiner begabtesten Studenten kümmern, der suizidgefährdet zu sein scheint oder wenigstens so tut, als sei er es, und auch sonst ein Talent dafür hat, sich in Schwierigkeiten zu bringen.

Trotz des etwas abgegriffenen Themas – Krise eines alternden Autors – ist Chabon ein humorvoller und gut lesbarer Roman gelungen. Das Figurenensemble ist reichhaltig – beinahe zu reichhaltig; so lässt Chabon etwa einen zu Anfang eingeführten Transvestiten bald wieder verschwinden, da er offenbar nichts weiter mit ihm anzufangen weiß –, die Situationskomik gelungen und das Ende erträglich, wenn auch, nach dem vorangegangenen Chaos, ein wenig zu harmonisch. Aber Komödien müssen eben mit der Rettung des Protagonisten enden.

Michael Chabon: Wonder Boys. Deutsch von Hans Hermann. KiWi 1064. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2008. 384 Seiten. 8,95 €.

P. S.: Die Verfilmung des Romans mit Michael Douglas und Tobey Maguire in den Hauptrollen ist durchaus sehenswert, wenn sie sich auch einige Eingriffe ins Buch erlaubt.