Michael Chabon: Die Geheimnisse von Pittsburgh

978-3-462-03946-7 Erstlingsroman nach dem bewährten Strickmuster »der letzte Sommer der Jugend«. Ich-Erzähler ist der Student der Volkswirtschaft Art Bechstein, dessen Vater ein hochrangiges Mitglied einer nicht näher bezeichneten jüdischen Verbrecher-Organisation ist. Erzählanlass ist die Begegnung Arts mit dem homosexuellen Arthur Lecomte, der es offensichtlich auf eine Liebesbeziehung mit Art abgesehen hat, und der Bibliothekarin Phlox Lombardi, die dieselben Absichten verfolgt. Als weitere wichtige Figur tritt der Alkoholiker und Rocker Cleveland Arning hinzu, der für Arts Onkel Lenny Wucherzinsen eintreibt, aber gern ein richtiger Krimineller wäre.

Im Zentrum der locker gestrickten Handlung steht die emotionale Verwirrung Arts, der sich sowohl in Arthur als auch in Phlox verliebt und mit beiden eine Zeitlang eine Liebesbeziehung führt. Beide Beziehungen scheinen weitgehend von der Sexualität bestimmt zu sein, jedenfalls konnte ich – auch entgegen den Beteuerungen des Ich-Erzählers – keine andere Motivation entdecken. Immerhin gelingt dem Autor ein eher unerwartetes Ende de Romans.

Das Buch hat alles, was solch ein Buch braucht: Ein bisschen abseitigen Sex, ein paar albern unbeschwerte Szenen einer verklingenden Jugend, ein paar Besäufnisse, ein wenig Eifersucht, eine überwältigende Schönheit – Jane Bellwether –, die mit einem anderen liiert ist, und nicht zuletzt den morbid gefährlichen Hintergrund einer jüdischen Mafia. Einzig Drogen spielen – abgesehen vom Alkohol – erfreulicherweise keine bedeutende Rolle im Buch. Wenn man als Leser das Strickmuster erkennt und nicht mehr selbst in dem Alter des Erzählers ist, hat das Buch einige Längen, die aber tolerabel sind. Eine nette Lektüre, doch sollte man nicht zu viel erwarten.

Michael Chabon: Die Geheimnisse von Pittsburgh. Aus dem amerikanischen Englisch von Denis Scheck. KiWi 1011. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2008. 302 Seiten. 8,95 €.

Philipp Theisohn: Plagiat

978-3-520-35101-2 Eine Geschichte des Plagiats, nicht der Plagiate. Natürlich werden auch klassische und moderne Fälle von Plagiaten behandelt, doch das Buch stellt im Wesentlichen die Entwicklung des Begriffs und der Funktion des Plagiats von der Antike bis in die unmittelbare Gegenwart dar. Die Darstellung scheint für alle Epochen souverän und auf der Höhe des Gegenstandes zu sein. Dabei erscheint als Gegenstand nicht ein objektiver Tatbestand, der als Plagiat zu identifizieren wäre, sondern das Plagiat erweist sich seit den Anfängen der schriftlichen Literatur im Kern als Plagiatserzählung, also die Behauptung und Darstellung des Plagiats entweder durch den, der sich bestohlen glaubt, oder durch den, der meint, einen Dieb gestellt zu haben. Der Plagiatserzählung steht einerseits die Einsicht entgegen, dass es sich bei Literatur erfahrungsgemäß nahezu immer um Plagiate handelt und dass andererseits Plagiatserzählungen nur in den wenigsten Fällen ein objektiver Tatbestand entspricht, der diese Erfahrung überschreitet. So erscheint die Plagiatserzählung in vielen Fällen als nichts anderes denn die Ausstellung der unvermeidlichen Partizipation eines Werks am Bestand der Literatur.

Diese Spannung zwischen dem individuellen Werk und der Referenz des literarischen Horizonts wird in unterschiedlichen Epochen auf sehr verschiedene Weise genutzt bzw. scheinbar aufgelöst. Die historische Entwicklung dieser Lösungen ist es, was Theisohns Literaturgeschichte darstellt. Theisohn ist dabei, wenigstens soweit ich es beurteilen kann, immer auf der Höhe der verhandelten Epoche und ihm gelingen – im Gegensatz zur Behauptung des Untertitels des Buchs – an vielen Stellen durchaus originelle und anregende Einzelinterpretationen. Auch seine Paraphrasen poetologischer und theoretischer Konzepte sind klar, ohne im Anspruch nachzugeben. Eine anspruchsvolle und anregende Lektüre, für die eine grundlegende Kenntnis der Tradition der westlichen Literatur eine hilfreiche Voraussetzung ist.

Philipp Theisohn: Plagiat. Eine unoriginelle Literaturgeschichte. Stuttgart: Kröner, 2009. Leinen, 577 Seiten. 26,90 €.

Viktor Glass: Goethes Hinrichtung

Der Titel Goethes Hinrichtung ist etwas reißerisch geraten, denn in keinem Sinne handelt Viktor Glass’ Roman von einer Hinrichtung, die Goethe zugehören würde. Erzählt wird im Gegenteil die  Geschichte der Anna Katharina Höhn, die 1783 wegen der Tötung ihres Neugeborenen in Weimar verurteilt und mit dem Schwert vom Leben zum Tode gebracht wurde. Zuletzt hatte Sigrid Damm in ihrem Buch „Christiane und Goethe“ ein wenig Lamento um Goethes Verwicklung in diesen Fall gemacht, das in einer ebenso naiven wie pathetischen Einschätzung der Position Goethes gipfelte.

Davon wenigstens ist Viktor Glass weit entfernt. Er entwickelt die Geschichte der Schwangerschaft, Kindstötung, Verhaftung, Verurteilung und Hinrichtung Höhns parallel zur Biografie Goethes in diesen Monaten. Beide Ebenen sind alles in allem solide recherchiert, die Lücken angemessen aufgefüllt, wenn mir auch einige Details unverständlich geblieben sind, so etwa die Anwesenheit Lenzens in Weimar, der bekanntlich zu dieser Zeit längst in Moskau lebte. Aber solche Kleinigkeiten fallen sicherlich noch unter die Lizenz der dichterischen Freiheit. Ob etwa Glassens Version, der junge Herzog Carl August habe die Re­gie­rungs­ge­schäf­te nur ungern übernommen, während Anna Amalia sie leichten Herzens hinter sich gelassen habe, auch noch unter diese Lizenz fällt, bliebe kritisch zu hinterfragen.

Problematischer ist aber sicherlich die Deutung der Rolle Goethes in der Sache Höhn, die Glass entwickelt: Bei ihm ist Goethe ein konsequenter Gegner der Todesstrafe und daher auch im Fall Höhn eigentlich für eine Begnadigung der Höhnin zu lebenslangem Zuchthaus. Diese Ehrenrettung geschieht sicher in der besten Absicht; auch behauptet Glass, Goethe habe diese Haltung ebenso in seinen Schriften vertreten, ohne allerdings auch nur ein konkretes Beispiel mehr anführen zu können als die Figur des Gretchens im „Faust“. Eine solche Idealisierung Goethes steht in einem offensichtlichen Gegensatz zu dem von Goethe im Fall Höhn abgegebenen Gutachten, das sich zwar zögerlich aber doch deutlich für die Beibehaltung der Todesstrafe im Falle von Kindstötungen ausspricht. Glass muss dieses Gutachten deshalb einerseits zu einer neutralen, unter großem zeitlichen Druck abgegebenen Stellungnahme verbiegen und andererseits seine Abfassung zu einem vorläufigen und hinhaltenden Urteil umdeuten, das Goethe in einer Sitzung des Geheimen Consiliums in Glassens Sinne mündlich zu widerrufen gedenkt. Leider findet nun gerade diese Sitzung nie statt, so dass Goethes Votum  in seiner in Glass’ Sinne „unglücklichen“ Formulierung stehen bleibt.

Solange sich der Leser darüber im Klaren ist, dass es sich in wesentlichen Teilen dieses Goethe-Bilds um freie Fantasien des Romanautors handelt, die mit der Wirklichkeit wenig zu tun haben oder gegen die doch wenigstens mehr Indizien sprechen als für sie, kann die Lektüre dieses Goethe-Höhn-Romans durchaus gewinnbringend sein. Seine Illustration des Le­bens­all­tags in einer Mühle des 18. Jahrhunderts ist ebenso überzeugend, wie die Beschreibung des Prozesses gegen Anna Katharina Höhn detailreich und informativ. Es ist allerdings eher zu befürchten, dass die meisten Leser das Ganze für die sprichwörtliche bare Münze nehmen.

Viktor Glass: Goethes Hinrichtung. Berlin: Rotbuch, 2009. Pappband, Lesebändchen, 223 Seiten. 19,90 €.

Unendlicher Spaß? Deutscher Humor!

Der Verlag Kiepenheuer & Witsch hat zur Veröffentlichung der deutschen Übersetzung von Infinite Jest von David Foster Wallace für 100 Tage ein Leserblog aufgemacht. Hier darf eine handverlesene Auswahl von Autoren seine Leseeindrücke des Buches niederschreiben. Im Grunde eine richtige Idee: Warum sollen solche Initiativen nicht von den Verlagen ausgehen? Und warum sollen nicht einige gute Leser (und viele Autoren sind gute Leser) den Ton vorgeben, in dem über ein Buch gesprochen wird?

Auf den ersten Blick ist das alles auch eine Bereicherung, die Beiträge sind bunt gemischt vom Erlebnisbericht bis zur theoretischen Auseinandersetzung. Leider ist das alles aber auch einmal mehr sehr deutsch geraten. In ihrem heutigen Beitrag schreibt die Berliner Schriftstellerin Annett Gröschner das folgende:

Doofe Sportarten

Ich mag amerikanische Autoren, seitdem ich lesen kann, aber ich habe ihrer Vorliebe für Baseball nie irgendetwas abgewinnen können und mir auch nie die Mühe gemacht, die Regeln zu verstehen. Mit Football und Tennis geht es mir ähnlich. In der Hochzeit der deutschen Tennisleidenschaften der Achtziger mit ganzen Nächten voller Grand-Slam-Turniere und Wimbledon-Wettbewerbe im Fernsehen, bin ich lieber zum Fußball gegangen. Tennis ist immer irgendwie mit Boris Becker verbunden und das spricht nicht gerade für diesen Sport.

Ich schwächele etwas mit meinem Spaß, weil das Tennisturnier im Roman nicht aufhören will. Ich habe vor lauter Langeweile vorgeblättert, das geht noch 40 Seiten so weiter und dann kommt Orin mit Football. Auch nicht gerade meine Lieblingssportart. Ich sehne mich nach einem blutigen Boxkampf oder einer grundsoliden 100-m-Freistil-Staffel, aber leider wäre Hal sowohl als Boxer als auch als Schwimmer eher unglaubhaft. O.K., ich muss da jetzt durch.

Das ist nun nichts als Doofes Gemaule; soll sie doch was anderes lesen oder weiterblättern, wenn ihr die verständliche Vorliebe des Autors für bestimmte nationale Sportarten nicht passt.

Ich habe also spontan einen Kommentar abgesetzt:

Wenn einem ein Buch so gar nicht passt, sollte man sich vielleicht einfach ein eigenes schreiben. Es ist aber zu befürchten, dass Figuren wie Lothar Matthäus oder Lukas Podolski ebenso wenig für den Fußball sprechen wie Boris Becker für das Tennis.

Es mag nicht ganz genau dieser Wortlaut gewesen sein, aber es ist ziemlich nahe dran. Der Kommentar wurde einfach gelöscht. Es ist das gute Recht eines Bloginhabers, so etwas zu tun. Habe ich also einen zweiten Kommentar geschrieben:

Darf ich fragen, warum mein Kommentar gelöscht wurde?

Durfte ich offensichtlich auch nicht, denn auch dieser Kommentar verschwand im digitalen Orkus. Also eine Mail an den Verantwortlichen Guido Graf geschrieben:

Sehr geehrter Herr Graf,

ich habe heute versucht, einen Kommentar auf http://www.unendlicherspass.de/2009/09/07/doofe-sportarten/ abzugeben. Er ist gelöscht worden, obwohl er – meiner unmaßgeblichen Meinung nach – keinen anstößigen Inhalt hatte. Auch meine Nachfrage, warum der Kommentar gelöscht worden sei, wurde kommentarlos gelöscht.

Ist das die Art, wie KiWi mit seinen Lesern umzugehen wünscht? Ich bin ein wenig vor den Kopf gestoßen.

Mit bestem Gruß, Marius Fränzel

Und gleich bekam ich eine zackige Antwort:

Sehr geehrter Herr Fränzel,

wo der Spaß endet – darüber kann man sicher streiten, aber in diesem Fall schien meiner – leider maßgeblichen – Meinung nach die Grenze überschritten.

Ich möchte Sie nicht davon abhalten, das mit Helge Malchow zu diskutieren. Meine – s.o. – Meinung ist nicht automatisch identisch mit der des Verlags.

Beste Grüße,

Guido Graf

Tja, selbst der Unendliche Spaß endet an den Grenzen des deutschen Humors!

Robert Gernhardt: Denken wir uns

978-3-10-025510-5 Posthum erschienener, letzter Erzählband Robert Gernhardts mit 26 Erzählungen, den der Autor angeblich noch selbst zusammengestellt hat. Die Erzählungen beginnen mit der auch den Titel liefernden Phrase »Denken wir uns«, sind ansonsten aber sowohl thematisch als auch qualitativ sehr unterschiedlich. Die Spannbreite reicht vom breitgewalzten Witz über den in eine Erzählung gegossenen essayistischen Einfall, autobiografische oder poetologische Erzählungen bis hin zu eher klassischen Formen.

Der Band zeigt einmal mehr einen routinierten Autor, der sein Handwerk versteht. Oft sind die Erzählungen aber leider deutlich zu lang für die Pointe oder ihnen fehlt überhaupt eine Pointe, wobei der Autor zum Ausgleich mit diesem Mangel kokettiert. Doch wenn man sich an dem disparaten Material und den recht unterschiedlichen Stilebenen nicht stört, lässt sich der eine oder andere interessante Fund machen. Man sollte nur eben keinen geschlossen konzipierten Band erwarten.

Robert Gernhardt: Denken wir uns. Frankfurt/M.: S. Fischer, 2007. Pappband, 240 Seiten. 18,90 €.

Curzio Malaparte: Die Haut

Malapartes Nachkriegs-Buch, das zusammen mit dem Vorläufer Kaputt seinen Ruhm begründete. Nachdem Malaparte in Deutschland während der 90-er Jahre weitgehend vergessen zu sein schien, wurden seine beiden Hauptwerke 2005 und 2006 erneut aufgelegt und sind inzwischen auch wieder im Taschenbuch erhältlich. Malaparte selbst ist wohl eine der schillerndsten Figuren der italienischen Literatur des letzten Jahrhunderts. Er wurde 1898 als Sohn eines Sachsen und einer Mailänderin geboren – Malaparte trug den bürgerlichen Namen Kurt Erich Suckert – , bewährte sich im Ersten Weltkrieg, ging dann in den diplomatischen Dienst und wurde einer der frühen Anhänger des Duce. Allerdings kam es schnell zu Konflikten mit den Faschisten, die Malapartes Erinnerung an den Ersten Weltkrieg nicht mochten. Die Folge war sein Ausscheiden aus dem Diplomatischen Dienst. Von 1928 bis 1931 arbeitete er als Chefredakteur der Tageszeitung La Stampa. 1933 wurde er verhaftet und wegen kritischer Äußerungen zu fünf Jahren Verbannung auf Lipari verurteilt, von denen er aber wohl nur ein Jahr tatsächlich abgesessen hat. Im Zweiten Weltkrieg hat er als Kriegskorrespondent sowohl in Afrika als auch in Russland, Finnland und auf dem Balkan gearbeitet, später wird er Verbindungsoffizier des italienischen Militärs zu den amerikanischen Streitkräften. In den 50-er Jahren wollte Malaparte dann Kommunist werden, wurde aber nicht in die Partei aufgenommen.

Die Haut enthält eine fiktive Autobiografie Malapartes von 1943 bis 1945. Der Ich-Erzähler begleitet als Verbindungsoffizier die US-Truppen von Neapel bis nach Norditalien. Es ist unklar, wie groß der Anteil tatsächlichen Geschehens an den Erlebnissen und Gesprächen des Ich-Erzählers ist. Malaparte scheint im Gegensatz zu dem Eindruck, den Die Haut vermittelt, den größten Teil  des beschriebenen Zeitraums auf Ischia verbracht zu haben. Das Buch ist erzählerisch von Ton und Stil der journalistischen Arbeit Malapartes geprägt; es handelt sich also nicht um einen Roman im klassischen Sinne.

Das erste Drittel des Buches spielt in Neapel und berichtet in der Hauptsache vom kulturellen und moralischen Verfall, dem die Kultur der Stadt durch Hunger, Elend, Tod und nicht zuletzt die Begegnung mit den amerikanischen Befreiern ausgesetzt ist. Malaparte prangert die weit verbreitete Prostitution an, mit der die neapolitanischen Frauen weiter Gesellschaftsschichten ihren Familien Brot verschaffen. Er beklagt den moralischen und kulturellen Verfall – wobei er letzteren, sicher nicht unproblematisch, am steigenden Einfluss Homosexueller demonstriert –, ironisiert zugleich die Ahnungslosigkeit und Naivität der Amerikaner, für die Europa eine Art glorifizierter Sündenpfuhl zu sein scheint.

»Wenn die Japaner Amerika besetzt hätten«, sagte ich, »und sich mit euren Frauen so aufgeführt hätten, wie ihr euch mit den unseren aufführt, was würden Sie da sagen, Mrs. Flat?«
»Aber wir sind keine Japaner!« warf Oberst Brand ein.
»Die Japaner sind Farbige«, sagte Mrs. Flat.
»Für besiegte Völker«, sagte ich, »sind alle Sieger Farbige.«
Verlegenes Schweigen folgte meinen Worten. Alle blickten verwundert und bekümmert auf mich: schlichte arglose Männer, Amerikaner, die reinsten und gerechtesten unter den Menschen, und sie sahen mich mit stummer Sympathie an, verwundert und bekümmert, daß die Wahrheit in meinen Worten sie zum Erröten brachte.

Von Neapel aus zieht der Ich-Erzähler mit den amerikanischen Truppen nordwärts, erlebt die Befreiung Roms, die öffentliche Zurschaustellung des Leichnams von Mussolini in Mailand, ein kommunistisches Standgericht über junge Faschisten in Florenz und zahlreiche andere Episoden. Malaparte erweist sich dabei als ein intensiver, genauer Beobachter, der zu allem Geschehen eine ironische, oft auch zynische Distanz einnimmt, wobei er stets betont, dass diese Haltung aus einer hohen Moralität folgt, die aber unter den gegebenen Umständen nicht aufrecht erhalten werden könne. Im Hintergrund steht stets eine sentimentale Trauer um die verlorene Kultur des 19. Jahrhunderts, als deren Paradigma Marcel Prousts Recherche herhalten muss. Der italienischen Adel scheint noch in den Ruinen dieser Kultur zu leben, mehr existiert von ihr aber nicht. Die normalen Nachkriegs-Italiener sind zugleich Befreite und Besiegte, ihre ursprüngliche Kultur ist vernichtet, ihre Zukunft erscheint von der Tradition abgelöst und ungewiss.

Der Titel Die Haut bezieht sich wohl auf eine Episode, die beim Einzug der Amerikaner in Rom geschildert wird:

Aber als wir auf der Höhe von Tor di Nona waren, kam ein Mann der Kolonne entgegengelaufen, mit den Armen fuchtelnd und schreiend: »Viva l’America!«; dann glitt er aus, fiel und wurde von den Raupen eines Sherman erfaßt. Ein Schrei des Entsetzens erhob sich in der Menge. Ich sprang aus dem Wagen, machte mir Platz und beugte mich über einen formlosen Leichnam.

Dieser überrollte Italiener, von dem nur mehr die Haut auf der Straße zurückbleibt, ist wohl die eindringlichste Metapher, die Malaparte für den Zustand gefunden hat, in den er Italien durch den Zweiten Weltkrieg versetzt sah.

Ein sehr intensives, in der Grundhaltung des Autors sicherlich nicht unproblematisches Buch, das aber den unbestreitbaren Vorteil hat, ungewöhnlich welthaltig, aufrichtig und unverstellt zu sein. Man findet dergleichen nicht oft.

Curzio Malaparte: Die Haut. Aus dem Italienischen von Hellmut Ludwig. Fischer Taschenbuch 17411. Frankfurt/M.: Fischer, 2008. 445 Seiten. 12,95 €.

Joseph Roth – Leben und Werk in Bildern

978-3-462-04102-6 Zusammen mit der umfangreichen Biografie Joseph Roths hat der Verlag Kiepenheuer & Witsch auch einen Bildband zu Leben und Werk herausgebracht. Es handelt sich um eine überarbeitete Neuauflage eines bereits 1994 erschienenen Bandes, dem wiederum ein Ausstellungskatalog von 1989 vorausgegangen zu sein scheint. Den Grad der Überarbeitung kann ich nicht einschätzen, da ich die erste Auflage nicht kenne. Umfangreicher ist der Band durch die Überarbeitung jedenfalls nicht geworden.

Das Buch präsentiert eine umfangreiche Auswahl an Bildern Roths und seiner Wegbegleiter, Freunde und Bekannten, Faksimiles von Briefen, Manuskripten, Zeitungsausschnitten, Verträgen, Buchumschlägen und anderen Dokumenten. Zusammen mit den Texten der Herausgeber ergibt sich eine reich bebilderte Kurzbiografie Roths, angereichert durch Briefe und autobiografische Texte Roths.

Lesern, denen die Biografie von Sternburgs zu umfangreich ist, bietet der Band eine zwar etwas kostspielige, aber knappe und attraktive Alternative.

Heinz Lunzer / Victoria Lunzer-Talos (Hg.): Joseph Roth. Leben und Werk in Bildern. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2009. Leinenband, Kunstdruckpapier, Fadenheftung, 280 Seiten. 39,95 €.

Ursula Priess: Sturz durch alle Spiegel

978-3-250-60131-9 Das Thema Max Frisch lässt mich doch noch nicht ganz los: Ursula Priess, Tochter aus Frischs erster Ehe, hat ein Erinnerungsbuch über ihren Vater geschrieben, das den nicht unfrischschen Untertitel »Eine Bestandsaufnahme« trägt. Es handelt sich nicht um den Versuch einer auch nur einigermaßen geschlossenen Darstellung, sondern um eine Aneinanderreihung von kürzeren Notizen, Reflexionen, Situationen, Erlebnissen etc., wobei keine chronologische, sondern höchstens eine leichte thematische Ordnung zu erkennen ist.

Das Buch in zwei Teile gegliedert: Im ersten Teil findet sich als eine Art von Rahmenerzählung der Bericht der Autorin über eine Begegnung mit einem offenbar deutlich älteren Mann in Venedig. Sie ist diesem Mann zuvor nur ein einziges Mal begegnet, hat anschließend aber über längere Zeit Telefonate mit ihm geführt. Nun trifft man sich zu einem Rendezvous in Venedig, bei dem sich herausstellt, dass der Mann ein intimer Freund Ingeborg Bachmanns gewesen sein muss, wohl auch zu eben der Zeit, als Bachmann und Frisch versuchten, ein Paar zu sein. Der zweite Teil dreht sich dann in der Hauptsache um die letzten Monate im Leben Frischs.

Ursula Priess erzählt von einem schwierigen und belasteten Verhältnis zu ihrem Vater, das allerdings immer wieder durch Momente des Verständnisses, des Verzeihens und der unverstellten Zuneigung zwischen Vater und Tochter konterkariert wird. Priess hat, wenn ich es richtig verstanden habe, lange Zeit darunter gelitten, als Tochter des berühmten Vaters wahrgenommen zu werden und weniger als sie selbst. Auch die Trennung des Vaters von ihrer Mutter und seinen Entschluss, als Schriftsteller zu leben, scheint sie ihm zu Lebzeiten nie recht verziehen zu haben. Noch der letzte Streit zwischen Tochter und Vater, als Frisch schon todkrank ist und seine eigene Todesanzeige entwirft – öffentliche Selbstinszenierung bis über den Tod hinaus! –, dreht sich um Priess’ Mutter und Frischs Dasein als öffentliche Person.

Man muss dem Buch zugutehalten, dass es eine aufrichtige und gut lesbare Auseinandersetzung einer Tochter mit ihrem sicherlich nicht einfachen Vater ist. Der Leser gewinnt den Eindruck, dass Priess auf jeder Seite darum bemüht ist, nichts zu beschönigen, ihr eigenes Versagen ihrem Vater gegenüber genauso darzustellen wie seine Härte, Unnachgiebigkeit und Schwierigkeit. Diese Aufrichtigkeit ist es, die das Buch auszeichnet und über die biografischen Details zu Frisch hinaus interessant macht. Ein wirklich gutes Buch ist es aber wohl dennoch nicht geworden. Dazu fehlt es ihm an Struktur und letztlich auch an dem Willen oder dem Vermögen, das Verhältnis zwischen Vater und Tochter wirklich auf den Begriff zu bringen oder wenigstens ein klares Bild von ihm zu zeichnen. So werden die letzten Seiten etwa mit einigen Traumberichten gefüllt, von denen mir vollständig unklar ist, was sie zum verhandelten Thema beitragen; die Tochter träumt vom Vater dies und das – nun gut, und was besagt das? Das ist der Autorin wohl ebenso unklar, wie es mir geblieben ist.

Für Frisch-Kenner ist das Buch eine Pflichtlektüre; dass es darüber hinaus von Interesse ist, würde ich eher bezweifeln.

Ursula Priess: Sturz durch alle Spiegel. Zürich: Amman, 2009. Pappband, 171 Seiten. 18,95 €.

Alfred Döblin: November 1918 (4)

978-3-10-015557-3 Der abschließende vierte Band des Romanzyklus mit dem Titel Karl und Rosa ist der umfangreichste Einzelband. Erzählerisch spiegelt sein Beginn das Ende des dritten Bandes (respektive zweiten; dazu unten noch einige Sätze) wieder: Wurde dort das bis dahin weitgehend vorherrschende musivische Erzählen durch eine eher kontinuierliche Erzählung des weiteren Lebensweges des US-amerikanischen Präsidenten Wilson abgelöst und so eine erste Abrundung der Erzählung geschaffen, konzentriert sich der vierte Band zu Anfang auf den Lebensweg Rosa Luxemburgs ab dem Februar 1915 mit dem Schwerpunkt ihrer Haftzeit in Breslau. Erst im zweiten Buch setzt die detaillierte Erzählung der deutschen Revolution dort wieder ein, wo Döblin sie im Band zuvor abgebrochen hatte. Dieser letzte Band kehrt aber nicht mehr vollständig zu dem reichen Wechsel der Perspektiven zurück, sondern konzentriert sich auf deutlich weniger Erzählstränge.

Der Verlauf der deutschen Revolution wird weiterverfolgt bis zur Nacht vom 15. auf den 16. Januar 1919, in der Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg ermordet werden; vom Prozess gegen die Täter sowie den milden Urteile wird nur summarisch berichtet. Neben der ausführlichen Schilderung dieser Taten liegt das Hauptgewicht der Darstellung auf der versäumten Gelegenheit vom 6. Januar, als sich eine revolutionäre und bewaffnete Masse in Berlin versammelt, aber aufgrund mangelnder Führung nach einige Stunden wieder auseinanderläuft. Die Regierung Eberts – dessen Porträt in diesem letzten Band noch einmal deutlich negativer gerät –  sitzt die Krise eine Woche lang aus, um dann das Wiedereinkehren der bürgerlichen Ruhe zu verkünden und sich auf die Nationalversammlung vorzubereiten. Unter den revolutionären Kräften im engeren Sinne will nur Karl Liebknecht die Niederlage vom 6. Januar nicht akzeptieren und ist bestrebt, die diversen Besetzungen von öffentlichen Plätzen und Gebäuden sowie Pressehäusern aufrecht zu erhalten. Deren gewaltsame Räumung schildert Döblin zum Teil im Detail.

Als außergewöhnlich treten hier besonders zwei längere Passagen hervor, in denen der Text überraschend ins Satirisch-Phantastische umschlägt: Da ist zum einen eine Szene, in der im Finanzministerium eine Abordnung von Matrosen wegen ihrer Löhnung vorstellig wird und mit einem einzigen Satz wie mit einer Zauberformel ein Chaos auslöst, das aber am Ende nur zwölf Sekunden gedauert haben soll. Zum anderen findet sich die Beschreibung einer Geisterstunde auf der Siegesalle, in der die marmornen Denkmäler von ihren Sockeln herabsteigen und einer Prozession der Berliner Gefallenen des Ersten Weltkriegs beiwohnen. Beide Passagen sind überzeugend gestaltet und von kräftiger Wirkung, ragen aber aus dem übrigen Text wie unverbundene Blöcke heraus. Sie bleiben stilistisch und inhaltlich Episode.

Wie schon der Titel andeutet, tritt in diesem Band Rosa Luxemburg, die bislang nur einen Nebenrolle gespielt hatte, als gleichgewichtige, neue Figur zum bisherigen Ensemble hinzu. Auch Rosa leidet an Visionen, bei ihr ausgelöst durch Schuldgefühle und die Isolation ihrer Haft in Breslau. In ihren Visionen tritt vorerst nur Hannes auf, ein früherer Geliebter, der an der Ostfront gefallen ist; später wird auch Rosa vom Teufel besucht. Es ist aus dem Roman allein nicht verständlich, wieso Döblin seine Figur der Rosa mit einem solchen psychischen Ballast belastet, für den sich in der Biografie Luxemburgs wohl keinerlei Anhaltspunkte finden lassen. Was die Visionen selbst angeht, so gehen Rosas nicht wesentlich über die früheren Friedrich Beckers hinaus, sondern sie scheinen nur von anderem Inhalt zu sein. Diese Stilisierung Rosas ist mir weitgehend unverständlich geblieben; dementsprechend mühsam fand ich besonders die späteren Passagen zu diesem Motiv zu lesen.

Von den bereits bekannten Figuren werden die Schicksale Stauffers und Beckers weiter verfolgt: Stauffer, der im vorangegangenen Band bis zum Ende einer bürgerlichen Komödie begleitet wurde, wird noch weiter zur Normalität geläutert. Seine geliebte Lucie erweist sich als Alkoholikerin und Stauffer selbst als unverbesserlicher Casanova – da sich das Paar aber mit sich selbst, ihren und des Partners Schwächen befreundet, geht es in eine sonst nicht weiter erwähnenswerte Bürgerlichkeit ein. Stauffers Karriere als Dramatiker findet darin ihr Ende.

Spannender ist die weitere Geschichte Friedrich Beckers: Er scheint seine Visionen weitgehend überwunden zu haben und versucht sich wieder im Schuldienst. Er wird dabei aber nahezu augenblicklich in die Affäre um den Rektor seiner ehemaligen Schule verwickelt, der in den vorangegangenen beiden Bänden als Nebenfigur eingeführt worden war. Doch Beckers Versuche, sowohl den Rektor als auch einen beteiligten Schüler vor dem Schlimmsten zu bewahren, scheitern: Der Rektor wird vom alkoholisierten Vater des Schülers, der eine homoerotische Beziehung zwischen beiden vermutet, so verprügelt, dass er an den Folgen stirbt; der Schüler flieht aus dem an dieser Tat zerfallenden Elternhaus und schließt sich den Revolutionären an, die das Polizeipräsidium besetzt halten. Becker folgt dem Jungen bis dorthin und wird mit ihm Zusammen bei der Erstürmung des Gebäudes verletzt. Obwohl sich Becker mehrfach die Möglichkeit bietet, sich dem nachfolgenden Prozess zu entziehen, besteht er darauf, wie die anderen Revolutionäre angeklagt und abgeurteilt zu werden. Nach drei Jahren Haft versucht er es noch mehrfach mit einer bürgerlichen Existenz, wird aber schließlich Narr in Christo, der als Obdachloser das Land durchstreift und mehrfach im Namen eines radikalen Christentums die öffentliche Ordnung stört. Auch er wird bis zu seinem Tod von Visionen, insbesondere des Teufels, verfolgt. Mit Beckers Tod und der Verklappung seiner Leiche endet der Zyklus.

Abschließend noch einige Sätze zu dem Problem der erzählerischen Großstruktur des Zyklus: Wie bereits in der Einführung erwähnt, war der Zyklus ursprünglich als Trilogie geplant, wurde dann aber faktisch als Tetralogie veröffentlicht, da der zweite Teil weit über das geplante Maß hinausgewachsen war. So liegen derzeit zwei Ausgaben vor, von denen die eine (dtv) den Roman als Tetralogie präsentiert, während die hier besprochene Ausgabe von S. Fischer den zweiten und dritten Band als Teilbände 2.1 und 2.2 behandelt. Es ist nun fraglos so, dass der dritte Band (= 2.2) einen ersten, vorläufigen Abschluss des Zyklus liefert, der so weder im ersten noch im zweiten Band (= 2.1) zu finden ist. Da der erste Band bereits vorab veröffentlich war, ließe sich argumentieren, dass Döblin das vorläufige Ende geschrieben hat, um die beiden Teilbände des zweiten Teils einem Verleger unabhängig vom abschließenden dritten Teil anbieten zu können. Dies spräche dafür, dass es sich strukturell eher um eine »Trilogie in vier Bänden« als um eine Tetralogie handelt. Am Ende ist diese Frage aber wohl so unerheblich, dass hier schon zu viel über sie gesagt worden ist.

Mit insgesamt über 2.200 Seiten muss dieser Zyklus als einer der bedeutendsten zeitgeschichtlichen deutschen Romane gewertet werden. Er ist sicherlich aufgrund der starken spirituellen Anteile, die sich letztendlich wohl nicht auf die Darstellung psychischer Phänomene werden reduzieren lassen, keine einfache, geschweige denn eingängige Lektüre. Dennoch ist es mir letztlich unverständlich, dass er im Bewusstsein der Leser so wenig verankert zu sein scheint. Doch teilt er dieses Schicksal schließlich mit dem übrigen Werk Döblins, von Berlin Alexanderplatz einmal abgesehen.

Alfred Döblin: November 1918. Eine deutsche Revolution. Karl und Rosa. Frankfurt/M.: S. Fischer, 2008. Leinen, Lesebändchen, 783 Seiten. 19,90 €.

Alfred Döblin: November 1918 (3)

978-3-10-015556-6 Der dritte Band Heimkehr der Fronttruppen bringt den Erzählbogen, den Döblin in Bürger und Soldaten 1918 eröffnet hatte, zu einem Abschluss. Die Erzählung aus Verratenes Volk wird unmittelbar fortgesetzt: Die vom militärischen Hauptquartier aus organisierten Truppen aus dem Westen kehren in ihre Berliner Kasernen zurück. Sie werden von staatlichen Vertreter der neuen Republik als ungeschlagene Helden empfangen, während die politisch organisierte Linke die Befürchtung hegt, dass der Einzug der Truppen nur das Vorspiel zu einem Militärputsch darstellt. Doch ganz im Gegenteil lösen sich die Truppen in kurzer Zeit bis auf Reste auf, da die Soldaten einfach massenweise davonlaufen. Die militärische Führung sieht sich plötzlich einem Chaos gegenüber, während Ebert und seine Volksbeauftragten fürchten, dass die Soldaten den Spartakisten zulaufen und die Gefahr eines revolutionären Aufstandes verschärfen werden.

Das Militär reagiert auf die chaotisch verlaufende Auflösung der Truppen durch die Bildung von Freichors nach Lützowschem Vorbild, aus Freiwilligen gebildet, die sich einer scharfen Disziplin unterwerfen und sich unter den Befehl der Regierung stellen. Auch Liebknecht fürchtet, dass ihm die Situation aus der Hand geraten und sich die revolutionäre Bewegung verselbstständigen könnte. Die historisch-politische Ebene des Buches läuft auf die Eröffnung des 1. Rätekongress in Berlin am 16. November zu.

Interessanterweise bricht Döblin die kontinuierliche Erzählung der deutschen Ereignisse aber bereits um den 14. November herum ab und konzentriert sich auf den letzten knapp 60 Seiten des Romans auf den US-amerikanischen Präsidenten Wilson und sein Engagement für den Friedensvertrag und die Gründung des Völkerbundes sowohl in Europa bei den Verhandlungen der Sieger als auch in den USA, wo sowohl Senat als auch die Mehrheit der Bevölkerung diesen Bemühungen reserviert gegenüberstehen. Das Leben Wilsons wird bis zu seinem Tod weiter verfolgt, um anschließend auf nur zwei Seiten die weitere geschichtliche Entwicklung zu umreißen und mit einem Schrei die drohende Katastrophe des Zweiten Weltkriegs anzukündigen.

Auch im dritten Band werden die Geschichten Friedrich Beckers und Erwin Stauffers fortgeführt: Beckers Träume drängen sich mehr und mehr in seine Tageswahrnehmung herein. Er leidet unter Visionen von Personen, mit denen er spirituelle Streitgespräche führt – darunter wahrscheinlich auch mit dem Teufel persönlich, der in verschiedenen Gestalten erscheint. Ausgelöst ist diese Erkrankung nicht nur durch die Erlebnisse des Krieges und die erlittene Verletzung, sondern auch durch ein tiefes persönliches Schuldgefühl, dass er sich bei Ausbruch des Krieges nicht gegen den Krieg gestellt habe. Über diesen Visionen und ihrem Einfluss auf Becker zerbricht nicht nur die junge Beziehung zu Hilde, sondern auch die Freundschaft mit Johannes Maus, der sich ganz der revolutionären Idee verschrieben hat, geht darüber zu Bruch. Becker flieht schließlich in den christlichen Glauben, dem er bislang immer skeptisch gegenübergestanden hatte, und findet auf diesem Weg wenigstens ein wenig inneren Frieden.

Erwin Stauffer dagegen findet seine alte Geliebte Lucie wieder und in ihr das späte Glück seines Lebens. Lucie ist inzwischen seit langem verheiratet, will sich aber für Stauffer scheiden lassen und zu diesem Zweck mit ihm zusammen nach Amerika reisen. Unterwegs kommt es auch zur einer dramatischen Versöhnung mit Tochter und Ex-Frau, als Stauffer beinahe Opfer eines Unfalls mit einen Gasofen wird. Die hier ausgespielte bürgerliche Komödie überzeugt zwar in ihrer Ironie und als privater Gegensatz zum politischen Geschehen auf der nationalen und Weltbühne, ist aber inhaltlich sicherlich der schwächste Teil der Erzählung.

Bemerkenswert scheint mir, dass sowohl Becker als auch Stauffer als Variationen des Faust gestaltet zu sein scheinen: Becker ist der tragische Gelehrte, der mit dem Teufel um seine Seele ringt, Stauffer ist der weltliche Lebemann, der »Helenen in jedem Weibe« sieht und »durch das wilde Leben« geschleift wird. Die zahlreichen Faust-Zitate der Romane weisen auf diesen Hintergrund der beiden Spiegelfiguren Becker und Stauffer hin.

Alles in allem muss Döblin das Kompliment gemacht werden, dass es ihm gelungen ist, ein umfassendes und solides Bild der Ereignisse vom Ende des Ersten Weltkrieges und der nachfolgenden Wochen zu zeichnen. Einzig die Auseinandersetzungen zwischen Gewerkschaften und Industrie fehlen in seiner Darstellung. Nach Umfang und zeitgeschichtlicher Genauigkeit steht der Romanzyklus zumindest gleichranging neben Werken wie Johnsons Jahrestage oder Strittmatters Der Laden. Hier gibt es einen echten Klassiker des 20. Jahrhunderts wiederzuentdecken.

Alfred Döblin: November 1918. Eine deutsche Revolution. Heimkehr der Fronttruppen. Frankfurt/M.: S. Fischer, 2008. Leinen, Lesebändchen, 573 Seiten. 18,90 €.

Wird fortgesetzt …