Ursula Priess: Sturz durch alle Spiegel

978-3-250-60131-9 Das Thema Max Frisch lässt mich doch noch nicht ganz los: Ursula Priess, Tochter aus Frischs erster Ehe, hat ein Erinnerungsbuch über ihren Vater geschrieben, das den nicht unfrischschen Untertitel »Eine Bestandsaufnahme« trägt. Es handelt sich nicht um den Versuch einer auch nur einigermaßen geschlossenen Darstellung, sondern um eine Aneinanderreihung von kürzeren Notizen, Reflexionen, Situationen, Erlebnissen etc., wobei keine chronologische, sondern höchstens eine leichte thematische Ordnung zu erkennen ist.

Das Buch in zwei Teile gegliedert: Im ersten Teil findet sich als eine Art von Rahmenerzählung der Bericht der Autorin über eine Begegnung mit einem offenbar deutlich älteren Mann in Venedig. Sie ist diesem Mann zuvor nur ein einziges Mal begegnet, hat anschließend aber über längere Zeit Telefonate mit ihm geführt. Nun trifft man sich zu einem Rendezvous in Venedig, bei dem sich herausstellt, dass der Mann ein intimer Freund Ingeborg Bachmanns gewesen sein muss, wohl auch zu eben der Zeit, als Bachmann und Frisch versuchten, ein Paar zu sein. Der zweite Teil dreht sich dann in der Hauptsache um die letzten Monate im Leben Frischs.

Ursula Priess erzählt von einem schwierigen und belasteten Verhältnis zu ihrem Vater, das allerdings immer wieder durch Momente des Verständnisses, des Verzeihens und der unverstellten Zuneigung zwischen Vater und Tochter konterkariert wird. Priess hat, wenn ich es richtig verstanden habe, lange Zeit darunter gelitten, als Tochter des berühmten Vaters wahrgenommen zu werden und weniger als sie selbst. Auch die Trennung des Vaters von ihrer Mutter und seinen Entschluss, als Schriftsteller zu leben, scheint sie ihm zu Lebzeiten nie recht verziehen zu haben. Noch der letzte Streit zwischen Tochter und Vater, als Frisch schon todkrank ist und seine eigene Todesanzeige entwirft – öffentliche Selbstinszenierung bis über den Tod hinaus! –, dreht sich um Priess’ Mutter und Frischs Dasein als öffentliche Person.

Man muss dem Buch zugutehalten, dass es eine aufrichtige und gut lesbare Auseinandersetzung einer Tochter mit ihrem sicherlich nicht einfachen Vater ist. Der Leser gewinnt den Eindruck, dass Priess auf jeder Seite darum bemüht ist, nichts zu beschönigen, ihr eigenes Versagen ihrem Vater gegenüber genauso darzustellen wie seine Härte, Unnachgiebigkeit und Schwierigkeit. Diese Aufrichtigkeit ist es, die das Buch auszeichnet und über die biografischen Details zu Frisch hinaus interessant macht. Ein wirklich gutes Buch ist es aber wohl dennoch nicht geworden. Dazu fehlt es ihm an Struktur und letztlich auch an dem Willen oder dem Vermögen, das Verhältnis zwischen Vater und Tochter wirklich auf den Begriff zu bringen oder wenigstens ein klares Bild von ihm zu zeichnen. So werden die letzten Seiten etwa mit einigen Traumberichten gefüllt, von denen mir vollständig unklar ist, was sie zum verhandelten Thema beitragen; die Tochter träumt vom Vater dies und das – nun gut, und was besagt das? Das ist der Autorin wohl ebenso unklar, wie es mir geblieben ist.

Für Frisch-Kenner ist das Buch eine Pflichtlektüre; dass es darüber hinaus von Interesse ist, würde ich eher bezweifeln.

Ursula Priess: Sturz durch alle Spiegel. Zürich: Amman, 2009. Pappband, 171 Seiten. 18,95 €.

Alfred Döblin: November 1918 (4)

978-3-10-015557-3 Der abschließende vierte Band des Romanzyklus mit dem Titel Karl und Rosa ist der umfangreichste Einzelband. Erzählerisch spiegelt sein Beginn das Ende des dritten Bandes (respektive zweiten; dazu unten noch einige Sätze) wieder: Wurde dort das bis dahin weitgehend vorherrschende musivische Erzählen durch eine eher kontinuierliche Erzählung des weiteren Lebensweges des US-amerikanischen Präsidenten Wilson abgelöst und so eine erste Abrundung der Erzählung geschaffen, konzentriert sich der vierte Band zu Anfang auf den Lebensweg Rosa Luxemburgs ab dem Februar 1915 mit dem Schwerpunkt ihrer Haftzeit in Breslau. Erst im zweiten Buch setzt die detaillierte Erzählung der deutschen Revolution dort wieder ein, wo Döblin sie im Band zuvor abgebrochen hatte. Dieser letzte Band kehrt aber nicht mehr vollständig zu dem reichen Wechsel der Perspektiven zurück, sondern konzentriert sich auf deutlich weniger Erzählstränge.

Der Verlauf der deutschen Revolution wird weiterverfolgt bis zur Nacht vom 15. auf den 16. Januar 1919, in der Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg ermordet werden; vom Prozess gegen die Täter sowie den milden Urteile wird nur summarisch berichtet. Neben der ausführlichen Schilderung dieser Taten liegt das Hauptgewicht der Darstellung auf der versäumten Gelegenheit vom 6. Januar, als sich eine revolutionäre und bewaffnete Masse in Berlin versammelt, aber aufgrund mangelnder Führung nach einige Stunden wieder auseinanderläuft. Die Regierung Eberts – dessen Porträt in diesem letzten Band noch einmal deutlich negativer gerät –  sitzt die Krise eine Woche lang aus, um dann das Wiedereinkehren der bürgerlichen Ruhe zu verkünden und sich auf die Nationalversammlung vorzubereiten. Unter den revolutionären Kräften im engeren Sinne will nur Karl Liebknecht die Niederlage vom 6. Januar nicht akzeptieren und ist bestrebt, die diversen Besetzungen von öffentlichen Plätzen und Gebäuden sowie Pressehäusern aufrecht zu erhalten. Deren gewaltsame Räumung schildert Döblin zum Teil im Detail.

Als außergewöhnlich treten hier besonders zwei längere Passagen hervor, in denen der Text überraschend ins Satirisch-Phantastische umschlägt: Da ist zum einen eine Szene, in der im Finanzministerium eine Abordnung von Matrosen wegen ihrer Löhnung vorstellig wird und mit einem einzigen Satz wie mit einer Zauberformel ein Chaos auslöst, das aber am Ende nur zwölf Sekunden gedauert haben soll. Zum anderen findet sich die Beschreibung einer Geisterstunde auf der Siegesalle, in der die marmornen Denkmäler von ihren Sockeln herabsteigen und einer Prozession der Berliner Gefallenen des Ersten Weltkriegs beiwohnen. Beide Passagen sind überzeugend gestaltet und von kräftiger Wirkung, ragen aber aus dem übrigen Text wie unverbundene Blöcke heraus. Sie bleiben stilistisch und inhaltlich Episode.

Wie schon der Titel andeutet, tritt in diesem Band Rosa Luxemburg, die bislang nur einen Nebenrolle gespielt hatte, als gleichgewichtige, neue Figur zum bisherigen Ensemble hinzu. Auch Rosa leidet an Visionen, bei ihr ausgelöst durch Schuldgefühle und die Isolation ihrer Haft in Breslau. In ihren Visionen tritt vorerst nur Hannes auf, ein früherer Geliebter, der an der Ostfront gefallen ist; später wird auch Rosa vom Teufel besucht. Es ist aus dem Roman allein nicht verständlich, wieso Döblin seine Figur der Rosa mit einem solchen psychischen Ballast belastet, für den sich in der Biografie Luxemburgs wohl keinerlei Anhaltspunkte finden lassen. Was die Visionen selbst angeht, so gehen Rosas nicht wesentlich über die früheren Friedrich Beckers hinaus, sondern sie scheinen nur von anderem Inhalt zu sein. Diese Stilisierung Rosas ist mir weitgehend unverständlich geblieben; dementsprechend mühsam fand ich besonders die späteren Passagen zu diesem Motiv zu lesen.

Von den bereits bekannten Figuren werden die Schicksale Stauffers und Beckers weiter verfolgt: Stauffer, der im vorangegangenen Band bis zum Ende einer bürgerlichen Komödie begleitet wurde, wird noch weiter zur Normalität geläutert. Seine geliebte Lucie erweist sich als Alkoholikerin und Stauffer selbst als unverbesserlicher Casanova – da sich das Paar aber mit sich selbst, ihren und des Partners Schwächen befreundet, geht es in eine sonst nicht weiter erwähnenswerte Bürgerlichkeit ein. Stauffers Karriere als Dramatiker findet darin ihr Ende.

Spannender ist die weitere Geschichte Friedrich Beckers: Er scheint seine Visionen weitgehend überwunden zu haben und versucht sich wieder im Schuldienst. Er wird dabei aber nahezu augenblicklich in die Affäre um den Rektor seiner ehemaligen Schule verwickelt, der in den vorangegangenen beiden Bänden als Nebenfigur eingeführt worden war. Doch Beckers Versuche, sowohl den Rektor als auch einen beteiligten Schüler vor dem Schlimmsten zu bewahren, scheitern: Der Rektor wird vom alkoholisierten Vater des Schülers, der eine homoerotische Beziehung zwischen beiden vermutet, so verprügelt, dass er an den Folgen stirbt; der Schüler flieht aus dem an dieser Tat zerfallenden Elternhaus und schließt sich den Revolutionären an, die das Polizeipräsidium besetzt halten. Becker folgt dem Jungen bis dorthin und wird mit ihm Zusammen bei der Erstürmung des Gebäudes verletzt. Obwohl sich Becker mehrfach die Möglichkeit bietet, sich dem nachfolgenden Prozess zu entziehen, besteht er darauf, wie die anderen Revolutionäre angeklagt und abgeurteilt zu werden. Nach drei Jahren Haft versucht er es noch mehrfach mit einer bürgerlichen Existenz, wird aber schließlich Narr in Christo, der als Obdachloser das Land durchstreift und mehrfach im Namen eines radikalen Christentums die öffentliche Ordnung stört. Auch er wird bis zu seinem Tod von Visionen, insbesondere des Teufels, verfolgt. Mit Beckers Tod und der Verklappung seiner Leiche endet der Zyklus.

Abschließend noch einige Sätze zu dem Problem der erzählerischen Großstruktur des Zyklus: Wie bereits in der Einführung erwähnt, war der Zyklus ursprünglich als Trilogie geplant, wurde dann aber faktisch als Tetralogie veröffentlicht, da der zweite Teil weit über das geplante Maß hinausgewachsen war. So liegen derzeit zwei Ausgaben vor, von denen die eine (dtv) den Roman als Tetralogie präsentiert, während die hier besprochene Ausgabe von S. Fischer den zweiten und dritten Band als Teilbände 2.1 und 2.2 behandelt. Es ist nun fraglos so, dass der dritte Band (= 2.2) einen ersten, vorläufigen Abschluss des Zyklus liefert, der so weder im ersten noch im zweiten Band (= 2.1) zu finden ist. Da der erste Band bereits vorab veröffentlich war, ließe sich argumentieren, dass Döblin das vorläufige Ende geschrieben hat, um die beiden Teilbände des zweiten Teils einem Verleger unabhängig vom abschließenden dritten Teil anbieten zu können. Dies spräche dafür, dass es sich strukturell eher um eine »Trilogie in vier Bänden« als um eine Tetralogie handelt. Am Ende ist diese Frage aber wohl so unerheblich, dass hier schon zu viel über sie gesagt worden ist.

Mit insgesamt über 2.200 Seiten muss dieser Zyklus als einer der bedeutendsten zeitgeschichtlichen deutschen Romane gewertet werden. Er ist sicherlich aufgrund der starken spirituellen Anteile, die sich letztendlich wohl nicht auf die Darstellung psychischer Phänomene werden reduzieren lassen, keine einfache, geschweige denn eingängige Lektüre. Dennoch ist es mir letztlich unverständlich, dass er im Bewusstsein der Leser so wenig verankert zu sein scheint. Doch teilt er dieses Schicksal schließlich mit dem übrigen Werk Döblins, von Berlin Alexanderplatz einmal abgesehen.

Alfred Döblin: November 1918. Eine deutsche Revolution. Karl und Rosa. Frankfurt/M.: S. Fischer, 2008. Leinen, Lesebändchen, 783 Seiten. 19,90 €.

Alfred Döblin: November 1918 (3)

978-3-10-015556-6 Der dritte Band Heimkehr der Fronttruppen bringt den Erzählbogen, den Döblin in Bürger und Soldaten 1918 eröffnet hatte, zu einem Abschluss. Die Erzählung aus Verratenes Volk wird unmittelbar fortgesetzt: Die vom militärischen Hauptquartier aus organisierten Truppen aus dem Westen kehren in ihre Berliner Kasernen zurück. Sie werden von staatlichen Vertreter der neuen Republik als ungeschlagene Helden empfangen, während die politisch organisierte Linke die Befürchtung hegt, dass der Einzug der Truppen nur das Vorspiel zu einem Militärputsch darstellt. Doch ganz im Gegenteil lösen sich die Truppen in kurzer Zeit bis auf Reste auf, da die Soldaten einfach massenweise davonlaufen. Die militärische Führung sieht sich plötzlich einem Chaos gegenüber, während Ebert und seine Volksbeauftragten fürchten, dass die Soldaten den Spartakisten zulaufen und die Gefahr eines revolutionären Aufstandes verschärfen werden.

Das Militär reagiert auf die chaotisch verlaufende Auflösung der Truppen durch die Bildung von Freichors nach Lützowschem Vorbild, aus Freiwilligen gebildet, die sich einer scharfen Disziplin unterwerfen und sich unter den Befehl der Regierung stellen. Auch Liebknecht fürchtet, dass ihm die Situation aus der Hand geraten und sich die revolutionäre Bewegung verselbstständigen könnte. Die historisch-politische Ebene des Buches läuft auf die Eröffnung des 1. Rätekongress in Berlin am 16. November zu.

Interessanterweise bricht Döblin die kontinuierliche Erzählung der deutschen Ereignisse aber bereits um den 14. November herum ab und konzentriert sich auf den letzten knapp 60 Seiten des Romans auf den US-amerikanischen Präsidenten Wilson und sein Engagement für den Friedensvertrag und die Gründung des Völkerbundes sowohl in Europa bei den Verhandlungen der Sieger als auch in den USA, wo sowohl Senat als auch die Mehrheit der Bevölkerung diesen Bemühungen reserviert gegenüberstehen. Das Leben Wilsons wird bis zu seinem Tod weiter verfolgt, um anschließend auf nur zwei Seiten die weitere geschichtliche Entwicklung zu umreißen und mit einem Schrei die drohende Katastrophe des Zweiten Weltkriegs anzukündigen.

Auch im dritten Band werden die Geschichten Friedrich Beckers und Erwin Stauffers fortgeführt: Beckers Träume drängen sich mehr und mehr in seine Tageswahrnehmung herein. Er leidet unter Visionen von Personen, mit denen er spirituelle Streitgespräche führt – darunter wahrscheinlich auch mit dem Teufel persönlich, der in verschiedenen Gestalten erscheint. Ausgelöst ist diese Erkrankung nicht nur durch die Erlebnisse des Krieges und die erlittene Verletzung, sondern auch durch ein tiefes persönliches Schuldgefühl, dass er sich bei Ausbruch des Krieges nicht gegen den Krieg gestellt habe. Über diesen Visionen und ihrem Einfluss auf Becker zerbricht nicht nur die junge Beziehung zu Hilde, sondern auch die Freundschaft mit Johannes Maus, der sich ganz der revolutionären Idee verschrieben hat, geht darüber zu Bruch. Becker flieht schließlich in den christlichen Glauben, dem er bislang immer skeptisch gegenübergestanden hatte, und findet auf diesem Weg wenigstens ein wenig inneren Frieden.

Erwin Stauffer dagegen findet seine alte Geliebte Lucie wieder und in ihr das späte Glück seines Lebens. Lucie ist inzwischen seit langem verheiratet, will sich aber für Stauffer scheiden lassen und zu diesem Zweck mit ihm zusammen nach Amerika reisen. Unterwegs kommt es auch zur einer dramatischen Versöhnung mit Tochter und Ex-Frau, als Stauffer beinahe Opfer eines Unfalls mit einen Gasofen wird. Die hier ausgespielte bürgerliche Komödie überzeugt zwar in ihrer Ironie und als privater Gegensatz zum politischen Geschehen auf der nationalen und Weltbühne, ist aber inhaltlich sicherlich der schwächste Teil der Erzählung.

Bemerkenswert scheint mir, dass sowohl Becker als auch Stauffer als Variationen des Faust gestaltet zu sein scheinen: Becker ist der tragische Gelehrte, der mit dem Teufel um seine Seele ringt, Stauffer ist der weltliche Lebemann, der »Helenen in jedem Weibe« sieht und »durch das wilde Leben« geschleift wird. Die zahlreichen Faust-Zitate der Romane weisen auf diesen Hintergrund der beiden Spiegelfiguren Becker und Stauffer hin.

Alles in allem muss Döblin das Kompliment gemacht werden, dass es ihm gelungen ist, ein umfassendes und solides Bild der Ereignisse vom Ende des Ersten Weltkrieges und der nachfolgenden Wochen zu zeichnen. Einzig die Auseinandersetzungen zwischen Gewerkschaften und Industrie fehlen in seiner Darstellung. Nach Umfang und zeitgeschichtlicher Genauigkeit steht der Romanzyklus zumindest gleichranging neben Werken wie Johnsons Jahrestage oder Strittmatters Der Laden. Hier gibt es einen echten Klassiker des 20. Jahrhunderts wiederzuentdecken.

Alfred Döblin: November 1918. Eine deutsche Revolution. Heimkehr der Fronttruppen. Frankfurt/M.: S. Fischer, 2008. Leinen, Lesebändchen, 573 Seiten. 18,90 €.

Wird fortgesetzt …

Alfred Döblin: November 1918 (2)

978-3-10-015555-9 Der zweite Band Verratenes Volk schließt zeitlich unmittelbar an den ersten an und umfasst die Tage vom 22. November bis zum 7. Dezember 1918. Schwerpunkt des Schauplatzes ist Berlin, ohne dass die Ereignisse in Straßburg komplett ausgeblendet würden. Einzelne Episoden spielen auch in Hamburg, München, Kassel oder Paris. Das Personal wird noch einmal erweitert: Sowohl das Berliner Proletariat als auch eine alte Kasseler Adelige kommen ausführlich zu Wort.

Auf der privaten Ebene verfolgt der Roman die beiden ehemaligen Offiziere Friedrich Becker und Johannes Maus weiter, die beide auf getrennten Wegen inzwischen in Berlin angekommen sind. Während Maus sich von den revolutionären Ereignissen mitreißen lässt, gerät Becker zunehmend in eine Isolation, aus der ihn weder Maus noch sein ehemaliger Kollege – Becker ist Altphilologe und war vor dem Krieg Gymnasiallehrer – Krug noch die ihm von Straßburg aus nachgereiste Krankenschwester Hilde befreien können. Parallel zu der mehr und mehr Platz einehmenden Geschichte Beckers wird die des Dramatikers Erwin Stauffer erzählt: Stauffer, den die revolutionären Entwicklungen weitgehend gleichgültig lassen, findet anlässlich eines Umzugs einen Stapel ungeöffneter Briefe, die seine Ex-Frau ihm unterschlagen hatte. Es handelt sich um Briefe einer Schauspielerin, mit der Stauffer vor über 20 Jahren eine kurze Affäre hatte. Wutentbrannt über die Unterschlagung reist Stauffer nach Hamburg, um seine Frau, mit der er seit 19 Jahren keinen Kontakt mehr hatte, zur Rede zu stellen. Diese fertigt ihn allerdings kurz und knapp ab. Doch hat die Reise wenigstens den Effekt, dass Stauffer seine nun erwachsene Tochter kennenlernt. Er reist nach Berlin zurück und macht sich von dort aus auf die Suche nach seiner ehemaligen Geliebten.

Weniger umfangreiche Episoden schildern den Alltag Berliner Arbeiter, heimgekehrter Soldaten, kleinerer und größerer Schieber usw. Auch einige der Straßburger Figuren werden, wie schon angedeutet, weiter verfolgt.

Auf der historischen Ebene schildert Döblin drei der um die Macht in der jungen Republik ringenden Parteien: Den Volksbeauftragten Ebert und sein Kabinett aus Mitgliedern der SPD und USPD, die versuchen, einen Putsch zu verhindern und die Wahl zur Nationalversammlung auf den Weg zu bringen, das Hauptquartier des Heeres in Kassel, das sich – wohl in der Hauptsache aufgrund des Widerstandes Hindenburgs – nicht zu einem Militärputsch entschließen kann und deshalb in Teilen mangels einer Alternative eine illusionistische monarchistische Linie vertritt, und die Spartakisten um Karl Liebknecht – Rosa Luxemburg spielt in diesem Band eine Nebenrolle –, der vor einer Radikalisierung der Revolution zurückscheut, da er den sich daraus zwangsläufig entwickelnden Bürgerkrieg fürchtet. Ihm zur Seite steht der russische Berater Radek, der auf eine Verschärfung der revolutionären Umtriebe drängt und in Deutschland ein Rätesystem etabliert sehen möchte.

Höhe- und Endpunkt des zweiten Bandes bilden die bewaffneten Zusammenstöße in Berlin am 6. November, unmittelbar vor dem Einzug der rückkehrenden Fronttruppen nach Berlin. Deutschland scheint am Rande des Bürgerkriegs zu stehen; sowohl die militärische Führung als auch die Arbeiterschaft erwartet, dass die jeweils andere Seite zum bewaffneten Kampf um die Staatsmacht übergehen wird.

Alfred Döblin: November 1918. Eine deutsche Revolution. Verratenes Volk. Frankfurt/M.: S. Fischer, 2008. Leinen, Lesebändchen, 489 Seiten. 18,90 €.

Wird fortgesetzt …

Alfred Döblin: November 1918 (1)

Döblin großes, drei- bzw. vierbändiges Romanwerk über das Ende des Ersten Weltkriegs und das Scheitern der deutschen Revolution des Jahres 1918. Geschrieben wurden die Romane zwischen 1937 und 1943 im französischen und amerikanischen Exil, wobei vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges nur der erste Band 1939 noch erscheinen konnte. Geplant war ursprünglich eine Trilogie, doch hatte sich der zweite Band während der Niederschrift zu einem solchen Umfang entwickelt, dass er geteilt werden musste. Döblin entschloss sich daher bereits 1943 für eine Aufteilung auf vier Bände.

Nachdem er als Offizier der französischen Militärverwaltung nach Deutschland zurückkehrt war, versuchte Döblin den Romanzyklus geschlossen erscheinen zu lassen. Er legte daher den ersten Band den französischen und amerikanischen Zensurinstanzen vor, um einen Wiederabdruck genehmigt zu bekommen. Die Franzosen lehnten dies ab, da ihnen die Elsass-Lothringen-Thematik des Buches politisch zu heikel schien; die Amerikaner begründeten ihre Ablehnung mit dem herrschenden  Papiermangel. So sah sich Döblin gezwungen, nur die drei bislang nicht veröffentlichten Bände als Trilogie unter dem Sammeltitel November 1918 erscheinen zu lassen. Um das Fehlen des ersten Bandes zu kompensieren, dessen Kenntnis beim deutschen Nachkriegsleser kaum vorausgesetzt werden konnte, stellte er aus ihm ein gut 40-seitiges »Vorspiel« zusammen, das dem ersten Band der neuen Trilogie, sprich dem zweiten Band des Gesamtwerks vorangestellt wurde.

Walter Muschg, der Herausgeber der  Ausgewählten Werke (1960–1972) verzichtete auf die Aufnahme des Zyklus, den er für misslungen hielt. So blieben die Erstausgaben (1939, 1948–1950) die einzigen Drucke bis im Jahre 1978 bei dtv erstmals eine geschlossene Ausgabe aller vier Bände erschien, die bis heute lieferbar ist. Der Verlag bemühte sich dabei um eine Vereinheitlichung, Angleichung und behutsame orthographische Glättung der Erstausgaben; außerdem wurde das »Vorspiel« aus dem Jahr 1948 wieder herausgenommen, da der erste Band den Lesern ja nun direkt zugänglich war. Im letzten Jahr legte S. Fischer alle vier Romane in einer gebundenen, einheitlich gestalteten Ausgabe wieder vor. Diese Ausgabe stellt den Zyklus als eine Trilogie vor, indem sie die Bände 2 und 3 als 2-I und 2-II untertitelt und dementsprechend den letzten Band als Band 3. Da dieser Rezension die Neuausgabe zugrunde liegt, folge ich dieser Konvention, ohne mich zugleich der Auffassung anzuschließen, es handele sich bei dem Zyklus um eine Trilogie. Die Frage, ob Tri- oder Tetralogie, kann offensichtlich nur daran entscheiden werden, ob sich zwischen dem 2. und dem 3. Band ein dichterer Zusammenhalt findet als zwischen dem 1. und 2., respektive 3. und 4. Band. Ob dies der Fall ist, wird später noch thematisiert werden.

Als Kuriosum ist anzumerken, dass man sich bei S. Fischer entschlossen hat, allen vier Bänden der Neuausgabe denselben Anhang mitzugeben, und zwar einen Ausschnitt aus der kommenden 3. Auflage des Kindlerschen Literaturlexikons. Warum man meint, es sei für Leser interessant, vier Mal denselben Anhang zu erwerben, wissen wahrscheinlich nur die Auguren des Vertriebs.

978-3-10-015554-2 Teil 1: Bürger und Soldaten 1918.

Der erste Teil handelt im Elsass und später auch in Berlin, also an den beiden Orten, an denen Döblin selbst die Tage der Revolution erlebt hat. Im Elsass stehen im Zentrum ein Militärlazarett in der Nähe von Straßburg, eine Militärtruppe, die dort stationiert ist und die Tage der Revolution in Straßburg selbst vor der Ankunft der französischen Truppen. Der Roman umfasst – von Rückblenden einmal abgesehen – die Zeit vom 10. November bis zum 24. November, als die letzten deutschen Truppen das Elsass verlassen und die Franzosen in Straßburg einziehen.

Vermittelt wird zwischen beiden Orten durch einen Lazarettzug, der Verwundete aus dem Elsass nach Osten transportiert und in dem sich auch zwei befreundete Soldaten befinden: Oberleutnant Friedrich Becker – hier durchaus noch nicht als die Hauptfigur zu erkennen, die er für den Zyklus werden wird – und Leutnant Johannes Maus, die beide schließlich nach Berlin kommen werden. Beide sind nur Teil eines umfangreichen und sozial breit angelegten Figurenensembles, das Döblin über die erzählten 14 Tage hinweg verfolgt. Erzählt werden in unregelmäßigem Wechsel die Schicksale der einzelnen Figuren und sowohl aus französischer als auch aus deutscher Sicht historische Ereignisse der letzten Kriegs- und der ersten Revolutionstage. Viele der Figuren bekommen keinen eigenen Namen, sondern sind nur über ihren militärischen Rang (der Major) oder ihre gesellschaftliche oder berufliche Stellung gekennzeichnet (der Pfarrer).

Während dabei zu Beginn des Romans der private Bereich überwiegt, gewinnt die historische Ebene Seite um Seite mehr an Gewicht; das schließlich im ersten Band erreichte Gleichgewicht wird auch in den weiteren Teilen des Zyklus vorherrschen. Der erste Band versucht nicht einmal halbherzig, irgendeine Form von Abschluss zu erzeugen, sondern ist klar auf eine Fortsetzung hin konzipiert. Zwar werden einzelne Erzählstränge offensichtlich zum Ende geführt (so etwa das Schicksal des Oberstabsarztes), bei anderen lässt sich aber durchaus nicht zu erkennen, ob sie vereinzelte Episode bleiben oder im Nachfolgeband weitergeführt werden sollen (zum Beispiel der Strang um die beiden Kleinkriminellen Motz und Brose-Zenk).

Alfred Döblin: November 1918. Eine deutsche Revolution. Bürger und Soldaten 1918. Frankfurt/M.: S. Fischer, 2008. Leinen, Lesebändchen, 415 Seiten. 17,90 €.

Wird fortgesetzt …

Wilhem von Sternburg: Joseph Roth

978-3-462-05555-9Derzeit einzige umfangreiche Biografie über Joseph Roth. Ihr Autor, Wilhelm von Sternburg, ist ein Routinier, was man auch diesem Buch anmerkt. Das Buch ist recht breit angelegt, was wahrscheinlich auf Leser mit geringem historischen Vorwissen abzielt. So sind die Ausführungen über Roths jüdisch-galizischen Hintergrund sicherlich gut gemeint und für einen Großteil der Leser nützlich. Ob dies allerdings auch für den seitenlangen Exkurs über Schriftsteller, vor allem US-amerikanische, als Alkoholiker zutrifft, wage ich zu bezweifeln. Solche Tendenzen machen die Lektüre ein wenig langatmig und mühsam.

Die erzählerischen Werke Roths werden nahezu alle inhaltlich referiert und zum bedeutenden Teil kurz und sicher in den Zeithorizont eingeordnet. Wirkliche Interpretationen versucht von Sternburg nicht zu liefern; einmal vergleicht er Radetzkymarsch mit Budenbrooks, ohne dabei über den bekannten Jean Paulschen Vergleich der Tanz- und Fechtkunst hinauszukommen.

Die Biografie wird wohl so gut dargestellt, wie es die Datenlage derzeit erlaubt. Der Leser bekommt einen soliden Eindruck vom chaotischen und selbstzerstörerischen Pathos des Schriftstellers, der sich – besonders in den letzten Lebensjahren – einfach nicht mehr zu helfen wusste: Erzwungenes Exil, die private Verpflichtung für die im Sanatorium befindliche Ehefrau einerseits und die Lebenspartnerin mit ihren Kindern andererseits, der sich zunehmend verschlimmernde Alkoholismus und die aus all dem erwachsende andauernde Geldnot – es ist alles in allem erstaunlich, dass Roth unter diesen Bedingungen überhaupt noch in der Lage war Literatur und dann auch noch auf einem solchen Niveau zu produzieren. Eine bemerkenswerte Mischung von Haltlosigkeit und Disziplin beherrschte dieses Leben.

Wilhelm von Sternburg: Joseph Roth. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2009. Pappband, 559 Seiten. 22,95 €.

J. M. G. Le Clézio: Der Afrikaner

978-3-446-20948-0 Als Jean-Marie Gustave Le Clézio im vergangenen Jahr den Nobelpreis für Literatur zugesprochen bekam, war er zumindest in Deutschland wohl einer der unbekanntesten Autoren der Weltliteratur. Einige Feuilletonisten machten sich über die Wahl Le Clézios ein wenig lustig, indem sie andere, ob ihrer Belesenheit berühmtere Feuilletonisten befragten, die ihre Unkenntnis wenn nicht des Autors so doch seines Werks so offen zugaben, als handele es sich dabei um ein Verdienst. Überrascht mussten dann alle zusammen aber feststellen, dass Le Clézios Schriften in einem so bedeutenden Umfang auf Deutsch vorlagen, dass es zu seiner Unbekanntheit in einem nahezu erschütternden Verhältnis stand.

Mir ist nun eher zufällig als erstes ein kleines autobiographisches Bändchen in die Hand geraten: Der Afrikaner ist ein Erinnerungsbuch an Le Clézios Vater, der den Hauptteil seines Lebens als Arzt in Afrika zugebracht hat. Er war durch den Zweiten Werltkrieg von seiner Frau und seinen beiden jungen Söhnen getrennt, die, als sie den Vater im Jahr 1948 endlich kennenlernten, in ihm einen strengen, autoritären Patriarchen fanden, den sie nicht zu lieben vermochten. Le Clézios Buch ist ein Dokument des späten Verständnisses, das der Autor für seinen Vater entwickelt hat. Es schildert das einsame und verzehrende Leben des Vaters in Afrika, geboren aus einer Ablehnung der englischen Gesellschaft und ihres Kolonialismus. Und auch nach seiner Rückkehr nach Europa bleibt der Vater ein isolierter Mann, da ihm seine afrikanischen Erfahrungen eine Eingliederung in die europäische Gesellschaft verstellt.

Ein lesenswertes kleines Buch eines Sohnes, der aus seinem Zorn und seiner Enttäuschung dem Vater gegenüber herausfindet und sein schwieriges Verhältnis zu ihm überwinden kann. Sicher wäre auch manch anderen eine solche Annäherung an den eigenen Vater zu wünschen.

Als Obskurität ist anzumerken, dass sich die Vornamen des Autors nur auf dem Waschzettel, nicht aber im Buch finden lassen.

Jean-Marie Gustave Le Clézio: Der Afrikaner. Aus dem Französischen von Uli Wittmann. München: Hanser, 22008. Pappband, 136 Seiten. 14,90 €.

Axel Hacke & Michael Sowa: Wumbabas Vermächtnis

978-3-88897-555-4 Bevor ich eine Empfehlung für dieses Bändchen aussprechen kann, ist leider ein kleiner Exkurs über dessen Titel notwendig. Der erste Band der kleinen Reihe von Handbüchern des Verhörens trug den schlichten Titel Der weiße Neger Wumbaba. Dieser Titel entstand aus einem Verhörer des berühmten Gedichts Der Mond ist aufgegangen von Matthias Claudius, in dem es heißt:

Der Wald steht schwarz und schweiget,
und aus den Wiesen steiget
der weiße Nebel wunderbar.

Die letzte Zeile führte zu dem poetischen Verhörer:

Der Wald steht schwarz und schweiget,
und aus den Wiesen steiget
der weiße Neger Wumbaba.

Nach dem Erscheinen des zweiten Bandes unter dem Titel Der weiße Neger Wumbaba kehrt zurück kündigte Axel Hacke in einem Gespräch den dritten Band unter dem wundervollen Titel »Das Vermächtnis des weißen Negers Wumbaba« an. Wie wir nun sehen, ist der »weiße Neger« aber nicht noch einmal aufs Titelblatt zurückgekehrt. Warum?

Schon ein kurzer Blick auf die Kundenrezensionen bei amazon.de lässt erahnen, mit welcher Flut an politisch korrekten Reaktionen sich Autor und Verlag wohl haben herumschlagen müssen. Nun ist Politische Korrektheit eine besonders penetrante Erscheinungsform der Dummheit in unserer Zeit. Die Vertreter dieser Position sind der Überzeugung, dass sich bereits aus der Verwendung eines Wortes auf die Gesinnung seines Verwenders schließen lasse. Das mag in Einzelfällen vielleicht sogar stimmen; in den meisten Fällen aber dürften aber gerade die politisch Unkorrekten die wahren Adepten der Politischen Korrektheit sein. Denn Rassismus, Menschenverachtung, Umweltvernichtung und was der bösen Dinge mehr sind, lassen sich viel bequemer hinter einer politisch korrekten Fassade betreiben als mit einer politisch nicht korrekten Wortwahl. Dass einer »Neger« schreibt oder sagt, macht ihn noch nicht zum Rassisten, und dass einer stets »Schwarzer« sagt, garantiert nicht seine Toleranz. Es ist schade, wenn auch verständlich, dass Autor und Verlag den bequemen Weg gegangen sind und sich ihren Titel haben von den Politisch Korrekten verstümmeln lassen. Aber auf Deckel und Titelblatt ist er wenigstens noch zu sehen: der weiße Neger Wumbaba.

Wie dem auch sei, handelt es sich bei Wumbabas Vermächtnis um eine nette und lesenswerte Fortsetzung der beiden anderen Bändchen. Man sollte in einem solchen Fall nicht von Band zu Band eine Steigerung erwarten, sondern sich über jeden schönen Fund freuen, den Hacke seiner Sammlung hinzufügt: Ob Elvira España, Ladislav Bonita oder die vermissten Schweinespuren im Sand, sie alle verdienen unsere Sympathie. Mit diesem Bändchen beschließt Hacke die Reihe; sie wird sicherlich in diversen Internetforen bis auf weiteres fortgesetzt werden.

Axel Hacke & Michael Sowa: Wumbabas Vermächtnis. Drittes Handbuch des Verhörens. München: Antje Kunstmann, 2009. Pappband, Fadenheftung, 80 Seiten. 9,90 €.

Frank Zumbach: Joyce’ Ulysses

3-492-23138-1 Kurze Einführung in den Ulysses von James Joyce, deren Hauptintention in einer Hilfestellung für Erstleser liegt. Dafür ist das Büchlein gut geeignet, wenn es mir auch zu wenig systematisch ist. Auch das große Gewicht, das Zumbach auf die autobiografische Unterfütterung des Textes legt, scheint mir für eine solche Einführung verfehlt. Aber das sind Ansätze, die sich aus der jeweils individuellen Begegnung mit dem Ulysses ergeben; da muss am Ende jeder Leser seinen eigenen Gang gehen.

Der Hauptteil des Buches erzählt die Handlung des Ulysses kapitelweise nach. Das ist für Einsteiger wahrscheinlich die wichtigste Orientierungshilfe.  Auch die Anspielungen auf die Episoden der Odyssee und die Referenz der einzelnen Kapitel auf Körperteile und Organe erläutert Zumbach. Die Nacherzählungen sind hier und da etwas lückenhaft, an anderer Stelle, so etwa beim Circe-Kapitel, muss man der Leistung des Nacherzählers aber durchaus Respekt zollen.

Den einzigen wirklichen Mangel würde ich darin sehen, dass Zumbach ein Grundprinzip der Textgestaltung nicht deutlich genug herausarbeitet: Im Ulysses wird nicht die Form an den Inhalt angepasst, sondern die Form erzeugt den Inhalt. So ist es zum Beispiel nicht so, dass Bloom in Nausikaa nach Sandymount versetzt wird, weil die Familie Dignam dort wohnt, sondern die Familie Dignam wohnt dort, damit das nachfolgende Kapitel, Die Rinder des Sonnengottes, mit der Formel »Deshil Holles Eamus« beginnen kann. »Deshil« meint hier nämlich soviel wie »der Sonne entgegen«, englisch »sunward«, was zugleich eine Anspielung darauf ist, dass sich Leopold Bloom nun seinem geistigen Sohn Stephen Dedalus nähert. Daher muss Leopold Bloom nach Westen gehen, der untergehend Sonne entgegen, und deshalb verfrachtet ihn Joyce an den Strand von Sandymount. Es ist im Ulysses die Sprache, die die Fabel hervorbringt, nicht umgekehrt.

Unverständlich ist, warum das Bändchen nicht lieferbar ist, da offenbar eine erhebliche Nachfrage besteht. Bei Amazon werden derzeit für gebrauchte Exemplare Fantasiepreise von knapp 50,– € bis über 80,– € verlangt. Es sei an dieser Stelle nochmals beklagt, dass Suhrkamp Hugh Kenners Buch über den Ulysses – bei Amazon schon für 2,90 € zu bekommen – nicht mehr druckt, das meiner unmaßgeblichen Meinung nach immer noch die beste Einführung ins Buch liefert.

Frank Zumbach: Joyce’ Ulysses. Serie Piper 3138. München: Piper, 32004. 144 Seiten. 7,90 €.

Robert Menasse: Don Juan de la Mancha

978-3-518-46040-5 Es lassen sich nur schwer zwei gegensätzlichere Liebhaber in der europäischen Literaturtradition ausmachen als Don Juan und Don Quixote de la Mancha. Wo der eine sich in der Flüchtigkeit der Lust verliert und schließlich seinem eigenen Mythos als Liebhaber kaum mehr nacharbeiten kann, minnt der andere um ein einfaches Bauernmädchen als seine Hohe Frau. Es stellt daher schon einen gewaltigen Anspruch her, den Protagonisten eines Romans mit einem Titel zu belasten, wie dieses Buch es tut.

Das Buch beginnt mit einem Paukenschlag. Erinnern Sie sich an den etwas dümmlichen »Wettbewerb« um den schönsten ersten Satz, den schließlich der Prosa-Tölpel Grass gewann? Robert Menasse hat in diesem Buch, wenn auch nicht den schönsten, so doch einen der impressivsten ersten Sätze geliefert:

Die Schönheit und Weisheit des Zölibats verstand ich zum ersten Mal, als Christa Chili-Schoten zwischen den Händen zerrieb, mich danach masturbierte und schließlich wünschte, dass ich sie – um es mit ihren Worten zu sagen – in den Arsch ficke.

Das hat ohne Frage Wucht und vertreibt gleich einmal alle feinsinnigen Leser (in diesem Fall natürlich auch ausdrücklich Leserinnen). Zusätzlich zu der – wahrscheinlich sogar beabsichtigten – Ambiguität, dass es sich bei Christa Chili-Schoten auch um einen Doppelnamen handeln könnte, ist der Satz zugleich obszön und blasiert, was für das Buch einiges hoffen ließ.

Leider hält der Autor das hier versprochene Niveau nicht. Don Juan de la Mancha ist der Roman eines ziemlich durchschnittlichen Kaspers, der mit seiner Ehe unzufrieden und von seinem Job als Lifestyle-Journalist angeödet ist, in seinen paar Affären unbefriedigt bleibt – ich habe das ganze Buch hindurch vermutet, weil er zu fantasielos ist, um seinen Fetisch zu finden; aber selbst darauf kommt der Autor nicht –, seiner Analytikerin Lügen auftischt, in eine tiefe Depression verfällt, als er seinen ungeliebten Job verliert und schließlich … Ja, was eigentlich schließlich? In die ihm angemessene langweilige Normalität zurückkehrt und aus der Literatur verschwindet.

Wahrscheinlich habe ich das Buch nicht verstanden. Wahrscheinlich verstehe ich den Humor des Autors nicht. Hier und da habe ich schon mal müde gegrinst:

Aber [Philip] Roth ist doch ein großer Realist: Ich las bei ihm den Satz »Da läutete das Telefon« – und es läutete das Telefon.

Zwischendurch setzt es mal ein Kleinkapitel, das den Eindruck macht, als habe auch der Autor sein Gekasper über:

Meine Frau ist mit dem Flugzeug abgestürzt.
Was erzählen Sie da, sagte Hannah, bitte Nathan, was erzählen Sie da?
Ja, erzählen, sagte ich. Ich wusste nicht mehr, wohin mit ihr.

Aber auch solche vereinzelten Perlen retten den Roman nicht. Er wird weder dem grandiosen Anspruch des Titels gerecht, noch hat er es auf andere Weise vermocht, mein Interesse zu fesseln. Zwischendurch kam in mir immer wieder einmal der Verdacht auf, er könne als Parodie oder gar Satire gemeint sein. Aber dann wusste ich nicht, was hätte parodiert werden sollen, und für eine Satire ist es deutlich zu geschwätzig und harmlos.

Aber, wie gesagt: Vielleicht habe ich auch einfach nur die Stellen zum Lachen überlesen …

Robert Menasse: Don Juan de la Mancha. Suhrkamp Taschenbuch 4040. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2009. 275 Seiten. 8,90 €.