Alfred Döblin: November 1918 (2)

978-3-10-015555-9 Der zweite Band Verratenes Volk schließt zeitlich unmittelbar an den ersten an und umfasst die Tage vom 22. November bis zum 7. Dezember 1918. Schwerpunkt des Schauplatzes ist Berlin, ohne dass die Ereignisse in Straßburg komplett ausgeblendet würden. Einzelne Episoden spielen auch in Hamburg, München, Kassel oder Paris. Das Personal wird noch einmal erweitert: Sowohl das Berliner Proletariat als auch eine alte Kasseler Adelige kommen ausführlich zu Wort.

Auf der privaten Ebene verfolgt der Roman die beiden ehemaligen Offiziere Friedrich Becker und Johannes Maus weiter, die beide auf getrennten Wegen inzwischen in Berlin angekommen sind. Während Maus sich von den revolutionären Ereignissen mitreißen lässt, gerät Becker zunehmend in eine Isolation, aus der ihn weder Maus noch sein ehemaliger Kollege – Becker ist Altphilologe und war vor dem Krieg Gymnasiallehrer – Krug noch die ihm von Straßburg aus nachgereiste Krankenschwester Hilde befreien können. Parallel zu der mehr und mehr Platz einehmenden Geschichte Beckers wird die des Dramatikers Erwin Stauffer erzählt: Stauffer, den die revolutionären Entwicklungen weitgehend gleichgültig lassen, findet anlässlich eines Umzugs einen Stapel ungeöffneter Briefe, die seine Ex-Frau ihm unterschlagen hatte. Es handelt sich um Briefe einer Schauspielerin, mit der Stauffer vor über 20 Jahren eine kurze Affäre hatte. Wutentbrannt über die Unterschlagung reist Stauffer nach Hamburg, um seine Frau, mit der er seit 19 Jahren keinen Kontakt mehr hatte, zur Rede zu stellen. Diese fertigt ihn allerdings kurz und knapp ab. Doch hat die Reise wenigstens den Effekt, dass Stauffer seine nun erwachsene Tochter kennenlernt. Er reist nach Berlin zurück und macht sich von dort aus auf die Suche nach seiner ehemaligen Geliebten.

Weniger umfangreiche Episoden schildern den Alltag Berliner Arbeiter, heimgekehrter Soldaten, kleinerer und größerer Schieber usw. Auch einige der Straßburger Figuren werden, wie schon angedeutet, weiter verfolgt.

Auf der historischen Ebene schildert Döblin drei der um die Macht in der jungen Republik ringenden Parteien: Den Volksbeauftragten Ebert und sein Kabinett aus Mitgliedern der SPD und USPD, die versuchen, einen Putsch zu verhindern und die Wahl zur Nationalversammlung auf den Weg zu bringen, das Hauptquartier des Heeres in Kassel, das sich – wohl in der Hauptsache aufgrund des Widerstandes Hindenburgs – nicht zu einem Militärputsch entschließen kann und deshalb in Teilen mangels einer Alternative eine illusionistische monarchistische Linie vertritt, und die Spartakisten um Karl Liebknecht – Rosa Luxemburg spielt in diesem Band eine Nebenrolle –, der vor einer Radikalisierung der Revolution zurückscheut, da er den sich daraus zwangsläufig entwickelnden Bürgerkrieg fürchtet. Ihm zur Seite steht der russische Berater Radek, der auf eine Verschärfung der revolutionären Umtriebe drängt und in Deutschland ein Rätesystem etabliert sehen möchte.

Höhe- und Endpunkt des zweiten Bandes bilden die bewaffneten Zusammenstöße in Berlin am 6. November, unmittelbar vor dem Einzug der rückkehrenden Fronttruppen nach Berlin. Deutschland scheint am Rande des Bürgerkriegs zu stehen; sowohl die militärische Führung als auch die Arbeiterschaft erwartet, dass die jeweils andere Seite zum bewaffneten Kampf um die Staatsmacht übergehen wird.

Alfred Döblin: November 1918. Eine deutsche Revolution. Verratenes Volk. Frankfurt/M.: S. Fischer, 2008. Leinen, Lesebändchen, 489 Seiten. 18,90 €.

Wird fortgesetzt …

Alfred Döblin: November 1918 (1)

Döblin großes, drei- bzw. vierbändiges Romanwerk über das Ende des Ersten Weltkriegs und das Scheitern der deutschen Revolution des Jahres 1918. Geschrieben wurden die Romane zwischen 1937 und 1943 im französischen und amerikanischen Exil, wobei vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges nur der erste Band 1939 noch erscheinen konnte. Geplant war ursprünglich eine Trilogie, doch hatte sich der zweite Band während der Niederschrift zu einem solchen Umfang entwickelt, dass er geteilt werden musste. Döblin entschloss sich daher bereits 1943 für eine Aufteilung auf vier Bände.

Nachdem er als Offizier der französischen Militärverwaltung nach Deutschland zurückkehrt war, versuchte Döblin den Romanzyklus geschlossen erscheinen zu lassen. Er legte daher den ersten Band den französischen und amerikanischen Zensurinstanzen vor, um einen Wiederabdruck genehmigt zu bekommen. Die Franzosen lehnten dies ab, da ihnen die Elsass-Lothringen-Thematik des Buches politisch zu heikel schien; die Amerikaner begründeten ihre Ablehnung mit dem herrschenden  Papiermangel. So sah sich Döblin gezwungen, nur die drei bislang nicht veröffentlichten Bände als Trilogie unter dem Sammeltitel November 1918 erscheinen zu lassen. Um das Fehlen des ersten Bandes zu kompensieren, dessen Kenntnis beim deutschen Nachkriegsleser kaum vorausgesetzt werden konnte, stellte er aus ihm ein gut 40-seitiges »Vorspiel« zusammen, das dem ersten Band der neuen Trilogie, sprich dem zweiten Band des Gesamtwerks vorangestellt wurde.

Walter Muschg, der Herausgeber der  Ausgewählten Werke (1960–1972) verzichtete auf die Aufnahme des Zyklus, den er für misslungen hielt. So blieben die Erstausgaben (1939, 1948–1950) die einzigen Drucke bis im Jahre 1978 bei dtv erstmals eine geschlossene Ausgabe aller vier Bände erschien, die bis heute lieferbar ist. Der Verlag bemühte sich dabei um eine Vereinheitlichung, Angleichung und behutsame orthographische Glättung der Erstausgaben; außerdem wurde das »Vorspiel« aus dem Jahr 1948 wieder herausgenommen, da der erste Band den Lesern ja nun direkt zugänglich war. Im letzten Jahr legte S. Fischer alle vier Romane in einer gebundenen, einheitlich gestalteten Ausgabe wieder vor. Diese Ausgabe stellt den Zyklus als eine Trilogie vor, indem sie die Bände 2 und 3 als 2-I und 2-II untertitelt und dementsprechend den letzten Band als Band 3. Da dieser Rezension die Neuausgabe zugrunde liegt, folge ich dieser Konvention, ohne mich zugleich der Auffassung anzuschließen, es handele sich bei dem Zyklus um eine Trilogie. Die Frage, ob Tri- oder Tetralogie, kann offensichtlich nur daran entscheiden werden, ob sich zwischen dem 2. und dem 3. Band ein dichterer Zusammenhalt findet als zwischen dem 1. und 2., respektive 3. und 4. Band. Ob dies der Fall ist, wird später noch thematisiert werden.

Als Kuriosum ist anzumerken, dass man sich bei S. Fischer entschlossen hat, allen vier Bänden der Neuausgabe denselben Anhang mitzugeben, und zwar einen Ausschnitt aus der kommenden 3. Auflage des Kindlerschen Literaturlexikons. Warum man meint, es sei für Leser interessant, vier Mal denselben Anhang zu erwerben, wissen wahrscheinlich nur die Auguren des Vertriebs.

978-3-10-015554-2 Teil 1: Bürger und Soldaten 1918.

Der erste Teil handelt im Elsass und später auch in Berlin, also an den beiden Orten, an denen Döblin selbst die Tage der Revolution erlebt hat. Im Elsass stehen im Zentrum ein Militärlazarett in der Nähe von Straßburg, eine Militärtruppe, die dort stationiert ist und die Tage der Revolution in Straßburg selbst vor der Ankunft der französischen Truppen. Der Roman umfasst – von Rückblenden einmal abgesehen – die Zeit vom 10. November bis zum 24. November, als die letzten deutschen Truppen das Elsass verlassen und die Franzosen in Straßburg einziehen.

Vermittelt wird zwischen beiden Orten durch einen Lazarettzug, der Verwundete aus dem Elsass nach Osten transportiert und in dem sich auch zwei befreundete Soldaten befinden: Oberleutnant Friedrich Becker – hier durchaus noch nicht als die Hauptfigur zu erkennen, die er für den Zyklus werden wird – und Leutnant Johannes Maus, die beide schließlich nach Berlin kommen werden. Beide sind nur Teil eines umfangreichen und sozial breit angelegten Figurenensembles, das Döblin über die erzählten 14 Tage hinweg verfolgt. Erzählt werden in unregelmäßigem Wechsel die Schicksale der einzelnen Figuren und sowohl aus französischer als auch aus deutscher Sicht historische Ereignisse der letzten Kriegs- und der ersten Revolutionstage. Viele der Figuren bekommen keinen eigenen Namen, sondern sind nur über ihren militärischen Rang (der Major) oder ihre gesellschaftliche oder berufliche Stellung gekennzeichnet (der Pfarrer).

Während dabei zu Beginn des Romans der private Bereich überwiegt, gewinnt die historische Ebene Seite um Seite mehr an Gewicht; das schließlich im ersten Band erreichte Gleichgewicht wird auch in den weiteren Teilen des Zyklus vorherrschen. Der erste Band versucht nicht einmal halbherzig, irgendeine Form von Abschluss zu erzeugen, sondern ist klar auf eine Fortsetzung hin konzipiert. Zwar werden einzelne Erzählstränge offensichtlich zum Ende geführt (so etwa das Schicksal des Oberstabsarztes), bei anderen lässt sich aber durchaus nicht zu erkennen, ob sie vereinzelte Episode bleiben oder im Nachfolgeband weitergeführt werden sollen (zum Beispiel der Strang um die beiden Kleinkriminellen Motz und Brose-Zenk).

Alfred Döblin: November 1918. Eine deutsche Revolution. Bürger und Soldaten 1918. Frankfurt/M.: S. Fischer, 2008. Leinen, Lesebändchen, 415 Seiten. 17,90 €.

Wird fortgesetzt …

Wilhem von Sternburg: Joseph Roth

978-3-462-05555-9Derzeit einzige umfangreiche Biografie über Joseph Roth. Ihr Autor, Wilhelm von Sternburg, ist ein Routinier, was man auch diesem Buch anmerkt. Das Buch ist recht breit angelegt, was wahrscheinlich auf Leser mit geringem historischen Vorwissen abzielt. So sind die Ausführungen über Roths jüdisch-galizischen Hintergrund sicherlich gut gemeint und für einen Großteil der Leser nützlich. Ob dies allerdings auch für den seitenlangen Exkurs über Schriftsteller, vor allem US-amerikanische, als Alkoholiker zutrifft, wage ich zu bezweifeln. Solche Tendenzen machen die Lektüre ein wenig langatmig und mühsam.

Die erzählerischen Werke Roths werden nahezu alle inhaltlich referiert und zum bedeutenden Teil kurz und sicher in den Zeithorizont eingeordnet. Wirkliche Interpretationen versucht von Sternburg nicht zu liefern; einmal vergleicht er Radetzkymarsch mit Budenbrooks, ohne dabei über den bekannten Jean Paulschen Vergleich der Tanz- und Fechtkunst hinauszukommen.

Die Biografie wird wohl so gut dargestellt, wie es die Datenlage derzeit erlaubt. Der Leser bekommt einen soliden Eindruck vom chaotischen und selbstzerstörerischen Pathos des Schriftstellers, der sich – besonders in den letzten Lebensjahren – einfach nicht mehr zu helfen wusste: Erzwungenes Exil, die private Verpflichtung für die im Sanatorium befindliche Ehefrau einerseits und die Lebenspartnerin mit ihren Kindern andererseits, der sich zunehmend verschlimmernde Alkoholismus und die aus all dem erwachsende andauernde Geldnot – es ist alles in allem erstaunlich, dass Roth unter diesen Bedingungen überhaupt noch in der Lage war Literatur und dann auch noch auf einem solchen Niveau zu produzieren. Eine bemerkenswerte Mischung von Haltlosigkeit und Disziplin beherrschte dieses Leben.

Wilhelm von Sternburg: Joseph Roth. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2009. Pappband, 559 Seiten. 22,95 €.

J. M. G. Le Clézio: Der Afrikaner

978-3-446-20948-0 Als Jean-Marie Gustave Le Clézio im vergangenen Jahr den Nobelpreis für Literatur zugesprochen bekam, war er zumindest in Deutschland wohl einer der unbekanntesten Autoren der Weltliteratur. Einige Feuilletonisten machten sich über die Wahl Le Clézios ein wenig lustig, indem sie andere, ob ihrer Belesenheit berühmtere Feuilletonisten befragten, die ihre Unkenntnis wenn nicht des Autors so doch seines Werks so offen zugaben, als handele es sich dabei um ein Verdienst. Überrascht mussten dann alle zusammen aber feststellen, dass Le Clézios Schriften in einem so bedeutenden Umfang auf Deutsch vorlagen, dass es zu seiner Unbekanntheit in einem nahezu erschütternden Verhältnis stand.

Mir ist nun eher zufällig als erstes ein kleines autobiographisches Bändchen in die Hand geraten: Der Afrikaner ist ein Erinnerungsbuch an Le Clézios Vater, der den Hauptteil seines Lebens als Arzt in Afrika zugebracht hat. Er war durch den Zweiten Werltkrieg von seiner Frau und seinen beiden jungen Söhnen getrennt, die, als sie den Vater im Jahr 1948 endlich kennenlernten, in ihm einen strengen, autoritären Patriarchen fanden, den sie nicht zu lieben vermochten. Le Clézios Buch ist ein Dokument des späten Verständnisses, das der Autor für seinen Vater entwickelt hat. Es schildert das einsame und verzehrende Leben des Vaters in Afrika, geboren aus einer Ablehnung der englischen Gesellschaft und ihres Kolonialismus. Und auch nach seiner Rückkehr nach Europa bleibt der Vater ein isolierter Mann, da ihm seine afrikanischen Erfahrungen eine Eingliederung in die europäische Gesellschaft verstellt.

Ein lesenswertes kleines Buch eines Sohnes, der aus seinem Zorn und seiner Enttäuschung dem Vater gegenüber herausfindet und sein schwieriges Verhältnis zu ihm überwinden kann. Sicher wäre auch manch anderen eine solche Annäherung an den eigenen Vater zu wünschen.

Als Obskurität ist anzumerken, dass sich die Vornamen des Autors nur auf dem Waschzettel, nicht aber im Buch finden lassen.

Jean-Marie Gustave Le Clézio: Der Afrikaner. Aus dem Französischen von Uli Wittmann. München: Hanser, 22008. Pappband, 136 Seiten. 14,90 €.

Axel Hacke & Michael Sowa: Wumbabas Vermächtnis

978-3-88897-555-4 Bevor ich eine Empfehlung für dieses Bändchen aussprechen kann, ist leider ein kleiner Exkurs über dessen Titel notwendig. Der erste Band der kleinen Reihe von Handbüchern des Verhörens trug den schlichten Titel Der weiße Neger Wumbaba. Dieser Titel entstand aus einem Verhörer des berühmten Gedichts Der Mond ist aufgegangen von Matthias Claudius, in dem es heißt:

Der Wald steht schwarz und schweiget,
und aus den Wiesen steiget
der weiße Nebel wunderbar.

Die letzte Zeile führte zu dem poetischen Verhörer:

Der Wald steht schwarz und schweiget,
und aus den Wiesen steiget
der weiße Neger Wumbaba.

Nach dem Erscheinen des zweiten Bandes unter dem Titel Der weiße Neger Wumbaba kehrt zurück kündigte Axel Hacke in einem Gespräch den dritten Band unter dem wundervollen Titel »Das Vermächtnis des weißen Negers Wumbaba« an. Wie wir nun sehen, ist der »weiße Neger« aber nicht noch einmal aufs Titelblatt zurückgekehrt. Warum?

Schon ein kurzer Blick auf die Kundenrezensionen bei amazon.de lässt erahnen, mit welcher Flut an politisch korrekten Reaktionen sich Autor und Verlag wohl haben herumschlagen müssen. Nun ist Politische Korrektheit eine besonders penetrante Erscheinungsform der Dummheit in unserer Zeit. Die Vertreter dieser Position sind der Überzeugung, dass sich bereits aus der Verwendung eines Wortes auf die Gesinnung seines Verwenders schließen lasse. Das mag in Einzelfällen vielleicht sogar stimmen; in den meisten Fällen aber dürften aber gerade die politisch Unkorrekten die wahren Adepten der Politischen Korrektheit sein. Denn Rassismus, Menschenverachtung, Umweltvernichtung und was der bösen Dinge mehr sind, lassen sich viel bequemer hinter einer politisch korrekten Fassade betreiben als mit einer politisch nicht korrekten Wortwahl. Dass einer »Neger« schreibt oder sagt, macht ihn noch nicht zum Rassisten, und dass einer stets »Schwarzer« sagt, garantiert nicht seine Toleranz. Es ist schade, wenn auch verständlich, dass Autor und Verlag den bequemen Weg gegangen sind und sich ihren Titel haben von den Politisch Korrekten verstümmeln lassen. Aber auf Deckel und Titelblatt ist er wenigstens noch zu sehen: der weiße Neger Wumbaba.

Wie dem auch sei, handelt es sich bei Wumbabas Vermächtnis um eine nette und lesenswerte Fortsetzung der beiden anderen Bändchen. Man sollte in einem solchen Fall nicht von Band zu Band eine Steigerung erwarten, sondern sich über jeden schönen Fund freuen, den Hacke seiner Sammlung hinzufügt: Ob Elvira España, Ladislav Bonita oder die vermissten Schweinespuren im Sand, sie alle verdienen unsere Sympathie. Mit diesem Bändchen beschließt Hacke die Reihe; sie wird sicherlich in diversen Internetforen bis auf weiteres fortgesetzt werden.

Axel Hacke & Michael Sowa: Wumbabas Vermächtnis. Drittes Handbuch des Verhörens. München: Antje Kunstmann, 2009. Pappband, Fadenheftung, 80 Seiten. 9,90 €.

Frank Zumbach: Joyce’ Ulysses

3-492-23138-1 Kurze Einführung in den Ulysses von James Joyce, deren Hauptintention in einer Hilfestellung für Erstleser liegt. Dafür ist das Büchlein gut geeignet, wenn es mir auch zu wenig systematisch ist. Auch das große Gewicht, das Zumbach auf die autobiografische Unterfütterung des Textes legt, scheint mir für eine solche Einführung verfehlt. Aber das sind Ansätze, die sich aus der jeweils individuellen Begegnung mit dem Ulysses ergeben; da muss am Ende jeder Leser seinen eigenen Gang gehen.

Der Hauptteil des Buches erzählt die Handlung des Ulysses kapitelweise nach. Das ist für Einsteiger wahrscheinlich die wichtigste Orientierungshilfe.  Auch die Anspielungen auf die Episoden der Odyssee und die Referenz der einzelnen Kapitel auf Körperteile und Organe erläutert Zumbach. Die Nacherzählungen sind hier und da etwas lückenhaft, an anderer Stelle, so etwa beim Circe-Kapitel, muss man der Leistung des Nacherzählers aber durchaus Respekt zollen.

Den einzigen wirklichen Mangel würde ich darin sehen, dass Zumbach ein Grundprinzip der Textgestaltung nicht deutlich genug herausarbeitet: Im Ulysses wird nicht die Form an den Inhalt angepasst, sondern die Form erzeugt den Inhalt. So ist es zum Beispiel nicht so, dass Bloom in Nausikaa nach Sandymount versetzt wird, weil die Familie Dignam dort wohnt, sondern die Familie Dignam wohnt dort, damit das nachfolgende Kapitel, Die Rinder des Sonnengottes, mit der Formel »Deshil Holles Eamus« beginnen kann. »Deshil« meint hier nämlich soviel wie »der Sonne entgegen«, englisch »sunward«, was zugleich eine Anspielung darauf ist, dass sich Leopold Bloom nun seinem geistigen Sohn Stephen Dedalus nähert. Daher muss Leopold Bloom nach Westen gehen, der untergehend Sonne entgegen, und deshalb verfrachtet ihn Joyce an den Strand von Sandymount. Es ist im Ulysses die Sprache, die die Fabel hervorbringt, nicht umgekehrt.

Unverständlich ist, warum das Bändchen nicht lieferbar ist, da offenbar eine erhebliche Nachfrage besteht. Bei Amazon werden derzeit für gebrauchte Exemplare Fantasiepreise von knapp 50,– € bis über 80,– € verlangt. Es sei an dieser Stelle nochmals beklagt, dass Suhrkamp Hugh Kenners Buch über den Ulysses – bei Amazon schon für 2,90 € zu bekommen – nicht mehr druckt, das meiner unmaßgeblichen Meinung nach immer noch die beste Einführung ins Buch liefert.

Frank Zumbach: Joyce’ Ulysses. Serie Piper 3138. München: Piper, 32004. 144 Seiten. 7,90 €.

Robert Menasse: Don Juan de la Mancha

978-3-518-46040-5 Es lassen sich nur schwer zwei gegensätzlichere Liebhaber in der europäischen Literaturtradition ausmachen als Don Juan und Don Quixote de la Mancha. Wo der eine sich in der Flüchtigkeit der Lust verliert und schließlich seinem eigenen Mythos als Liebhaber kaum mehr nacharbeiten kann, minnt der andere um ein einfaches Bauernmädchen als seine Hohe Frau. Es stellt daher schon einen gewaltigen Anspruch her, den Protagonisten eines Romans mit einem Titel zu belasten, wie dieses Buch es tut.

Das Buch beginnt mit einem Paukenschlag. Erinnern Sie sich an den etwas dümmlichen »Wettbewerb« um den schönsten ersten Satz, den schließlich der Prosa-Tölpel Grass gewann? Robert Menasse hat in diesem Buch, wenn auch nicht den schönsten, so doch einen der impressivsten ersten Sätze geliefert:

Die Schönheit und Weisheit des Zölibats verstand ich zum ersten Mal, als Christa Chili-Schoten zwischen den Händen zerrieb, mich danach masturbierte und schließlich wünschte, dass ich sie – um es mit ihren Worten zu sagen – in den Arsch ficke.

Das hat ohne Frage Wucht und vertreibt gleich einmal alle feinsinnigen Leser (in diesem Fall natürlich auch ausdrücklich Leserinnen). Zusätzlich zu der – wahrscheinlich sogar beabsichtigten – Ambiguität, dass es sich bei Christa Chili-Schoten auch um einen Doppelnamen handeln könnte, ist der Satz zugleich obszön und blasiert, was für das Buch einiges hoffen ließ.

Leider hält der Autor das hier versprochene Niveau nicht. Don Juan de la Mancha ist der Roman eines ziemlich durchschnittlichen Kaspers, der mit seiner Ehe unzufrieden und von seinem Job als Lifestyle-Journalist angeödet ist, in seinen paar Affären unbefriedigt bleibt – ich habe das ganze Buch hindurch vermutet, weil er zu fantasielos ist, um seinen Fetisch zu finden; aber selbst darauf kommt der Autor nicht –, seiner Analytikerin Lügen auftischt, in eine tiefe Depression verfällt, als er seinen ungeliebten Job verliert und schließlich … Ja, was eigentlich schließlich? In die ihm angemessene langweilige Normalität zurückkehrt und aus der Literatur verschwindet.

Wahrscheinlich habe ich das Buch nicht verstanden. Wahrscheinlich verstehe ich den Humor des Autors nicht. Hier und da habe ich schon mal müde gegrinst:

Aber [Philip] Roth ist doch ein großer Realist: Ich las bei ihm den Satz »Da läutete das Telefon« – und es läutete das Telefon.

Zwischendurch setzt es mal ein Kleinkapitel, das den Eindruck macht, als habe auch der Autor sein Gekasper über:

Meine Frau ist mit dem Flugzeug abgestürzt.
Was erzählen Sie da, sagte Hannah, bitte Nathan, was erzählen Sie da?
Ja, erzählen, sagte ich. Ich wusste nicht mehr, wohin mit ihr.

Aber auch solche vereinzelten Perlen retten den Roman nicht. Er wird weder dem grandiosen Anspruch des Titels gerecht, noch hat er es auf andere Weise vermocht, mein Interesse zu fesseln. Zwischendurch kam in mir immer wieder einmal der Verdacht auf, er könne als Parodie oder gar Satire gemeint sein. Aber dann wusste ich nicht, was hätte parodiert werden sollen, und für eine Satire ist es deutlich zu geschwätzig und harmlos.

Aber, wie gesagt: Vielleicht habe ich auch einfach nur die Stellen zum Lachen überlesen …

Robert Menasse: Don Juan de la Mancha. Suhrkamp Taschenbuch 4040. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2009. 275 Seiten. 8,90 €.

Ruth Klüger: unterwegs verloren

978-3-552-05441-7 Eine alte Frau schreibt ihre Erinnerungen auf. Sie ist Überlebende des Holocaust, hat ein Buch über diese Erfahrung geschrieben, das ein Bestseller geworden ist in Deutschland und dann auch in der Welt. Nun wird uns eine Fortsetzung angeboten. Woran erinnert sie sich? Da hat sie einer nicht gegrüßt, als er ihr Haus betrat. Ein anderer hat sie nicht in seinem Seminar haben wollen. Ein dritter hat sie zwar gefördert, sie aber nicht so ernst genommen, wie sie ernst genommen werden wollte. Wieder andere haben ihr nicht das soziale Umfeld bereitet, das sie sich erhofft hatte. Noch andere haben sie als berufliche Konkurrentin wahrgenommen und behandelt. Sie alle stehen unter dem Generalvorwurf, zumindest Frauenfeinde zu sein, wahrscheinlicher aber Antisemiten.

Warum war ich ihnen zuwider? Frau oder Jüdin? Zufall war’s nicht …

Und dann steht da plötzlich dieser eine Satz:

Ich frage mich allerdings, warum die Frauen immer meinen, sie könnten es besser als ihre Vorgängerinnen, anstatt sich vor geschiedenen Männern zu hüten.

Ein solcher Satz kann einem ein ganzes Buch zerschlagen. Das ist von einer so bodenlosen zwischenmenschlichen Dummheit, dass ich ganz fassungslos werde. Das schreibt eine Frau, deren Söhne angeblich nichts mehr mit ihr zu tun haben wollen, deren Schwiegertochter jeden Kontakt mit ihr vermeidet, deren Enkel ihr zu distanziert sind, mit der die meisten Kollegen keinen Umgang haben wollten und der dennoch eines ganz sicher ist: Am Scheitern von Ehen sind die Männer schuld, und wem einmal eine missraten ist, der trägt ein Stigma.

Der Autorin selbst ist hier kein Vorwurf zu machen, aber denen, die mit ihrer Bekanntheit Geld verdienen, die nicht eingegriffen haben, das Manuskript nicht behutsam zur Seite gelegt haben, sondern die es gedruckt haben in dem klaren Bewusstsein, damit einen Bestseller zu produzieren. Das ist ekelerregend, und es ist verächtlich. Ich habe selten ein so peinliches Buch in der Hand gehabt.

Ruth Klüger: unterwegs verloren. Erinnerungen. Wien: Zsolnay, 2008. Pappband, 238 Seiten. 19,90 €.

Max Frisch: Der Mensch erscheint im Holozän

978-3-518-37234-0 Im Mittelpunkt dieser Erzählung um Alter und Demenz steht der 73-jährige Herr Geiser, der als Pensionär in einem Bergtal des Tessin, wohl dem Onsernone-Tal, lebt. Die Erzählung umfasst einige Wochen eines verregneten Sommers. Aufgrund eines Erdrutsches ist das Dorf, in dem Herr Geiser lebt, für eine Weile von der Außenwelt abgeschnitten; auch der Strom fällt zeitweilig aus. Herr Geiser langweilt sich, er mag auch nicht immer nur lesen. Die Gartenarbeit fehlt ihm, und außerdem macht er sich Sorgen, dass der Berghang, an dem sein Haus liegt, abrutschen könne.

In dieser weitgehend isolierten Lage beginnt Herr Geiser sich um sein Gedächtnis zu sorgen. Er versucht mithilfe eines 12-bändigen Brockhaus und einiger anderer Bücher, die Geschichte des Tessin und die Erdgeschichte überhaupt zu rekapitulieren. Als Gedächtnisstütze schneidet er aus den Büchern kleine Abschnitte aus, die er an die Wand heftet; das Buch dokumentiert einen Teil dieser Ausschnitte.

Höhepunkt der sprachlich schlichten und weitgehend ereignislosen Erzählung stellt ein Fluchtversuch Geisers dar: Er versucht in einem Gewaltmarsch Locarno zu erreichen, von wo aus er mit dem Zug nach Basel reisen könnte, bricht das Unternehmen aber nach ¾ des Weges ab, da er nicht mehr weiß, was er überhaupt in Basel will. Heimgekehrt erleidet er offensichtlich einen Schlaganfall und wird schließlich von seiner Tochter aus seiner Isolation befreit.

Die Erzählung beeindruckt durch die personale Erzähl-Perspektive, durch die der Leser ganz eng mit dem Erleben Geisers verbunden ist. Der Verfall seines Gedächtnisses, der Kampf um das Wissen, der Schritt für Schritt verloren geht und letztlich in die Repetition des bereits einmal Gesagten übergeht, der beinahe schon gewaltsame Versuch, sich aus all dem zu befreien, das alles ist in einer sehr zurückhaltenden Prosa überzeugend dargestellt.

Max Frisch: Der Mensch erscheint im Holozän. Suhrkamp Taschenbuch 734. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 172006. 147 Seiten. 6,50 €.

Herman Melville: Israel Potter

978-3-458-34536-7 Bei der gerade zurückliegenden erneuten Beschäftigung mit Melville für einen Vortrag über ihn und seinen Moby-Dick, ist mir in meinem Bücherschrank auch dieses Bändchen wieder begegnet. Es handelt sich um die erste der wenigen Übersetzungen aus der Feder Uwe Johnsons. Sie wurde zuerst 1961 in der DDR veröffentlicht, und wir dürfen getrost davon ausgehen, dass sie eine reine Brotarbeit darstellt. Nach nur wenigen Seiten habe ich begonnen, Johnsons Text mit dem Original abzugleichen, und nach etwa 50 Seiten die trostlose Lektüre abgebrochen.

Ein Beispiel von vielen Möglichen: Auf seiner Flucht als amerikanischer Kriegsgefangener auf dem Weg nach London begegnet Israel Potter zwei Gestalten, die er nach dem Weg fragt:

But conquering this fit, he marched on, and presently passed nigh a field, where two figures were working. They had rosy cheeks, short sturdy legs, showing the blue stocking nearly to the knee, and were clad in long, coarse, white frocks, and had on coarse, broad-brimmed straw hats. Their faces were partly averted.
„Please, ladies,“ half roguishly says Israel, taking off his hat, „does this road go to London?“
At this salutation, the two figures turned in a sort of stupid amazement, causing an almost corresponding expression in Israel, who now perceived that they were men, and not women. He had mistaken them, owing to their frocks, and their wearing no pantaloons, only breeches hidden by their frocks.
„Beg pardon, lads, but I thought ye were something else,“ said Israel again.
Once more the two figures stared at the stranger, and with added boorishness of surprise.
„Does this road go to London, gentlemen?“
„Gentlemen—egad!“ cried one of the two.
„Egad!“ echoed the second.
Putting their hoes before them, the two frocked boors now took a good long look at Israel, meantime scratching their heads under their plaited straw hats.
„Does it, gentlemen? Does it go to London? Be kind enough to tell a poor fellow, do.“
„Yees goin‘ to Lunnun, are yees? Weel—all right—go along.“
And without another word, having now satisfied their rustic curiosity, the two human steers, with wonderful phlegm, applied themselves to their hoes; supposing, no doubt, that they had given all requisite information.

Diese Miniatur englischen Landlebens übersetzt Johnson wie folgt:

Aber er bezwang diese Anwandlung und marschierte weiter. Bald kam er an einem Feld vorbei, auf dem zwei Gestalten arbeiteten. Sie waren rotbackig, klein von Wuchs, mit kräfti- gen Beinen, an denen die blauen Strümpfe bis zum Knie zu sehen waren, und trugen grobe weiße Kittel und plumpe breitrandige Strohhüte. Ihre Gesichter waren halb abge- wandt.
»Bitte, meine Damen«, sagte Israel halb schalkhaft und nimmt seinen Hut ab, »geht diese Straße nach London?«
Bei dieser Anrede drehten die Gestalten sich einfältig erstaunt um und verursachten in Israel ein nahezu ähnliches Gefühl, denn nun merkte er, daß es nicht Frauen waren, sondern Männer. Er hatte sie verwechselt, weil sie Kittel und statt der langen Hosen Breeches trugen, die der Rock aber verdeckte.
»Entschuldigen Sie, meine Damen, aber ich habe Sie verwechselt«, sagte Israel.
Sie starrten ihn weiter an. Ihre Verwunderung wuchs.
»Führt diese Straße nach London, meine Herren?«
»Herren! Meiner Treu!« rief der eine aus.
»Meiner Treu!« wiederholte der andere.
Die beiden bekitteken Landleute stellten ihre Hacken vor sich auf, kratzten sich am Kopf unter ihren geflochtenen Strohhüten und betrachteten Israel eingehend.
»Ja, meine Herren? Geht sie nach London? Seien Sie doch nett zu einem armen Kerl, sagen Sie es mir doch.«
»Sie wolln nach London, nich? Jaja – stimmt schon. Gehn Sie nur weiter.«
Und ohne ein weiteres Wort beugten diese beiden menschli- chen Stiere in ihrer erstaunlichen Gemütsruhe sich wieder über ihre Hacken, als sie ihre bäurische Neugier befriedigt hatten. Ohne Zweifel glaubten sie, sie hätten alle erforderliche Auskunft gegeben.

Es gibt nicht so sehr viel in dieser Passage, was wirklich gut übersetzt wäre; mindestens zwei der Pointen versaut der Übersetzer offenbar aufgrund seines mangelhaften Textverständnisses: Die zweite Anrede der beiden Bauern mit »Damen« ist eine grobe Fehlübersetzung des englischen »lads«, wofür in diesem Zusammenhang das deutsche »Kumpels« oder »Kameraden« eingesetzt werden müsste, je nachdem wie ungeschickt man Israel Potter im Deutschen sprechen lassen möchte. Aufgrund der Tatsache, dass auch diese joviale Ansprache keine Reaktion hervorbringt, wechselt Potter nun die Tonart und versucht es mit der Anrede »Gentlemen«, was die beiden Bauern zu dem Ausruf »Egad« veranlasst, was in keinem Zusammenhang »Meiner Treu« bedeutet, sondern ein verschliffenes »O God« darstellt und also vielleicht mit »Ojott« wiederzugeben wäre.

Die abschließende Auskunft der beiden – “Yees goin’ to Lunnun, are yees? Weel—all right—go along.” – versteht Johnson auch wieder nicht. Abgesehen von dem Problem, dass er den schweren Akzent der Bauern auf ein paar Verschleifungen reduziert, lautet die Antwort eben nicht »stimmt schon«, sondern vielmehr: »Se wolln na Londen, nich? Na jut, meins wejen, jehnse.« Daraus ergibt sich dann nämlich auch zwanglos die abschließende Feststellung, die beiden glaubten, »alle erforderliche Auskunft« gegeben zu haben, was sie in Johnsons Fassung auch tatsächlich getan haben, bei Melville aber gerade eben nicht.

Das hier demonstrierte Niveau ist typisch für Johnsons Übersetzung. Deutsche Leser sollten besser die Finger von dem Buch lassen. Die anderen Übersetzungen, etwa von Richard Mummendey, Walter Weber oder Gunter Böhnke, habe ich bislang nicht angeschaut. Aber vielleicht liefert ja auch Hanser innerhalb seiner Melville-Auswahl noch eine Neuübersetzung dieses Textes.

Herman Melville: Israel Potter. Aus dem Amerikanischen von Uwe Johnson. Insel Taschenbuch 2836. Frankfurt/M.: Insel, 2002. 248 Seiten. 9,00 €.